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Emotion

 

Sau­lus aber schnaub­te noch mit Dro­hen und Mor­den wi­der die Jün­ger des Herrn und ging zum Ho­hen­pries­ter und bat ihn um Brie­fe nach Da­mas­kus an die Syn­ago­gen, auf daß, so er et­li­che des Weges fän­de, Män­ner und Wei­ber, er sie ge­bun­den füh­re gen Je­ru­sa­lem.

Und da er auf dem We­ge war und na­he an Da­mas­kus kam, um­leuch­te­te ihn plötz­lich ein Licht vom Him­mel.

Und er fiel auf die Er­de und hör­te ei­ne Stim­me, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was ver­folgst du mich?

Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der Herr sprach: Ich bin Je­sus, den du ver­folgst. Es wird dir schwer­fal­len, wi­der den Sta­chel zu lo­cken.

Und er sprach mit Zit­tern und Za­gen: Herr, was willst du, das ich tun soll? Der Herr sprach zu ihm: Ste­he auf und ge­he in die Stadt; da wird man dir sa­gen, was du tun sollst.

Die Män­ner aber, die sei­ne Ge­fähr­ten wa­ren, stan­den und wa­ren er­starrt, denn sie hör­ten die Stim­me, aber sa­hen nie­man­den.

Sau­lus aber rich­te­te sich auf von der Er­de, und als er sei­ne Au­gen auf­tat, sah er nie­man­den. Sie aber nah­men ihn bei der Hand und führ­ten ihn gen Da­mas­kus.

Und er war drei Ta­ge nicht se­hend und aß nicht und trank nicht.

 

Die Bi­bel, Apo­stel­ge­schich­te, Ka­pi­tel 9, 1-9

 

Paul schneuz­te sich und ver­such­te, den Ge­ruch des Shit aus der Na­se zu ver­trei­ben. Er fuhr ein Au­to, ei­ne alt­mo­di­sche Ver­bren­nungs­ma­schi­ne, die reich­lich Brenn­stoff ver­schwen­de­te. Da­her be­fand er sich auf der Er­de in Prä-MÜ-Zei­ten, und das war son­der­bar, aber auch merk­wür­dig ver­traut. Er wuß­te, daß es sich um ei­ne wei­te­re Ani­ma­ti­on han­del­te, die völ­lig an­ders war als die letz­te, doch im­mer­hin ein Kon­strukt sei­ner Vor­stel­lungs­kraft oder sei­ner Er­in­ne­rung. Ei­ne wei­te­re Rich­tung, die die Prä­zes­si­on vor­schrieb, de­ren Ge­set­ze er noch nicht so­weit be­griff, um sich be­wußt ih­rer be­die­nen zu kön­nen.

Er hat­te ir­gend­wie das Ge­fühl, er kön­ne sich an die­se Fahrt er­in­nern; viel­leicht war es vor zehn Jah­ren ge­we­sen, viel­leicht aber auch vor neun, aber wo­her war er da­mals ge­kom­men und wo­hin ge­fah­ren? Es wur­de ihm nicht klar.

Auf der Au­to­bahn gab es ei­ne Men­ge an­de­rer Wa­gen, die mit der von den Be­hör­den fest­ge­setz­ten Höchst­ge­schwin­dig­keit da­hin­fuh­ren: 100 Km/h, sanft und gleich­mä­ßig. Al­le gu­ten Din­ge wur­den durch die Hun­dert be­stimmt; es war das de­zi­ma­le, me­tri­sche Pro­zent­sys­tem. Leicht zu rech­nen, leicht zu be­stim­men, durch vie­le Zah­len teil­bar.

