KAPITEL 3

Das sechste Gebot

Was hast du gesagt?», wiederholte Anne und versuchte, ihre Verwirrung hinter einem Lachen zu verbergen. «Du liebst mich?»

Er hob den Kopf. Dann beugte er sich vor, umfasste mit den Händen ihre Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Sie schloss die Augen. Sie wehrte sich nicht. Zart fuhr er mit der Spitze seiner Zunge über ihre Lippen, verstärkte den Druck, versuchte, sie zu öffnen. Anne ging mit dem Kopf zurück, umklammerte seine Handgelenke und löste sich aus seiner Umarmung.

«Paul!», sagte sie atemlos.

«Schon immer.»

«Das wüsste ich aber.» Sie wollte sich erheben, doch er hielt sie zurück. «Das hätte ich ja wohl gemerkt ...»

Er küsste sie erneut, überschüttete sie mit Küssen auf den Hals, die Wangen, den Mund, nahm ihre Hände, führte sie zu seinen Hüften, dann lehnte er sich zurück, sie kippte auf ihn, fiel auf ihn, er lag unter ihr, sie über ihm, er streckte seine Beine aus, drehte Anne mit Gewalt herum. Sie wälzten sich im Gras am Wegesrand.

«Paul! ...», rief sie noch einmal, aber er erstickte ihre Worte und sie ließ es geschehen. Nun erwiderte sie seinen Kuss, gab seinem Drängen nach. Er roch nach Parfüm, nach Schweiß und nach Erde. Er war erregt und das erregte sie. Mit einer Hand glitt er unter ihre Bluse, mit der anderen knöpfte er sie auf, geübt und fordernd, keinen Widerspruch duldend. Er streichelte ihre nackten Brüste, küsste ihre Brustwarzen, rutschte an ihrem Körper herunter, liebkoste ihren Bauchnabel, knöpfte ihre Hose auf, fuhr mit seinem Zeigefinger über ihre Schamhaare. Immer atemloser. Anne verkrampfte sich, drängte ihn zur Seite.

«Das geht nicht!», sagte sie, «das geht nicht.» Er hörte auf, rollte sich zur Seite, stützte seinen Kopf auf die Hand, guckte sie an. Hastig bedeckte sie ihren Busen mit der offenen Bluse. «Was machst du nur mit mir?»

«Was machst du nur mit mir?», wiederholte er.

Anne kniete sich hin. Eine Weile sagten beide nichts.

«Du bist verrückt geworden, Paul!»

«Ich will mit dir schlafen.»

«Hier oder was?»

Ohne zu antworten, setzte er sich hin, band seine Schuhe auf, kickte sie von den Füßen, zog die Socken aus, stand auf, machte seine Hose auf, ließ sie zu Boden gleiten. Er trug darunter weiße Boxershorts.

«Wenn uns jemand sieht!», sagte sie zitternd. Sie wollte aufspringen, weglaufen, aber sie blieb. Es war zu spät. Die Dinge nahmen ihren Lauf.

«Ich kenne diesen Weg», erklärte er mit gedämpfter Stimme, «hier geht nie jemand spazieren.» Er stand direkt vor ihr. Es war, als habe plötzlich eine andere Anne von ihr Besitz ergriffen. Sie zog ihm die Shorts herunter. Jetzt war er nackt. Vor ihr stand ein vertrauter Mensch, ein Freund, den sie begehrte. Sie ließ langsam ihre Bluse von den Schultern gleiten. Mit zwei kurzen Bewegungen und Drehungen hatte auch sie ihre Hose ausgezogen und ihren Slip, dann legte sie sich mit einer weichen, fließenden Bewegung zurück in das Gras.

«Ich habe noch nie draußen ...» Anne brach ab, ihre Stimme versagte.

Er legte sich zu ihr. «Ich auch nicht ...» Wieder küssten sie sich. «Hab keine Angst», flüsterte er ihr ins Ohr. Er streichelte ihren ganzen Körper, er küsste ihre Haut, er strich mit seinen Fingern an der Unterseite ihrer Beine entlang, fuhr an der Innenseite ihrer Schenkel hoch, er nahm ihre Finger in den Mund, er sog an ihren Brüsten, biss zärtlich in ihre Ohrläppchen, sagte Worte zu ihr, von denen sie sich später an keines mehr erinnern konnte. Paul und Anne tauchten ein in eine andere Welt, eine Welt des Verlierens und des Findens, des Gebens und des Nehmens – des Vergessens. Sie hielten einander fest, als hätten sie gemeinsam eine Reise in den Abgrund angetreten, als wären sie zusammen gestürzt, so tief fallend, als gäbe es kein Zurück mehr.

Paul vergrub sein Gesicht in Annes Halsbeuge, sein ganzer Körper pochte und pulsierte. Sie streichelte sein nass geschwitztes Haar.

«Anne ...», sagte er kaum hörbar, immer und immer wieder, «... Anne ... Anne ...»

Sie konnte es nicht glauben. Aber sie wagte es nicht, etwas zu sagen oder zu fragen. Zärtlich glitt sie mit den Händen über seinen Nacken, seinen Rücken, umfasste seinen schönen, muskulösen Po.

Er seufzte. «Ich könnte ewig so liegen bleiben.»

Erneut küssten sie sich und Anne spürte, dass er sie noch einmal lieben wollte.

«Nein, Paul.» Sanft, aber nachdrücklich schob sie ihn fort und erhob sich. Eilig suchte sie ihre Kleidungsstücke zusammen und zog sich an.

Er setzte sich auf, zog die Beine an, umfasste sie mit den Armen und beobachtete sie liebevoll. «Aber jetzt haben wir kein schlechtes Gewissen, oder?»

«Wir haben kein schlechtes Gewissen!», erklärte sie, und ihre Stimme klang fremd, und beide wussten, dass sie log. «Lass uns jetzt zurück.» Sie reichte ihm seine Boxershorts.

«Zur Familie», konstatierte er mit ironischem Unterton.

