KAPITEL 8
Besuch von einem anderen
Stern
Nun also zu Annes Eltern. Sie hatten ihren Besuch in Hamburg angekündigt. Es war bereits März, doch noch immer winterkalt. Kein Hauch von Frühling. Unglaublich viel war in der Zwischenzeit passiert.
Nachdem es geheißen hatte, Wolf würde nur zwei Tage im Krankenhaus bleiben und dann nach Hause zurückkommen, hatte ihm sein Arzt vorgeschlagen, zunächst eine dreiwöchige Kur zu machen. Wolf stimmte sofort zu. Eine Unruhe, ja fast Angst hatte ihn bei dem Gedanken ergriffen, mit Anne und seinen Söhnen wieder unter einem Dach zu wohnen, so als wäre nichts passiert. Er entschied sich nach einigem Hin und Her für eine Kur im verschneiten Schwarzwald. Edward hatte ihn mit dem Volvo hingefahren. Nachher wollte Anne genau wissen, wie es gewesen sei, was Wolf gesagt habe, was für Gespräche die beiden geführt hätten, aber Edward gab sich bedeckt. «Regelt eure Sachen unter euch!», hatte er nur knapp erklärt, und damit war der Fall für ihn erledigt. Anne schrieb Wolf einen langen Brief. Er schrieb nicht zurück. Ein paar Mal telefonierten sie zusammen. Es waren seltsame Gespräche. Er erzählte vom Essen, von den Anwendungen, von den Gästen in der Pension, in der er untergebracht war. Lauter banale Dinge tauschten sie aus, er erkundigte sich nach Edward, Pavel und Luis, bat darum, dass sie ihm seine Post nachschicken solle und einen Pullover. Sie mieden das Thema Trennung, sprachen kein Wort über die Krise, der Name Paul fiel nicht einmal. Anne wusste, dass Paul ebenfalls einen Brief an Wolf geschrieben hatte und dass Wolf auch darauf nicht geantwortet hatte.
Kurz vor dem Ende der Kur überraschte er sie mit der Nachricht, dass er ausziehen würde. Ein Freund von ihm, der Journalist war bei einer Zeitschrift, für die Wolf früher gezeichnet hatte, und den Anne kaum kannte, hatte Wolf ein Apartment am anderen Ende der Stadt besorgt. Als Wolf nach Hause zurückkehrte, wohnte er noch für eine Woche bei ihnen. Es herrschte eine fremde und kühle Atmosphäre. Sie kam an ihn nicht mehr heran. Auch gegenüber seinen Söhnen war er eigenartig verschlossen. Zwei-, dreimal versuchte Anne, ein Gespräch mit ihm zu führen, doch er wiegelte ab, stellte nur knapp die Frage, ob sie Paul weiterhin sehen würde, was sie bejahen musste. Damit war die Sache, so schien es, für ihn abgeschlossen. Komisch, dachte sie, er kämpft nicht, aber natürlich wollte auch sie keinen Neustart oder eine Trennung auf Probe. Sie liebte ihn nicht mehr. Sie liebte Paul. Punkt. Aus.
Alle drei Söhne halfen ihm beim Umzug. Luis kam dabei am besten mit der Situation zurecht. Vielleicht um sich instinktiv vor weiteren Verletzungen zu schützen, schien er seinen Vater nicht mehr zu brauchen. Für ihn existierte nur noch seine Mutter. Luis entdeckte in der Familienkatastrophe den Neubeginn. Er war unsentimental und trauerte dem Vergangenen nicht nach. Selten erlebte man ihn fröhlicher.
Pavel hingegen, untröstlich und unversöhnlich gegenüber Anne, wollte mit ihm umziehen, aber das redete Wolf ihm aus. Die Wohnung sei zu klein. Vielleicht, so hatte er ihm gesagt, wenn er eine größere Wohnung fände, könne er seine Söhne zu sich nehmen. Anne spürte einen Stich ins Herz, als sie ein paar Gesprächsfetzen zwischen Wolf und Pavel aufschnappte.
«Papa», hatte er traurig gesagt, während er seinem Vater half, alte Zeichnungen aus den Schubladen in Mappen einzusortieren, «warum nimmst du das alles so hin? Warum tust du nichts ... für dich, für eure Ehe, für uns alle? Wir sind doch deine Familie! Ich will nicht, dass du gehst, ich will nicht, dass alles auseinander bricht. Kacke!» Er weinte fast.
Wolf legte die Zeichnung auf den Schreibtisch und nahm seinen Sohn in den Arm. «Weil es keinen Sinn macht, Pavel. Weil deine Mutter sich nun einmal so entschieden hat, weil es kein Zurück mehr gibt und ich das auch erkannt habe. Zum Glück, weißt du? Es ist besser so, für uns alle, glaube mir das. Wir werden uns nicht verlieren. Wir bleiben immer eine Familie, ganz gleich, was passiert und wo uns das Schicksal hintreibt, ich bleibe immer dein Vater, egal, wo ich wohne, und du bleibst immer mein Sohn, ganz gleich, wo du bist.»
Dann hatten sie weiter geräumt, und Anne hatte sich nachdenklich und traurig ins Schlafzimmer zurückgezogen. Natürlich lagen die Dinge nicht so einfach. Natürlich hatte es wegen der Frage, wer die Kinder nimmt, Streitgespräche zwischen Anne und Wolf gegeben. Für Anne war es selbstverständlich, dass die Jungs bei ihr bleiben würden. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte, wenn Wolf – besonders in seiner labilen Konstitution – die volle Verantwortung für seine Söhne übernehmen würde. Er hatte ihr heftig widersprochen und ihr vorgeworfen, seine Schwäche auszunutzen und aus Egoismus über Leichen zu gehen. «Wo steht geschrieben», hatte er gefragt, «dass die Kinder immer bei der Mutter bleiben müssen?» Aber dann hatte Anne ihn überzeugt, dass es so die bessere Lösung sei. Vor allem mit dem Argument, dass es besonders für Luis besser wäre, wenn man die Jungs nicht aus ihrem gewohnten Umfeld reißen würde. Dass sie sehr schnell genau dies tun würde, war ihr in diesem Moment noch nicht klar.
Edward war kaum noch zu Hause. Die meiste Zeit verbrachte er mit Kumpels in Diskotheken und Kneipen oder bei seiner Freundin Colleen.
Am Tag von Wolfs Auszug ging Anne zu Ebba. Sie wollte nicht dabei sein, wenn er aus ihrem Leben verschwand. Ebba hatte sich extra frei genommen und ihr vorgeschlagen, sie könne, wie so oft, bei ihr baden. Baden und reden. Anne offenbarte ihrer Freundin, dass sie den Eindruck hatte, als hätten die Albertis bisher wie in einem Käfig gelebt, aus dem plötzlich alle befreit worden seien. Die letzten Jahre schienen im Rückblick den Stunden vor einem Sommergewitter zu gleichen: drückende Luft, tief hängende Wolken, schlechte Sicht, und auf einmal donnerte es und blitzte und begann zu regnen, und der Regen wusch den Staub ab und der Wind blies den Himmel frei, und danach war es hell und klar, und man konnte wieder tief durchatmen. Es kam Anne so vor, als wäre es bei der Familie Ross nicht viel anders. Auch Sybille war ausgezogen. Das wiederum war für niemanden eine Überraschung. Sie lebte jetzt bei Ruth. Die Mädchen äußerten den Wunsch, mit ihr zu gehen, aber das lehnte Sybille rundum ab. Paul hatte Anne das Gespräch mit ihr wiedergegeben.