Die Au­tos wa­ren wie sei­nes, klei­ne, strom­li­ni­en­för­mi­ge, be­que­me Was­ser­stoff­ver­bren­ner. Der Was­ser­stoff wur­de in ver­schie­de­nen Kraft­wer­ken aus Was­ser ge­won­nen; ei­ni­ge der Kraft­wer­ke wur­den auch da­zu ein­ge­setzt, um es für stär­ke­re Ener­gie mit He­li­um zu ver­schmel­zen, und ei­ni­ge zur Er­zeu­gung von Sau­er­stoff­ver­bin­dun­gen, um wie­der­um Was­ser zu ge­win­nen (sau­be­res Was­ser war sel­ten). Zum Teil wur­de es nicht brenn­bar ge­macht und in dich­te Trans­port­be­häl­ter ge­füllt, in an­de­ren Fäl­len wie­der­um in Mo­to­ren ex­plo­si­ons­ar­tig ver­brannt. Was­ser­stoff: das viel­sei­tigs­te Ele­ment. Paul war sich über die ur­sprüng­li­che Ener­gie­quel­le im un­kla­ren, die man ein­setz­te, das Gas ab­zu­schei­den, aber of­fen­sicht­lich reich­te es aus, um das Sys­tem auf dem lau­fen­den zu hal­ten.

In nur we­ni­gen Jah­ren wür­de sich das al­les än­dern, wenn sie das MÜ-Pro­gramm über­kom­men und al­le Haupt­ener­gie­quel­len für sich in An­spruch neh­men wür­de. Das We­sen aus der An­ta­res-Sphä­re, des­sen blo­ße An­we­sen­heit man vor den Men­schen ge­heim­hielt, für die es ei­ne sol­che Än­de­rung be­deu­ten wür­de – wel­ches Un­heil wür­de es der so­la­ri­schen Sphä­re brin­gen? Aber im Mo­ment ga­ben sich die Men­schen noch ih­rem letz­ten Auf­schwung hin: Pri­va­ter Trans­port war dem durch­schnitt­li­chen Bür­ger noch er­laubt. Aber es ging ge­ra­de eben noch.

Paul sel­ber konn­te sich die­ses Au­to ei­gent­lich nicht leis­ten. Er be­nütz­te es für einen un­ge­setz­li­chen Zweck: Er trans­por­tier­te Dro­gen. So gut ver­bor­gen, daß er sel­ber kei­ne Ah­nung da­von hat­te, gab es ein Ver­steck mit Mnem, aus­ge­spro­chen NEEM: die Er­in­ne­rungs­dro­ge. Stu­den­ten be­nutz­ten sie für ih­re Ex­amen; wenn sie von Mnem high wa­ren, wur­de ihr Ge­dächt­nis fast ab­so­lut und er­mög­lich­te es ih­nen, oh­ne wirk­lich zu täu­schen, her­vor­ra­gend ab­zu­schnei­den. Es ver­grö­ßer­te nicht die In­tel­li­genz und ver­mit­tel­te auch kei­ne dau­er­haf­ten Fä­hig­kei­ten, doch das zeit­wei­se Wis­sen war so wich­tig, wenn man com­pu­ter­ge­steu­er­te Prü­fun­gen ab­sol­vier­te, daß dies oft­mals den ent­schei­den­den Un­ter­schied auf den Be­wer­bungs­lis­ten aus­mach­te, die die Aus­wahl für ei­ne Ar­beits­stel­le oder die Pro­mo­ti­on be­stimm­ten. Paul sel­ber hat­te Mnem wäh­rend sei­ner Uni­ver­si­täts­zeit nie­mals be­nutzt, nicht weil er es nicht be­kom­men konn­te oder aus Geld­man­gel oder mo­ra­li­schen Grün­den, son­dern weil er es nicht ge­braucht hat­te. In sei­ner Fa­kul­tät gab es kei­ne Prü­fun­gen oder Gra­du­ie­run­gen. Die Dro­ge hat­te nur ge­rin­ge Ne­ben­ef­fek­te und konn­te im mensch­li­chen Or­ga­nis­mus nur durch kom­pli­zier­te me­di­zi­ni­sche Un­ter­su­chun­gen nach­ge­wie­sen wer­den, die mehr kos­te­ten, als sich die Ge­sund­heits­äm­ter leis­ten konn­ten. Da­her war der Ge­brauch recht si­cher, und es wur­de viel da­nach ver­langt.

