KAPITEL 5

Capri

In der letzten Zeit war Wolf wieder in seine eigensinnige Phase eingetaucht. Anne nannte es so. Die eigensinnige Phase. Wolf war mit den Endarbeiten seines neuen Buches beschäftigt. Mit ihm war nichts mehr anzufangen. Er zog sich vollständig zurück, schlief manchmal sogar in seinem Arbeitszimmer. Wolf behauptete, er würde bis in die Morgenstunden zeichnen und wolle Anne nicht stören. In Wahrheit wollte er von ihr nicht gestört werden. Er aß fast nie mehr mit der Familie. Oft, wenn Anne gekocht, die Familie eben das Mittag- oder Abendessen beendet hatte und die Küche wieder aufgeräumt war und blitzte, trabte er an, gedankenversunken, und bereitete sich sein eigenes Mahl, das er im Stehen einnahm. Wenigstens brachte er das Chaos, das dabei entstand, selbst wieder in Ordnung – dieser Teil seines Systems immerhin funktionierte perfekt. Anne hatte Mühe, die Kinder von ihm fern zu halten. Und umgekehrt. Denn Wolf war in seiner eigensinnigen Phase leider meistens verwirrt und fast immer schlecht gelaunt.

In diesen Wochen war er der Papst des Pöbelns, der Tenno des Türknallens, der Meister der Missverständnisse, der Begründer des Vereins für schlechte Laune, und es hätte nur noch gefehlt, dass er damit begonnen hätte, Anne zu siezen und seine Söhne zu verwechseln.

Anne kannte diese Symptome zur Genüge. Wenn er durch war mit seiner Arbeit, verwandelte er sich wieder zurück von Mr. Hyde in Dr. Jekyll, gab den treu sorgenden Vater, den schluffigen Ehemann und beteiligte sich, im Rahmen seiner Möglichkeiten, die Anne ohnehin als sehr begrenzt empfand, am Familienalltag. Wenn das Buch erfolgreich war, und die meisten seiner Kinderbücher waren es, hatte Wolf sogar Anflüge von Euphorie. Er überhäufte alle mit Geschenken, er überraschte mit Einfällen wie Ausflügen, zu denen keiner Lust hatte außer ihm, er machte Vorschläge für Reisen, zu denen es aber nie kam. Wolf war ein Heim-und-Herd-Mann, ein Stubenhocker, eine Haltung, die er an Pavel und besonders an Edward vererbt hatte. Ihr letzter gemeinsamer Urlaub lag fünf Jahre zurück. Seitdem hatte er seine Frau und seine Söhne in den Ferien meistens, wie er es nannte, mit dem Auto «vorausgeschickt», nach Italien, Spanien, Frankreich. Leider kam er nie nach.

Sie saßen allein in Pensionen, billigen Hotels, auf Campingplätzen. Anne wollte stets etwas unternehmen – Besichtigungen, Wanderungen, ihren Söhnen, mit dem Reiseführer in der Hand, fremde Kultur und Geschichte nahe bringen. Edward, Pavel und Luis hatten keine Lust dazu, sie vermissten ihren Vater. Die Jungs waren enttäuscht und ließen das an ihrer Mutter aus. Anne war wütend und versuchte, immer das Beste aus allem zu machen. Es waren frustrierende Erfahrungen, mit drei Söhnen, deren Interesse an Land und Leuten sich aufs Schlafen, Essen, Diskobesuche und der Eroberung von Mädchenherzen beschränkte, die Urlaubstage zu verbringen.

Im letzten Jahr hatte Anne alle drei kurzerhand in ein Feriencamp nach England geschickt. Sie war zu Hause geblieben, und hatte die Ruhe und die freie Zeit genossen. Leider wurde sie oft unterbrochen, um R-Gespräche entgegenzunehmen. R-Gespräche, die darin bestanden, den jaulenden Luis aufzubauen, oder Pavel, der es in ausgeprägter Weise verstand, darüber zu lamentieren, dass er als Auszubildender finanziell und zeitlich besonders benachteiligt war. Sie versprach, Geld zu schicken, ermahnte Edward, auf seine Brüder aufzupassen, und wünschte sich einmal mehr, völlig frei und unabhängig zu sein. Anne sehnte sich nach Urlaub. Urlaub, wie sie ihn gerne gemacht hätte. Umsorgt, verwöhnt, bildend, bereichernd. Davon erzählte sie Paul.

Es war Oktober. Fast drei Monate dauerte nun schon ihr Verhältnis. Sie trafen sich, wann immer es ging. Eine Pension, nicht weit von Annes Wohnung entfernt, wurde zu ihrem Liebesnest. Heimlich gingen sie essen, spazieren bei Wind und Wetter, ins Kino, letzte Reihe Mitte, einmal in die Oper, in «Tristan und Isolde», denn Anne liebte Wagner-Musik. «Eine Ruth-Berghaus-Inszenierung: ich war schon zweimal drin: phantastisch!», hatte Anne erklärt, und war ins Schwärmen geraten.

Wenn sie von Richard Wagner sprach, erinnerte sie sich sofort an ihre Großmutter. Sie hatte ihr, dem träumerischen, zarten, blassen Mädchen, Wagner und seine Musik nahe gebracht. Damals war Anne so alt gewesen wie heute Luis. Schlagartig kamen ihr Bilder in den Sinn. Wie ihre Großmutter, verzweifelt auf der Suche nach jemandem in der Familie, der sie begleiten würde, ihr eine Karte für die «Götterdämmerung» in der Hamburgischen Staatsoper geschenkt hatte, zusammen mit einem alten Foto des Komponisten, an einem Regentag, bei Butterkuchen und Friesentee mit Kluntjes, die so schön knisterten, wenn man den heißen Tee in die Tasse goss. Wie sie am Bremer Hauptbahnhof auf die Eisenbahn gewartet hatten, mittags um zwölf, weil die Aufführung schon um halb fünf begann. Beide trugen schon ihre Abendgarderobe. Anne in einem geblümten Plisseekleid und schwarzen Lackschühchen mit Riemen. Ihre Großmutter in einem bodenlangen schwarzen Lurexrock aus Samt, zu dem sie eine üppige weiße Rüschenbluse trug, und darüber einen traurigen Regenmantel. Um ihre frisch ondulierten Haare zu schützen, hatte sie ein Plastikkopftuch umgebunden. Ihre klitzekleinen Füße steckten in quietschenden Schnürstiefeln. Die Abendschuhe, ebenfalls aus schwarzem Lack, hatte sie in einem Schuhbeutel verwahrt, der in einer Einkaufstüte aus Plastik steckte. Wie die Leute im Zug guckten, als die runde, runzelige Frau mit dem süßen Kind im Abteil saß und die mitgebrachten Stullen aßen und Kaffee aus dem Deckel einer Thermoskanne tranken. Wie die Großmutter Geschichten erzählte, die ganze Fahrt über, von Siegfried und den Walküren, von einem Zwerg und einem Drachen, von Hagens Speer und einem Zaubertrank, und wie sich nachher alles auf der Bühne noch viel schöner und imposanter und aufregender darstellte als in den Erzählungen. Hojotoho! Hojotoho!