«Paul, wenn ich dich in dieser Sache um etwas bitten darf», hatte sie gesagt, «behalte du die Mädchen!»
«Aber Anuschka hat klipp und klar gesagt, dass sie nicht bei mir bleiben will. Und Laura ... ich habe das Gefühl, sie braucht jetzt ihre Mutter mehr als ihren Vater.»
«Du willst dich also drücken.»
«Nein, ich will mich nicht drücken. Aber ich möchte, dass die beiden so schnell wie möglich über alles hinwegkommen. Ich will das Beste für sie.»
«Bei Ruth ist kein Platz für sie», hatte Sybille kühl konstatiert. «Und im Übrigen möchte ich jetzt mal an mich denken. Die zwei sind alt genug, Anuschka geht ja jetzt sowieso schon ihrer Wege. Die braucht mich nicht. Laura hat immer viel mehr an dir geklebt als an mir, das wissen wir doch! Paul, ich möchte endlich mein eigenes Leben führen!» Es war, als habe ihr Paul mit seinem Betrug einen willkommenen Ausstieg aus dem Familienkarussell geliefert. «Ich will mit Ruth nach Bali, nach Ubud, sie kennt dort ein schönes kleines Hotel als Ausgangspunkt für eine Rundreise, wir wollen mindestens zwei Monate dort bleiben. Ich kann die Mädchen nicht gebrauchen.» Das klang hart. Und genauso war es auch gemeint. Schließlich hatte sie noch eine Bitte geäußert: «Sag ihnen das bitte nicht so, wie ich es dir gesagt habe. Ich meine: das könnten sie missverstehen.»
«Na ja, das kann man gar nicht missverstehen. Wie sollen wir ihnen das erklären? Sie wollen mit dir ausziehen. Und du lehnst das ab, Sybille.»
«Wir sagen ihnen: Erstens hat Ruth keinen Platz. Zweitens will ich weg, für längere Zeit. Drittens möchte ich mir danach einen Job suchen, ich will wieder arbeiten, vielleicht studieren, mein Romanistikstudium fortsetzen, vielleicht auch bei Ruth mitarbeiten, sie braucht jemanden, der ihren ganzen Bürokram macht und den Laden. Ich will eine Aufgabe haben. Mutter war ich lange genug. Und ich werde ihnen sagen, und du tust das bitte auch: Ich bin ja nicht aus der Welt. Ich bleibe ihre Mutter. Sie bleiben meine Töchter. Wenn sie mich brauchen, bin ich da. Ganz easy.»
Gesagt, getan. Sie verschwand ganz einfach. Einmal die Woche kam eine bunte Postkarte aus Bali. Das war es. Paul blieb nichts anderes, als sich an diese Verabredung, wie Sybille es genannt hatte, zu halten. Und auch die Mädchen, so betrübt sie waren, mussten sich fügen. Frau Merk war der ganzen Familie Ross dabei eine große Hilfe, sie umsorgte Pauls Töchter, als wären es ihre eigenen, Haus, Garten und Praxis wurden so gut geführt wie nie zuvor. Wenn Anne zu Besuch kam (und sie fuhr so oft wie möglich raus), war Frau Merk allerdings wie verwandelt. Schlimm genug, dass Anuschka der Geliebten ihres Vaters aus dem Weg ging, und Laura, die sonst immer so fröhlich und so herzerfrischend schräg gewesen war, sich einsilbig und zickig gab. Doch Frau Merk setzte noch einen obendrauf. Sie redete einfach nicht mit Anne. Wenn sie das Wohnzimmer betrat und Anne bei Paul auf dem Sofa saß, würdigte sie Anne keines Blickes. Sie sprach nur mit Paul, richtete ihre Fragen nur an ihn. Wenn Anne in die Küche kam, ging sie hinaus. Sagte Anne etwas zu ihr, reagierte sie einsilbig, tat manchmal sogar so, als würde sie nichts hören. Es war schrecklich für Anne. Sie beschloss im Stillen, dass sie Frau Merk nicht ausstehen könne.
«Sie hängt eben abgöttisch an Sybille», erklärte Paul, «aus ihrer Sicht hat Sybille ihr damals geholfen, als ich sie zu uns holte. Für sie bist du die Fremde, der Eindringling, diejenige, die alles kaputtgemacht hat.»
«Vielleicht stimmt das ja sogar.»
«Ach, du musst das verstehen. Nicht jeder kann mit der Situation so locker umgehen, wie du und ich das gerne hätten.»
Wie wahr. Anne steckte im Zugzwang. Sie musste ihren Eltern die Wahrheit beichten. Das war das Schlimmste für sie. Man bleibt eben immer das Kind, egal, wie alt man ist, und das Prinzip des Wohlverhaltens und die Angst vor Liebesentzug steckt den meisten Menschen in den Knochen. Immer wieder zögerte Anne es hinaus. Vor zwei Wochen erst hatte sie ihrer Schwester Ingrid alles erzählt, am Telefon, per Ferngespräch von Hamburg nach München, wo Ingrid lebte.
«Nun!», hatte sie geantwortet, und Anne sah förmlich, wie Ingrids Nase noch spitzer wurde als sonst. «Du musst wissen, was du tust.»
Ingrid, schlank und einsachtzig groß, war ein nervöser Typ. Sie konnte unglaubliche Streits vom Zaune brechen, einfach so, aus heiterem Himmel. Irgendetwas passte ihr nicht, und dann sah man auch schon, wie sie im Begriff war überzukochen. Die Wut stieg in ihr hoch, sie konnte sich nicht mehr bremsen, sie legte los wie ein Sportwagen, der in der geschlossenen Garage Vollgas gibt. Ohnehin schon redselig was ihr sicher in ihrem Beruf als Reisebürochefin entgegenkam –, sprudelte sie dann Worte aus einer unerschöpflichen Quelle der Unzufriedenheit heraus, wurde lauter und lauter, kramte olle Kamellen hervor, kam vom Hundertsten ins Tausendste, bis sie erschöpft verstummte mit der harmlos gezwitscherten kleinen, giftigen Frage: «Ich habe doch Recht oder?»
Niemand wollte ihr widersprechen. Ihre zwei Töchter nicht (längst aus dem Haus), ihr Mann, Proktologe am Klinikum Rechts der Isar, nicht, und Anne schon gar nicht. Sie hisste grundsätzlich die kleine weiße Friedensfahne, wenn sie mit ihrer Schwester sprach. Obendrein war Ingrid noch erprobt darin, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen.
«Mei!» Ingrid hatte sich, obwohl sie Bremerin war, eine klitzekleine bayerische Färbung ihrer Sprache zugelegt. Sie schien nachzudenken. «Aber Paps und Mutti hast du hoffentlich nichts gesagt, oder? Die Armen. Die fallen uns tot um. Erinnere dich daran, wie du damals mit Wolf angekommen bist, nicht wahr, sie waren ja von Anfang an dagegen, aber du hast es ja so gewollt ... und überhaupt, wie soll das denn weitergehen?, hast du dir das gut überlegt? Lieber Gott nochmal, Luis, der ist doch sowieso so ungefestigt! Eine Kundin von mir, USA-Fan war die, jedes Jahr eine Reise rüber, immer First-Class-Hotels, sehr anständige Leute dachte ich, die hatte einen Buben, auch so ein Typ wie Luis, die ist im Urlaub fremdgegangen, und dann ist der Mann mit einem Küchenmesser auf sie los, und das Ende muss ich dir ja wohl nicht erzählen. Gott hab sie selig. Was sagen denn deine Söhne dazu? Und nun ist er auch noch ausgezogen, ach du Schande! Seit wann geht denn das? Paul, war das nicht dieser Arzt, der ständig rummacht? Also, Anne, ich bitte dich, nicht wahr, das kennt man doch, irgendwann musst du es ihnen natürlich sagen. Aber erwarte nicht, dass ich dir beispringe. Da halte ich mich völlig raus, ich war ja schon früher immer der Buhmann, wenn es um dich ging ... na ja. Ich habe doch Recht, oder? ...»