Es gab ei­gent­lich nur drei Nach­tei­le von Mnem: Zu­nächst ein­mal war es il­le­gal. Das mach­te aber nur we­ni­gen et­was aus; wann im­mer die Mo­ral in Kon­flikt mit der Be­quem­lich­keit ge­riet, un­ter­lag die Mo­ral. Zwei­tens war es wie al­le ab­hän­gig ma­chen­den, il­le­ga­len Dro­gen teu­er; die Kos­ten ent­stan­den nicht bei der Pro­duk­ti­on, son­dern bei dem il­le­ga­len Ver­tei­lungs­sys­tem. Das mach­te schon mehr Leu­ten et­was aus, aber nicht so vie­len, um den Ge­brauch ernst­haft zu un­ter­bin­den. Das kri­mi­nel­le Ele­ment, wie auch das Busi­neß-Ele­ment, hat­ten ein schar­fes Au­ge da­für, was der Markt her­gab. Ei­gent­lich wa­ren sich die Fä­hig­kei­ten und Skru­pel bei­der Ele­men­te ähn­lich und über­lapp­ten sich be­trächt­lich. Das Mnem-Kar­tell bot je­nen mit ei­nem kri­ti­schen Be­dürf­nis da­nach an­re­gen­de Mög­lich­kei­ten an, wie auch Paul sel­ber. Denn er hat­te nach der Uni­ver­si­täts­zeit einen Nut­zen für Mnem ge­fun­den. Drit­tens: Mnem-Ent­zug ver­ur­sach­te nicht al­lein den Ver­lust der durch Dro­gen in­ten­si­vier­ten Ge­dächt­nis­leis­tung, son­dern einen all­ge­mei­ne­ren mne­mo­ni­schen Ver­fall, der zu Des­ori­en­tie­rung und un­re­gel­mä­ßi­gen Krank­heits­bil­dern führ­te. So war die Sucht al­so we­der psy­chisch noch phy­sio­lo­gisch, son­dern prak­tisch: Ein­mal süch­tig ge­wor­den, konn­te ein Be­nut­zer oh­ne Mnem nicht mehr rich­tig funk­tio­nie­ren. Das mach­te den meis­ten Leu­ten et­was aus, aber sie neig­ten da­zu, nicht dar­über nach­zu­den­ken. Es war das Pa­ra­do­xon von Mnem, The­ma vie­ler Spä­ße, daß es die Leu­te da­zu brach­te, den Haupt­nach­teil zu ver­ges­sen, wäh­rend es ihr Ge­dächt­nis un­ge­heu­er schärf­te.

Da­her ris­kier­te Paul sei­ne Frei­heit, in­dem er die­se La­dung über die Staats­gren­zen fuhr. Er hat­te die Dro­ge be­nutzt, um auf die­sem Ge­biet Ex­per­te zu wer­den; nun konn­te er die­se Ge­wohn­heit nur auf­recht­er­hal­ten, in­dem er mit den Lie­fe­ran­ten ko­ope­rier­te. Glück­li­cher­wei­se war es nicht nö­tig, daß ei­ne be­stimm­te Per­son dies oft­mals un­ter­nahm; der Grund war al­ler­dings nicht die Sor­ge um das Wohl­er­ge­hen die­ser Per­son, son­dern ei­ne Vor­sichts­maß­nah­me ge­gen­über den Be­hör­den. Es wür­de bis zu ei­nem Jahr dau­ern, bis Paul wie­der fah­ren muß­te, und in der Zwi­schen­zeit wur­de er kos­ten­los mit Mnem ver­sorgt. Das war wirk­lich ein gu­tes Ge­schäft.

Am Rand der Au­to­bahn stand je­mand; es schi­en ei­ne weib­li­che Ge­stalt zu sein. Die an­de­ren Au­tos fuh­ren vor­bei, na­tür­lich, denn es war ge­fähr­lich, einen Tram­per mit­zu­neh­men, ob nun Frau oder Mann. Paul al­ler­dings wur­de manch­mal un­ru­hig, wenn er auch nicht oft fuhr, denn die­se lan­ge Fahrt lang­weil­te ihn. Mit ein we­nig Ge­sell­schaft wä­re es an­ders, be­son­ders mit weib­li­cher Ge­sell­schaft.