«Zur Familie.»

In der Nähe bellte ein Hund. Während Paul seine Hose anzog, kam das Bellen näher.

Hektisch nahm Anne Pauls Hemd und warf es ihm zu: «Ich kenne diesen Weg», zitierte sie ihn, «hier geht nie jemand spazieren.»

Kaum hatte sie das gesagt, raste um die Wegbiegung ein Dackel heran, gefolgt von einem Ehepaar beim Sonntagsspaziergang. Anne und Paul strichen ihre Haare und ihre Klamotten glatt und schnappten sich die Teile des zerrissenen T-Shirts.

Der Dackel hatte sie erreicht, kläffte fröhlich und lief weiter zu einem Feldstein, wo er sein Bein hob und pinkelte.

«Guten Tag», sagte der Hundebesitzer höflich im Vorbeigehen und lüpfte seinen Hut. Seine Frau nickte freundlich und nichts ahnend.

«Guten Tag!», erwiderten Anne und Paul wie aus einem Mund. Sie konnten ein Lachen kaum unterdrücken. Er nahm sie an die Hand, zog sie in die andere Richtung mit sich, und sie rannten los. Den ganzen Weg zurück rannten sie, schneller und schneller, als liefen sie vor etwas davon, befreit, als hätten sie etwas Schweres hinter sich gelassen. Atemlos erreichten sie die Holzbrücke. Anne stoppte, hielt sich am Geländer fest. «Halt!», rief sie. «Ich kann nicht mehr. Bin völlig aus der Puste!» Sie rang nach Luft. «Ich bin doch kein Teenager mehr, Mensch.» Sie schnaufte. «Ich habe drei Kinder zur Welt gebracht.»

Er lachte: «Teenager ...»

«Warum lachst du?»

«Ach ...», er winkte ab, «... es gibt doch so Worte, die gibt es einfach nicht mehr. Überbleibsel aus dem vergangenen Jahrhundert ... kennen nur noch so ‹Oldies› wie wir: Teenager ... Gammler ...»

«Gammler?»

Paul lachte aus vollem Hals. «Hast du vorletzte Woche, als ihr hier wart gesagt. Da musste ich schon drüber lachen. Deine Söhne hatten wahrscheinlich keinen Schimmer, wovon du gesprochen hast.»

Sie musste an Ebba denken: «Eilzug ...»

«Hippie ...»

«Randale ...»

«Anarcho ...»

«Pilzkopf...»

«Karacho ...»

«Na, ich glaub das stammt sogar aus dem Wortschatz unserer Eltern. Er stützte sich auf das Geländer und streckte seinen Rücken.

«Ja, wir werden älter ...». Anne wurde ernst. «Und das Leben rauscht an uns vorbei.»

«Findest du, dass das Leben an dir vorbeirauscht?» Er umfasste ihre Hüften. «Findest du das?»

«Nicht!» Er ließ sie los. Sie sah ihn bedrückt an. «Mit Karacho rasen wir in unser Unglück.»

«Was redest du da! Ich bitte dich!»

Anne hatte das Gefühl, sie hätte einen Rausch gehabt und leide nun unter einem Kater. Was war da eben passiert? Was war zwischen ihnen passiert? Wieso war es passiert? Warum hatte sie es geschehen lassen? Weshalb sich nicht gewehrt? Liebte er sie wirklich? Sie konnte es nicht glauben. Doch sie traute sich nicht, ihn das zu fragen. Und vor allem: Was empfand sie für ihn? Und schlagartig war ihr klar: Sie hatte ihn schon immer gern gehabt, im Stillen für ihn geschwärmt, und jetzt, ja jetzt, jetzt erwiderte sie seine Gefühle. Sie hatte sich in ihn verknallt.

«Die werden zu Hause alle auf uns warten. Lass uns gehen, Paul.»

Wolf hatte eine Küchenschürze mit Rüschen umgebunden, hielt eine Fleischgabel in der Hand, stand auf der Terrasse neben dem rauchenden Holzkohlengrill und legte gerade Steaks wohl geordnet auf den Rost. Sybille saß mit Luis und Laura am Gartentisch, sie spielten Mau-Mau. Pavel und Anuschka lümmelten sich hinten im Gras. Anne und Paul kamen aus dem Haus.

«Ah!», rief Wolf und hielt die Gabel hoch, «unsere Spaziergänger!»

Sybille sah nicht auf. «Dass ihr noch mal wiederkommt.»

«Es ist so herrlich hier draußen bei euch!» Anne ließ sich auf den Stuhl neben Luis fallen und strubbelte ihm durch das Haar. «Wer gewinnt?»

«Der Bessere!», erklärte Laura fröhlich. «Ich!» Sie legte eine Kreuz sieben ab. «Zwei nehmen, Mima!»

«Ich habe keine Lust mehr!» Sybille legte ihre Karten hin. «Ich gehe in die Küche und mache den Salat.»

«Och, Mima ...», maulte Laura.

Sybille stand auf und pfiff auf zwei Fingern.

«Essen fassen!», rief Sybille zu Anuschka und Pavel hinunter. «Antraben! Hände waschen! Tisch decken!»

Paul ging zu Wolf und klopfte ihm auf den Rücken.

«Brauchst du Hilfe, alter Mann?»

«Deine auf jeden Fall nicht!»

«Umso besser, dann gehe ich duschen.»

Er folgte seiner Frau ins Haus.

«Bring noch einen Wein mit!», rief Wolf ihm nach und wendete das Fleisch, das auf dem Grill zischte und rauchte.

Luis wollte zu seiner Mutter auf den Schoß.

«Tu mir einen Gefallen, Liebling. Bedränge mich nicht so. Ich bin ganz nass geschwitzt. Sei ein großer Junge. Du bist zehn. Warum spielt ihr nicht allein weiter?»

«Sybille hat gesagt, du drückst dich immer vor der Arbeit!», quakte er.

«Hat sie das?»