Und so weiter und so fort. Anne hatte den Hörer vom linken an das rechte Ohr gelegt. Links gingen ihr Ingrids Tiraden immer direkt ins Herz, rechts konnte sie es besser anhören, so als läge ein Schutzfilter dazwischen. Aber etwas stimmte an dem, was ihre Schwester gesagt hatte. Sie musste dringend mit den Eltern reden. Das konnte unmöglich am Telefon geschehen.
Unter einem Vorwand lockte sie die beiden nach Hamburg. Seit Jahren unterhielt ihr Vater, dank Annes Vermittlung, ein kleines Aktiendepot bei Ebbas Bank. Obwohl das Vermögen eigentlich zu gering war, hatte Ebba sich aus Freundschaft bereit erklärt, das Geld von Ernst Hofmann zu verwalten. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, kam er, ein schmaler, kleiner Pensionär, adrett gekleidet mit grauem Flanellanzug, Staubmantel, keckem Hut und Aktentasche unterm Arm, angereist und besuchte sein Geld, wie er sich ausdrückte. Mit Riesenbrimborium wurde jedes Mal vorab das Treffen mit Ebba arrangiert – Anne, Ebba und die halbe Bank waren daran beteiligt, den Termin zu planen, zu verschieben, festzulegen. Ihm kam überhaupt nicht in den Sinn, dass es für Ebba eine Gefälligkeit und er im Grunde nur ein kleiner Fisch bei dem großen Institut, das weltweit agierte, sein könnte. Für dieses Geld hatte er hart gearbeitet. Hatte es sich, wie er oft betonte (und er liebte es, über Geld zu reden), «vom Munde abgespart». Von unserer aller Münder, dachte Anne dann immer. Es war ihm mehr wert, als es wert war. Das Geld gab ihm Sicherheit und Selbstbestätigung, er kokettierte mit dem Wort «Notgroschen» und dachte in Wahrheit doch, er verfüge über ein Vermögen. Er nutzte es als Spielball – für sich und gegen andere. Es bedeutete Unsterblichkeit für ihn, war Macht und Drohmittel gleichermaßen, vor allem gegen die Töchter. «Lässt sich jederzeit umfummeln!», erklärte Ernst Hofmann gerne ungefragt. «Mein Testament. Ihr müsst nur was sagen!» Mit anderen Worten: Seid gefälligst brav, sonst enterbe ich euch! Das war seine Art, die Macht nicht abgeben zu müssen.
Annes Vater hatte eine wahre Banken-Odyssee hinter sich. Überall hatte er sich im Streit von den Geldinstituten verabschiedet. Mal waren die Zinsen zu mager, mal der Mann an der Kasse frech gewesen, mal zogen sie ihn angeblich über den Tisch mit zu hohen Gebühren, mal kam nicht genügend rüber. Ein tiefes Misstrauen prägte sein Verhältnis zu Banken. «Die leihen dir einen Regenschirm», war eine stehende Rede von ihm, «wenn die Sonne scheint, und wenn es dann regnet, nehmen sie ihn dir wieder weg.» Erst nachdem Ebba sich seiner Sache angenommen und die Aktien in Festverzinsliche umgeschichtet und ihm eine satte Rendite von über zehn Prozent beschert hatte, war er zufrieden.
So kam er, gemeinsam mit seiner Frau Doris, also an jenem Märztag mit dem Intercity am Hamburger Hauptbahnhof an, wo Anne ihre Eltern abholte. Ebba wünschte ein paar Dinge mit ihm zu regeln, hatte sie ihm, nach Rücksprache mit Anne, gesagt, Dinge, die keinen Aufschub duldeten. Und tatsächlich gab es ein paar tausend Mark, die auf dem Girokonto lagen und die man Ebba zufolge in Blue Chips anlegen könne. Während seines Termins gingen Anne und ihre Mutter shoppen. Danach trafen sie sich im Grill des Vier Jahreszeiten. Seit jener Nacht mit Paul liebte Anne das Hotel. Bewusst hatte sie dieses Restaurant ausgewählt, und, obwohl ihr Vater es völlig übertrieben fand, darauf bestanden, dorthin zu gehen. Sie waren, bis auf zwei amerikanische Geschäftsleute, die einzigen Gäste.
«Scheint nicht sehr beliebt zu sein!», konstatierte Annes Vater und sah sich in dem Restaurant, das im Stil der zwanziger Jahre eingerichtet war, um. «Dein Nobelschuppen!» Wurzelholzgetäfelte Wände, eine gekalkte Decke, mit strengen, graphischen Streifen, Sternen und Blättern stuckatiert; zweistöckige, runde Deckenlampen aus Milchglas, gefasst in blankes Messing; entlang den Wänden Sitzbänke, ebenso wie die halbrunden Walnussholzstühle mit anthrazitfarbener Rohseide bespannt, eine Galerie, eingefasst mit einer Brüstung aus Messing, die an einen Luxusliner erinnerte, Palmen, Orchideen und Callas in silbernen Röhrenvasen, schließlich die bodenlangen Gardinen in blassem Weiß vor großen Fenstern, die den Blick freigaben auf die Alster und das Stadtpanorama: Alles an diesem Platz strahlte eine perfekte Harmonie aus, ja, die Gegenstände schienen in Freundschaft zueinander zu stehen. Doch Anne und ihre Eltern waren so miteinander beschäftigt, dass sie nichts davon spürten oder bemerkten.
«Es ist ja auch erst halb zwölf», erklärte Anne. «Normale Leute essen nicht so früh zu Mittag.»
«Normale Leute, normale Leute. Normale Leute interessieren mich nicht.» Zu Annes Entsetzen zog er seine Anzugjacke aus. Man sah seine schmalen grauen, straff anliegenden Hosenträger, die das Oberhemd gegen den mageren Oberkörper drückten. «Oder willst du damit sagen, wir wären nicht normal?»
Das Fach Unsachlichkeit beherrscht er perfekt, dachte Anne, fängt ja gut an.
Der Oberkellner, Herr Nährig, ein reizender Österreicher, der jedem das Gefühl gab, Stammgast zu sein, eilte an den Tisch: «Wenn Sie erlauben, Herr Doktor ...» Das wiederum gefiel Ernst Hofmann. Lehrer, Oberstudienrat, Schulleiter zum Doktor hatte es nie gereicht. Er empfand das als Makel, denn wenn einer das Zeug zum Doktor gehabt hätte, dann er.
Flott hatte Herr Nährig die Jacke am Kragen: «Ich darf das auf einen Bügel hängen?»
«Sehr freundlich!», antwortete Annes Vater jovial.
«Wir hätten gerne ein großes Wasser!», bat Anne.
«Gerne, gnädige Frau!» Der Oberkellner ging.
«Wasser! Ich trinke kein Wasser!», grummelte Ernst Hofmann. «Wer trinkt denn Wasser zum Essen?»