Er hielt an. Das Mäd­chen sah ihn und rann­te her­bei. Sie war jung, wahr­schein­lich noch un­ter zwan­zig, aber über­ra­schend gut ent­wi­ckelt. Ih­re Klei­der wa­ren un­or­dent­lich und ko­misch; ei­gent­lich trug sie nur ei­ne Art dün­nes Nacht­hemd, das ih­re wo­gen­de Brust ero­ti­scher um­hüll­te, als ha­be sie sich be­wußt ent­klei­det. Ein na­tür­li­ches Mäd­chen in un­na­tür­li­cher Um­ge­bung.

„Oh, dan­ke!“ keuch­te sie, als sie auf den Bei­fah­rer­sitz stieg. „Ich hat­te schon Angst, nie­mand wür­de an­hal­ten, ehe die Po­li­zei kommt.“

„Die Po­li­zei?“ frag­te er, plötz­lich ner­vös. Wenn sie ei­ne Kri­mi­nel­le war …

„Oh, bit­te, Sir … fah­ren Sie los!“ rief sie. „Ich wer­de al­les er­klä­ren. Es ist al­les in Ord­nung. Es wird kei­nen Är­ger für Sie ge­ben – aber fah­ren Sie bit­te wei­ter. Bit­te!“

Aber er zö­ger­te und blieb wei­ter ste­hen. „Ich ha­be nicht ge­nug Geld bei mir, daß es sich loh­nen wür­de, nur ei­ne ver­schlüs­sel­te Kre­dit­kar­te, die Ih­nen nichts nützt. Al­le hal­be Stun­de braucht die­ses Au­to mei­nen Dau­men­ab­druck, sonst blo­ckiert der Mo­tor, und die Au­to­ma­tik setzt ein, da­her kön­nen Sie …“

Sie sah ihn an, und er war über­rascht, als er Trä­nen auf ih­ren Wan­gen sah. Das hel­le Haar war zer­zaust, doch auf die­se wil­de Art war sie auch wun­der­hübsch. „Sie ha­ben von mir nichts zu be­fürch­ten, Sir! Ich ha­be kei­ne Waf­fe. Ich ha­be gar nichts. Kein Es­sen. Kei­nen Aus­weis. Ich weiß nicht, wie ich es Ih­nen wie­der­gut­ma­chen kann, aber bit­te, bit­te fah­ren Sie los, sonst ist al­les ver­lo­ren. Ich wür­de lie­ber ster­ben als dort­hin zu­rück­ge­hen!“

Ihm war im­mer noch un­be­hag­lich, doch er fuhr wei­ter und be­schleu­nig­te so stark, daß er sich in den lau­fen­den Ver­kehr wie­der ein­fä­deln konn­te. „Wo­hin wol­len Sie?“ frag­te er.

„Zur Bar­lowville-Sta­ti­on“, ant­wor­te­te sie.

Er be­gann, den Co­de in das Com­pu­ter­ter­mi­nal ein­zu­spei­sen, um den Zielort ge­nau­er zu be­stim­men. „Oh, nein!“ pro­tes­tier­te sie. „Bit­te, Sir, fra­gen Sie nicht die Ma­schi­ne! Sie wer­den sie auf mich ein­stim­men, und in we­ni­gen Mi­nu­ten wird die Po­li­zei …“

Der Dä­mon in der Ma­schi­ne. Pauls Fin­ger er­starr­ten. „Sie ste­hen auf der Fahn­dungs­lis­te?“ frag­te er be­un­ru­higt. Er hat­te ge­ra­de ge­ur­teilt, sie sei harm­los, aber das ge­fiel ihm nicht. Das war das letz­te, was er ge­brau­chen konn­te, ei­ne po­li­zei­li­che Un­ter­su­chung des Wa­gens!