«Luis!», ermahnte ihn sein Vater. «So hat sie das gar nicht gemeint.»

«Und Papa hat ihr erzählt, dass du alle Teller heute Morgen ...»

Drohend hob Wolf die Gabel. «Luis!» Er brachte den Satz nicht zu Ende.

«Na, wo sie Recht hat, hat sie Recht, mein Schatz. Deine Mutter möchte nämlich auch mal freihaben. Freihaben vom Alltag. Wir sind ja schließlich als Gäste hier. Und außerdem macht sich ja dein Vater nützlich.»

Luis betrachtete seine Mutter: «Du hast hinten Dreck im Haar!»

Wolf sah zu seiner Frau hinüber. Erschrocken fasste sich Anne an den Hinterkopf. Erdkrümel und Grashalme blieben an ihrer Hand kleben. «Ach das ...» Sie wuschelte sich durch die Haare. Dann erzählte sie die Geschichte von dem Reh. Luis war begeistert. Wolf sagte nichts. Seelenruhig grillte er. Schweigend hatte Laura zugehört.

Als Anne fertig war, stand Laura auf. «Komm, Luis. Wir spielen Gameboy!» Die Kinder verschwanden.

«Sybille ist und bleibt eine Giftspritze!», konstatierte Anne. Wolf kam zu ihr und setzte sich neben sie. «Mach dir doch nichts draus.»

«Tu ich ja auch nicht.»

«Und?»

«Und was?»

«Worüber habt ihr geredet?»

«Über dich, Wolf.»

«Über mich?»

«Klar. Das willst du doch hören, oder? Alle reden immer über dich. Und natürlich nur das Schlechteste. Ich habe mich ausgiebig bei ihm ausgeheult.»

«Ich weiß überhaupt nicht, warum du so aggressiv bist seit neuestem. Ich verstehe es nicht. Du hast doch überhaupt keinen Grund. Ich gebe dir keinerlei Anlass ...»

«Ist ja gut.» Sie versuchte zu lächeln. «Die Steaks verbrennen!»

Wolf sprang auf und ging zum Grill zurück.

Auch Anne erhob sich und ging ins Haus. Sie schlenderte durch das Wohnzimmer, durch das Esszimmer, durch die Bibliothek. Sie sah sich um. Auf einmal hatte sie das Gefühl, alles mit anderen Augen zu sehen. Die Kunst an den Wänden. Die Möbel. Das Silber. Die Orchideen in den chinesischen Töpfen. Die alten Bücher in den Regalen. Der Geruch. Die Geräusche. Das ganze Haus war plötzlich er. Paul. Aus jeder Farbe, aus jeder Faser, aus dem Licht, selbst aus dem Schatten schien er zu ihr zu sprechen.

«Nimmst du mal?» Sybille war neben ihr aufgetaucht, mit einer riesigen Schüssel voller Salat.

Anne erschrak. «Aber sicher.» Sie nahm Pauls Frau die Schüssel ab. «Soll ich etwas, ich meine ...»

«Bring die Kinder auf Trab. Im Gegensatz zu dir bin ich nämlich der Meinung, die verwöhnten Herrschaften brechen sich keinen Zacken aus der Krone, wenn sie sich am Tischdecken und so beteiligen.»

Weg war sie. Der Ton dieser Frau. Sie hatte sie noch nie wirklich leiden können, das war Anne jetzt vollkommen klar. Diese arrogante Zicke. Überheblich, kalt, egoistisch. So eine Frau konnte einen Mann wie Paul nur unglücklich machen. Seltsam, bisher hatte sie nie den Eindruck gehabt, dass in dieser Ehe etwas nicht stimmte. Paul hatte nie gezeigt, dass es zwischen den beiden Schwierigkeiten geben könnte. Kein Wort davon, nicht ihr gegenüber und auch Wolf schien keine Ahnung zu haben. Das Ehepaar Ross hatte immer so eine Art Vorbildfunktion gehabt. Funktion: wie funktionieren. Alles bei ihnen funktionierte. Funktionierte wie am Schnürchen. Jeder hatte seinen Platz. Wie glücklich wäre die Welt, wenn jeder am richtigen Platz säße: Diesen Kalenderspruch, den ihre Mutter daheim in Bremen einst auf ein Kissen gestickt hatte, zusammen mit blühenden Rosen, hatte sie verinnerlicht wie eine Weisheit. Er kam ihr immer wieder in den Sinn, wenn sie an Sybille und Paul dachte. Sie hatte sie noch nie streiten gehört. Ja gut, kleine Missverständnisse und spitze Bemerkungen und ironische Äußerungen, die gab es in Hülle und Fülle, aber das war ja auch Sybilles Spezialität, vor der niemand sicher war. Aber Krisen und Auseinandersetzungen und grundsätzliches Hinterfragen der Ehe, so, wie es bei ihr und Wolf gang und gäbe war, das hatte sie nie bemerkt, ja, das schien Anne fast ausgeschlossen gewesen zu sein. Bisher. Vielleicht, so dachte sie, während sie den Salat auf den Tisch stellte, waren die beiden auch nur besonders geübt im Verdrängen und Verbergen, Meister der Diplomatie, Könige des Arrangements, die eine glückliche Ehe eben nur spielten. Konnte das wirklich sein? War es möglich, sich so zu verstellen, dass selbst gute Freunde wie sie und Wolf nichts merkten? Oder lag es an ihrer eigenen naiven Art, dachte Anne, ihrer Gutgläubigkeit, ihrer Arglosigkeit? Sich verstellen, das konnte sie nicht, hatte sie nie gekonnt. Sie musste einfach immer sagen, was ihr nicht gefiel, sie musste einfach zeigen, wie ihr zumute war. Dir steht alles immer ins Gesicht geschrieben!, war Ebbas Standardspruch, jeder kann lesen, was darin steht. Und das stimmte. Sie war ein offener Mensch, und oft genug hatte ihr selber das am meisten geschadet. Bei diesem Gedanken durchzuckte es sie. Wenn Wolf das wüsste! Wenn Sybille das erfahren würde! Dass sie vor einer knappen Stunde mit Paul geschlafen hatte, mitten am Tag, im Wald. Sie, die verheiratete Frau, mit dem besten Freund ihres Mannes! Um Himmels willen! Wie konnte das passieren? Das durfte nicht sein. Was sollte daraus werden? Sie wurde rot.