Danach waren sie auf der gegenüberliegenden Seite der Oper in ein italienisches Lokal gegangen, dessen Besonderheit darin bestand, dass man nicht an gewöhnlichen Tischen und auf gewöhnlichen Stühlen saß, sondern in Oldtimer klettern musste, in denen die Kellner ihnen Pizza servierten und Annes ersten Wein. In der Nacht, die sie in der Wohnung einer entfernten Verwandten auf einem Schlafsofa verbrachten, hatten sie kaum geschlafen, sondern noch einmal die Oper Revue passieren lassen. Am nächsten Morgen ging es zurück, wiederum in Abendgarderobe, denn außer Wäsche hatten sie nichts zum Wechseln dabei. Sie mussten ein komisches Paar abgegeben haben, die Alte und das Mädchen. Fortan waren sie eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, die alljährlich einen Teil des «Rings» besuchte und hörte. Jahr für Jahr. Dann sollten «Die Meistersinger von Nürnberg» an der Reihe sein, aber als es so weit war, die Karten bestellt, die Reise geplant, die Garderobe ausgewählt, starb ihre Großmutter. Später, als Jugendliche, war Anne dann allein in die Oper gegangen, sie kannte alles von Wagner. Und jedes Mal musste sie zärtlich an ihre Großmutter denken, und es beschlich sie der sentimentale Gedanke, wie gerne sie doch, wenn sie genügend Geld gehabt hätte, eine zweite Karte gekauft hätte, den Platz neben sich frei gelassen hätte, für sie, die eigenwillige Mutter ihres Vaters, die ihr Leben lang nur eine Leidenschaft gekannt und sie an Anne weitergegeben hatte: Wagner.

Für Paul war der Opernbesuch ein Opfer, das er seiner Geliebten brachte. Er neigte zur Ungeduld. Andacht war ihm fremd. «Vier Stunden düstere Gesänge und zentnerschwere Musik und eine kitschige Liebesgeschichte, die in den Abgrund führt: nichts für mich!»

Anne hatte ihm geantwortet: «Man muss an alles mal herangeführt werden!»

Nach der Aufführung fühlte er sich in seinem Vorurteil bestätigt. Sie war traurig. Die beiden hatten ihren ersten kleinen Streit. Anne wünschte sich endlich jemanden zu haben, der alles mit ihr teilte, auch ihre Empfindungen und ihren Geschmack. Das war Liebe für sie: Dass man dasselbe wollte und dasselbe fühlte. Paul bezeichnete das als Unsinn. Er glaubte, dass Liebe sich aus Gegensätzen und Widerspruch entwickelte, weil, wie er behauptete, nur in der Individualität der Reiz liege, den anderen attraktiv und begehrenswert zu finden.

«Quatsch!», hatte Anne erklärt. «Liebe ist die vollkommene Harmonie.»

«Dann soll ich sein wie du, und du wie ich? Langweilig, Anne. Und auch ganz unmöglich. Wo gibt's denn so was?»

«Bei der großen Liebe.»

«Aber Liebe ist doch etwas Bewegliches, etwas Filigranes. Gefühle ändern sich, Stimmungen schwanken.»

«Na, das sind ja schöne Aussichten, Paul. Was willst du mir denn damit sagen? Dass deine ... Zuneigung für mich ...»

Er hatte ihre Hand genommen. «Zuneigung?»

«Deine ... von mir aus: Liebe gerade wieder abflaut?»

«Das sage ich doch gar nicht! Du drehst mir wirklich jedes Wort im Mund herum. Hab doch keine Angst.»

«Angst? Ich habe keine Angst! Ich vertrete doch nur die Meinung, dass das große Glück, das man bei der Liebe empfindet, darauf beruht, den Gegensatz aufzuheben ... sich – von mir aus – bei aller Individualität: nah zu kommen, ganz nah zu kommen ... und zu einer Art: Einheit zu werden.»

«Magst du Mozart?»

Da hatte sie gelacht, den Kopf geschüttelt und von «österreichischem Zuckerguss» gesprochen. Sie konnte Mozart noch nie ausstehen, ja, sie hatte seine Musik sogar, seit sie damals, im Alter von zehn Jahren, in der Schulaula, vor einem Publikum aus Eltern, Lehrern und Schülern eine Mozartklaviersonate hatte vorspielen müssen: «alla turca »

Paul hatte ein paar Takte gesummt. «Na, das ist ja auch für ein Kind recht schwierig, nicht wahr?»

«Deshalb war ich auch so was von lausig! Die größte Niederlage meines Lebens.»

«Und das lastest du Mozart an?»

«Das ist Kitsch, Paul. Nicht Richard Wagner!»

Er hatte ihr erzählt, dass «Cosí fan tutte» seine Lieblingsoper sei, und dass er lange Zeit davon geträumt hatte, Sänger zu werden, nur um die Arie «Un aura amorosa» singen zu können. «Ich gestehe dir eine geheime Leidenschaft: Wenn ich nicht schlafen kann, was leider oft vorkommt ...», er hielt einen Moment inne, «dann höre ich am liebsten Mozart, nachts um zwölf. In meiner Bibliothek, vor dem Kamin, ganz allein, wenn Sybille und die Mädchen im Bett liegen, so laut es geht, das macht mich glücklich, ich könnte weinen, es ist so schwebend und doch so tief geerdet wahr, gefühlvoll, reich. Ich bin dann ein anderer Mensch. Und wenn du von Heranführen sprichst: Ich werde dich an Mozart heranführen. Ich werde dafür sorgen, dass du seine Musik genauso schätzen und genießen wirst, wie ich es tue.»

«Niemals!» Sie hatte ihren Zitronenmund gemacht und in ihren Blick Abwehr und Verachtung gegossen. «Mozart, pphh ...»

«Darauf wette ich.»

«Ich wette nicht, Paul. Schon gar nicht bei einem solchen Thema.»

«Wo ich doch so gerne wette! Schade.» Er hatte ihre Hand gestreichelt. «Noch etwas, das uns trennt.»

«Und so verbunden sein lässt.»

«Und so begehrenswert macht.» Der Abend war glücklich zu Ende gegangen.

Das Überschreiten von Verboten stärkt den Mut, aber es schwächt die Vernunft. Man verliert das Gefühl für die Gefahr, den Blick für das richtige Maß. Anfangs waren ihr die Stunden in der Pension peinlich gewesen, dann sehnte Anne sie herbei. Lagen in den ersten Wochen noch die Schatten der Angst und der Skrupel über ihren Begegnungen, schwebten Anne und Paul jetzt auf und davon, weit weg von Verantwortung und Verpflichtung, von ihren Partnern, ihren Kindern. Sie wollten nicht mehr darüber reden oder diskutieren, dass sie Betrug und Verrat begingen, sie wollten ihre gemeinsame Zeit genießen, ohne jede Einschränkung. Der Egoismus hatte gesiegt, der Egoismus und die Liebe.

Das Schicksal schließlich bereitete ihnen ein bequemes Bett. Bei einem Spaziergang entlang der Elbe, an einem grauen, windigen Herbsttag, als das Wasser hoch stand und das Laub wirbelte, blieb Paul auf einmal stehen und zog aus seiner Kordjacke zwei Flugtickets.

«Hör zu, Anne», sagte er feierlich. «Sybille fährt mit Ruth und den Mädchen für zehn Tage nach Sylt. Zur selben Zeit, wenn Wolf auf der Buchmesse in Frankfurt ist. Ich habe alles bereits geplant. Meine Praxis bleibt für eine Woche geschlossen. Du und ich fliegen nach Neapel. Von dort geht es rüber nach Capri. Da warst du noch nie. Und ich wollte dich ...», er schmunzelte, «heranführen an diese Insel.»

«Das hast du alles geplant. Einfach so. Ohne mich zu fragen.» Anne konnte ihre Verwirrung nur schwer unterdrücken. «Ich wollte dich überraschen.»

«Das ist dir gelungen.» Normalerweise hätte Anne widersprochen. Sich gewehrt, aufgelehnt, abgesagt. Doch in diesem Moment wollte sie nichts sehnlicher als mit Paul abhauen, weit weg nach Italien, nach Capri, dem Inbegriff von Romantik. Sie wollte, dass dieses Märchen wahr würde. Ein Märchen ohne böse Stiefmütter, Hexen, Zauberer, ohne Flüche und Gift, ohne bittere Drehungen und Wendungen, ein Märchen, in dem es nur sie gab, das Aschenputtel, und ihn, den schönen Prinzen.

Sie umarmte Paul und flüsterte ihm ins Ohr, wie sehr sie sich freuen würde. Paul war erstaunt, denn er hatte damit gerechnet, dass er sie mühselig überreden müsste.