«Ich!», erwiderte seine Tochter und klappte die Speisekarte auf.
«Du kannst doch nachher ein schönes Bier trinken!», sagte Annes Mutter und legte wie zur Versöhnung ihre Hand auf seinen Unterarm. Schön, dachte Anne: Alles was mit Essen und Trinken und überhaupt dem Alltag zu tun hatte, war schön bei ihr, es gab von jeher sonntags schönen Schweinebraten, eine Suppe konnte ebenso schön sein wie Spargel, Erdbeeren, Grünkohl, Brot, Käse oder Wein. Ausflüge waren schön, das Fernsehen war schön, es konnte schön ordentlich regnen, und selbst die Malesche, die sich ereignete, war eine schöne Malesche. Sie liebte das Schöne, alles sollte schön sein, und wenn sie sich auch nur die Dinge schön redete. Doris Hofmann trug ein schönes Kleid, weiß mit Veilchensträußchen überstreut, ihren Lieblingsblumen. Im Märzsonnenlicht, das durch die Fenster hereinstrahlte, bemerkte Anne, wie stark ihre Mutter geschminkt war. Pinkfarbenes Rouge lag auf ihren runden Wangen, ihr Lippenstift war pink, der Lack ihrer Fingernägel ebenso. Selbst ihr Parfüm war so süß und schwer, dass Anne das Gefühl hatte, sie röche die Farbe Pink.
Der Oberkellner kehrte zurück und schenkte Wasser ein. Ernst Hofmann winkte ab: «Ich hätte gerne ein Bier.»
«Gern, Herr Doktor.» Der Oberkellner sah Doris Hofmann fragend an. «Für Sie, gnä' Frau?»
«Einen Schoppen Wein. Weißwein. Nicht zu trocken, lieber etwas süßer ...»
«Haben Sie Aragosta?», fragte Anne.
Er bejahte und wollte die Weinkarte holen. Doch Anne winkte ab und bestellte eine Flasche Aragosta.
Annes Vater guckte verwundert: «Willst du länger hier verweilen, Anne?»
Sie überging ihn: «Wir schaffen das schon, was Mutti?»
»Na ja, eine Flasche wäre ja nun nicht gleich nötig gewesen!», meinte ihre Mutter.
«Ich lade euch ein!»
«Ist der Reichtum ausgebrochen im Hause Alberti?», fragte ihr Vater.
Nachdem Herr Nährig die Getränke serviert hatte, bestellten sie das Essen. Ernst Hofmann wollte ein argentinisches Filetsteak mit Bratkartoffeln, seine Frau Tartar, Anne entschied sich für Seezunge mit Salat.
«Und?», fragte Annes Vater, umfasste die Silbergabel, klopfte mit der Laffe auf die Tischdecke und guckte seine Tochter streng an. «Worum geht's? Warum sitzen wir hier?»
Seine Frau knuffte ihm in die Seite: «Ernst! Nun sei mal gemütlich!»
«Ich habe doch nur gesagt: Worum geht's? Wir sitzen hier seit einer Stunde in diesem ...», er blickte sich erneut im leeren Restaurant um, «... diesem Hotel, wo ein Filetsteak zweiundfünfzig Mark kostet. Das muss man sich mal vorstellen: Zweiundfünfzig Mark für ein Stück Fleisch, bei dem ich nicht sicher sein kann, ob ich nächste Woche an Rinderwahnsinn erkranke ...»
Anne unterbrach ihren Vater lächelnd: «Man wird keinen großen Unterschied feststellen. Falls du daran erkranken solltest.»
«Was soll das heißen?»
«Streitet euch nicht.» Annes Mutter sah die beiden abwechselnd an. «Wir sehen uns so selten. Lasst uns friedlich sein.»
«Doris! Ich bitte dich!» Er trank einen großen Schluck Bier. «Wir setzen uns eine Stunde in den Zug, mein Gott, kommen von Bremen hierher, ich erledige meine Banksachen, wir könnten bei unserer Frau Tochter zu Hause sitzen, wenn sie nur Lust hätte, uns zu bekochen, nicht wahr, und wir könnten unsere Enkel mal wieder sehen, aber sie scheinen kein Interesse zu haben an ihren Großeltern, na ja, wir gehören ja auch zum alten Eisen.» Er hüstelte. Annes Mutter hob an, etwas Freundliches zu sagen, aber niemand unterbrach Ernst, höchstens er sich selbst. Ruhe. Setzen. Zuhören. Anne war sich sicher, dass ihr Vater allabendlich in ein Heft Noten verteilte für Menschen, mit denen er den Tag verbracht hatte, und sie war sich ebenso sicher, dass sie niemals über eine Vier hinauskommen würde, heute ging es eher in Richtung Fünf.
«Paps, ich wollte ...»
Er streckte seinen Männerzeigefinger in die Luft. «Wenn ich das mal eben zu Ende ausführen darf: Wir sitzen also hier, weil es heißt, unsere Frau Tochter, sie habe etwas mit uns zu bereden, in diesem Restaurant, wo ein Filet zweiundfünfzig Mark kostet, nicht zu reden von diesem Wein, und ich gedenke, heute Abend wieder zurückzufahren, und zwar mit dem Gefühl, das ich weiß, was los ist, warum wir uns die Mühe machen mussten, nach Hamburg zu kommen, und nun frage ich: Worum geht's?»
Es war immer dasselbe mit ihrem Vater. Er war ungeduldig und tyrannisch. Er hatte sein Leben dazu benutzt, seine Töchter und seine Frau zu terrorisieren.
Seltsam, sie liebte ihn dennoch. Seine Liebe und sein Urteil waren ihr wichtig. Sie wollte ihn einweihen. Mehr noch, als dass ihre Mutter es erfuhr. Sie wünschte sich, verstanden zu werden. Und ihr war klar, dass sie, eine Frau von fast vierzig Jahren, Mutter von drei Söhnen, an diesem Abend sich nur dies wünschte: dass er, wenn er die ganze Wahrheit erfahren hatte, seine Liebe nicht entziehen und ihr verzeihen würde, dass er ihr die Absolution erteilte, ihr seinen Segen gab.
Er war jetzt sechsundsechzig Jahre alt, er ging glatt für Ende fünfzig durch, ein ergrauter Beamter in einem Anzug, der billiger gewesen war, als er ihn sich hätte leisten können. Ein Mann mit Bildung, aber ohne Charme. Einer, dem man, so fand Annette, ansah und anmerkte, jede Sekunde und jeden Zentimeter, dass er die vergangenen Jahrzehnte als Studienrat verbracht hatte: Diese Haltung zwischen Auftrumpfen-Wollen und Sich-beugen-Müssen, diese Resignation in den Augen, die sich abwechselte mit Kampfesblitzen, dieser Mund, verkniffen ein wenig, geformt davon zu bestimmen, sein ganzes Wissen anderen zu vermitteln mit dem andauernden Vorwurf: Warum seid ihr eigentlich alle so blöd?
Bisher hatte sie immer geglaubt, sie habe alles unter Kontrolle. Eine andere Art von Kontrolle als die, die Wolf ausgeübt hatte. Die Kontrolle des Ganzen. Sie hatte sich immer als Chefin im Hause Alberti gesehen. Eine Chefin, die alles über ihre Mitarbeiter wusste. Die sie lenkte, die sie bestimmte, die anordnete, was zu tun und zu lassen war. Und nun stand sie da, und alles schien ihr entglitten zu sein. Sie war eine Managerin des Alltags, den es so nicht mehr gab. Sie stand einer Familie vor, die auseinander gebrochen zu sein schien. Frei, aber gescheitert. Wie sollte sie das alles ihren Eltern erklären. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Stattdessen trank sie Wein. Und schwieg.
