KAPITEL 9

Anuschka

Kurz vor halb eins hielten zwei Umzugswagen vor dem Haus von Paul. Sie waren eine richtige kleine Karawane. Edward bildete mit seinem Fiat Panda das Schlusslicht, das nicht nur durch den Lärm des kaputten Auspuffs auffiel, sondern auch durch die Buchstaben aus Leuchtfolie, die immer noch an den Türen klebten: Abi 99.

Anne war vorausgefahren, mittlerweile kannte sie den kürzesten und schnellsten Weg nach Ahrensburg. Ihr Volvo war bis unters Dach vollgeladen mit Krimskrams. Es hatte sie überrascht, wie viele Umzugskartons zusammengekommen waren. Berge von Sachen quollen aus den Schränken ihrer Söhne, und der Umzug wäre eine gute Gelegenheit gewesen, auszumisten. Aber bei jedem T-Shirt, jedem Spiel, jedem Buch und jeder CD setzte ein Mordsgezeter und Trara ein. Weder Edward noch Pavel und schon gar nicht Luis, der mit all seinen Sachen Erinnerungen verband, waren bereit, sich von etwas zu trennen. «Für die Zukunft solltest du eine Lehre daraus ziehen», hatte Ebba gesagt, die ihr die vergangenen Tage über geholfen hatte, «man darf wirklich nur mit kleinem Gepäck durchs Leben reisen.»

Doch für Philosophie blieb jetzt keine Zeit. Die letzten zwei Wochen in der alten Wohnung – aus der sie alle mit Wehmut auszogen – waren im schieren Chaos untergegangen. Anne hatte sich einmal mehr als Muttertier entpuppt. Für alle und alles fühlte sie sich zuständig. Es gab unendlich vieles zu regeln und zu bereden. Packen, räumen, wegschmeißen. Dreimal wurde der Termin mit dem Verwalter, der die Wohnung abnehmen musste, verschoben. Telefon, Gas, Strom abmelden, Umzugskarten drucken und adressieren und verschicken, Luis umschulen, Abschied nehmen von den Nachbarn.

Anne war ziemlich fertig, als sie aus ihrem Auto ausstieg, die letzte Nacht hatte sie fast nicht geschlafen. Man sah ihr die Erschöpfung an. Doch Paul, der aus dem Haus gerannt kam, als die Wagen vorfuhren, war das vollkommen egal. Er stürzte auf sie zu, umarmte sie herzlich und gab dann den Möbelpackern kurz und knapp seine Instruktionen. Dann begrüßte er Luis, der stolz einen Gefrierbeutel vor sich hertrug, in dem sein Goldfisch «Maite» schwamm, danach Edward, der Annes volle Basttasche schleppte, und Pavel, der scheinbar gelangweilt, Hände in den Taschen, abseits stand und das Haus skeptisch betrachtete, als sähe er es zum ersten Mal. Schließlich winkte Paul Laura heran. Sie hatte sich am Gartentor herumgedrückt, und hätte man es nicht besser gewusst, hätte man glauben können, um es in Annes Worten auszudrücken, sie fremdelte. Sie ruckelte am Gartentor, guckte scheinbar unbeteiligt in der Luft, drehte an ihren Haaren. Langsam kam sie heran, gab allen artig die Hand und verkroch sich dann, seltsam schüchtern, unter Pauls Fittiche. Er drückte sie an sich und legte den Arm um ihren Oberkörper. Anne wusste, was los war. Paul hatte es ihr erzählt. Gestern Nacht hatte es im Hause Ross eine Art Kriegsrat gegeben. Die beiden Mädchen, angeführt von Anuschka natürlich, riefen zum Widerstand. Sie rebellierten. Sie wollten nicht, dass die Albertis bei ihnen einzogen. Am Abend kamen sie in Pauls Praxis. Er war gerade dabei, einer Patientin das offene Bein zu verbinden. Eigentlich war längst Feierabend. Nachdem die Patientin versorgt worden war und das Haus verlassen hatte, schaltete Paul alle Geräte und das Licht aus und machte seinen üblichen Kontrollgang durch die Räume der Praxis. Zu seiner Überraschung fand er Anuschka und Laura im Wartezimmer. Sie blätterten in den Zeitschriften, die dort herumlagen.

«Was macht ihr denn hier? Ich sagte doch, ich komme gleich.»

«Wir warten auf dich. Ist doch ein Wartezimmer, oder?», erwiderte Anuschka.

Paul setzte sich neben seine Töchter. «Was ist los?», fragte er.

«Wir wollen nicht, dass die zu uns ziehen!», erklärte Laura, und sie klang wütend und bestimmt zugleich.

«Was heißt denn die? Laura, ich bitte dich. Du magst Anne doch, und die Jungs auch. Denk mal, wie klasse es wird, wenn ab morgen auch Luis bei uns wohnt. Dann kannst du jeden Tag mit ihm spielen.»

Er wusste genau, was seine Töchter meinten. Er ahnte, was sie fühlten. Sie hatten Angst. Sie waren traurig. Traurig und eifersüchtig. Am schlimmsten war es bei Anuschka. Sie hatte sich eindeutig auf die Seite von Sybille geschlagen und identifizierte sich vollständig mit ihrer Mutter. Dass jetzt auch bei Laura, die, mehr noch als Anuschka, seine Tochter war, die Stimmung umschlug, überraschte ihn dennoch.

Er nahm ihre Hand. «Mädchen, pass auf: Es wird sich vieles ändern, das ist klar. Aber nicht unser Verhältnis. Da bleibt alles beim Alten, okay? Ich hab euch doch lieb!» Er streichelte ihr Gesicht. «Wir werden uns alle zusammenraufen. Wir werden ein Super-Team. Es wird lustig, glaubt es mir!»

Anuschka ließ nicht locker. Sie sprach von Verrat und davon, dass man sie nicht gefragt habe und dass alles über ihren Kopf hinweg entschieden worden sei.

Paul wurde sauer. «Wir haben doch jetzt x-mal darüber geredet, Kinder. Was soll das jetzt noch? Es ist nun mal so. Ihr hattet genügend Zeit, euch mit dem Gedanken vertraut zu machen.»

Laura zog ihre Hand weg. Und dann sagte sie etwas, was ihn verblüffte und verletzte: «Immer geht es nur um euch. Wir spielen doch gar keine Rolle. Wenn wir sagen: wir wollen das nicht, dann tut ihr es trotzdem. Wir sind immer die Verlierer.»

Sowohl Paul als auch Anne mussten in diesem Moment daran denken. Wir sind immer die Verlierer.