«Wo ist die Kutsche?», fragte sie.

«Geduld!», antwortete er.

Am Tag darauf kam Ebba vorbei. Sie war in den Aufsichtsrat einer Modefirma berufen worden und hatte Bombenlaune. Das brachte ihr zwar kein Vermögen ein, aber Reputation, und es machte ihr Spaß, hielt sie sich doch für eine Expertin in Sachen Mode. An diesem Abend trug sie einen grauen Hosenanzug, sie strahlte diese lässige Arroganz aus, die Anne an ihr liebte und zugleich auch ein wenig fürchtete. Luis saß neben Ebba am Küchentisch und lauschte dem Gespräch der Frauen, während Anne am Waschbecken stand und Salat für das Abendessen putzte.

«Nee, danke, für mich nur 'n Wasser, ich habe heute Mittag schon so viel Wein getrunken, Mann, war das ein anstrengender Tag. Aber klasse! Alles läuft im Moment perfekt.» Ebba besah sich ihre linke Hand und drehte den Zweikaräter hin und her. «Vielleicht später. Was gibt's denn?»

«Das ist ja ganz was Neues. Luis, gib Ebba ein Wasser.» Luis guckte doof.

«Speisekammer.»

«Habt ihr kein kaltes?»

«Kühlschrank.»

Er stand zeitlupenlangsam auf, schlich in Zentimeterschritten zum Kühlschrank, öffnete ihn tempolos, als sei beides, die Tür und sein Arm, eingefroren. Ebba sah ihm staunend zu.

«Ist sein neuster Tick!», erklärte Anne und drehte die Kurbel der Salatschleuder. «Er hat im Fernsehen ‹Die Körperfresser kommen› gesehen. Seit vorgestern denkt er, er sei ein Körperfresser.»

«Ach du Schande.»

Anne nahm den gelben Plastikdeckel von der Schleuder ab und schüttelte den Salat in eine große Glasschüssel. «Ich hatte gedacht, weil du ja gerne Spaghetti magst.» Sie griff nach dem Holzlöffel und rührte damit die Tomatensoße um, die dick blubbernd in einem Kupfertopf auf dem Herd kochte, «Pasta mit Sugo al pomodoro ...»

«Köstlich! Luis, ich bitte dich! Bist du beknackt? Soll ich aus der Flasche saufen, oder was? Hol mir ein Glas. Ist genauso faul wie sein Vater, der Bengel.»

Luis wurde plötzlich hektisch. «Papa ist nicht faul. Papa zeichnet Kinderbücher. Und du kannst überhaupt nicht zeichnen.»

«Woher willst du das denn wissen? Meine Gemälde hängen in allen großen Galerien und Museen dieser Welt. Dein Vater macht nur Kinderbücher! Das kann jeder!»

Luis glaubte ihr das natürlich nicht und zeigte ihr einen Vogel. «Und ich bin auch nicht faul!»

Ebba ging darauf nicht ein: «Hör mal Luis: Ich bin groß und du bist klein. Ich bin klug und du bist doof. Ich habe Recht und du nicht. Alles klar? Dann hol mir ein Glas.»

«Hol Ebba bitte ein Glas, Luis. Und dann gehst du und sagst Papa Bescheid und Edward. Wir essen in fünfzehn Minuten.» Anne drehte sich kurz zu ihrer Freundin um, «Pavel hängt noch beim Arzt rum, der kommt sicher spät, ihm ist gestern ein Schweißgerät auf den Fuß geflogen. Der Herr will ja keine Schuhe mit Stahlkappen tragen ...»

«Er ist aber auch eine Pechmarie.» Ebba zitierte ein Wort, das Annes Mutter im Zusammenhang mit Pavel geprägt hatte.

«Jaja, nun rede du auch noch so. Aber er hat wirklich Pech, das stimmt. Das muss sauweh tun.»

«Was gebrochen?»

«Zum Glück nicht.»

Luis stellte Ebba das Glas hin, blieb aber neben ihr stehen und beobachtete, wie sie den Verschluss der Flasche aufdrehte, sich Wasser eingoss und in großen Zügen trank.

«Luis!», ermahnte Anne ihren Sohn. «Was habe ich eben gesagt?»

«Warum muss ich denn immer?»

Ebba antwortete für Anne: «Weil wir dich loswerden wollen.»

Luis ließ sich nicht beirren. Er kannte Ebbas spröden Charme. Er schien ihn zu lieben. «Warum wollt ihr mich loswerden? Habt ihr was Geheimes zu besprechen?» Er legte ein Knie auf den Stuhl neben Ebba.

«Mach's dir gar nicht erst gemütlich!» Ebba schubste Luis' Knie von der Sitzfläche. «Verpiss dich.»

«Gott, Ebba!» Anne goss Balsamico in einen Kaffeebecher.

«Frau Wengeloh hat mich gestern auch weggeschickt. Aber ich weiß, warum. Ihre Schwester ist verrückt geworden.»

«Soso.» Ebba war nicht an der Lebensgeschichte der Nachbarin interessiert.

«Sie häkelt.«

«Dann muss sie verrückt sein.» Ebba stand auf, kam zu Anne. «Brauchst du Hilfe?»

Anne schüttelte den Kopf und ließ blassgrünes Traubenkernöl zu dem Balsamico rinnen.

«Sie häkelt Babykleidung.» Luis drängelte sich zwischen die Frauen. «Sie ist fast siebzig. Und Frau Wengeloh, die ist Witwe, weißt du, und ihre Schwester ist ihr eigen Fleisch und Blut, sagt sie ...»

Ebba umfasste Luis, der nur noch zwei Köpfe kleiner war als sie, an den Hüften, drehte ihn zu sich herum und sah ihn fest an: «Hör zu, junger Mann. Wenn du eine interessante Geschichte zu erzählen hast, erzähl sie. Wenn nicht: Klappe. Frauen hassen Langweiler. Merk dir das gleich mal für die Zukunft.» Sie küsste ihn knallend auf den Mund, so, als wolle sie sich bei ihm entschuldigen.

Mit dem rechten Handrücken wischte sich Luis den Mund ab. «Sie ... also die Schwester ... und deshalb weint Frau Wengeloh, voll krass ... häkelt Babykleidung: Für ihr eigenes Baby!»

«Für ihr eigenes Baby?», riefen Anne und Ebba wie aus einem Mund und starrten Luis an.

Er triumphierte. «Sie denkt, sie sei schwanger. Cool, oder?»

«Das ist allerdings eine interessante Geschichte!», meinte Ebba und tauchte ihren kleinen Finger in den Kaffeebecher, in dem Anne mit Salz und Pfeffer eine Vinaigrette gerührt hatte. «Hmm. Lecker!»

«Und das lässt sie sich auch nicht ausreden. Und letzte Woche halt ... hat ...» Luis war aufgeregt und verhaspelte sich, «... hat sie, sagt Frau Wengeloh zum Doktor Kreusmann, mit dem hat sie nämlich telefoniert, einen Schmelzkäse in die Pfanne gelegt.»

Ebba lachte. «Wie aufregend!»

«Weil sie dachte, es ist Butter. Sie wollte ein Schnitzel braten, sie verwechselt immer alles. Den Telefonhörer mit einer Banane und so. Geil. Die ist total verrückt. Sie denkt, sie kriegt ein Baby.»

Anne versuchte, etwas Ruhe in Luis' Geplapper zu bringen: «Er weiß immer alles. Alles, was im Haus passiert. In der Schule, bei seinen Freunden. Er kommt nach Hause und sagt, die Eltern von dem lassen sich scheiden, der schlägt seine Frau, die betrügt ihren ...» Den Rest des Satzes verschluckte sie. Ebba und Anne sahen sich an. Beide dachten dasselbe.

«Ich wollte ja auch mal Detektiv werden. Aber jetzt nicht mehr.»

«Unser kleiner Stasi-Luis. Wie niedlich!», frotzelte Ebba.