«Von mir aus kann es losgehen!», meinte Wolf stolz und legte die ersten sechs Steaks auf einen runden Porzellanteller. Er drehte sich nach hinten um. «Pavel!» Anne wunderte sich jedes Mal aufs Neue darüber, wie laut er schreien konnte. «Anuschka!»

Keine fünf Minuten später waren alle bis auf Paul um den Tisch herum versammelt. Sybille hatte von ihrer Freundin Ruth selbst eingelegtes saures Gemüse und dazu im Ofen gebackene Kartoffeln aufgetragen, verschiedene Soßen und Chutneys, den von Anne und Wolf mitgebrachten Champagner und das Schokoladenmousse als Dessert. Gierig füllten sich die Kinder ihre Teller. Schaufelten Salat, brachen Brot, kippten sich Ketchup auf das Fleisch, tranken Cola. Es war, als würden Raubtiere gefüttert. Wolf, der Ernährer, ging zufrieden zum Grill zurück und legte Würstchen nach und marinierte Hühnerbrüste.

«Ich nehm noch ein Steak!», rief Luis mit vollem Mund.

Anuschka guckte ihn ärgerlich an, während sie ein Salatblatt aufspießte. «Wie kann man nur Tierfleisch essen!», bemerkte sie spitz. «Fröhliches BSE!»

«Sie ist gerade Vegetarierin!», erklärte Sybille lakonisch

 «Ich bin nicht gerade Vegetarierin!»

«Aber du isst kein Fleisch.»

«Weil es widerlich ist.»

Sybille machte eine rechthaberische Geste. «Also!»

«Es! Ist! Keine Phase!»

«Von mir aus.»

«Nimm das doch mal ernst! Es ist völlig krass, ja? ... was mit den Tieren in unserer Gesellschaft passiert. Wie sie gehalten werden. Wie sie gekillt werden ... möchte mal wissen, wie ihr euch fühlt, wenn man euch auf engstem Raum zusammenpfercht ... Aber bei euch hat die Gehirnerweichung ja längst eingesetzt!»

Anne mischte sich ein: «Anuschka? Darf ich dich um etwas bitten?», fragte sie mit leiser Stimme.

«Ja?» Sie zog die Augenbraue hoch, wie es nur Siebzehnjährige tun können, die vollkommen davon überzeugt sind, dem Rest der Welt moralisch überlegen zu sein.

Ganz die Mutter, dachte Anne. «Verdirb uns nicht den Appetit!»

«Und sag vor allem nicht immer Tierfleisch!», schimpfte Sybille.

«Es ist Tierfleisch.»

Pavel, der bisher kaum etwas gesagt hatte, machte sich genervt bemerkbar: «Ekelhaft! Könnte kotzen.»

«Eben, Pavel», sagte Anuschka und trank ihr Glas Wasser aus. «Es gibt sogar Leute, die Pferde-Tierfleisch essen.»

«Mima!», rief Laura entsetzt aus. Sie liebte Pferde über alles und starrte ihre Mutter in der Hoffnung an, sie würde Anuschka widersprechen. Niemand konnte Pferdefleisch essen! Pferdefleisch war wie Hundefleisch, wie Katzenfleisch, wie ...

«Frag mal Ruth!» Anuschka goss sich seelenruhig Wasser nach. «Was die dazu meint.»

Sybille schlug mit der Hand auf den Tisch: «Lass bitte Ruth aus der Diskussion raus. Schluss jetzt mit diesem Thema. Wem das Abendessen nicht passt, der darf gerne gehen.»

«Ich will lieber 'ne Wurst!», quietschte Luis bösartig vergnügt, sprang auf, nahm den leeren Teller und ging zu seinem Vater.

In diesem Moment erschien Paul. Er hatte sich umgezogen, trug nun Jeans und ein kariertes amerikanisches Hemd. Bevor er sich setzte, stellte er eine Flasche Rotwein auf den Tisch. «Tut mir Leid, ich bin zu spät. Jemand Wein?» Er sah in die Runde.

«Unbedingt!», rief Wolf.

«Gerne!», erklärte Sybille.

Paul warf Wolf ein Päckchen mit Schlaftabletten zu, die sein Freund auffing.

«Hatte ich doch vergessen, letztes Wochenende ...»

«Danke, Paul!» Wolf steckte sie in die Hosentasche.

Paul füllte die Gläser. Sein Blick blieb an Anne hängen. Ihr Herz schlug schneller. Sie konnte nicht weiteressen, vergaß, herunterzuschlucken, umklammerte ihre Gabel.

Luis kehrte mit seinem gefüllten Teller zurück. «Was ist, Mama?»

«Deine Mutter überlegt, ob sie lieber Champagner oder Roten trinken soll!», erklärte Paul und goss ihr Wein ein.

«Danke.»

Wolf kam an den Tisch, nahm sein Glas und hob es: «Auf die Freundschaft!», sagte er ungewöhnlich überschwänglich. «Es ist wie immer klasse bei euch!»

Alle stießen an und tranken.

Über den Rand des Glases beobachtete Anne ihren – was war er jetzt, ein Liebhaber? Er ließ sich nichts anmerken, schien ihren Blick zu meiden, plauderte mit seinem Freund, sprach mit seiner Frau, scherzte mit den Kindern. Alles war wie immer. Die Abendsonne färbte sich orangerot, versank hinter den mächtigen Kastanien, eine Amsel sang auf dem Dachfirst, von Ferne hörte man die Eisenbahn, die es eilig hatte, in die Stadt zu kommen. Eine Kirchturmuhr schlug neun. Es begann sich abzukühlen. Sybille holte zwei ihrer Pashmina-Schals, um die Anne sie so beneidete, und gab ihr einen, den sauerkirschfarbenen, und legte sich selbst den sandfarbenen über die Schultern. Paul machte eine weitere Flasche Wein auf. Die Kinder setzten sich drinnen vor den Fernseher. Die Freunde betranken sich.