«Laura?», fragte Anne und zog Pauls Tochter von ihm weg und zu sich hin. «Ich weiß, dass ihr die halbe Nacht mit eurem Vater zusammengesessen habt und dass es dir nicht gefällt, dass wir alle zu euch ziehen!»

Laura drehte sich zu ihrem Vater hin.

«Aber: Ich bitte dich ganz doll, dir Mühe zu geben. Meine beiden Ältesten sind auch nicht gerade begeistert. Zu ihnen habe ich dasselbe gesagt. Wenn wir uns alle Mühe geben, dann ... dann haben wir eine Chance. Alle. Jeder muss seinen Teil dazu beitragen. Ich auch, das weiß ich. Ich gebe mir auch Mühe. Ich will für dich da sein, wenn du es auch willst. Und umgekehrt: wünsche ich mir dasselbe von dir.» Sie beugte sich zu Laura herunter und sprach leise weiter: «Kümmere dich ein bisschen um Luis. Guck mal, der hat hier draußen ja keine Freunde außer dir. Hilfst du mir?»

Zaghaft nickte Laura.

«So!», erklärte Paul bestimmt. «Dann nimmt Laura mal deine Tasche und trägt sie in die Küche, ja?»

Laura schnappte sich die Tasche und lächelte ein wenig. «Komm, Luis», rief sie. «Ich zeige dir dein Zimmer.»

Alle setzten sich in Bewegung.

Sie hatten den Mittwoch für den Umzug ausgewählt, denn an diesem Wochentag war Pauls Praxis ab zwölf Uhr geschlossen, und er hatte Zeit, sich um die Neunankömmlinge zu kümmern. Erst vor acht Wochen hatten sie sich entschlossen zusammenzuziehen. Es bedeutete unnötigen Stress für beide, ständig zwischen zwei Wohnsitzen hin und her zu pendeln, außerdem konnte Anne, die sich immer noch nicht getraut hatte, mit Wolf eine finanzielle Regelung zu besprechen, auf diese Weise die Miete sparen.

Danach war alles sehr schnell gegangen. Bei einem Abendessen mit Apfelpfannkuchen – der Lieblingsspeise ihrer Söhne – hatte sie ihnen die Entscheidung mitgeteilt. Pavel blieb stumm. Luis wiederum freute sich: Er liebte Neuerungen, Abwechslung, Abenteuer, er liebte das Ahrensburger Haus mit seinem schönen Garten, er war vernarrt in Paul und noch mehr in Laura, mit der er mehr Unsinn anstellen konnte als mit allen anderen zusammen. Edward war eigentlich für einen Umzug nicht mit vorgesehen. Anne und Paul gingen davon aus, dass er sich endlich entscheiden würde zu studieren und sich zunächst einen Job suchen und ein Zimmer nehmen oder zu seiner Colleen ziehen würde. Doch er dachte gar nicht daran. Er behauptete, es sei unmöglich zu studieren und nebenher einen Job zu haben, und er appellierte an Annes schlechtes Gewissen und erwartete eine finanzielle Unterstützung von ihr. Und außerdem wisse er auch noch gar nicht, wo er studieren wolle und was, und überhaupt: bei Muttern war es doch am bequemsten. Natürlich sagte er das nicht so, aber Anne spürte aus jedem Wort und jeder Geste und jedem Augenaufschlag: Er war ein Nesthocker. Pavel hingegen wäre lieber heute als morgen abgehauen und wünschte sich nichts sehnlicher als eine eigene Wohnung. Doch weder reichte dafür sein Lehrgeld, noch war Anne bereit und in der Lage, ihn angemessen zu unterstützen. Natürlich verübelte er ihr das und ließ es sie spüren. Er sprach mit seinem Vater darüber, Wolf war aber ebenfalls nicht bereit, eine Wohnung zu finanzieren. Er war fast pleite – Steuernachzahlungen drückten ihn, und Anne hatte während ihres letzten Gesprächs den Eindruck, daran sei sie auch schuld. Es half nichts: Edward musste mit.

In Pauls Haus wurden deshalb die beiden Gästezimmer im Obergeschoss – neben den Mädchenzimmern – renoviert und für Luis und Pavel hergerichtet; das Studio im Dachboden, das bisher Pauls Reich gewesen war, wurde für Edward ausgeräumt.

Begleitet von Laura, führte Paul alle ins Haus. Er zeigte ihnen ihre Zimmer und bat sie dann ins Esszimmer, wo Anuschka bereits am Tisch saß und Frau Merk – seltsam distanziert – eine große Terrine mit Gemüsesuppe servierte. Den Packern brachte sie belegte Brötchen und Bier nach draußen. Während des Essens wurde wild durcheinander geredet, nur Anuschka saß still am Kopfende, löffelte ihren Teller leer, sagte kaum ein Wort und verschwand dann, um Hausaufgaben zu machen.

«Du könntest auch helfen!», meinte Paul.

Doch sie entgegnete, sie habe leider keine Zeit.

Während Anne und Paul die Balkonpflanzen nach hinten auf die Terrasse schleppten und unter dem schützenden Dachvorsprung abstellten, kam Paul noch einmal auf die lange Diskussion mit seinen Töchtern in der vergangenen Nacht zurück und auf das kurze Begrüßungsgespräch, das Anne mit Laura geführt hatte.

«Das war genau richtig!», meinte er. «Danke, dass du so einfühlsam warst.»

«Es fällt mir furchtbar schwer, Paul! Ich gucke in die Augen unserer Kinder und habe das Gefühl, außer bei Luis vielleicht, ich sehe nur Anklagen. Wie soll das nur werden?»

«Da kommt noch einiges auf uns zu!», erklärte er, «ich kenne meine Älteste. Wenn sie erst einmal was in sich reingefressen hat, dann braucht es viel Überzeugungsarbeit, das wieder abzubauen.»

«Meinst du, es hat Zweck, wenn ich mal mit ihr rede?»

Er schüttelte den Kopf.

«Ja, aber sie ist ja kein Kind mehr, Paul. Man muss reden. Ich mache das. Mir wäre das unangenehm, wenn es da Misstöne gäbe. Ich finde, wir sollten von Anfang an klare Verhältnisse schaffen.»

«Na, Misstöne ist glaube ich nicht das richtige Wort. Aber sieh selber. Mach mal, was du denkst.»

Eine Sekunde lang hatte Anne das Gefühl, dies sei ein typischer Wolf-Satz: Mach mal, was du denkst. Das wollte sie nicht mehr. Sie wollte nicht mehr allein denken, was den Familienalltag anging. Sie wollte gemeinsam denken. Doch ehe sie diesen Gedanken vertiefen konnte, kam Luis angebraust und berichtete voller Vergnügen, dass der Gefrierbeutel beim Runterfallen geplatzt und die dicke Maite wie wild im Vorgarten herumgezappelt sei, bis ein Möbelpacker den Goldfisch mit seinen Baumwollhandschuhen gepackt und ins Waschbecken von Frau Merks Küche transportiert habe.