«Er wird mal Klatschkolumnist!», sagte Anne und gab ihrem Sohn einen Klaps auf den Po. «Jetzt sag deinem Vater und Edward Bescheid.» Sie ließ die Spaghetti aus dem Pappkarton in das sprudelnde Salzwasser gleiten.

«Tänzer!», rief Luis vergnügt, drehte eine Pirouette und rannte endlich aus der Küche. «Oder zum Film! «

«Wie du das nur aushältst, rund um die Uhr!» Ebba fischte sich ein Salatblatt aus der Glasschüssel und sprach mit vollem Mund weiter: «Jetzt könnte ich doch einen Vino vertragen. Aber vorher sagst du mir noch schnell: Geht es dir gut, Annette? Bist du glücklich? Sag schon!»

Anne nahm einen Gavi di Gavi aus dem Kühlschrank und zwei Weingläser aus dem Regal, öffnete die Flasche, goss sich und ihrer Freundin ein, und stieß mit ihr an.

«Sehr!»

«Ich kann es immer noch nicht glauben: Meine beste Freundin! Du wirfst alles über den Haufen, was ich an Wertvorstellungen mit mir herumtrage. Du warst eine ... eine Madonna!»

Anne winkte ab. «Aber dann eine mit Schönheitsfehlern.»

«Du hast noch mehr abgenommen.»

«Sieht man das?»

Ebba nickte und dachte: Ich könnte auch gut ein paar Pfund weniger vertragen. Vielleicht ist mein Leben in Wahrheit viel zu langweilig und gemütlich. Vielleicht brauche auch ich dringend mal wieder jemanden, der etwas Aufregung in mein Leben bringt.

«Paul hat mich nach Capri eingeladen!», sagte Anne mit gedämpfter Stimme. Das Nudelwasser kochte zischend über, sie sprang auf, um das Gas herunterzudrehen. «Übernächste Woche.» Sie breitete ihre Arme weit aus. «Fünf Tage Capri. Nur er und ich.»

«Wie soll das denn gehen?»

«Du musst mir helfen, Ebbalein.» Sie kam an den Tisch zurück, «Wolf geht zur Buchmesse, weißt du ja ...»

«Und ich hüte deine Bestien ein? Vergiss es, Baby!»

Anne schüttelte den Kopf: «Aber nein! Du sollst Wolf nur glaubhaft versichern, du und ich würden ... dass ich mit dir irgendwohin fahre, ans Meer, in die Heide, nach Berlin, was weiß ich.» Voller Selbstverständlichkeit trug sie das vor, nicht fragend, sondern fordernd. Ein Ton von Impertinenz lag darin, eine Haltung wie: Jetzt bin ich mal dran, nicht du.

So jedenfalls kam es bei Ebba an. Sie rieb sich das Genick, drehte ihren Kopf hin und her, als müsse sie etwas einrenken. Dann drückte sie an den Seiten ihre Haare zurecht. «Anne, es tut mir Leid, das mache ich nicht. Freundschaft hin oder her. Ich finde, du gehst über Eisschollen, die jeden Moment brechen können. Ich will und ich kann dem nicht Vorschub leisten. Das geht mir zu weit. Wir sind ja keine Teenies mehr. Es ist dein Leben, das sind deine Entscheidungen. Du hast gegen meinen Rat gehandelt, du steckst richtig tief in der Scheiße, Darling, und dein Problem ist, dass du es nicht einmal weißt. Ich mag deine kleine, runde Familie, auch wenn ich manchmal den Eindruck erwecke, dem sei nicht so. Ich liebe diesen süßen Gangster Luis, ich schätze Pavel, seine Sensibilität, sein bedachtes Wesen. Und dass ich Edward ins Herz geschlossen habe, als wäre er mein Sohn, weißt du selbst.»

«Sei doch nicht so kitschig! Ins Herz geschlossen. Meinen Sohn. Das Erste, was ich höre.»

Es war, als hätten sie die Rollen getauscht. Auf einmal war Ebba die Redliche, Vernünftige, Vorsichtige, Liebende. Und Anne die Wilde, Ausbrechende, Durchgeknallte.

«Und mir tut auch Wolf Leid. Ich bin kein Fan von ihm, aber was du jetzt veranstaltest, nur weil er dich in den letzten Jahren nicht mehr ...» Sie unterbrach sich vorsichtshalber, denn Annes Gesicht verfinsterte sich, «... nicht mehr mit dir schläft!»

«Ebba!» Anne wurde laut. «Das geht jetzt echt zu weit.»

«Wer hier wohl zu weit geht!» Auch Ebba hob ihre Stimme.

«Bitte!», mahnte Anne. «Hier haben die Wände Ohren, ich möchte nicht, dass ...»

«Was möchtest du nicht? Was möchtest du nicht? Sag mir das mal. Ich höre immer nur, seit Jahren, was du möchtest. Jetzt nimmst du dir, was du immer wolltest ...»

«Und wozu du mir immer geraten hast, du Unschuldsengel!», unterbrach Anne zickig.

«Nur die Konsequenzen willst du nicht tragen.» Ebba goss sich Wein nach. «Wir sind sicher grundverschieden, du und ich. Aber eines kannst du mir bestimmt nicht vorwerfen: dass ich unehrlich wäre. Ich sage immer die Wahrheit, ich sage immer, was ich denke. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube! Und bestimmt habe ich keine Lust, deine Alibimaschine zu sein! Mich an deinen Spielchen zu beteiligen, die ohnehin zu nichts führen außer in die Katastrophe. Das habe ich dir schon vor Monaten prophezeit. Und jetzt bist du kurz davor. Das sage ich dir.»

Anne nahm den Kaffeebecher, kehrte zum Tisch zurück und goss die Vinaigrette über den Salat. «Du meinst also, ich sei unehrlich?»

Ebba zeigte zur Tür: «Warum gehst du nicht da raus in das Zimmer von Wolf und erzählst ihm, was los ist?»

«Du bist ja verrückt Ebba! Denk mal nach, was du da redest!»

«Ich sage dir warum: Weil du feige bist. Weil du zu deiner Liebe, oder was du dafür hältst, nicht stehst. Weil du genau weißt, dass es nur eine vorübergehende Affäre ist. Das ist alles richtig Scheiße!» Sie sprang auf, krachend fiel ihr Stuhl um. Sie nahm ihre Handtasche, die auf dem Boden stand, hob den Stuhl nicht auf.

«Das ist jetzt nicht dein Ernst. Sag mir, dass du das nicht ernst meinst.»

«Na ja, die Wahrheit über dich konntest du ja nie gut vertragen. Das ist wohl so bei schwachen Menschen.» Sie ging zur Tür. In diesem Augenblick kam Wolf hereingeprescht.

«Ebba!», sagte er und breitete seine Arme aus. «Grüß dich!»

«Ja, grüß dich.»

Er umarmte sie.

Luis rannte in die Küche. «Edward ist aufm Klo.»

Wolf ließ Ebba los, stellte den Stuhl auf. «Endlich was zu essen!»

Er kam zu Anne, die fassungslos am Herd stand, lächelte sie an, beugte sich über den Kupfertopf und schnupperte. «Ich habe einen Bärenhunger!» Er sah sich um und holte sich ein Glas.

Luis sah abwechselnd zu seiner Mutter und zu Ebba, die schweigend und wie erstarrt in der Küche standen. «Habt ihr euch gestritten?», wollte er wissen.

«Ja», antwortete Ebba. «Deine Mutter wird dir sicher gerne erklären, warum und worüber. Ich hingegen ...», sie hängte ihre Handtasche über den Arm, «hau jetzt ab ...»

«Wieso das denn?», fragte Wolf.

«Ich habe Kopfschmerzen!» Sie drehte sich um und wollte gehen. Anne senkte den Kopf. In der Tür wäre Ebba beinahe mit Edward zusammengestoßen.