«Ich muss noch fahren!», erklärte Wolf und leerte sein Glas. «Oder?» Er sah seine Frau an. Sie hatten sich unausgesprochen ein Ritual angeeignet, das sie jedes Mal wieder durchbrachen: Anne fuhr stets die Strecke hinaus, weil sie es liebte, sich an solchen Abenden zu betrinken. Er versprach, zurückzufahren – und überließ es dann meistens doch ihr, sich ans Steuer zu setzen. Oft, wenn Edward mitkam, übernahm er es, die Familie zurückzukutschieren. Dann saß sein Vater neben ihm, ein qualmende Gauloise zwischen den Lippen, und schlief schon nach wenigen hundert Metern ein. Anne musste sich hinten mit den anderen Jungs drängeln, die sich über sie hinweg stritten und schlugen, und fast immer, wenn sie vor ihrem Mietshaus einparkten, gab es Krach und Ärger.

Und auch dieses Mal war es nicht anders. Als sie sich endlich um kurz nach elf vor dem Haus versammelten, um zu fahren, war Wolf betrunken und bat seine Frau, sich hinters Steuer zu setzen. Luis war müde und schlecht gelaunt und frech zu seiner Mutter. Als sein Vater ihm eine Ohrfeige androhte, fing er an zu weinen. Pavel stand noch ein ganze Weile im Hauseingang zusammen mit Anuschka und diskutierte mit ihr über sein Lieblingsthema Autos, die sie verachtete und als überflüssig bezeichnete. Laura lag längst im Bett. Anne dankte Sybille für ihre Gastfreundschaft. Paul kam aus dem Haus und brachte Anne ihre Basttasche, die sie in der Küche vergessen hatte. Luis musste noch einmal pinkeln. Es war ein Durcheinander, ein Hin und Her, ein Palavern und Gelächter und Gestreite, so, als müsse jeder von ihnen kurz vor der Abreise noch ein Zeichen setzen, um den anderen in Erinnerung zu bleiben, und es breitete sich, so empfand Anne es, bei allen ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit und Freude aus.

Wolf fragte Paul, ob er am Mittwoch wiederkommen dürfe, zum Zeichnen. Dabei sagte er etwas, das Anne überraschte und für ein paar Sekunden aufhorchen ließ. «Wir reden zu viel», erklärte er, «wir sollten mehr zeichnen.»

«Tja, wenn man so zeichnen kann wie du ...», erwiderte sein Freund.

Wolf ging darauf gar nicht ein. Er machte eine weit ausholende Bewegung. «Die Natur ... der Retter der Menschheit ...»

«Papa!» Pavel, der seine Diskussion beendet hatte, öffnete die vordere Beifahrertür und versuchte, seinen Vater auf den Beifahrersitz zu drücken.

«Die Natur ...», wiederholte Wolf, «ist voller Zeichen!» Mit diesen Worten verschwand er im Auto.

Pavel rollte mit den Augen. «Schnall dich an!», befahl er und knallte die Tür zu.

Anne zuckte mit den Schultern. «Mein Mann!» Sie schmunzelte den Freunden zu.

«Ja, dein Mann!» Paul nickte.

Sybille zitterte ein wenig. «Nehmt es mir nicht übel. Ich geh wieder rein. Mir ist es zu kalt. Tschüs ... bis bald.» Sie ging. Luis kam ihr entgegengerast. «Tschüs, du kleiner Teufel!», rief sie ihm nach, ehe auch er auf der Rückbank verschwand, und zog ihre Tochter mit ins Haus.

Paul und Anne blieben voreinander stehen.

Sie reichte ihm die Hand. «Tja

«Tja ...»

«Danke, Paul.»

Flüchtig hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange: «Fahr vorsichtig.»

«Mach ich.»

«Mama!» Luis kurbelte das Fenster herunter. «Ich hab morgen in der ersten eine Mathearbeit!»

Sie wollte nicht einsteigen. Sie wollte bleiben. Sie wollte noch ein Signal von Paul empfangen. Einen Satz, eine Geste, eine Erklärung, ein «Ich-ruf-dich-an», «Wann-sehen-wir-uns-wieder?» Sie wusste, das ging nicht, und tatsächlich: Er sagte nichts. Ihr war in diesem Moment, als sei sie ausgenutzt, ja, fast missbraucht worden. Sie fühlte sich wie jemand, der einen großen, unverzeihlichen Fehler begangen hat.

«Dann will ich mal.» Keine Antwort. «Dann also nochmal: tschüs, Paul!» Kein Wort. «Haben wir alles?» Sie sah sich um, als würden auf dem Gehweg oder im Vorgarten noch Sachen herumliegen.

Er machte die Fahrertür auf. Sie stieg ein. Schnallte sich an. Pavel trat gegen ihre Sitzlehne. «Du zerschmetterst meine Knie! Rutsch vor, Mama!»

Sie zog den Hebel hoch und machte einen kurzen Ruck in Richtung Lenkrad. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn herum, der Motor sprang an. Anne schaltete das Licht ein, bog sich den Rückspiegel zurecht. Dann guckte sie zu Paul hoch. Er verzog keine Miene. Wolf machte sich eine Zigarette an, drehte das Radio auf.

«Lover, lover, lover, come back to me ...», sang Leonhard Cohen.

In diesem Augenblick schlug Paul die Wagentür zu. Anne erschrak fast. Dann gab sie Gas und fuhr davon. Im Spiegel sah sie ihn neben der Gartenpforte stehen, ruhig, unbewegt, bis sie endlich in die Kurve einbog und er verschwunden war.