«Ich glaube, ich habe im Keller noch ein altes Aquarium», meinte Paul. «Wir gehen mal runter und gucken nach, was? Vielleicht kannst du ja dann eine richtige Goldfischzucht aufmachen. Und außerdem ...», er zeigte auf den stillgelegten Springbrunnen im Garten, «... könnten wir auch dort wieder Goldfische aussetzen. Was meinst du?» Luis war entzückt. Die erste Freundschaft war geknüpft.

Anuschka war nicht so leicht zu ködern. Sie hatte engen Kontakt mit ihrer Mutter und besuchte sie – nach der Rückkehr aus Indonesien – fast täglich nach der Schule in Ruths Haus oder ging nach dem Reitunterricht bei den beiden Frauen vorbei. Während Sybille gegenüber ihren Töchtern, auf die Situation der Familie angesprochen, mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Müdigkeit reagierte, zeigte Ruth allein schon bei dem Namen Paul Kälte und Abwehr. Nachts aber weinte Sybille manchmal aus Enttäuschung, und sie sprach über längst Vergangenes und auch über Versäumtes und vertrat die tief empfundene Meinung, es sei ein Fehler gewesen, überhaupt zu heiraten und Kinder zu kriegen. Das dachte sie natürlich nicht wirklich, aber es zeigte offen ihren Schmerz, den sie gegenüber ihren Töchtern und Paul verbarg. Ruth konnte sich da nicht so zurückhalten. Bei jeder Gelegenheit machte sie abfällige Bemerkungen über die Männer im Allgemeinen und über Paul im Besonderen, und sie stachelte Anuschka damit auf. Weil Anuschka aber ihren Vater liebte, lenkte sie ihre Wut auf Anne, der sie alle Schuld gab, und auch auf deren Söhne, die sich jetzt so selbstverständlich in ihrem Haus einnisteten.

Während draußen im Flur die Packer polterten und Luis mit Laura herumtobte und sie Anne und Paul lachen hörte, saß sie auf ihrem Bett, mit gegrätschten Beinen, die Haare zurückgeworfen, hielt ihr silberfarbenes Handy ans Ohr und telefonierte mit ihrem Freund Stivi.

Stivi ging wie sie aufs Gymnasium Stormarnschule und war zwei Jahre älter als sie. Wie Anuschka wollte er Abitur machen. Es war aber keinesfalls sicher, dass er das schaffen würde, selbst wenn sie ihm dabei half. Zweimal war Stivi bereits sitzen geblieben. In den letzten zwei Jahren hatte er, der Schwarm aller Mädchen, fast jeden Monat eine andere Freundin gehabt. Seit Januar war er mit Anuschka zusammen – Ergebnis einer Wette mit seinem besten Kumpel, von der Anuschka natürlich nichts wusste. Sie war hipp und beliebt, nicht nur weil sie so attraktiv war, sondern mehr noch, weil sie eine Reihe von Vorzügen auf sich vereinte, die sonst kein Mädchen weit und breit zu bieten hatte. Anuschka war sportlich, intelligent, sie konnte unglaublich schlagfertig und zynisch sein, ihre Arroganz war legendär und zog alle in den Bann, weil es sie so unerreichbar und unnahbar machte, dass es jeden aufwertete, dem es gelang, in ihren Kreis aufgenommen zu werden. Dass sich dahinter Unsicherheit und Sensibilität verbarg, behielt Anuschka für sich. Sie war Wortführerin in ihrer Clique, sie gab vor, worüber geredet wurde, was gemacht wurde, wen man gut fand oder ablehnte, was in war oder out. Ihren schlichten Kleidungsstil versuchten viele Schulkameradinnen und Freundinnen zu kopieren. Ihr zurückgenommenes Lächeln, ihre schnellen Bewegungen, ihre nasale Art zu sprechen, ihre Widerborstigkeit gegenüber Lehrern, ihre Furchtlosigkeit gegenüber allen Respektspersonen war absolut chic, und jede versuchte zu sein wie sie, doch keiner gelang das. Dass sie darüber hinaus aus einem reichen Haus kam und ihr Vater Arzt war und damit zu den besten Familien in der Kleinstadt gehörte, war das i-Tüpfelchen, um das sie beneidet wurde und sie besonders scharf machte, für Jungs wie für Mädchen gleichermaßen.

Stivi hingegen kam aus einer Familie, die auf der anderen Seite des Bahnhofs wohnte, in einem Hochhaus, in einer Mietwohnung mit drei Zimmern, die er sich mit seiner Schwester, seinem Bruder und den Eltern teilte. Er war der Älteste. Sein Vater hatte einen Job als Lagerarbeiter im dreißig Minuten entfernt gelegenen Bad Schwartau, in einer Fabrik, die Lebensmittel produzierte und für ihre Marmeladen berühmt war.

«Schlichte Leute», pflegte Sybille manchmal zu sagen, wenn das Gespräch auf Stivi und seine Familie kam, in einer Mischung aus Mitleid und Herabwürdigung im Ausdruck, die Menschen zu Eigen ist, die trotz ihres Wohlstandes und ihrer Bildung ihre Mitte nicht gefunden haben und sich deshalb arrogant geben. Doch sie hatte nichts gegen den Jungen. Im Gegenteil: Sie verstand, was ihrer Tochter an ihm gefiel, auch sie fand ihn süß und sexy, und sie schätzte seine beherzte, zupackende, unverstellte und gradlinige Art, und sie mochte, wie er mit Anuschka umging. Es beeindruckte sie, was er alles für sie getan hatte, um sie zu gewinnen, und noch tat, um sie zu behalten.

Stivi hatte einen Hang zum Höheren, er strebte an, etwas Besseres zu sein als seine Eltern, so schnell es ging, wollte er da raus, nach Hamburg gehen, studieren, Anwalt werden, jede Menge Geld machen. Nachdem er seine Wette gewonnen und Anuschka ins Bett gekriegt hatte, war etwas Unerwartetes geschehen: er hatte sich in sie verliebt, ja, er war ihr verfallen. Sie konnte ihn gewissermaßen um den Finger wickeln. Und das tat sie auch.

«Stivi», sagte sie, als er endlich am Apparat war, «ich bin obergenervt, die sind tatsächlich eingezogen, jetzt toben die da draußen rum, machen einen Höllenkrach, zum Kotzen, und breiten sich hier aus, ich halte das nicht aus.»