An den Schultern hielt er sie fest: «Hi!», er lächelte sie an, seine wasserblauen Augen leuchteten vor Vitalität. Mit Bedacht küsste er sie erst auf die linke, dann auf die rechte Wange. Sein Atem roch nach Pfefferminz, sein gegeltes, dunkles Haar duftete nach Vanille, sein Rasierwasser, das er sich eben erst aufgesprüht haben musste, verströmte das Aroma von Zitrone und frischem Moos. Aus seinem T-Shirt kamen Brusthaare hervor, seine Jeans saßen knalleng und betonten seinen runden Hintern. Was für ein schöner Junge, dachte Ebba und erwiderte sein Lächeln.

«Du haust schon ab?»

«Ja.» Über die Schulter sah sie sich noch einmal nach ihrer Freundin um. «Leider.»

«Ich bring dich zur Tür, warte!» Edward folgte ihr durch den Flur bis zur Haustür. «Man sieht dich viel zu selten, immer hockst du nur mit Anne rum.»

Ebba drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür. «Vorschlag?», fragte sie.

«Wir müssen mal wieder richtig quatschen. Beim Cappuccino oder so.»

Sie trat hinaus in den Flur. Eine alte Frau mit einer Katze auf dem Arm kam vorsichtig die Treppe herunter.

«Besuch mich doch mal in der Bank, wenn du Zeit hast.»

«Okay. Die Zeit nehme ich mir.» Er zog sie noch einmal zu sich heran und küsste sie auf die Wange.

«Dann tschüs.»

«Ciao, bis bald, Ebba», sagte er, und sie hatte den Eindruck, seine Stimme klänge noch tiefer als sonst. Im Weggehen hörte sie ihn noch «Guten Abend, Frau Wengeloh!» sagen, dann fiel die Tür ins Schloss.

Es gibt im Leben Momente des Glücks, die wir häufig erst im Nachhinein als solche empfinden. Augenblicke aber, deren Reichtum und Schönheit wir bewusst erleben, in der Sekunde, in denen sie geschehen, sind von einer solchen Vollkommenheit, dass wir glauben, dem Paradies ganz nahe gekommen zu sein. Von ihnen zehren wir ein Leben lang.

Als Anne an diesem Oktobernachmittag auf der Terrasse stand, von Wind umweht, gewärmt vom müden Sonnenlicht, das sich über die Bucht legte und kurz davor war, im Meer unterzugehen, fühlte sie sich eins mit der Welt. Capri! Sie waren angekommen! Ganz so, wie Paul es versprochen hatte. Von Hamburg waren sie bis Neapel geflogen, mit einem Taxi herunter zum Hafen gefahren, hatten ein Tragflächenboot bestiegen und mit ein paar wenigen Touristen nach einer knappen Stunde die Insel erreicht,

Das Klischee lebt!, dachte sie. Ein Hafen wie im Bilderbuch, so bunt. Fünfziger-Jahre-Taxis, deren Besitzer wie träge Löwen an ihren Autos lehnten und auf Gäste warteten. Fischer, die ihre giftgrünen, tintenblauen und erdbeerroten Boote reparierten oder Netze flickten. Vor den Tabakläden, Kneipen und Cafés saßen Frauen auf rostigen Stühlen und palaverten. Eine Reiseführerin hatte ihren Regenschirm aufgespannt, um einer Gruppe von Senioren, die für einen Tagesausflug von Ischia herübergekommen waren, bis auf die Zähne mit Fotoapparaten und Videokameras bewaffnet, zu signalisieren: Hier geht's lang! Die Alten knipsten und filmten, als könne man, indem man alles festhält für die Ewigkeit, dem Tod ein Schnippchen schlagen. Kinder, so schmutzig wie fröhlich, tobten herum. Oben in der Luft zogen ein paar Seemöwen seelenruhig ihre Bahnen. Irgendwo krakeelte ein Kofferradio. Eine Funicolare surrte den Berg hinauf. An seinem Hang klebten neugierige Häuser, bunt wie die Boote und die Taxis der Insel. Wen hatten sie nicht alles schon ankommen sehen, was hatten sie nicht alles schon erlebt vor ihrer Nase und hinter ihren dicken, kühlenden Wänden.

«Nachsaison», hatte Paul konstatiert, «die beste Zeit zum Reisen!» Nachdem sie das Tragflächenboot verlassen und ihre Taschen von einem Schiffsjungen in Empfang genommen hatten, gingen sie ein paar Schritte entlang der Quaimauer, bis sie einen unrasierten alten Mann entdeckten, der auf seinem zitronengelben Holzkarren saß, und ein Schild hochhielt: Hotel Villa Brunella. Paul, der gut Italienisch sprach, stellte sich ihm vor, überließ ihm das Gepäck und entschied, dass sie mit der Seilbahn vom Hafen hinauffahren würden, nach Capri.

Während sie mit dem surrenden Waggon höher und höher stiegen, erklärte Paul Anne die Insel. Anne erfreute sich an seinem Stolz, mit dem er dies und jenes zeigte – «schau!», «sieh», «dort drüben», «da hinten», «später», «heute Abend», «morgen», «seinerzeit», «damals» –, sie hatte Spaß an den Geschichten, sie lauschte mit Vergnügen, denn er war ein wunderbarer Erzähler, sie hörte ihm gerne zu, denn sie liebte alles an ihm, auch seine warme, tiefe Stimme.

«Das war jetzt Marina Grande – der große Hafen. Im Gegensatz zu Marina Piccola, den zeige ich dir morgen. Du wirst es lieben, Anne, jede Wette. Oben, wo wir gleich ankommen werden, liegt Capri. So heißt eben nicht nur die Insel, sondern auch der Ort, in dem wir wohnen. Im Gegensatz dazu – auf Capri hat alles seine Entsprechung, seinen Gegensatz, das wirst du noch merken – gibt es den anderen Ort, eine Viertelstunde mit dem Auto über eine Bergstraße entfernt von Capri: Anacapri. Mag ich nicht. Wirst du auch nicht mögen.»

Sie waren auf dem großen, fast quadratischen Platz, der Piazza, angelangt. Drehte man sich um, hatte man eine prächtige Aussicht hinunter auf den Hafen und den Golf von Sorrent. Sah man nach rechts, erblickte man Gassen, verwinkelte Wege, Stufen, Torbögen, bröckelndes Mauerwerk, von dem sich alte, zerrissene Plakate ablösten, und das Ende der Straße, auf der Taxis, Lieferwagen und Vespas brummend, knatternd, hupend und quietschend heraufgefahren kamen und bei all der drangvollen Enge immer noch einen Platz zum Parken ergatterten. Links thronte eine Kirche mit einem kantigen Glockenturm, die den Abschluss einer Zeile von Häusern bildete, die den Platz säumten. Fast alle hatten Balkone. Zu ihren Füßen lagen Hauseingänge mit geschnitzten Holztüren, Modegeschäfte, Schmuckläden, Kioske, Banken, vor allem aber Cafés mit riesigen Markisen und Schirmen, unter denen Korbstühle und Eisentische standen. Die Cafés bildeten das Herz der Piazza. Überall hatten sich Gäste und Inselbewohner ausgebreitet. Elegante Italiener, die hinter dunklen Sonnenbrillengläsern ihre wahren Absichten verbargen, tranken Espresso und beäugten gespielt gelangweilt die Frauen, die schlendernd oder gehetzt vorbeigingen. Liebespaare, die Beine selbstzufrieden weit ausgestreckt, als gehöre ihnen die Welt, hielten Händchen, küssten, guckten, fütterten sich mit Eiscreme. Urlauber lasen Zeitungen, um voller Genuss zu erfahren, welches Grauen daheim passierte oder am anderen Ende der Welt. Kellner mit langen Schürzen schleppten auf Blechtabletts Campari und Cappuccino heran, rückten Stühle zurecht, räumten ab, kassierten, bonierten. Andere hatten die Hände auf dem Rücken verschränkt, standen in den Eingängen, deren Glastüren weit geöffnet waren, und warteten auf einen Wink, einen Ruf, eine Kopfdrehung, ein Lächeln. In der Sinfonie des Dienens beherrschten sie jedes Instrument, jeden Ton. Sie spielten, was man von ihnen verlangte. Arrogant und gleichgültig konnten sie sein, höflich und zuvorkommend. Den einsamen Damen gaben sie den Charmeur und Verwöhner, der auch nach Dienstschluss noch nicht Feierabend hatte. Italienischen Gästen schienen sie Freunde zu sein. Für Touristen waren sie Führer durch das Dickicht der fremdartigen Speisekarte, servierten nimmermüde und beflissen, immer das eine Ziel im Kopf: reiches Trinkgeld.