„Ich wer­de de­pro­gram­miert!“ er­klär­te sie has­tig. „Ich ge­hö­re zum Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on, und mei­ne Leu­te ver­su­chen …“

„De­pro­gram­mie­ren sie re­li­gi­öse Ver­rück­te im­mer noch?“ frag­te er ge­dan­ken­los. „Ich dach­te, das sei schon seit zehn Jah­ren zu­sam­men mit an­de­ren For­men des Ex­or­zis­mus ab­ge­schafft wor­den.“

„Es kommt im­mer noch vor“, ent­geg­ne­te sie. „Mit den eta­blier­ten Sek­ten ist es in Ord­nung – sie ha­ben vor vie­len Jah­ren mit ih­ren In­itia­tio­nen auf­ge­hört –, aber die neu­en wer­den im­mer noch ver­folgt.“

Der Ri­tus des Durch­bruchs, dach­te Bru­der Paul. Je­de neue Re­li­gi­on muß­te ei­ni­ge Ver­fol­gung durch­ste­hen, um ih­re Exis­tenz zu recht­fer­ti­gen, und wenn sie stark ge­nug wur­de, um zu­rück­zu­schla­gen wie das frü­he Chris­ten­tum, wur­de sie le­gi­tim und be­gann, die nach­fol­gen­den Re­li­gio­nen zu ver­fol­gen.

Er zuck­te die Ach­seln. „Ich weiß dar­über nicht viel.“ Nicht in sei­nem Ge­schäft – und es war ihm auch egal. Re­li­gi­on war für ihn von nur ge­rin­gem In­ter­es­se, ab­ge­se­hen von ei­ner mor­bi­den Neu­gier auf die Leicht­gläu­big­keit der Men­schen. Aber das hier war ein hüb­sches Mäd­chen, das ihm auch ir­gend­wie ver­traut zu sein schi­en. Das weich fal­len­de Haar, die­se vol­len Brüs­te, die Art, wie sie re­de­te – er wur­de in­ter­es­sier­ter. „Aber wenn Sie wirk­lich zu die­sem Kult zu­rück­ge­hen wol­len …“

„Oh, na­tür­lich!“ rief sie. „Ei­nes Ta­ges wer­de ich zu­rück­ge­hen.“

Paul traf ei­ne Ent­schei­dung. „Ich brin­ge Sie hin, wenn es nicht zu weit von mei­nem Weg liegt. Aber wenn ich nicht die Au­to­bahn­ab­fahrt aus dem Com­pu­ter ab­fra­gen darf …“

„Ich kann Ih­nen den Weg sa­gen“, sag­te sie eif­rig. Dann blick­te sie ihn an und lä­chel­te, und die­ser Ge­sichts­aus­druck ließ sie auf­strah­len. „Ich hei­ße Schwes­ter Beth.“

„Mein Na­me ist Paul Cenji.“ Was zum Teu­fel hat­te er für einen Na­men er­war­tet? Dies schi­en ei­ne Er­in­ne­rung zu sein, aber sie ent­fal­te­te sich in ei­ner ihr ei­ge­nen Ge­schwin­dig­keit; er konn­te sich nicht er­in­nern, was an die­sem Tag in sei­ner Ver­gan­gen­heit wei­ter ge­sche­hen war, da­her muß­te er es noch ein­mal durch­le­ben.

Er fuhr ein Weil­chen wei­ter und frag­te dann: „Wie konn­te man Sie denn von der Kir­che weg­schnap­pen?“

„Mei­ner Sta­ti­on. Wir ha­ben kei­ne rich­ti­gen Kir­chen, nur Ope­ra­ti­ons­zen­tren. Mei­ne Mut­ter hat mich an­ge­ru­fen und ge­sagt, mei­ne Groß­mut­ter lie­ge im Ster­ben, da­her bin ich so­fort ge­fah­ren. Ich ha­be mei­ner Fa­mi­lie nie­mals ab­ge­schwo­ren; so ist der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on nicht. Ich wünsch­te, mei­ne Fa­mi­lie wür­de auch da­zu ge­hö­ren. Aber als ich dort­hin kam …“

„Ha­ben sie Sie ge­schnappt und in die De­pro­gram­mie­rungs­kli­nik ge­schleppt“, be­en­de­te Paul für sie den Satz.

„Ja, ich hät­te es mir den­ken kön­nen, aber ich hät­te es nie­mals für mög­lich ge­hal­ten, daß mei­ne ei­ge­ne Mut­ter …“ Trau­rig zuck­te sie die Ach­seln. „Aber ich bin si­cher, sie hat es für das rich­ti­ge ge­hal­ten. Ich ver­zei­he ihr. Sie ha­ben ver­sucht, mir die Rück­kehr aus­zu­re­den, und als das nichts nütz­te, sag­ten sie, sie wür­den Mnem an­wen­den …“

„Mnem!“ rief er.