Ihr Vater hüstelte erneut.
«Was hast du?», fragte Doris.
«Willst du nicht doch lieber dein Jackett, Ernst ...?»
«Nein, wieso? Ist doch völlig überheizt hier.»
Doris streichelte ihrer Tochter über die Wange. «Blass siehste aus, Annettchen.»
«Doris, nun lass sie mal erzählen.» Ernst verschränkte die Arme vor der Brust.
Anne holte tief Luft.
«Es ist doch nichts mit den Jungs?», fragte Doris, ehe ihre Tochter etwas gesagt hatte.
Strafender Blick von Ernst. «Und das Bier ist auch zu kalt.»
«Oder mit Wolf?»
Anne schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Mit Wolf und dir?»
Das Essen kam. Auf einem silbernen Tablett servierten die Kellner Porzellanschälchen mit Kapern, gehackten Zwiebeln und Cornichons, das durchgedrehte Rindfleisch mit einem Eigelb, dazu Flaschen mit Tabasco, Worcestersauce und Cognac, eine Pfeffermühle und Salz. Während der Oberkellner das Tatar zubereitete und auf einer Untertasse eine Kostprobe für Doris servierte, wurden von zwei jungen Kellnern auf einem Beistelltisch Wärmeplatten aufgestellt, die Seezunge für Anne filetiert, der Salat mit Vinaigrette angemacht, das Steak mit Bratkartoffeln und Gemüse auf einem vorgewärmten Teller für Ernst angerichtet. Der Auftrieb war beeindruckend. Es klapperte, es klirrte, es duftete, es zischte. Leise und knapp gab Herr Nährig seine Anweisungen. Es wurde nachgeschenkt und vorgelegt und guten Appetit gewünscht, die Kellner zogen sich zurück, die Gäste begannen schweigend zu essen.
«Nicht schlecht!», konstatierte Ernst mit vollem Mund. «Bisschen blutig, aber nicht schlecht.»
«Meins ist sehr schön!», erklärte Doris, pikste eine Kaper auf die Gabelspitze und führte sie zum Mund. «Könnte ich zu Hause auch mal wieder machen, nicht, Ernstelchen?»
«Hmm.»
«Und deines, Liebes? Ist die Seezunge schön?»
«Wolf und ich haben uns getrennt.»
Doris und Ernst aßen weiter.
«Er ist bereits letzte Woche ausgezogen.»
Doris lachte auf. Ernst legte sein Besteck ab und sah seine Tochter an.
«Er hat eine eigene Wohnung genommen, die Jungs bleiben bei mir, es ging nicht mehr. Wir sind aber friedlich auseinander.» Es kam ihr vor, als würde sie ein Telegramm vorlesen.
«Na, so ein Unsinn!», sagte Doris lächelnd und aß ungerührt weiter.
«Darf ich das nochmal hören?» Ernst legte die Hand hinter sein rechtes Ohr.
«Wir haben uns getrennt, weil ich einen anderen habe.» Sie senkte den Kopf. «Ich habe mich verliebt. In Paul Ross.»
Jetzt hörte auch Doris auf zu kauen und starrte ihre Tochter fassungslos an.
«Na, da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!» Ernst wurde etwas lauter, als man gemeinhin in solchen Restaurants zu sein hat. «Das sagst du uns mal eben so, zwischen Tür und Angel, beim Mittagessen ...»
Doris unterbrach ihren Mann: «Wo wir es gerade so gemütlich haben!»
«Wieso erfahren wir das erst jetzt? Getrennt! Das geht doch nicht so hopplahopp ... das muss doch schon mindestens ...» Er wurde analytisch, in einer Weise, wie er sie Edward vererbt hatte und wie Anne sie besonders hasste. Er war ein Mathematiker. Anne wusste, dass Mathematik gefühllos machte. In schwierigen Momenten war sie immer wieder mit diesem Wesenszug ihres Vaters konfrontiert gewesen, sie verabscheute das, weil sie es fürchtete. Sie musste daran denken, wie sie vergebens in all den Jahren versucht hatte, diesen Teufel aus Edward auszutreiben. Sie wollte keinen Sohn haben, der sie an ihren Vater erinnerte. An einen kleinlichen, rechnenden, berechnenden Vater, der, rücksichtslos gegenüber den Empfindungen anderer, alles immer auf eine Formel bringen wollte. Das Leben ließ sich auf keine Formel bringen. Da verrechnete er sich eben.
Doris wischte sich mit der Serviette den Mund ab. «Ich kann es gar nicht glauben!»
«... Moment, Moment: wir waren zuletzt Weihnachten bei euch. Da hat man aber nix von Trennung gemerkt, nicht wahr? Paul ... dieser Dr. Paul Ross, das ist doch so ein anständiger Kerl, ich denke, das ist Wolfs bester Freund? Da sieht man's mal wieder, man kann eben keinem trauen, nicht einmal den Freunden. Wie kann denn so was passieren, mein Gott, Annette, sag, dass das nicht stimmt, ich kann nicht glauben, dass unsere Frau Tochter mit dem Freund ihres Mannes, also das ist ja unmöglich! Was hast du dir dabei gedacht? Man trennt sich doch nicht nach zwanzig Jahren!»
Doris besah sich ihre lackierten Fingernägel. «Der arme Wolf», sagte sie immer und immer wieder. «... Der arme Wolf.»
Dass er Paul zusammengeschlagen und einen Selbstmordversuch hinter sich hatte, im Krankenhaus und zur Kur gewesen war, das verschwieg Anne.
«Und das ist endgültig? Was ist denn mit der Frau von dem? Ich denke, der hat auch eine Familie, Töchter oder so, nicht wahr? Hast du mal an deine Söhne gedacht? Was ist denn mit Edward?»
«Und Pavelchen ?»
«Herrgott, Annette! Nun rede doch. Wieso erfahren wir das erst jetzt? Rücksichtslos! Scheinheilig!»
«Ernst! Jetzt sei nicht so laut!»
Am Nachbartisch hatte eine ältere Dame in Begleitung eines Mannes – offenbar ihres Sohnes – Platz genommen, und sie sahen herüber. Ernst Hofmann setzte seinen Wutausbruch fort, etwas leiser als vorher, aber schärfer in der Artikulation: «Schein-hei-lig sage ich! Uns hierher zu holen, von wegen Bankgeschäfte und ich lade euch ein. Wahrscheinlich alles vorher mi-nu-zi-ös geplant. Alles abgesprochen mit Frau Mommsen, die weiß es doch wahrscheinlich auch schon längst alles, alle wissen es, nur deine Eltern, deine arme Mutter und ich, die es als Erste erfahren sollten, nicht wahr, die werden zuletzt informiert. Doris! Sag was!»
«Ich weiß nicht, was ich sagen soll!» Sie griff nach ihrem Weinglas, es war leer. Anne wollte ihr nachschenken, aber Doris hielt ihre Hand über das Glas. Anne kam sich vor wie eine Sünderin, von der man nichts annehmen wollte.