Anne beobachtete alles voller Faszination. Am liebsten hätte sie sich in die Bar Tiberio gesetzt, von der Paul behauptete, es sei die einzige, «in die man geht». Aber ihr Liebhaber vertröstete sie auf später und führte sie quer über den Platz, durch die Fußgängerzone hindurch, vorbei an den Geschäften und Hotels, bis zu einem gepflasterten Weg, der in den dicht bebauten und üppig bewachsenen Hang geschlagen war, und in dessen Mitte ihr kleines Hotel lag. In Terrassen gebaut, zog es sich zum Meer hinunter, so schmal, dass fast jede Etage nur aus einem oder zwei Zimmern bestand.

Der Wirt begrüßte Anne mit einem vollendeten Handkuss und Paul wie einen guten Bekannten. Er sprach perfekt Deutsch und erinnerte sich daran, dass sein Gast schon dreimal hier gewohnt hatte. Dass Paul sonst mit einer anderen Seniora gereist war, verschwieg er geübt. Anne gab die Vertrautheit des Mannes einen Stich ins Herz. Sofort war ihr klar, dass Paul und Sybille hier ihre Ferien verbracht hatten, und sie erinnerte sich jetzt daran, wie oft die beiden von Capri geschwärmt und sie und Wolf animiert hatten, doch einmal mitzukommen. Als der Wirt, neben dem ein träger Deutscher Schäferhund hertrottete, ihnen das Zimmer mit der Nummer 42 präsentierte, spürte sie einen Moment lang Unbehagen: Sybille war vor ihr hier gewesen, hatte in dem Doppelbett geschlafen, sich im Badezimmer gepflegt, auf der Terrasse gesonnt. Doch sie war alt genug, um zu wissen, dass man nicht nur mit seiner eigenen Vergangenheit, sondern auch mit der seines Partners leben können muss; Eifersucht ist ein destruktives Gefühl, das sich aus Schwäche nährt. Anne aber wollte stark sein und sie wollte vor allem die Kraft und die Stärke, die Energie und Lebensfreude, die Capri wie keine andere italienische Insel ausstrahlt, genießen.

In Windeseile packten sie aus und richteten sie sich ein im Zimmer Nummer 42, dem schönsten des Hauses, wie der Wirt immer wieder betonte. Das Bad, in dem sich Anne die Hände wusch und die Haare frisierte, war groß und kühl. Der Schlafraum verfügte über Antiquitäten und einen Kamin; vom Wohnzimmer gelangte man auf die Terrasse, die, mehr als zwanzig Quadratmeter groß, ein märchenhaftes Panorama bot, auf das Wasser, den Himmel, den gegenüberliegenden Hang mit seinen Villen und Pinien und wilden Blumen und noch immer blühenden Sträuchern.

Sie schliefen miteinander. Danach duschten sie, zogen sich um und schlenderten zur Piazza zurück, wo sie in die Bar Tiberio einkehrten und Paul Bellinis bestellte, eiskalten Prosecco mit Pfirsichmark. Nach ein paar Gläsern wurde es draußen kühl. Paul legte ihr seinen Blazer über die Schultern, und Anne genoss seine Höflichkeit. Auch in diesem Punkt war sie entwöhnt. Paul hielt ihr die Tür auf, wenn sie einen Raum betraten, ließ ihr stets den Vortritt. Er half ihr in den Mantel, erhob sich, wenn sie aufstand oder zu ihm kam. Im Restaurant gab er dem Kellner ihre Wünsche weiter. Er unterbrach sie nicht im Gespräch, es sei denn, sie führten eine hitzige Diskussion, was im Übrigen nicht selten vorkam. Auf wunderbare Weise gab er ihr immer wieder das Gefühl von Wichtigkeit und Ernstgenommenwerden, er respektierte Anne. Seine Höflichkeit war das Ergebnis guter Erziehung, blieb nie in hohlen Ritualen stecken. Form und Inhalt waren für ihn eine untrennbare Verbindung, es war eine Höflichkeit des Herzens, keine des Dünkels und der Äußerlichkeit.

Paul unterhielt sie blendend. Er brachte sie zum Lachen. Unterhaltsame Anekdoten trug er vor, und unwillkürlich musste sie ihn mit Wolf vergleichen. Während ihr Mann seine Geschichten zeichnete und sich dabei immer weiter von ihr entfernte, kam Paul mit seinem Erzählen und Berichten auf sie zu, seine Persönlichkeit und sein Wesen offenbarte sich darin. Er war auf sympathische Weise extrovertiert, Wolf aber war introvertiert. Ebba hätte es langweilig genannt.

Paul erzählte vom Pariser Baron Fersen, der um die Jahrhundertwende 'Capri als Exil gewählt und die legendäre Villa Lysis hatte erbauen lassen, wo er so prächtig wie sündig gelebt und im Jahre 1923 mit fünf Gramm Kokain, in rosa Champagner aufgelöst, seinem dolce far niente ein Ende bereitet hatte.

Am darauf folgenden Tag, es war schön und mild, als sei es Sommer und nicht Herbst, zeigte Paul Anne diese Villa, die Jahrzehnte leer gestanden hatte und halb verfallen gewesen, nun aber in neuem Besitz zur alten Schönheit wiedererstanden war. Sie durchwanderten die halbe Insel. Überall wurden sie von Pauls Geschichten begleitet. Die Villa des Dichters Malaparte, die einem Schiff glich, unterhalb der Felsen ins Meer gebaut, kalt, abweisend, geheimnisvoll. Kaiser Tiberius' Sommersitz, an den nur noch die Mauern erinnerten, von denen der Herrscher einst als Abendvergnügen hatte Sklaven sich in den Abgrund stürzen lassen. Die Via Krupp, ein schlangengleicher, steiler Weg zum Meer, von dem deutschen Industriellen erbaut, früher geheimer Treffpunkt der Homosexuellen, die hier ihren Vergnügungen nachgingen, in den Stunden der Dämmerung. Das Grand Hotel Quisisana, wo Oscar Wilde nicht speisen durfte, weil sonst sämtliche englischen Gäste, den Saal verlassen hätten, aus Protest über die vermeintliche Unmoral des Dichters. Die Augustus-Gärten, die Villa San Michele des Arztes und Schriftstellers Axel Munthe, die Faraglione-Felsen schließlich, stolz aus dem Mittelmeer aufragend, um die sich nachts glitzernd die winzigen Boote der berühmten Capri-Fischer gruppierten.

Besonders berührt war Anne von der Geschichte einer Tochter Thomas Manns, die angeblich bei einem Schiffsuntergang vor Capri von einem dieser Fischer gerettet worden war, sich in ihn verliebt und mit ihm bis zu seinem Tod zusammengelebt hatte. Paul zeigte ihr das versteckt gelegene Häuschen, in dem sie, bis ihr Bruder sie im Alter nach Hause, nach Deutschland holte, gelebt hatte. Anne mochte Liebesgeschichten und sie wusste, dass sie im Begriff war, gerade die schönste von allen selbst zu erleben.