«Bleib cool, reg dich nicht auf. Wir ziehen unser Ding durch, wie besprochen. Wenn wir unser Abi haben, hauen wir ab. Solange wirst du das ja wohl ertragen, oder?»

«Sie stinken, sie sind Scheiße. Ich hasse sie alle, und besonders diese Anne. Sie hat alles kaputtgemacht. Verstehst du?» «Willst du kommen?»

«Kannst du mich holen?»

«Klar. Bin gleich da.»

Sie beendeten das Gespräch. Anuschka stand auf, verließ ihr Zimmer und kam in den Flur, wo ihr ein langhaariger Packer, mit einem Umzugskarton mit der Aufschrift «Obergeschoss Zimmer 2» entgegenkam und sie angrinste. Paul hatte am Vorabend gemeinsam mit Laura DIN-A4-Bogen mit roten Filzstiften beschriftet: Zimmer 1, Zimmer 2, Schlafzimmer, Kammer 1, Kammer 2. Frau Merk hatte die Blätter mit Tesafilm an den jeweiligen Türen festgeklebt, damit die Packer wussten, wohin die Kartons gehörten. Zimmer 1 war Pavels Zimmer, direkt neben dem von Anuschka, Zimmer 2 war Luis' Bleibe, die neben der von Laura lag. In den Kammern wurden solche Dinge verstaut, die nicht sofort benötigt wurden und erst später ausgepackt werden sollten. Die Kartons mit den Sachen von Edward trugen die Aufschrift Dachboden und wanderten nach oben.

«Na, seute Deern?», fragte der schwitzende Packer, der mit Zahnarzt und Friseur offenbar gleichermaßen auf Kriegsfuß zu stehen schien, «schon was vor, heute Abend?»

«Fick dich!», antwortete Anuschka ungerührt, überquerte den Flur und öffnete die Tür zum Badezimmer. Als sie eintrat, sah sie Pavel vor dem Spiegel stehen und sich mit einer elektrischen Zahnbürste die Zähne putzen. Er hatte das Kordhemd ausgezogen, sein Oberkörper war nackt und er trug nur noch seine weiten Jeans, die er mit einem breiten schwarzen Ledergürtel zusamengezurrt hatte. Anuschka registrierte, dass er eine gute Figur hatte.

«Oh, entschuldige, ich wusste nicht ...» Sie wollte wieder gehen und dachte: Das fängt ja gut an. Von nun an wird das Bad ständig besetzt sein, und dass die Albertis die Tür nicht abschließen, das kennt man ja von denen, fürchterlich. Ihr fiel ein, wie ihre Mutter einmal erzählt hatte, wie sie zu Besuch bei den Albertis gewesen war und mitbekommen hatte, wie Wolf aufs Klo ging und Luis und Pavel hinterhertrabten, um mit ihm irgendetwas zu bereden. Solche Züge von Ungeniertheit und Familiennähe gab es bei der Familie Ross nicht, für Anuschka war das schockierend, unästhetisch und unvorstellbar. «Bin gleich fertig. Warte.»

«Ich warte draußen!»

Pavel schaltete die Zahnbürste aus. Spuckte ins Waschbecken und nahm sich ein Gästehandtuch, um sich den Mund abzuwischen.

«In Zukunft schließ bitte ab, wenn du im Bad bist, damit das von Anfang an mal klar ist!», erklärte Anuschka, «Niemand hier im Hause hat Interesse daran, bei deinen Verrichtungen anwesend zu sein.»

«Wie bist du denn drauf?»

«Kannst du dir vorstellen, dass es Leute gibt, die sich nicht so wahnsinnig darüber freuen, dass ihr hier jetzt wohnt?»

Pavel drehte sich um. «Kann ich!», erwiderte er knapp und nahm sein Hemd vom Badewannenrand. «Gehöre nämlich selber zu den Leuten.» Er ging auf sie zu zur Tür.

Sie trat einen Schritt zur Seite. «Na ja, dann sind wir ja einer Meinung!»

Sie standen dicht voreinander, sahen sich an. Er merkte, wie ihre Nasenflügel bebten, ganz zart. Am liebsten hätte er sie umarmt und geküsst. Aber das blieb natürlich sein Geheimnis. Er mochte Anuschka, sehr sogar. Eigentlich schon immer, zumindest so lange er sich erinnern konnte. Anuschka: Das war das Mädchen, an das er immer dachte, von dem er träumte, derentwegen er jede andere bisher irgendwann hatte sitzen lassen, sie war das Mädchen, das er wollte und von dem er auch glaubte, dass er sie nie bekommen würde. Sie schien unerreichbar für ihn zu sein, denn er fühlte sich ihr total unterlegen. Außer seinem Freund Köppi und seinem Bruder Edward, mit dem er fast alles besprach, wusste das niemand, und Pavel in seiner verschlossenen Art hatte perfekt verstanden, es zu verbergen. Er hatte seine Zuneigung, die geradezu eine Leidenschaft war, einer Kumpelhaftigkeit untergeordnet, er verstellte sich ihr gegenüber und gab den coolen Typen, mit dem es sich gut quatschen und diskutieren und lachen ließ und der den Eindruck erweckte, man könne mit ihm Pferde stehlen. Sie sah süß aus, sie war so klug, sie roch so gut, sie hatte Stil und Klasse und war zudem eigen, und wie sie jetzt so vor ihm stand, ganz nah, und ihr Atem seine Nase kitzelte, hätte er ihr am liebsten gesagt: «Wenn es überhaupt einen Grund gab für mich, mit hier rauszuziehen in diese beschissene Einöde, und zu tun, was meine Mutter verlangt hat, und diese Zumutung auszuhalten, jeden Morgen eine Stunde zur Arbeit zu fahren, weil die Werkstatt, wo ich meine Ausbildung mache, nämlich in Hamburg-Altona liegt, und das ist verdammt weit weg von hier, wenn ich auf meine Kumpels verzichten muss und auf die Läden, in denen ich mich bisher jeden Abend mit ihnen getroffen habe, wenn es also überhaupt einen Grund gibt, das alles auf mich zu nehmen, dann bist du es.»

Doch das sagte er nicht. Stattdessen schob er sie sanft beiseite, öffnete die Tür und verließ das Badezimmer. Anuschka seufzte und dachte, eigentlich ist er süß, aber er ist und bleibt ein Alberti, und jeder, der Alberti heißt, ist von nun an mein Feind. Sie ging vor den Spiegel, kämmte ihre Haare, überprüfte ihr Make-up, öffnete den Toilettenschrank und besprühte sich mit Calvin Klein, das Ruth ihr letzte Woche geschenkt hatte. Kurz darauf ging sie über die Treppe, die ins Wohnzimmer führte, nach unten.