«Jaa! Als es damals um die Frage ging, Häuschen kaufen für die liebe Familie Alberti. Da waren die dusseligen Eltern aus Bremen gefragt! Da sollten wir unsere Schatulle aufmachen und Paps hier und Mamutschka dort. Bisschen bürgen vielleicht? Euch aus der Patsche helfen bei momentaner Geldnot? Ich könnte ...» Er spülte den Rest des Satzes mit Bier herunter. «Und wie rücksichtslos Kinder doch sind, alles Egoisten! Uns das ausgerechnet hier, in diesem herrlichen Lokal, bei diesem wunderbaren Essen, ich meine, wann haben wir schon mal Gelegenheit, mit dir essen zu gehen, dich einmal ganz für uns zu haben, so ein Rahmen, das haben wir nicht alle Tage, da freuen wir uns drauf, und deine Mutter geht extra zum Friseur, nicht wahr, dann versaust du uns das mit einem solchen ... solchen ... Hieb! Habe gar keinen Appetit mehr! Vielen Dank!» Weit schob er seinen Teller von sich. «Weiß Ingrid davon? Bestimmt! Ich wette, hier in Hamburg pfeifen es die Spatzen von den Dächern, na ja, Großstadt, da ist so etwas ja gang und gäbe, vollkommen normal: Frau Tochter geht um die Ecken! Ehebrecherin. Na, prost Mahlzeit!»
Ihre Eltern sahen sie an. Sie erwarteten offenbar Widerruf. Leider nicht möglich. Anne konnte ihrem Blick nicht standhalten und schaute durchs Fenster auf die Alster hinaus. Ein wenig fühlte sie sich erleichtert. Sie hatte es gesagt. Sie hatte es hinter sich. Die letzte Hürde schien genommen. Aber war es wirklich die letzte? Anne hatte auf einmal das Gefühl, dass die richtigen Schwierigkeiten noch vor ihr lagen. Wie würde es weitergehen? Mit ihr. Und Paul. Mit ihr und Paul und den Kindern. Auf jeden Fall gemeinsam. Sie liebten sich. Und das war das Wichtigste.
Sie guckte zum Nachbartisch hinüber. Offenbar hatte der Mann, der seine Mutter zum Lunch ausführte, mitbekommen, worum es ging. Er sah gut aus. Mitte dreißig mochte er sein.
Er schaute kurz zu ihr herüber. Anne merkte in diesem Moment, dass er mit ihr flirtete.
In den vergangenen Monaten war Anne ihre eigene Verwandlung bewusst geworden. Seitdem sie so glücklich war mit Paul, hatte sie eine andere Ausstrahlung bekommen. Sie fiel den Männern auf. Und sie bemerkte es. Ausgerechnet jetzt, wo sie es am wenigstens nötig hatte, trat das ein, wonach sie sich in all den Jahren gesehnt hatte. Schon immer hatte sie Ebba um deren sexuelle Anziehungskraft beneidet. Ein Leben lang hatte sie darunter gelitten, in die Kategorie lieb, aber spröde zu gehören. Zwischen dem, was man sich wünschte, und dem, was man sich zutraute, zwischen dem, wie man als Frau wirkte und wie man tatsächlich war, lagen Welten. Sie war weder lieb, noch war sie spröde. Wie oft hatte sie in den intimen Gesprächen mit Ebba gesagt: «Ich möchte erotisch sein, so wie du, Ebba. Ich möchte, dass Männer mich geil finden!» Und Ebba hatte nur mit den Schultern gezuckt und sich in die Unhöflichkeit des Schweigens gehüllt, die nichts weiter bedeutete als Resignation. Und nun saß sie hier in diesem Restaurant und stritt mit ihren Eltern, und am Nebentisch saß ein attraktiver Mann, und eine Kopfbewegung hätte genügt, um ihm zu bedeuten: «Okay, kommt mit.» Es war unglaublich. In Sekundenbruchteilen lief in ihrem Kopf der Film ab, dass sie frei sei, frei und ungebunden, dass sie stark und mutig sei und in der Lage, alles hinter sich zu lassen, selbst ihre Familie, und ein wildes Leben führen könnte, das einer Belle de jour, die alles und jeden haben konnte, den sie wollte, und dieser Gedanke kam ihr verlockend vor.
Ernst Hofmann erhob sich.
«Paps! Nun bleib doch sitzen!»
«Ernst, was hast du denn?»
«Entschuldigt mich!», murmelte er und ging. Sie sahen ihm nach und er wusste das. Er gab den Gramgebeugten, den schwachen Greis, es schien, als würde er auf einmal schlurfen, von den Schrecken des Lebens niedergebeugt, und über die dicken Teppiche Schritte setzen, die seine letzten waren. Ernst hatte das Talent zum Schauspieler. Er war fest davon überzeugt zu leiden. Und er wollte, dass die anderen mitlitten. Das war seine schönste Rolle. Doris war in dieser Hinsicht ein herrliches Publikum. Normalerweise wäre sie ihm nachgelaufen. Aber jetzt lehnte sie sich einfach nur zurück, ergriff Annes Hand und sagte: «Kind, Kind, Kind.»
«Soll ich hinterher?»
«Unsinn!» Sie winkte ab. «Mach dir keine Sorgen.»
«Ich mache mir keine Sorgen. Ich ärgere mich.»
«Du kennst ihn doch. Er jault ein bisschen herum. Er ist alt. Er fürchtet, nach und nach alles zu verlieren. Er will wichtig genommen werden. Er findet, du hättest ihn vorher fragen sollen.» Sie kicherte. «Aber nun scheint es ja nicht mehr rückgängig zu machen zu sein. Oder?»
Anne schüttelte den Kopf. Manchmal wunderte sie sich über ihre Mutter. War sie eben noch die angepasste, fast unterwürfige Ehefrau gewesen, pink und pudrig mild, kehrte sie jetzt die lebenserfahrene Frau heraus, die auch in ihr steckte, rot, klar, selbstbewusst.
Mit dem Daumen strich Doris ihr über den Handrücken. «Bist du denn glücklich mit ihm?»
Entschieden nickte Anne.
Doris ließ die Hand ihrer Tochter los und ergriff ihr Weinglas: «Ich nehme noch ein Schlückchen. Auf den Schrecken!»
Ihre Tochter schenkte ihr das Glas fast randvoll und nahm selbst nur noch ein wenig. Sie stießen an und tranken bedächtig.
«Ich wollte das schon längst mit euch besprechen», begann sie, «aber ich hatte so viel mit mir zu tun. Mit mir und Wolf und den Jungs. Es war nicht einfach.» Sie drehte das Glas in ihren Händen. «Ich hatte auch Angst, es euch zu sagen!»
«Das glaube ich. Das ist ja auch nicht einfach.»
«Und prompt reagiert dann Paps auch noch so. Fürchterlich. Ich finde, er benimmt sich entsetzlich. Warum tut er das? Warum wird er so wütend, beschimpft mich, kränkt mich derart?»
«Erinnerst du dich noch an Fräulein Rippke?» Ehe Anne das bejahen konnte, fuhr ihre Mutter fort: «Jetzt könnte ich eine Zigarette vertragen. Hast du welche?»
«Ich bestelle ein Päckchen.» Anne drehte sich nach hinten. Ein kurzer Blick in Richtung des Oberkellners genügte, und schon kam er an den Tisch.
«Ist alles in Ordnung?» Er betrachtete sorgenvoll die noch halb vollen Teller.
«Danke ja. Sehr gut!», antwortete Anne. «Ein bisschen viel vielleicht. Aber alles bestens.»