Bald hatten sie ihren Lieblingsweg gefunden, auf dem sie jeden Tag spazieren gingen. Sie waren die Einzigen, die um diese Jahreszeit hier wanderten, nur die Herbstsonne begleitete sie. Natürlich hatte Paul längst einen Spazierstock gefunden. Ab und zu setzten sie sich in den Schatten von Zitronenbäumen und Oleandersträuchern, auf dicke Kissen wilder Kräuter, und Anne schmiegte sich in Pauls Arm, und sie schlossen die Augen, ließen sich von der großen Einsamkeit der Natur liebkosen, schweigend und glücklich.

Bei einem ihrer Spaziergänge, als Anne gerade fast verblühte Lavendelzweige abbrach, um einen großen, duftenden Strauß von ihnen im Hotelzimmer in eine Vase stellen zu können, fragte Paul sie unvermittelt: «Was bedeutet dir Wolf eigentlich?»

«Er ist mein Mann!», hatte sie einfach nur geantwortet, «er war immer da.»

Nachdem sie weitergegangen waren, über schmale, glitschige Stufen, die sie in eine Schlucht führten, hatte sie die Gegenfrage gestellt, und ihre Worte hatten dort unten gehallt, echogleich, und klangen härter, als sie es gemeint hatte.

«Sybille?», hatte er erwidert. «Wir haben uns arrangiert im Laufe der Zeit. Sie macht ihr Ding und ich meines. Eigentlich führen wir keine richtige Ehe.»

«Was ist denn das: eine richtige Ehe?»

«Wir schlafen nicht mehr miteinander.»

«Wolf und ich auch nicht.»

«Sie versteht mich nicht.»

«Denkst du, er versteht mich?»

«Aber sie fühlt auch nicht mit mir. Das ist etwas anderes.»

Den ganzen Weg zurück hatten sie darüber diskutiert, wie sehr ein Mensch in sich selbst gefangen sei, und über die Unmöglichkeit, aus der eigenen Haut zu schlüpfen und sich vollkommen in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Anne hatte heftig widersprochen. Sie glaubte fest daran, dass zwei Menschen eins sein konnten. Pauls nüchterne Analyse und seine Zweifel daran hatte sie als Abgesang auf eine gemeinsame Zukunft empfunden. Deprimiert war sie ins Hotel zurückgekehrt. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte.

«Ich bin so empfindlich geworden, in der letzten Zeit, Paul. Ich horche so nach, ich taste mich heran, an alles, was du sagst, am liebsten würde ich unsere Gespräche auf ein Tonband aufnehmen und sie mir später vorspielen, um jede Nuance herauszuhören, um meine Angst und meine Zweifel zu verlieren, um ganz sicher sein zu können: dass du es auch ernst meinst und nicht nur aus einer ... Laune heraus eine Affäre mit mir angefangen hast.»

«Wir brauchen Zeit!», hatte er nur geantwortet. «Wir werden sie uns nehmen!»

Am letzten Tag – die Zeit war gerast, und der Gedanke, schon wieder nach Hause zu müssen, bedrückte Anne – führte Paul sie aus. Mit dem Taxi fuhren sie eine halbe Stunde in Richtung Anacapri, dann bog der Fahrer rechts ab und lenkte seinen Wagen durch ein unwegsames Gelände. Schließlich hielt er, Paul zahlte, sie stiegen aus, doch weit und breit gab es nichts außer Gestrüpp und Steinen und Wegen aus rotem Sand.

«Ein Stück müssen wir noch laufen!», erklärte Paul und zeigte auf einen Weg, der endlos zu sein schien. Es war erst später Nachmittag, doch Paul hatte darauf bestanden, dass sie früh aufbrechen, damit sie im Restaurant noch den Sonnenuntergang erleben könnten.

Hand in Hand gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie hatten viel gesprochen in den letzten Tagen, und in ihrem Schweigen lag keine Fremdheit, sondern Nähe und Vertrauen. Der Weg war leicht abschüssig. Nach einer Weile und hinter zwei Biegungen entdeckten sie, fast zugewachsen von Gardenien-Hecken, das Lokal. Es war ein flacher, nichts sagender Bau, der von einem wilden Garten umgeben war. Als sie näher kamen, merkten sie, dass der Wind stärker wurde. Er pfiff. Dann hörten sie auch das Rauschen des Meeres. Paul ließ Annes Hand los und öffnete die Gartenpforte. Sie betraten das Grundstück. Ein Kiesweg führte seitlich am Gebäude entlang. Sie folgten ihm. Letzte Rosen blühten wuchernd an der Fassade hoch. Paul brach eine ab gab sie Anne. Als sie um das Haus herumgegangen und an dessen Rückseite angelangt waren, verschlug es ihnen fast den Atem: Vor ihnen lag, tief unten, das Meer. Eine Terrasse zog sich entlang der Rückseite des Lokals. Fenster bis zum Boden ließen es wie ein Glashaus erscheinen. Sie traten ein. Es gab nur wenige Tische. Sie waren mit rot-weiß karierten Tischdecken gedeckt. An einer Bar mit Espressomaschine, getürmtem Geschirr und Gläsern vor verspiegelten Regalen lehnte ein junger Kellner. Er lächelte. Ein schöner Mann, der mehr Augen für Paul als für Anne hatte.

«Buona sera!», sagte er grinsend, achtundvierzig weiße Zähne oben und achtundvierzig weiße Zähne unten, wie Ebba zu sagen pflegte. Er schüttelte ihnen die Hände und führte sie zu einem Tisch direkt am Fenster. Paolo Conte sang von der Liebe. Sie waren die einzigen Gäste.

«Wie toll!», sagte Anne und schaute hinaus. Wie eine Apfelsine hing die Sonne im Himmel. «So etwas habe ich noch nie gesehen.»

«Nicht zu viel versprochen, was?» Paul strahlte. Er war zufrieden mit sich.

Er ist doch ein eitler Junge, dachte Anne liebevoll.

Die paar Tage haben ihr gut getan, dachte Paul, wie schön sie aussieht, wie gelassen, wie glücklich!

Schade!, dachte der Kellner auf Italienisch, als er sah, wie Paul Annes Hand nahm, und er fragte: «Was möchten Sie trinken?»

Paul bestellte eine große Flasche Mineralwasser und eine Karaffe mit weißem Hauswein. Der Kellner stellte die Rose ins Wasser und brachte die Getränke zusammen mit zwei Speisekarten, einem Korb voller Brot, einen Salzstreuer, einer Pfeffermühle und einem Keramikleuchter mit einer Kerze. Er schenkte ihnen ein und zog sich an die Bar zurück, um von dort aus immer wieder Paul einen Blick zu schenken.

Anne hob ihr Glas: «Ich möchte mit dir anstoßen, Paul, ich möchte dir danke sagen. Danke für die schönsten Tage meines Lebens.»

«Hör auf!»

«Nein, wirklich! Danke für dieses ... dieses Glück. Danke, dass du mich überredet hast mitzukommen. Danke für dein Zuhören, deine Geschichten, deine Klugheit, deinen Humor, danke für deine ... Liebe...»

Auch er nahm sein Glas. Sie stießen an, tranken. Dann erhob sich Anne ein wenig, beugte sich quer über den Tisch und küsste ihn. Sie setzte sich wieder, guckte hinaus. Die Sonne schien näher zu rücken und größer zu werden. Annes Gedanken wanderten fort, zurück nach Hamburg, zu ihren Kindern, zu Wolf. Eine kleine Angst stieg in ihr auf.

Paul klappte die Speisekarte auf und sah hinein. Ohne aufzublicken fragte er, so beiläufig wie möglich: «Wie geht es denn nun weiter mit uns?»

«Du wirst es mir sagen!», antwortete sie und war verlegen. «Wir essen Fisch!», erwiderte er und lachte.

«Genau. Fisch und Salat!»

«Und vorher Insalata caprese ... hier passt es ja nun wirklich her!» Er schlug die Karte zu und legte sie weg.