Anne hatte gerade einen Karton mit Vasen vor dem Kamin abgestellt und wollte zurück nach draußen, um ihren Volvo weiter auszuladen. Doch Paul, der mit einem Bücherkarton auf den Schultern gerade hereinkam, hielt sie zurück.

«Warte!», sagte er und knallte den Karton auf den Parkettfußboden.

Sie sah ihn an. Er sah zerzaust aus und er schwitzte. Mit den Fingern fuhr sie zärtlich durch sein Haar, um es zu ordnen.

Er umfasste ihr Handgelenk und hielt es fest: «Ich habe es dir noch gar nicht gesagt, Liebling.»

«Was?» Sie schaute ihn fragend an.

«Schön, dass du da bist.» Er näherte sich ihrem Gesicht. «Herzlich Willkommen», sagte er leise und setzte flüsternd hinzu: «Endlich!» Er küsste sie.

In diesem Moment kam Anuschka die Treppe herunter. Die letzten drei Stufen nahm sie auf einmal. Als sie ihren Vater sah, wie er inmitten von Kartons, Taschen und fremden Gegenständen, die das elegante Ambiente, das sonst hier herrschte in ein hässliches Durcheinander verwandelten, Anne leidenschaftlich in seinen Armen hielt und küsste, nahm ihr das fast den Atem. Sie hielt inne. Einen Augenblick nur. Dann holte sie tief Luft, ging schnurstracks auf die beiden zu und sagte im Vorbeigehen: «Ich bin bei Stivi. Weiß noch nicht, wann ich wiederkomme.»

Paul fühlte sich ertappt und ließ Anne los. Er schnappte nach Anuschka und konnte sie gerade noch am Ärmel ihres dicken Rippenpullovers festhalten.

«Mo-ment!», sagte er.

«Was?» Ihre grauen Augen wurden fast grün, wie immer, wenn sie wütend war.

«Du gehst zu Stivi?»

«Ja.»

Anne, die eine Latzhose aus Jeansstoff trug – was Anuschka absolut lächerlich fand –, strich sich ihre Handinnenflächen am Stoff ab, beugte sich zu ihrem Karton mit den Vasen herunter und machte sich daran zu schaffen.

«Jetzt?», fragte Paul, und er hatte einen Ton in der Stimme, der scharf klang und den Anne von ihm nicht kannte.

«Wieso nicht jetzt?»

«Weil hier eine Menge Arbeit wartet, junge Dame. Und zwar für uns alle.»

«Bin ich umgezogen, oder was?», sagte sie und sah über seine Schulter hinweg zu Anne hinunter, die auf dem Boden kniete und anfing, auszupacken.

«Anuschka, so geht das nicht», erwiderte Paul.

Anuschka rollte mit den Augen.

«Und da brauchst du auch nicht mit den Augen zu rollen, das kann Anne ruhig hören. Es ist ja leider auch ganz unübersehbar, was du denkst, auch wenn du es nicht sagst.»

Anne kam hoch: «Lass sie doch gehen, Paul. Wir haben doch genug Hilfe, die Packer, die Jungs, Frau Merk ... und wir schaffen das auch ohne sie. Treten uns doch ohnehin alle auf den Füßen herum!» Es war nett gemeint und sie lächelte Anuschka dabei an.

«Ich brauche deine Unterstützung nicht!», fauchte Anuschka sie an, und zu ihrem Vater gewandt sagte sie: «Ihr seid echt brutal, was ihr aus lauter Egoismus uns anderen antut. Glaub doch bloß nicht, weil Mami dir das Feld hier überlassen hat, dass sie nicht darunter leidet. Und denk mal an deinen besten Freund!» Sie sah Anne, die näher gekommen war, direkt in die Augen: «Dein Mann! Wie geht's dem denn? Weißt du wahrscheinlich nicht mal. Ist euch ja auch völlig wurscht. Hauptsache, ihr seid glücklich! Äh ...» Sie machte ein Geräusch, als würde sie sich übergeben. «Ihr nehmt eure Kinder als Geisel, um euer Gewissen zu beruhigen, von wegen: ab heute sind wir eine große, glückliche Familie. Aber so was lässt sich nicht verordnen! Und ich lasse mich bestimmt nicht in meinem eigenen Elternhaus festnehmen.» Sie wandte sich zum Gehen. Paul wollte sie festhalten, aber sie machte sich los. «An dem Tag, wo ich achtzehn bin, hau ich ab. Frag mal deine Söhne! Anne! Die denken genauso.» Hämisch ergänzte sie: «Pavel hat's mir grade gesagt. Ihr werdet es sehen: Einer nach dem anderen wird abhauen, sobald es geht. Und dann werdet ihr ganz allein sein in diesem großen, schönen Haus. Mal gucken, wie ihr euch dann fühlt. Und ob eure Liebe das aushält. Abgerechnet wird am Schluss.» Mit diesen Worten verließ sie das Wohnzimmer, knallte die Tür hinter sich zu und verschwand in der Diele.

Anne und Paul sahen sich betroffen an, wussten nicht, was sie sagen sollten. Anne ließ sich auf eine Umzugskiste sinken und fing an zu weinen. Still und leise. Die Tränen, die sie in all den Monaten nicht geweint hatte, liefen ihr über das Gesicht. Tränen der Erschöpfung, der Traurigkeit, der Scham, des schlechten Gewissens.

«Also langsam reicht's mal!», meinte Paul. Er ging an den Barockschrank, den seine Mutter ihm zur Heirat mit Sybille geschenkt hatte und der ein Erbstück seiner Urgroßeltern war, öffnet die untere Tür und nahm eine Flasche Malt-Whiskey heraus. Knackend öffnete er den Verschluss, schraubte ihn ab und führte die Flasche zum Mund. Paul nahm einen kräftigen Schluck. Dann reichte er Anne die Flasche. Auch sie setzte an, trank, musste husten, trank einen zweiten Schluck und fühlte, wie der Alkohol ihr brennend die Kehle herunterlief und den Schmerz verdrängte.

«Wahrscheinlich müssen wir uns in den nächsten Tagen alle einmal zusammensetzen ...» Sie wischte sich den Mund ab und gab ihm den Whiskey zurück.

«Noch eine Encounter-Runde? Was glaubst du, wie viele Abende ich mit den Mädchen hier geredet habe. Ich dachte ...»

«Wir alle zusammen!», erklärte Anne. «Ich ... ich möchte hier einfach ... ich möchte mich nicht als Eindringling fühlen, ich möchte, dass Anuschka und auch Laura mich verstehen, ein bisschen wenigstens ...» Sie fing erneut an zu weinen.