Mit lautem Getöse, das der Familie Alberti eigen war und für das sie von vielen Mietern im Haus gehasst wurden, stürmten sie eine halbe Stunde später durch das Treppenhaus hinauf bis zu ihrer Wohnung. Luis schloss wie immer die Tür auf. Sein Bruder drängelte sich an ihm vorbei in den Flur. Danach kam Wolf, der die ganze Fahrt über kein Wort gesagt hatte und auch jetzt stumm eintrat. Anne bildete das Schlusslicht. Sie schleppte ihre Tasche, ihre Jacke und ein paar Klamotten ihrer Söhne, die hinten im Kofferraum noch herumgelegen hatten. Ihr taten die Füße weh. Sie war erschöpft und bedrückt. Doch sie hatte nicht einmal eine Sekunde Zeit, darüber nachzudenken, denn als sie in die Wohnung kam, traf sie fast der Schlag: Alle Räume waren hell erleuchtet, laute Musik dröhnte überall, es stank nach Rauch und nach Alkohol, die Türen, die vom Flur zu den Zimmern abgingen, waren sperrangelweit geöffnet, und überall standen junge Leute herum, die lachten und quatschten, tanzten, sich knutschten, herumalberten. Mädchen in pastellfarbenen Kleidchen, in Röhrenhosen, mit perlenbestickten Tops und knallkurzen Röcken, mit hochhackigen Sandaletten und Gucci-Slippern; Jungs in blauen Blazern und adretten Sommerflanellhosen, mit grünen Jeans und Blazern, auf denen College-Embleme prangten, mit Angelhüten, deren breite Krampen sie sich tief ins Gesicht gezogen hatten, Ringelpullundern, fett bedruckten Sweatshirts und weichen Stoffhosen in Übergrößen, die aussahen, als würden sie ihnen herabrutschen. Aschenbecher auf dem Boden, leere Flaschen, volle Weingläser; mittendrin Edward, der ein blondes Mädchen leidenschaftlich küsste.

«Eine Party!», schrie Luis. «Geil!»

Pavel umarmte einen jungen Mann, den er gut zu kennen schien. Wolf lehnte sich gegen die Wand. Genau wie Anne glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Sie knallte die Haustür mit dem Fuß zu, ließ alles fallen und stürmte auf ihren Sohn zu.

«Entschuldigung!», sagte sie und tippte dem Mädchen, das ihren Sohn in den Fängen hatte, auf die Schulter. Sie ließ von Edward ab und sah sich erstaunt um.

Edward wischte sich über den Mund: «Ihr seid schon zurück?»

«Nee!», antwortete seine Mutter. «Sind wir nicht. Siehste ja.»

«Sorry!» Er wollte seine Mutter mit einem Kuss begrüßen.

Sie drückte ihn weg. «Kannst du mir mal erklären ...»

«War so nicht geplant. Die sind einfach ... einer nach dem andern ... so gekommen, tut mir Leid.»

Anne war aufgebracht. «Also, ich finde, Edward ... das geht nicht.» Sie sah sich um. «Das geht einfach nicht. Du kannst hier nicht, ohne das mit uns abzustimmen, eine Fete machen. Sonntagnacht.»

«Och, Mama. Nun stell dich nicht so an!» Er knipste seinen ganzen Charme an. Und er war ein verdammt charmanter Junge. «Das ist übrigens Colleen. Sie war in meiner Klasse.»

«Hi! ...», sagte Colleen.

«Hi ...», sagte Anne.

Ein Handy klingelte. Es gehörte einem Mädchen, das in einer Gruppe quatschend neben Colleen stand und um seine hochtoupierten, flachsblonden Haare ein Frotteestirnband gelegt hatte. Sie trug ein rosa Etuikleid. Ihre Haut war zart gebräunt. Wahrscheinlich hat sie drei Sommerwochen St. Tropez hinter sich, dachte Anne, solche Mädchen fahren doch mit ihren Eltern immer in solche Gegenden. Ihre Augen waren kajalgeschwärzt. Die Zähne blitzten, als hätten sie den Auftrag, für Colgate Werbung zu machen. Auf ihren vollen Lippen schimmerte die Farbe von Perlmutt. Sie erinnerte Anne an ihre Schwester Ingrid: So hatte sie damals ausgesehen, vor mehr als zwanzig Jahren, als sie, die Ältere, das spießige Bremer Elternhaus in eine Diskothek verwandelt und Feten gegeben hatte, an denen Anne nur in Ausnahmefällen hatte teilnehmen dürfen. Jedes Mal hatte es Krach gegeben mit den Eltern und zwischen Anne und Ingrid. Von Anfang lag zwischen ihnen die Eifersucht. Ingrid: die Neidische, die aus ihrer Sicht Zu-kurz-Gekommene, die sich alles hatte erkämpfen müssen, was Anne nur so zugefallen war. Freunde und Freiheiten, Liebe, Talente, Anerkennung, Glück. Die Feten waren ihre Domäne. Ihr Raum zum Entfalten, in den Anne nicht eindringen durfte, ihr Spaß, von dem Anne nichts abkriegen sollte. Tolle Jungs und Hasch-Kekse und Cola-Rum und Dusty Springfield. I close my eyes and count to ten ... The only man, who could ever teach me, was the son of a preacher man ...

Das Handy klingelte impertinent weiter. «Willst du nicht mal rangehen?», fragte Anne aggressiv.

Das Mädchen kicherte. Blöd wie Ingrid, dachte Anne

«Hallo?», piepste sie in das giftgrüne Gerät. «Ich bin bei Eddie ...»

Eddie. Anne wusste, dass ihr Sohn es hasste, wenn sie ihn so nannte. «Eddie ...» sagte sie, «ich will, dass deine Freunde jetzt gehen.»

Edward sah seine Mutter ungläubig an.

Im Augenwinkel bemerkte Anne, dass ihr Mann sich in sein Arbeitszimmer zurückzog, die Schreibtischlampe anknipste und sich setzte. Schnell ging sie zu ihm.