„Das ist ei­ne Dro­ge“, sag­te sie, er­kann­te aber nicht den Cha­rak­ter sei­nes Aus­ru­fes. „Sie set­zen sie bei der Re­ha­bi­li­ta­ti­on von un­be­lehr­ba­ren Kri­mi­nel­len ein. Man soll­te es ei­gent­lich bei …“ Sie brach ab.

Wie­der er­wach­te Pauls Miß­trau­en. Konn­te das ein Zu­fall sein? Die­ser Hin­weis auf die Dro­ge, die er schmug­gel­te? Oder war dies ei­ne Po­li­zei­fal­le? „Ich dach­te, das sei il­le­gal“, mein­te er.

„Ja, ge­ne­rell schon, au­ßer für die Re­ha­bi­li­ta­ti­on von Kri­mi­nel­len und ei­ni­gen Geis­tes­krank­hei­ten. Aber bei Mnem gibt es einen schwar­zen Markt. So kos­tet es ei­ne Men­ge, aber mei­ne Leu­te ha­ben das Geld auf­ge­bracht.“

Das ge­fiel Paul al­les ganz und gar nicht. Ein ver­füh­re­ri­sches, un­schul­di­ges Mäd­chen in ab­ge­ris­se­ner Klei­dung auf der Au­to­bahn, um wur­zel­lo­se Aben­teu­rer wie ihn an­zu­zie­hen, die sich viel­leicht den Le­bens­un­ter­halt durch Schmug­ge­lei ver­dien­ten. So fing man ei­ne Men­ge von Dumm­köp­fen, des­sen war er si­cher. Und jetzt nann­te sie das Kind so­gar beim Na­men, um viel­leicht sei­ne Re­ak­ti­on zu tes­ten. Es war nur all­zu leicht, Ge­heim­nis­se zu ver­ra­ten, wenn man von ei­nem sol­chen Ka­li­ber ver­wirrt wur­de. Ihm schi­en es be­reits, als ken­ne er sie län­ger, von an­de­ren Or­ten her, mit ei­nem an­de­ren Na­men – das ewi­ge Ge­heim­nis des Weib­li­chen. Viel­leicht woll­te er sie nur ge­kannt ha­ben. Ihr Char­me kor­rum­pier­te ihn be­reits; die­sen Mit­fah­rer muß­te er so rasch wie mög­lich los­wer­den, oh­ne Miß­trau­en zu er­re­gen. Wenn es nur noch nicht zu spät war. „Wel­chen Weg geht es zu Ih­rer … Sta­ti­on?“

„Im nächs­ten Staat. Noch et­wa hun­dert Ki­lo­me­ter auf die­ser Au­to­bahn, ehe man ab­biegt.“ Rich­tig. Sie muß­te in der La­ge sein zu be­zeu­gen, daß er be­reits ei­ne Staa­ten­gren­ze über­quert hat­te. Ei­ne der Net­tig­kei­ten der Ge­set­ze. Die Po­li­zei wür­de al­le Leu­te auf Ver­dacht ein­fach exe­ku­tie­ren, wenn das Ge­setz von ihr ge­macht wür­de. Aber Ame­ri­ka war noch kein to­ta­ler Po­li­zei­staat.

Al­so muß­te er han­deln, ehe sie die Staats­gren­ze er­reich­ten. Er muß­te aus­hal­ten, bis er wuß­te, was zu tun war. „Schön, für die hun­dert Ki­lo­me­ter Ge­sell­schaft zu ha­ben“, sag­te er. Die Iro­nie war, daß es so­gar ge­stimmt hät­te, wenn sie nicht das Mnem er­wähnt hät­te. Was für ein Ge­sicht, was für ein Kör­per, was für ei­ne ein­neh­men­de Schlicht­heit sie an den Tag leg­te. Er war an an­de­re Frau­en ge­wöhnt und ent­deck­te nun, daß er sich in sei­nem Ge­schmack ge­täuscht hat­te.