Die Tür zum Esszimmer wurde geöffnet und Frau Merk kam herein. «Entschuldigen Sie, Herr Doktor!», sagte sie zaghaft. «Ich möchte nicht stören. Bloß der Keller ist schon ganz voll gestellt, und die Umzugsleute stehen draußen und lassen fragen, was sie nun tun sollen, also: wohin mit den anderen Sachen.»

«Ich komme!» Paul nahm zum Erstaunen von Frau Merk einen großen Schluck aus der Flasche und reichte sie dann Anne.

Sie stand auf: «Ich komme mit!»

«Nein, Liebling, du puderst dir jetzt erst mal dein süßes Näschen, und dann setzt du dich da hinten ans Fenster aufs Sofa und ruhst dich aus; Frau Merk kocht dir einen schönen Tee, nicht wahr?»

«Sehr wohl, Herr Doktor Ross.»

Er ging. Frau Merk blieb in der Tür zum Esszimmer stehen.

«Ich möchte gar keinen Tee, Frau Merk», erklärte Anne sanft und stellte die Flasche auf den Boden. Sie kam hoch und zog ein Taschentuch aus der Latzhose und schnäuzte sich. Frau Mark kam zu ihr hin, nahm die Flasche hoch, die einen feuchten Rand auf dem Parkett hinterlassen hatte. Sie kniete sich direkt vor Anne hin und begann, mit ihrem Schürzenzipfel den Boden trocken zu wischen.

Anne trat einen Schritt zurück. «Frau Merk ...»

Die Haushälterin hörte auf zu arbeiten und sah auf.

«Ich weiß, dass Sie mich nicht sehr mögen. Aber ich würde mir wünschen, und deshalb sage ich das gleich heute am ersten Tag: dass wir einvernehmlich miteinander klarkommen. Wir müssen ja keine Freundinnen werden. Aber mein ...» Sie wollte sagen: mein Mann, konnte sich aber gerade noch bremsen. «... Dr. Ross braucht Sie, und die Mädchen auch. Und er schätzt Sie und ihre Arbeit über alle Maßen. Bitte, glauben Sie mir, dass ich hier nichts verändern will, ohne es vorher mit ihnen besprochen zu haben.» Sie stopfte ihr Taschentuch zurück. «Ach Gott, Sie wissen ja sicher, was ich meine.»

Frau Merk richtete sich auf. «Nein», sagte sie.

Anne wollte sich nicht irritieren lassen: «Dann versuche ich es mit anderen Worten: Bitte, freunden Sie sich mit der neuen Situation – die für uns alle nicht ganz leicht ist – an. Geben Sie sich etwas Mühe mit mir. Für mich ist das alles natürlich besonders schwierig. Ich bin da einfach auf ihre Mithilfe angewiesen.»

Frau Merk ging zum Schrank, verstaute die Flasche und schloss den Schrank wieder ab. Dann ging sie zur Esszimmertür zurück und drehte sich dort noch einmal um: «Frau äh ...»

«Alberti.»

«Ja. Ich bin hier nur für den Haushalt zuständig, will ich mal sagen. Mit dem ganzen anderen Heckmeck habe ich nichts zu tun. Das geht mich nichts an.» Sie ging.

Verzweifelt blieb Anne zurück. Sie hatte mit Schwierigkeiten und mit Widerstand gerechnet. Aber dass es so wehtun würde, das hatte sie in ihren schlimmsten Träumen nicht geahnt.

Stivi und Anuschka verbrachten den ganzen Tag und die halbe Nacht miteinander. Nachdem er sie mit seinem Motorrad, einer Enduro, abgeholt hatte, waren sie in eine Eisdiele in der Fußgängerzone gegangen. Dann fuhren sie zu ihm nach Hause. Um diese Zeit war sein Vater noch nicht aus Bad Schwartau zurück, meistens ging er nach Feierabend dort noch in eine Kneipe und trank etwas mit seinen Arbeitskollegen. Auch Stivis Mutter war noch nicht da. Sie arbeitete als Kassiererin in einem Supermarkt und ging anschließend immer zu ihrer kränkelnden Mutter, die in der Nähe lebte und derentwegen sie nicht aus Ahrensburg wegziehen konnten.

Die beiden waren ungestört in Stivis Zimmer, einer winzigen Bude, die er sich mit seinem Bruder Rolli teilte und die voll gestopft war mit Computern, einer Stereoanlage, Stapeln von CDs und Bergen von Stivis Büchern (er liebte historische Abenteuerromane). Anuschka und Stivi schliefen miteinander. Danach kochte er für sich und seine Freundin Spaghettini mit Tomatensauce; Stivi war ein guter Koch. Sie half ihm beim Abwaschen und Aufräumen. Dabei klagte sie über ihre häusliche Situation. Er versuchte Anuschkas Wut zu verstehen. Doch in Wahrheit war ihre Geschichte für ihn ein weiterer Beleg dafür, wie verwöhnt sie war.

Gemessen an seinem Zuhause ging es ihr doch gold, fand er, denn sein Leben war dagegen die reinste Hölle. Seine Eltern hatten kein Geld. Sie liebten ihre Kinder, aber meistens fehlte ihnen die Zeit, sich um sie zu kümmern. Stivi und seine Geschwister waren früh auf sich selbst gestellt. Das war der Grund, warum er immer davon sprach, bald abzuhauen – mit oder ohne Abitur. Und Anuschka sollte mit. Bisher hatte sie ihm das immer wieder ausgeredet. Doch an diesem Abend zeigte sie zum ersten Mal Interesse an einem solchen Plan. Ach, man müsste alle Kohle, die man kriegen kann, und allen Mut, den man hat, zusammenschmeißen und einfach weg, egal wie und wohin, einfach nur weg, und zwar ganz, ganz weit. Das war so ein Traum, und sie hatten beide, wie sie so dasaßen in der Küche in dem Hochhaus hinter dem Bahnhof, auf einmal das warme Gefühl, dass sie zusammengehörten für immer und dass sie, wenn sie diesen Traum nur leben könnten, eine klasse Zukunft haben würden. Sie waren zwei fröhliche Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden, und Stivi sagte zu Anuschka, sie solle nicht immer alles so hart nehmen und mal locker sein, dann würden sich die Dinge schon richten. Und irgendwie, fand sie, hatte er Recht, und ohnehin wollte sie nicht länger darüber nachdenken, was ihr Vater getan und was Anne verbrochen hatte, und stattdessen den Abend genießen.