«Wolf, ich möchte dich bitten ...»

Er gähnte. «Was?»

«Dass du was unternimmst ...»

«Was soll ich unternehmen?» Er streckte sich.

«Willst du arbeiten oder was?»

«Hast du was dagegen, Anne?»

Anne ballte ihre Hand zur Faust und schlug auf den Schreibtisch. «Ich habe etwas dagegen, dass du so tust, als hättest du mit alldem hier ...» Sie zeigte auf das Toben im Flur. «... nichts zu tun. Es ist dein Sohn. Es ist unsere Wohnung. Es ist gleich Mitternacht. Und ich möchte, dass du dich verantwortlich fühlst.»

«Ich weiß nicht, was mit dir los ist.» Er stand auf und schloss die Tür. «Den ganzen Tag geht das schon so. Wir haben doch ...», er wollte sie umarmen, doch sie trat einen Schritt zurück, «... einen herrlichen Ausflug hinter uns. Du hast doch allen Grund, zufrieden zu sein. Nun lass die Kinder doch ...»

Sie hätte ihn in diesem Moment erschlagen können. Er stank nach Wein und Zigaretten. Er war betrunken. Er verstand wie immer kein Wort. Er war nichts ahnend. Er war ein Trottel. Sie wollte keinen Trottel zum Mann. Wütend verließ sie sein Arbeitszimmer. Der erste junge Mann, der ihr unter die Finger kam, wurde von ihr wortlos zur Wohnungstür geschoben. Sie öffnete sie.

«So. Feierabend. Gehen Sie bitte.» Sie schob ein Pärchen, das neben der Garderobe lehnte, hinterher. «Hier ist jetzt: Feierabend!» Das Wort gefiel ihr. Sie klatschte in die Hände. Sie wollte einmal so laut und so resolut sein wie Sybille: «Feierabend!», schrie sie.

Edward kam angestürmt. «Mama! Das geht nicht. Ich habe meine Freunde eingeladen. Sie sind Gäste!»

«Nicht meine.» Das toupierte Handy-Girl kam ihr unter die Augen. «Und Sie bitte auch!», sagte sie kühl und deutete zur Tür.

«Mama, du bist ätzend!»

Pavel wollte seinem Bruder Schützenhilfe leisten: «Mama, nun lass uns doch ...»

«Es war nicht abgesprochen. Fertig. Schluss mit der Party.» Sie packte den herumtanzenden Luis am Schlafittchen.

«Ich denke, du hast morgen eine Mathearbeit? Ab, Zähneputzen!» Luis gehorchte. «Und mach diese ... entsetzliche ... Musik aus ... im Wohnzimmer.» Sie winkte drei junge Männer aus der Wohnung heraus.

«Das ist Pink!», erklärte Pavel trotzig.

«Ob Pink oder sonst was. Mir vollkommen wurscht, was das für eine Gruppe ist, oder was die spielen. Die können von mir aus Pop oder House, Hip-Hop oder Acid oder Heavy Metal ...», woher weiß ich das alles?, dachte sie nicht ohne Vergnügen, «... oder einfach nur den guten alten Schlager spielen. Aus die Maus. Party vorbei. Ende.» Einige junge Leute hatten gemerkt, was lief, und gingen. «Auf Wiedersehen», rief sie ihnen befriedigt nach.

Das Mädchen, das Edward abgeknutscht hatte, kam und gab ihm einen Abschiedskuss. Anne warf sie einen verächtlichen Blick zu. «Bis morgen!», sagte sie.

«Ja, bis morgen», antwortete er nur. «Ich hasse dich, Mama.»

Er sammelte ein paar Aschenbecher vom Dielenboden und ging in Richtung Küche. Auf seinem Weg erklärte er seinen Freunden im Vorbeigehen kurz die Situation. Es schien einen Geheimcode unter dieser Generation zu geben, denn ohne viele Worte und innerhalb von Sekunden waren alle verschwunden.

«Du bist echt krass!», sagte Pavel und half seinem Bruder beim Aufräumen.

«Das ist mir scheißegal! Euch ist ja auch scheißegal, was ich denke. Und ihr haltet euch auch an keine Regel, also bitte!», sagte sie und ging ins Bad, um zu kontrollieren, ob Luis sich wirklich die Zähne putzte.

Eine Stunde später lag sie im Bett neben Wolf. Es war Ruhe eingekehrt. Ihre beiden Ältesten hatten kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Aber sie hatte andere Sorgen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu Paul. Sie lag im dunklen Schlafzimmer und starrte zur Decke. Wolf schlief offenbar schon, obwohl sie noch nicht sein sonst so wüstes Schnarchen vernahm.

Schnarchen. Sie musste an ihr letztes Badewannengespräch mit Ebba denken. Es war ein wohlvertrautes Ritual, dass sie Ebba besuchte und bei ihr badete. Vor Jahren hatte ihre Freundin ihr angeboten, bei ihr zu baden, weil es in der Wohnung der Familie Alberti nur eine Dusche gab und Anne ohnehin zu Hause nie Ruhe genug hatte, sich der ausgiebigen Körperpflege hinzugeben. Ebba ließ ihr dann das Wasser ein, während sie sich entkleidete, goss herrlich duftendes und teures Öl dazu, holte dann, wenn Anne in den Schaum eingetaucht war und wohlig die Augen schloss, zwei Gläser mit Champagner oder Wein, setzte sich auf den Klodeckel und quatschte mit ihr, bis das Wasser kalt war und Anne wieder herauskam, sich in einen Kaschmirbademantel hüllte und sie ihr Gespräch auf dem Sofa fortsetzten.

An jenem Abend hatte Ebba erzählt, dass sie in der Nacht davor einen Liebhaber bei sich gehabt hatte, der sie nach ein «paar schönen Runden Sex» langweilte. «Tödlich. Töd-lich!» Um ihn wieder loszuwerden, hatte sie nachts um drei den Staubsauger angemacht und den Teppichboden im Schlafzimmer so inbrünstig gesaugt, dass der Liebhaber «völlig genervt» die Flucht ergriffen hatte. Ebba war bei ihrem Lieblingsthema angelangt, bei dem üblicherweise jedes Gespräch endete: Männer.