„Ich bin wirk­lich froh, Mr. Cenji. Als ich das mit dem Mnem er­fuhr, ha­be ich bis zur Nacht ge­war­tet und bin dann in mei­nem Nacht­hemd aus dem Fens­ter ge­stie­gen, und hier bin ich nun. Das ha­ben sie mir nie­mals zu­ge­traut. Wenn Sie nicht an­ge­hal­ten hät­ten – wahr­schein­lich geht schon die Fahn­dung nach mir los.“

Paul stell­te den Au­dio­tas­ter der Au­to­bahn an. Wenn es ei­ne Durch­sa­ge gab … aber das war viel­leicht Teil des Po­li­zei­plans und wür­de nichts be­deu­ten. Das bes­te wä­re wohl, wenn er sie am Re­den hielt, wäh­rend er sich über­leg­te, was er mit ihr an­stel­len wür­de. „Ich dach­te, die De­pro­gram­mie­rung sel­ber sei heut­zu­ta­ge il­le­gal.“

„Ist sie auch, aber man nennt es nicht mehr so. Auch auf die­sem Ge­biet gibt es Schwarz­markt­s­pe­zia­lis­ten. Man hat mich an­ge­klagt, wert­vol­le Ju­we­len ge­raubt zu ha­ben. Ich wür­de nie­mals et­was ste­hen! Zu dem Zeit­punkt, an dem sich die An­kla­ge als nich­tig her­aus­stellt, ha­ben sie mich schon durch die Dro­ge aus­ge­löscht, und ich wür­de mich nicht ein­mal mehr dar­an er­in­nern, ei­ne Or­dens­schwes­ter ge­we­sen zu sein – oh, lie­ber wür­de ich ster­ben!“ Sie barg das Ge­sicht in den Hän­den.

Was für ei­ne rüh­ren­de Vor­stel­lung! Sie war schon gut in ih­rer Rol­le! Un­an­ge­nehm gut: Er war ver­sucht, das Au­to auf Au­to­ma­tik zu stel­len, sie in den Arm zu neh­men und zu trös­ten. Ge­fahr! Sie plan­te si­cher sei­nen Ver­rat, um un­ter Po­li­zei­ge­wahr­sam sei­nen Skalp ih­rer Samm­lung bei­zu­fü­gen.

Aber wie konn­te sie das tun, wenn er sel­ber kei­ne Ah­nung hat­te, wo in dem Wa­gen die Mnem-La­dung ver­steckt war? Er war nicht ein­mal si­cher, ob es die­ses Mal über­haupt da­bei war; ab und zu schick­te das Kar­tell einen auch mal leer auf die Stre­cke, um den Feind wei­ter zu ver­wir­ren. Wenn das die­ses Mal der Fall sein soll­te, brauch­te er nur die Ner­ven be­hal­ten, und er wür­de ge­win­nen. Er hat­te nicht vor, ihr über sei­ne Fracht zu er­zäh­len, und wenn die Po­li­zei es si­cher wuß­te, wür­den sie ihn ein­fach so­fort ver­haf­ten. Die­ser aus­ge­feil­te Plan er­gab al­so über­haupt kei­nen Sinn. Es sei denn, sie war ei­ne aus­ge­bil­de­te Spio­nin, die ge­nau auf Zei­chen von Mnem-Sucht ach­te­te. Sol­che An­zei­chen wa­ren ge­ring, aber es gab sie, und er war süch­tig. Wenn er heu­te abend nicht sei­nen Schuß be­kam, wür­de er bis mor­gen den Heim­weg ver­ges­sen. Da­her muß­te er sie vor­her los­wer­den und sie hin­aus­bluf­fen. Auch wenn er vor der Staats­gren­ze an­hielt, käme er von der An­gel nicht wie­der los.