Mit Stivis Motorrad rasten sie über die B 75, die Bundesstraße, Richtung Lübeck, und Anuschka malte sich aus, während sie ihn umschlang und den Geruch seiner Lederjacke einatmete und der Wind ihr ins Gesicht schlug wie gefrorenes Silber, sie wären zwei Blätter im Sturm, saftige grüne Blätter im blauen Sturm, und sie würden hochgetrieben und wirbelten und tanzten, und dann fortgetragen, so wie sie es vorhin in der Küche, der dunkelbraunen, besprochen hatten, durch die farblose Luft, weit weg, leicht, federleicht, segelnd, schneller und schneller, immer gegen alles, was sich ihnen entgegenstellte, die Bäume, wie schwarze Pfeile, hui, einer und noch einer und noch einer, die gelben Häuser, wie Gestalten, dicke, dünne, hohe, schmale, die Wiesen, bunt gescheckt, Wälder, rot, feuerrot, sieh nur, alles vorbei, vorbei, eben gesehen, schon lag es weit entfernt, und Anuschka breitete die Arme aus und schrie: «Ich kann fliegen!», und Stivi schrie: «Halt dich fest, Süße, wir fliegen gemeinsam», und sie brüllten sich mit zwei Stimmen, die zu einer wurden, die Seelen aus dem Leib, und Anuschka rief «Ich kann die Straße schmecken», und dann «Ich kann die Farben riechen», und sie fühlte sich stark wie eine Schneeleopardin in den Bergen und klug wie eine Gazelle in der Savanne und leicht wie ein Schmetterling im Tal, und sie rannte und glitt und sprang und flatterte gleichzeitig, und das alles kam nur, weil sie eine E genommen hatte, die Stivi ihr nach dem Spaghettiniessen in den Mund steckte, während in der Küche die Wände weich wurden, durch die House-Music, eine bonbonrosane Ecstasy-Tablette in Herzchenform, wow!, das Leben, das Leben, das Leben ...

Vor der Diskothek Tanzbar, die sie Club nannten, hielt Stivi an. Früher hatte Anuschka verächtlich mit ihren Freundinnen darüber gelästert, dass sich dort nur Dorftrottel trafen. Doch seitdem sie mit Stivi ging, liebte sie diesen Laden. Er hatte sie eines Besseren belehrt.

«Also ...», sagte er. «Dann wollen wir mal.»

Anuschka musste kichern. Sie hatte beste Laune.

«Nun krieg dich wieder ein.»

«Okay, okay.»

Er legte den Arm um sie, eng umschlungen betraten sie die Diskothek.

Sie wollte sofort mit ihm tanzen, doch Stivi steuerte direkt auf den langen Tresen zu, um den sich die jungen Gäste drängten. Mittwoch war ein guter Tag zum Ausgehen, viel besser als der spießige Freitag oder der Samstag der Landpomeranzen, wo die Bauernsöhne in Gummistiefeln auf der Tanzfläche stampften und ihre Mädchen Parfüms trugen, die nach Pampelmuse, Vanille oder Mango rochen, steil gegen den Stallgeruch, wie Anuschka oft zu ihren Freundinnen sagte.

«Was trinkst du?», fragte ihr Freund.

«Ich trinke, was du trinkst!», sagte sie lachend, und fand das irre komisch und wiederholte es noch einmal: «Ich trinke, was du trinkst!»

Stivi bestellte zwei Cola mit Wodka und begrüßte ein paar Freunde, seine Ex-Biggi, seine Ex-Sara und seine Ex-Desiree. Eifersucht kannte Anuschka nicht, schon gar nicht in dieser Nacht. Sie hauchte den Mädchen Küsse auf die Wangen und umarmte die Jungs, wechselte hier und da ein paar Worte und bewegte sich dabei im Takt der Musik. Sie nahm ihr Glas entgegen, und als sie aus ihrer Cargohose Geld herausziehen wollte, winkte Stivi ab: «Das macht Kappe!»

«Ist in Ordnung!», rief Kappe, der so hieß, weil man ihn noch nie ohne seine Baseballkappe gesehen hatte. Er machte die Bar und für gute Freunde gab er gerne einen aus. Anuschka hielt ihm fröhlich dankend ihr Glas entgegen, trank dann einen großen Schluck und sah sich um.

Plötzlich entdeckte sie Pavel, alleine, gegen den Tresen gelehnt, mit Blick auf die Tanzenden, Traurigkeit im Blick, Verlorenheit in der Haltung, ein Bier in der Hand.

«Hey!» Sie drängelte sich durch die Leute. «Hey, Pavel!»

Pavel guckte erstaunt.

«Was machst du denn hier?», fragte sie grinsend.

Pavel war überrascht, Anuschka zu sehen, besonders überraschte ihn, wie fröhlich und ausgelassen sie zu sein schien, ganz anders als heute Mittag, nicht so böse und abweisend. Sie kam auf ihn zu und drehte sich kurz zu ihrem Freund um und schrie: «Stivi!» Dann umarmte sie den verblüfften Pavel, als hätten die beiden sich seit Wochen nicht gesehen, und drückte sich an ihn, schmiegte sich an ihn, wiegte sich zur Musik, als wären sie ein Paar oder wenigstens gute Freunde. Stivi kam zu den beiden.

Anuschka ließ von Pavel ab. «Das ist Stivi, mein Freund. Und das ist Pavel.» Sie gab ihm einen innigen Kuss auf die Wange und lachte hell auf. «Mein Bruder!»

«Hi!», sagte Stivi freundlich. «Hab schon von dir gehört.»

«Hi!», antwortete Pavel.

«Na ja, Halbbruder sozusagen!»

Verblüfft guckte Pavel Anuschka an.

«Ach lass uns den Stress vergessen!», rief sie ihm ins Ohr. «Ich war völlig krass. Tut mir Leid.»

Er wusste nicht, was er sagen sollte und nickte nur.

«Woher kennst du denn die Tanzbar?», wollte sie wissen.

«Vielleicht erinnerst du dich, dass wir schon mal hier waren? Du, ich und Edward?»

«Ja. Jaaa! Genau! Voller Blackout!», kicherte sie. «Tanzen wir?» Ohne die Antwort abzuwarten, gab sie Stivi ihr Glas und zog Pavel mit sich.

Während sie tanzten, ging Stivi zu Kappe zurück, der ihm unauffällig ein kleines, in braunes Packpapier eingeschlagenes Päckchen über den Tresen schob. Sie drückten ihre Wangen aneinander und sagten sich ein paar Sätze ins Ohr. Stivi sprach mehr als Kappe, und dieser nickte ein paar Mal heftig, und dann ließ Stivi das Päckchen in der Hosentasche seiner engen Wildlederjeans verschwinden. Er zuckte mit den Schultern, was wiederum Kappe veranlasste, sich wieder gleichmütig seinem Job zuzuwenden.