«Ich habe mal so gedacht, du weißt, ich bin immer auf der Suche nach Geschäftsideen, man müsste mal eine CD herausbringen ... für ganz junge Frauen, weißt du, solche, die noch glauben, Männer seien die Krönung der Schöpfung, was sie ja nicht sind, wie wir beide wissen, kurz, für solche Mädels und für jene in unserem Alter, die irgendwie in einer Beziehungskrise stecken, weil sie unter ihrem Kerl leiden, aber nicht von ihm lassen können. Scheidungsfälle. Situationen, wo sie mehr liebt als er. Also: Das ganz normale Ding ...»

«Und?» Anne patschte wie ein Mädchen mit den Händen ins Wasser, damit sich mehr Schaum bildete. «Was soll das für eine CD sein?»

«Eine mit Männergeräuschen.»

«Männergeräusche?»

Ebba lachte auf. «Kennst du irgendeine Frau, die solche Geräusche macht, wie sie ... na, ich sage mal: von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, jeder Mann macht? Das ist doch das Grauenhafte am Zusammenleben mit Kerlen, und sag mir jetzt nicht, das wäre mit Wolf nicht genauso ... schätze, der hat sogar ein Diplom im Geräuschemachen ...» Sie machte eine Pause. «Wie sie schnarchen ...»

«Ja, er schnarcht.»

«Ihr Brüllen, wenn sie sauer sind.»

«Stimmt.»

«Nase hochziehen. Bis zum Anschlag. Rülpsen, wenn sie sich so richtig heimelig fühlen.»

Sie lachten.

Ebba legte noch einen drauf: «Furzen im kleinen Kreis. Nur du und er.»

«Erspare mir weitere Details, Ebba!»

«Und das Schlimmste: Wenn sie morgens ins Bad gehen ...»

«Und pfeifen.»

«Nee, Anne, pfeifen geht ja noch.»

«Gurgeln.»

«Wenn's nur das Gurgeln wäre.» Ebba trank genüsslich einen Schluck Rotwein. «Ich rede vom Abschleimen.»

«Du bist so ekelhaft!» Anne tauchte unter im Wasser, kam prustend wieder hoch, strich sich die nassen Haare glatt nach hinten.

«Erzähl mir nicht, Wolf würde morgens nicht im Bad abschleimen. Das ist ein typisches Männergeräusch. Kennst du irgendeine Frau, die so was macht? Ich nicht. Ich weiß nicht einmal, woher die Männer diese Chuzpe, im Beisein der Frau, der Geliebten oder sonst wem, so hemmungslos ...»

«Du hast immer Ideen!»

«Und ich habe Recht. Oder?»

Anne lachte laut auf. Sie nickte heftig. Es stimmte. Wolf war auch so einer.

Ebba goss Anne Wein nach. «Bringen Mütter das ihren Söhnen bei? Wenn sie nicht, wer dann? Väter? Oder ist es ein angeborenes, seit Generationen überliefertes männliches Verhaltensmuster? Warum gewöhnen es Mütter den Söhnen dann nicht ab? Warum verbieten wir Frauen es ihnen nicht, so ... so rücksichtslos, ekelhaft zu sein?»

«Und davon willst du eine CD machen? Du hast einen Vogel, Ebba.»

«Dieses kleine, scharfe Pfeifzischschmatzgeräusch, wenn sie mittels Lufteinziehen Speisereste zwischen den Schneidezähnen beseitigen wollen. Das Stoffknistern, wenn sie sich am Sack kratzen.»

«Ebba, es reicht.»

«Für eine Sechzig-Minuten-CD, ja. Das wird ein Renner, ich sag's dir. Die Frauen werden sich totlachen. Auf jedem Kaffeeklatsch und jeder Tupperparty werden sie es vorspielen. Sie werden erkennen, dass es Gemeinsamkeiten gibt, über die sie vorher nie nachgedacht, geschweige denn zu sprechen gewagt haben. Und sie werden erkennen, dass Emanzipation Unsinn ist. Von solchen Tieren muss man sich nicht mehr emanzipieren.» Sie erhob sich vom Klo. «Wir stehen weit über denen. Selbst wenn wir unter ihnen liegen. Prost, meine Süße.»

In der Dunkelheit hörte Anne, wie Wolf sich zu ihr hindrehte. «Schläfst du schon?», fragte er.

«Nein», antwortete sie.

«Tut mir Leid, Liebling.» Er streckte seine Hand aus und strich ihr über den Unterarm. «Du hast Recht. Ich halte mich zu sehr aus allem raus. Ich überlasse dir zu viel von diesem ganzen Alltagskram. Die Jungs, da denkt man immer, sie seien endlich so weit, aber dann ist eben doch nicht so. Sie brauchen eine starke Hand. Und dann denkt man, die Anne, die macht das schon ... tja.» Er schwieg und schien sich zu überlegen, was er sagen wollte. «Mich macht das traurig, wenn ich das Gefühl habe, du zweifelst daran, dass ich für euch da bin. Immer. Ich bin immer für euch da. Das weißt du doch, oder?»

«Ja, das weiß ich, Wolf.»

«Auf meine Art.»

«Ja klar. Auf deine Art. Lass uns schlafen, es ist spät.»

Er rückte näher. Sie spürte seinen Atem.

«Ich will mit dir schlafen.» Er nahm ihre Hand und küsste sie zärtlich.

Sie zog sie zurück. «Nein.» Sie drehte sich zu ihm, gab ihm einen Kuss auf den Mund. «Ich bin müde.»

«Schade», sagte er.

«Ja, schade.» Sie drehte sich auf die andere Seite.

Ein paar Minuten später hörte sie ihn schnarchen. Anne aber lag wach und grübelte, bis es hell wurde.