«Wir hätten gerne Zigaretten!», sagte Doris. «Gauloises, wenn Sie haben.» Er nickte und Annes Mutter ergänzte: «Am liebsten filterlose.»
«Na, du bist ja in Schwung! Wenn das Paps mitkriegt!»
«Soll ich den Teller vom Herrn Doktor warm stellen?»
Anne und Doris guckten sich fragend an.
«Ich glaube, er wird auch nichts mehr essen», sagte Anne. «Sie können alles mitnehmen.»
«Packen Sie es ein!», befand Doris und fügte jovial hinzu: «Wir nehmen es mit nach Hause. Wir wohnen in Bremen.» Für Anne, die überrascht war über diesen Wunsch ihrer Mutter, klang es wie: Bremen, das ist weit, weit weg, und da gibt es so etwas Schönes nicht. Doch der Oberkellner, der eine besondere Begabung darin hatte, seinen Gästen ein Gefühl unverbindlicher Vertrautheit zu vermitteln, verstand es richtig, plauderte charmant über die Unterschiede und jeweiligen Vorzüge der beiden Hansestädte, erzählte ein paar Anekdoten und versprach, mit Zigaretten und dem eingepackten Essen sofort zurückzukommen. Nachdem er wenige Minuten später alles zur Zufriedenheit der Damen erledigt hatte und die Speisen in Aluminiumfolie eingeschlagen und in eine Papiertüte verstaut wieder auf dem Tisch standen, zündeten sich Anne und ihre Mutter die Zigaretten an. Anne war die Gauloise zu stark und sie paffte nur. Doris jedoch inhalierte tief und lehnte sich zufrieden in ihrem Sessel zurück und nahm den unterbrochenen Gesprächsfaden wieder auf.
«Fräulein Rippke, ich fragte, ob du dich an sie erinnerst, das war die Sekretärin in eurer Schule, als ihr damals noch in Paps' Schule gegangen seid, Ingrid und du.» Sie seufzte.
Natürlich erinnerte sich Anne an Fräulein Rippke, die alte Jungfer, schlecht gelaunt und bösartig zu den Kindern, liebesdienerisch gegenüber dem Kollegium. Damals hatten sie sich lustig gemacht über sie, weil sie so verhärmt aussah und so zickig wirkte und man sich über sie erzählte, dass sie Nudistin sei und eine hundsmiserable Sekretärin, die berühmt dafür war, dass sie dem Schulleiter jeden Morgen den Nescafé filterte, das dumme Huhn. In Erinnerung daran musste Anne schmunzeln, und ihr fiel wieder ein, wie sehr sie diese Frau verabscheut hatte und wie heimtückisch gemein Fräulein Rippke ihr gegenüber immer gewesen war, bis zu dem Tag, als ihr Vater Schulleiter wurde.
«Und dann kam dein Vater eines Tages nach Hause, lange nach dem Mittagessen, und von da an wurde es plötzlich immer Abend, weil er ja so viel Arbeit hatte als Direktor, und ich entdeckte, dass Paps sein Brot in der Tupperdose mit dem roten Deckel wieder mitbrachte.»
«Das Hasenbrot!»
«Ja, das Hasenbrot. Da wusste ich: Etwas stimmt nicht. Er legte doch immer so viel Wert auf seine regelmäßigen Mahlzeiten. Eines Abends habe ich zu ihm gesagt: Ernst, da ist eine andere Frau. Er hat natürlich geleugnet. Dann kamen die Sommerferien, und er wollte nicht mehr nach Hörnum, sondern nach Kampen, wegen des Nacktbadestrands, diesen Floh hatte sie ihm ins Ohr gesetzt, ich wusste ja, dass sie sich dafür begeisterte. Und dann habe ich unsere Koffer gepackt, und wie wir abreisen wollten, habe ich ihm erklärt, wir führen zu Omi Pinneberg, er könne allein nach Sylt, zu seinem Fräulein Rippke.
Na, da hat er es mit der Angst gekriegt. Ich habe ihn vor die Wahl gestellt. Er hat sich entschieden. Sonst würde ich hier nicht mit euch sitzen.»
«Fräulein Rippke? Diese verknöcherte ...?» Anne dachte: Mein Vater! Hält mir Vorträge, greift mich an, benutzt das Wort Ehebrecherin und ist selbst fremdgegangen! Seltsam: Wieso hatten sie und ihre Schwester nichts davon mitbekommen, sie waren keine Kinder mehr gewesen zu jener Zeit, sondern Teenager. Und warum hatte ihre Mutter das nie erzählt? Bei aller Nähe, die man gegenüber geliebten Menschen zu spüren glaubt, bleibt doch immer ein Rest Fremdheit, jeder Mensch trägt ein Geheimnis in sich, das er nicht preisgeben will – dieser Gedanke schmerzte sie. Und dass ihr Vater Sex hatte (oder gehabt hatte), irritierte sie maßlos. Ernst Hofmann, der Fräulein Rippke bumste, hechelnd, schnell, roh, stöhnend, sabbernd, schwitzend, nachmittags, auf dem Schreibtisch vielleicht, wo ein Stapel unkorrigierter Arbeiten darauf wartete, mit roten Kringeln, Fragezeichen, Schlängellinien, bösen Anmerkungen und schlechten Noten versehen zu werden: Diese Vorstellung war grauenhaft für sie.
Der Mann am Nachbartisch stand auf, legte seine Serviette auf den Tisch und ging. Anne und er nickten sich zu, wie zwei Bekannte.
Doris redete weiter: «Tja, das passiert wohl in jeder Ehe mal, das ist ja nun keine Erfindung der Neuzeit, Betrug, Fremdgehen, was auch immer man dazu sagen mag.» Sie klopfte die Asche von ihrer Zigarette ab. «Aber früher, zu unserer Zeit ...»
«Sag doch nicht immer: zu unserer Zeit! Ist das nicht mehr deine Zeit? Du lebst doch noch!»
«... es war eben anders, da hat dein Vater schon Recht: Man trennte sich nicht einfach so. Man dachte über die Konsequenzen nach. Man kämpfte. Man überwand seine Probleme. Man blieb zusammen. Schon wegen der Kinder.» Sie drückte die Gauloise aus und wischte sich mit der Serviette die Fingerkuppen ab. «Ich finde, die heutige Generation macht es sich da einfach zu leicht. Ihr werft solche Dinge wie Ehe und Partnerschaft und Familie einfach so weg! Ihr gebt zu schnell auf. Der arme Wolf. Ist das denn endgültig? Kann man da gar nichts mehr machen?»
Anne hatte keine Lust, mit ihrer Mutter über Damals und Heute zu diskutieren. Sie wollte nicht noch einmal alles durchkauen, sie wollte ihr nicht erklären, wie schwierig die vergangenen Wochen gewesen waren und dass sie und Wolf und auch Paul es sich keinesfalls so leicht gemacht hatten, wie ihre Eltern jetzt dachten. Ihre Skrupel, ihre Ängste, die schlaflosen Nächte, die Diskussionen mit Paul, Wolfs Selbstmordversuch, der Krankenhausaufenthalt, die Kur, die gemeinsamen Gespräche danach, seine Verweigerung, sein Auszug: Das lag hinter ihr, und was wussten schon ihre Eltern davon.
Anne sah auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel nach eins. «Sag mal, wo bleibt er denn?»
«Geh doch mal gucken. Er wird sich ja wohl nicht in die Alster gestürzt haben!»