Anuschka und Pavel merkten von alledem nichts. Sie tanzten. Pavel auf dem harten Dielenboden, Anuschka auf Wolken. Pavel wunderte sich nur kurz darüber, dass Anuschka wie ausgewechselt war, er schrieb es ihrer Launenhaftigkeit zu und vermutete darüber hinaus, sie habe zu viel getrunken. Bei ihm überwog das Gefühl der Freude. Er freute sich, dass ihr Streit anscheinend beigelegt war. Er freute sich, dass sie sich hier gefunden hatten, denn er fühlte sich an diesem Abend besonders allein gelassen und unglücklich. Und freute sich, dass sie mit ihm tanzte und nicht mit diesem supercoolen Typen, den sie im Schlepptau hatte und der, das hatte Pavel sofort gemerkt, eine Haltbarkeitsdauer von höchstens zwei Monaten hatte, der war was fürs Bett, nichts fürs Herz. Aber da musste sie schließlich selbst draufkommen.

Er gab sich ganz der Musik hin und dem Gefühl. Die beiden tanzten zwei Stunden ohne Unterbrechung. Anuschka hatte eine sagenhafte Kondition. Sie schien überhaupt nicht erschöpft zu sein oder müde zu werden. Schließlich blieb er abrupt stehen und guckte auf seine Uhr. Es war kurz nach eins.

«Was ist?», rief Anuschka und tanzte weiter.

«Du, ich hau ab. Ich muss morgen früh raus, ich fahre ja sechs Stunden bis zur Arbeit oder so. Horror. Also tschüs.» Er ging von der Tanzfläche zum Tresen zurück.

Anuschka folgte ihm.

«Ich komme mit ... ich hab morgen Schule und ich will nicht, dass Dad noch saurer auf mich wird.» Sie sah zu ihrem Freund hinüber, der ein paar Meter entfernt mit Samir diskutierte, ging zu ihm und erklärte ihm, dass sie gehen wolle. Er hatte noch Lust zu bleiben, und so trennten sich die zwei mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss. Pavel versuchte, nicht hinzuschauen.

«Bin so weit!», schrie Anuschka.

«Tschüs!», brüllte Pavel zu Stivi,

«Ciao!», erwiderte der.

Dann gingen die beiden.

Die kühle Aprilluft verschlug ihnen fast den Atem.

«Wow!», sagte Anuschka und breitete ihre Arme aus. «Wow! Ich bin eine Prinzessin.»

«Ja, das bist du», meinte Pavel trocken. «Eine besoffene Prinzessin. Und kotz mir bloß nicht ins Genick, wenn du hinter mir sitzt.»

Sie begann wieder zu kichern: Wie witzig er war!

Als sie seine Vespa bestiegen, umfasste Anuschka seine Taille so, wie sie zuvor Stivis umfasst hatte, und sie knatterten los. Die ganze Fahrt über wechselten sie kein Wort. Um halb zwei kamen sie vor Pauls Villa an. Sie stiegen von der Vespa, Anuschka machte das Gartentor auf.

«Meinst du, dein Vater hat was dagegen, wenn ich es hier im Vorgarten stehen lasse?»

Anuschka holte ein Gummiband aus der Hosentasche, nahm es zwischen die Zähne, strich mit den Händen ihre Haare glatt und band sie mit dem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. «Hast du keinen Garagenschlüssel?»

Er verneinte.

«Ich gebe dir meinen.» Sie zog ihr dickes Schlüsselbund hervor.

«Wir haben noch einen Ersatzschlüssel in der Küche», erklärte sie fröhlich. «Den nehme ich mir morgen früh ...», sie guckte ihm in die Augen. «Heute früh ...»

«Danke.»

«Weißt du, dass du süß bist?»

«Weißt du, dass du launisch bist?»

«Fang nicht wieder davon an.» Sie knuffte ihn. «Du bist immer so muffelig.»

«Ich bring dann mal die Maschine weg.»

«Ja, bring mal die Maschine weg!» Das Wort Maschine gefiel ihr. «Maschine, Maschine, Maschine.»

«Nicht so laut! Die schlafen doch alle hier!», zischte er.

Das Haus lag vollkommen im Dunkeln. Wolken trieben über den Himmel, eine von ihnen verdunkelte den Mond, verdeckte sein Licht für ein paar Sekunden. Dann gab sie ihn wieder frei, die nächste Wolke kam – einem Spiel gleich, das einen magnetisch anzog und von dem man den Blick nicht lassen konnte.

Beide starrten eine Weile hoch. Plötzlich riss Pavel sich los und schaute Anuschka an. Sie war so schön wie nie, gelöst, weich, andächtig, das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden, fast unberührt wirkte sie, wie eine Marmorstatue. Am liebsten hätte er sie geküsst, wie sie so dastand, in ihrem dicken Pullover mit der viel zu weiten Hose, den Kopf in den Nacken gelegt, das Gesicht zum Himmel gewandt. Doch das ging nicht. Nichts ging. Er war ein Gefangener. Sie alle waren in diesem Haus, in diesem neuen Leben gefangen, jeder auf seinem Platz, jeder unverrückbar, wie Töne in einer Komposition, die er nicht gemacht hatte und die in seinen Ohren niemals würde lieblich klingen.

«Also.»

«Okay», sagte sie in einer Mischung aus Singsang und Zwitschern. «Okay.» Sie ging zur Haustür. «Darf ich als Erste?»

«Was?»

Sie lachte: «Ins Bad.»

«Klar!»

«Ich mache auch ganz schnell.»

«Bis ich meine Vespa verstaut habe ...»

«... bin ich schon fertig. Schlaf gut.»

«Du auch Anuschka.»

«Ich bin überhaupt noch nicht müde», erklärte sie und steckte den Schlüssel in die Haustür. «Wir könnten noch bei mir auf dem Zimmer quatschen!»

«Das können wir doch von jetzt ab jeden Abend», meinte er fast zärtlich.

«Du hast Recht!» Sie strahlte ihn an. Dann machte sie die Haustür auf und verschwand.

Er blieb stehen, und ihm wurde klar, dass er die ganze Zeit über die Vespa gehalten hatte, ohne dass ihm ihr Gewicht aufgefallen war. Vielleicht, dachte er, ist das alles doch nicht so verkehrt. Vielleicht würde er langsam nachlassen, der Schmerz, von der eigenen Mutter verraten, das Gefühl, bestohlen worden zu sein um die Kraft, die einem eine glückliche Familie schenkte. Vielleicht fanden sie schon bald zu ihrer alten Form zurück, zur Normalität, zum Alltag einer ganz und gar gewöhnlichen Familie.