«Paul, ich habe noch gar keinen Hunger. Lass uns noch etwas warten. Den Sonnenuntergang ansehen. Es ist doch noch so früh!» Sie war wie ein quengeliges Kind, das zu Bett soll, es aber nicht will.

Er war einverstanden. Sie gingen hinaus. Der Kellner kam hinter ihnen her und brachte ihnen die gefüllten Weingläser. Beim Zurückgehen ließ er die Glastür offen und öffnete auch den zweiten Flügel. Dann drehte er die Musik laut. «Caro amico ti scrivo ... », sang Lucio Dalla, ein Lied, das die beiden gut kannten, ja, das sie sogar liebten, seit jenem Konzert, das sie vor Jahrzehnten in der Hamburger Musikhalle erlebt hatten. Eine lange Zeit über war es ihre Freundeshymne gewesen. Ein Akkordeon seufzte, und Streicher spielten auf, und die Instrumente und der Gesang verschmolzen und tanzten süß und sehnsuchtsvoll über die Terrasse, wurden hochgehoben vom Wind, fortgetragen, und die zwei Liebenden fühlten ihre Seelen schweben, in jenem vollkommenen Gleichklang, an den Anne so glaubte und auf den Paul so hoffte. Das Meer rauschte, der Wind sang mit, ihre Herzen schlugen heftig.

«Ich will hier bleiben», flüsterte Anne.

«Ich auch!», flüsterte Paul.

Als das Lied zu Ende war, drehte der Kellner die Stereoanlage wieder leiser. Anne und Paul blieben unbewegt Arm in Arm stehen und sahen der Sonne zu, wie sie dunkler und dunkler wurde, bis sie so rot war wie Feuer, tiefer und tiefer sank, bis sie am Horizont wie Lava zerfloss.

Paul ließ Anne los: «Es ist kalt. Wir gehen wieder rein.»

Sie kehrten an ihren Tisch zurück und bestellten das Essen.

«Gib zu, das hast du alles arrangiert, Paul. So etwas Unwirkliches ... gibt es doch nicht!» Sie drehte sich im leeren Lokal um, der Kellner war in der Küche verschwunden, nicht ohne vorher die Kerzen auf den Tischen angezündet zu haben. «Du hast den Kellner bestochen! Und heute Abend das ganze Lokal gemietet.» Sie strich ihm über die Wange. «Zutrauen würde ich es dir.»

«Nachsaison! Nichts weiter.»

Der Kellner kam mit zwei Tellern, auf denen Scheiben von Mozzarella und Tomaten und Basilikumblätter lagen. Paul bestellte eine zweite Karaffe Wein und mahlte sich Pfeffer auf seine Vorspeise.

«Du auch?» Er hielt ihr die Pfeffermühle hin.

Anne schüttelte den Kopf. Sie aßen. Es war köstlich.

«Was macht eigentlich Frau Merk?», fragte Anne unvermittelt.

Paul war erstaunt: «Wie kommst du denn jetzt darauf?»

Sie lachte auf. «Das habe ich manchmal so.»

«Was?»

Sie erzählte ihm, dass es oft nur eines Bildes oder einer Szene brauchte, um ein, wie sie es nannte «Gedankenkarussell» in ihrem Kopf in Bewegung zu setzen. Am Nachmittag hatte sie auf einer Bank in der Via Tragara drei alte Frauen beim Gespräch beobachtet. Sie unterhielten sich lebhaft gestikulierend, und weil sie ohne Männer dasaßen und ganz in schwarz gekleidet waren, hatte Anne den Eindruck, dass sie Witwen sein müssten. Zufriedene, in sich ruhende, italienische Witwen. Dann war ihr ihre Mutter in Bremen eingefallen. Was würde passieren, wenn ihr Vater stürbe? Seit fast fünfzig Jahren waren ihre Eltern verheiratet. Der Tod wurde verdrängt. Ein Leben ohne ihren Mann könne sie sich einfach nicht vorstellen, hatte ihre Mutter einmal gesagt: «Ich hoffe, ich sterbe vor ihm! Dein Vater kommt schon gut zurecht ohne mich.» Von ihren Eltern war sie auf ihre eigene Ehe gekommen und darauf, ob sie ohne Wolf leben könnte. Die italienischen Witwen, ihre Eltern, ihre Ehe, zu zweit sein, allein leben: Am Ende war sie bei Sybille angelangt, bei Paul, seiner Ehe, seinem Leben, seinem Beruf und schließlich: bei Frau Merk, deren Mann sich aufgehängt hatte. Alles schien ein Kreislauf zu sein, alles aus Puzzlesteinen zu bestehen, aus schwer zu deutenden Einzelteilen, die, legte man sie zusammen, doch ein Ganzes bildeten, dessen Bestandteil man selbst war.

«Sie arbeitet bei uns», erklärte Paul lakonisch. «Wir haben sie als Haushälterin eingestellt.» Er berichtete Anne, dass der Grund für den Selbstmord Schulden gewesen seien. Nach seinem Tod sei alles unter den Hammer gekommen, und Frau Merk habe nichts mehr besessen außer ihrer Verzweiflung und ihrem Leben. Da habe Sybille, mit ihrem großen Herzen, wie er es formulierte, die Idee gehabt, sie anzustellen, sicher auch mit einem kleinen, egoistischen Impuls. Ihre langjährige Putzfrau Emma war nach Ghana zurückgegangen, und ein so großes Haus brauchte jemanden, der sich um alles kümmerte. So war allen geholfen, Frau Merk hatte ein kleines Zimmer im Souterrain bezogen und fühlte sich wohl mit ihrer neuen Aufgabe und schuftete wie ein Kuli.

«Eine Haushälterin!», sagte Anne. «Weißt du eigentlich, was für ein Leben du führst?»

«Man gewöhnt sich so schnell daran», antwortete Paul, «weiß ich es?»

«Nach solchem Luxus habe ich mich immer gesehnt. Dinge zu tun, zu denen man Lust hat, und nicht solche, die man machen muss. Nicht jeden Pfennig umdrehen müssen ... na ja ... hier redet eine gefrustete Ehefrau und Mutter.»

«Kannst du auch alles haben.»

Der Kellner kam und räumte die Teller ab, fragte, ob sie zufrieden gewesen seien. Paul machte auf Italienisch einen kleinen Scherz, den Anne nicht verstand, der aber den Kellner zum Lachen brachte. Wahrscheinlich würde der, um Paul zu gefallen, über jeden Unsinn lachen, dachte Anne, selbst wenn er das Telefonbuch von Neapel vorlesen würde. Aber der gehört mir! Sie stimmte ins Lachen mit ein und ergriff Pauls Hand, während sie dem Kellner fest in die Augen sah. Er verschwand.

Paul wurde wieder ernst: «Ich sagte: kannst du auch alles haben.»

«Wie meinst du das?»

«Ich will mit dir leben, Anne.»

«Nein. Das geht nicht, Paul. Das ist doch klar!» Sie betupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel, als würde es helfen, ihren trockenen Mund zu befeuchten.

«Wieso ist das klar?» Er ließ ihre Hand los.

«Es geht doch nicht nur um mich und um dich, es geht doch auch um Wolf, um Sybille ... und vor allem: die Kinder. Ich kann meinen Söhnen doch nicht den Vater nehmen.»

«Du nimmst ihnen doch nicht den Vater, wenn wir zusammenleben wollen! Er bleibt ihnen doch! So ein Unsinn. Außerdem: Sie bekommen einen Freund dazu: mich!»

Der Kellner brachte den Fisch. Er war in Aluminiumfolie eingewickelt im Ofen gebacken worden und lag jetzt heiß und dampfend in einem Bett von Olivenöl, Kräutern und Tomaten.

«Das musst du dir aus dem Kopf schlagen!», antwortete Anne und begann, ihren Fisch zu filetieren. «Das ist vollkommen unmöglich.» Sie sah noch einmal hoch: «Ausgeschlossen!» Dann begann sie zu essen.