Anne erhob sich, ging durch das Restaurant in die angrenzende Kaminhalle, schlenderte den Flur entlang und sah sich am Telefonkiosk und der gegenüberliegenden Garderobe nach ihrem Vater um. Keine Spur von ihm. In diesem Moment kam der elegante Mann vom Nebentisch aus der Herrentoilette heraus. Er lächelte sie an.
«Sie suchen ihren Vater?»
«Ja genau!» Sie lächelte zurück.
«Er ist da drinnen!» Er deutete mit dem Zeigefinger hinter sich zu der Toilettentür.
«Danke.»
Er machte eine leichte Kopfbewegung, die andeuten sollte: gerne geschehen und ging. Dann jedoch blieb er stehen, drehte sich noch einmal zu ihr um und sagte: «Entschuldigen Sie?»
«Ja?»
Er kam zu ihr und überreichte ihr seine Visitenkarte: «Wenn Sie einmal über etwas anderes reden möchten als über Eheprobleme ... wenn Sie vielleicht auch mal ohne ihre Eltern hier essen gehen wollen ... ich würde mich freuen!» Damit verschwand er endgültig. Verblüfft betrachtete Anne die Visitenkarte:
Jean van der Marsch, Immobilien
stand da. Und eine feinste Adresse. Und eine Telefonnummer. Und eine Faxnummer. Und eine Handynummer. Und eine E-Mail-Adresse. Anne hätte hell auflachen können. Das musste sie Ebba erzählen! So heiter und unbeschwert konnte das Leben sein. Annette Alberti @ Jean van der Marsch. Oder auch nicht. Sie steuerte auf die Waschräume zu.
«Damen sind drüben!», erklärte die Garderobiere und deutete zur anderen Seite.
«Ich weiß!», erwiderte Anne und ließ sich nicht beirren. Schwungvoll öffnete sie die Tür mit dem geschwungenen H aus Messing. Der mit Marmor und Spiegeln ausgeschlagene Vorraum war leer. Sie öffnete die nächste Tür: links die Pissoirs, rechts, hinter drei weiteren Türen, die Toiletten.
«Paps?», fragte sie und hielt vorsichtshalber die Klinke der geöffneten Tür in der Hand. Keine Antwort. «Paps?»
Hinter der vordersten Tür erklang seine Stimme: «Was willst du?»
«Was ist denn los? Wo bleibst du?»
«Darf ich vielleicht mal in Ruhe ...?»
«Aber doch nicht eine halbe Stunde! Geht es dir nicht gut?» «Mir geht es blendend. Verdauung funktioniert. Danke der Nachfrage.»
«Paps, komm doch raus. Sei doch nicht so!»
Wieder fiel sie in die Erinnerung an ihre Kindheit zurück. Wie oft hatte sie sich als Kind ins Klo eingeschlossen, heulend. Wie oft hatte ihre Mutter an die Tür geklopft und sie gebeten, herauszukommen. Nie hatte Anne gefolgt. Wie herrlich ließ es sich auf dem Klo nachdenken über die Ungerechtigkeit des Lebens, wie wunderbar konnte man dort trauern, über schlechte Noten, Ohrfeigen, Hausarrest. Nur ihrem Vater war es gelungen, sie da herauszuholen, und zwar mit üblen Drohungen und Verabredungen: «Ich gebe dir ab jetzt zehn Minuten. Jede Minute bedeutet zehn Prozent weniger Taschengeld. Ich warte. Fünf Mark sind schon weg ...» Das allerdings war dann selbst für sie eine einfache Rechnung. Fünf Mark weniger pro Minute von fünfzig Mark Taschengeld, das bedeutete, auf die Bravo verzichten, auf die neue Gary-Glitter-Platte, auf die Jeans mit der passenden Weste.
Und nun stand sie hier, fast dreißig Jahre später, auf der Herrentoilette des Hotels Vier Jahreszeiten, vor der Toilettentür, hinter der sich ihr Vater eingeschlossen hatte, weil sie sich von Wolf getrennt hatte und Paul liebte. Wäre es nicht so verrückt, so unglaublich gewesen, sie hätte lauthals gelacht.
«Papa», bat sie, und ihre Stimme klang sehr süßlich, «komm raus, lass uns reden.» Sie ließ die Tür zufallen.
«Da gibt es ja wohl nichts mehr zu reden.» Kam es von innen zurück, kläglich fast. «Du bist eine erwachsene Frau. Ist dein Leben, nicht wahr. Jeder macht sich so unglücklich, wie er kann. Ich bin ein alter Mann. Ich werde bald sterben. Was sollen wir da noch reden?»
Sie wurde stinksauer: «Sei doch nicht so entsetzlich kitschig!», schrie sie. «Das ist ja nicht zum Aushalten. Komm da sofort raus und benimm dich wie ein Mann!»
Flott wurde die Zwischentür aufgestoßen und ein elegant gekleideter Herr kam herein, eine Hand schon am Reißverschluss, hielt inne, glotzte. «Was machen Sie denn hier?», fragte er aggressiv.
«Na, was wohl?», antwortete Anne erhitzt.
«Is 'n Männerklo!»
«Ach nee. Von mir aus können sie pinkeln. Mich stört das nicht.»
«Aber mich.» Er hielt die Tür weit auf. «Raus! Wenn ich bitten dürfte!»
«Nun brich dir bloß keinen ab. Ich hab schon mal einen Schwanz gesehen!» Hilfe! Was sagte sie da? War Ebba in sie gefahren?
«Also Anne!» Die Toilettentür wurde aufgeschlossen. Ihr Vater kam heraus. Er hatte tatsächlich die ganze Zeit über angezogen auf dem Klodeckel gesessen. «Entschuldigen Sie bitte meine Tochter.» Ernst schob Anne hinaus. «Entschuldigen Sie!»
«Proletenpack!», hörten sie den Mann noch sagen, dann fiel die Zwischentür ins Schloss.
Ernst ging an eines der Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände. «Ich habe immer gedacht, bei euch ist alles in Ordnung ... es ist traurig. Traurig ist das.» Er sah sie durch den Spiegel an.
Anne nahm eines der sorgfältig zusammengelegten Frotteehandtücher, faltete es auseinander und reichte es ihrem Vater.
Er drehte sich um. «Man kann doch jede Entscheidung rückgängig machen.» Er trocknete sich die Hände ab.
«Diese nicht.»
Er holte tief Luft. Fast tat er ihr Leid. Er schien wirklich unter Schock zu stehen. «Aber ...»
«Aber was?»
«Zusammenziehen, ich meine, du wirst doch nicht mit ihm zusammenziehen?»
«Nein, Quatsch», antwortete Anne schnell. «Komm, Mama wartet.» Sie wollte gehen.
Er hielt sie zurück. «Ich will nicht, dass du einen Fehler begehst, der sich nicht wieder gutmachen lässt. Der ist doch gar nicht dein Kaliber, Anne.»
«Du kennst ihn doch überhaupt nicht! Mein Gott!»
Sie verließen die Waschräume, gingen an der Garderobiere vorbei, die ihnen nachsah, den Flur entlang, und Ernst hakte sich bei seiner Tochter unter. Er wirkte federleicht an ihrem Arm, fast zerbrechlich, fand sie.
«Also wirklich nicht?», fragte er leise nach. «Du bleibst mit den Jungs in der Stadt, lässt alles langsam angehen, denkst über alles gut nach?»
«Ja», sagte sie, «ich denke über alles gut nach. Ich bleibe in unserer Wohnung, mit den Jungs. Wir ziehen nicht zusammen. Mach dir keine Sorgen.»