„Ich ha­be ge­hört, die­se Dro­ge sei nicht so schlecht – für Kri­mi­nel­le“, sag­te er. „Es tut nicht weh. Zu­min­dest ha­be ich das ge­hört.“

„Oh, für Kri­mi­nel­le ist es auch gut“, mein­te sie. „Wir vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on sind in Sor­ge um das Kri­mi­na­li­täts­pro­blem. Wir hal­ten nichts da­von, Le­ben zu neh­men; es ist für den Staat eben­so schlimm zu tö­ten wie für das In­di­vi­du­um. Und wir wis­sen auch, daß es sich un­se­re Ge­sell­schaft nicht leis­ten kann, Leu­te in Ge­fäng­nis­sen zu hal­ten, doch ei­ni­ge sind un­be­lehr­bar. Da lau­tet die Ant­wort Mnem. Es löst den Kon­flikt zwi­schen den Al­ter­na­ti­ven, ent­we­der den Ge­fan­ge­nen zu tö­ten oder ihn un­be­straft frei­zu­las­sen. Wir glau­ben an die Ver­ge­bung, aber in be­stimm­ten Fäl­len ist ei­ne Bes­se­rung vor­zu­zie­hen. Es macht den Kri­mi­nel­len wie­der zum Bür­ger. Ei­ni­ge Mit­glie­der un­se­res Or­dens sind durch Mnem aus­ge­lösch­te Re­ha­bi­li­tan­den …“

„Es löscht die Per­sön­lich­keit aus? Ich dach­te, es ver­bes­sert das Ge­dächt­nis!“ Wie­viel wuß­te sie?

„In Über­do­sis wirkt es so. In win­zi­gen Do­sie­run­gen ver­stärkt es in der Tat das Ge­dächt­nis in au­ßer­or­dent­li­chem Ma­ße, aber dann muß man es wei­ter neh­men, nie­mals zu­viel auf ein­mal. Ich könn­te es nie­mals aus­hal­ten, daß mir mei­ne Er­in­ne­rung fort­ge­nom­men wür­de und ich le­bens­lang an ei­ne sol­che Dro­ge ge­bun­den wä­re. Der Or­den könn­te mir hel­fen, wenn ich süch­tig wä­re, aber ei­ne ein­zi­ge Über­do­sis wür­de mich dem Or­den ent­rei­ßen, weil ich ihn nicht mehr ken­nen wür­de. Das hiel­te ich nicht aus, da­her bin ich auch ge­flo­hen.“

„Ja, das ist ver­ständ­lich.“ Sie wuß­te in der Tat zu­viel für ei­ne nor­ma­le jun­ge Bür­ge­rin. Sie muß­te ei­ne Po­li­zei­agen­tin mit fast per­fek­ter Tar­nung sein. Bald hät­te sie ihn wohl ent­deckt.

Aber ein Teil des­sen, was sie sag­te, be­zog sich ganz spe­zi­ell auf ihn. Er hat­te nie­mals ernst­haft über sei­ne Zu­kunft nach­ge­dacht. Sein Le­ben lang wür­de er an die Dro­ge, wie auch an das kri­mi­nel­le Ver­tei­lungs­sys­tem, ge­bun­den sein und die­sem Ge­fäng­nis konn­te er nur mit Ver­lust sei­nes Ge­dächt­nis­ses ent­ge­hen. War es wirk­lich das, was er vom Le­ben ge­wollt hat­te? Es spiel­te kei­ne Rol­le; so war es nun ein­mal. Sie war, wenn die Ge­schich­te stimm­te, recht­zei­tig ge­flo­hen; für ihn war es zu spät. Al­les, was er tun konn­te, war nun zu schüt­zen, was er be­saß – vor ihr.

Doch er zö­ger­te, et­was zu tun, an­ge­nagt von Zwei­feln. Sie war ein so ver­dammt at­trak­ti­ves Mäd­chen, schi­en so nett zu sein und stell­te ge­nau das Le­ben dar, das er ge­wählt hät­te, wenn er frü­her klug ge­wor­den wä­re. Wie ei­ne fei­ne Renn­ma­schi­ne mit rich­ti­gem De­sign, ei­nem pas­sen­den Mo­tor, der Leis­tun­gen bis zu Mach 1 er­brin­gen konn­te, wenn er auf­ge­heizt war, aber nor­ma­ler­wei­se be­quem und zahm. Wie konn­te er sie raus­wer­fen, wenn er sich nicht si­cher war? (Und sie dach­te viel­leicht: Wie kann ich ihn als Mnem-Süch­ti­gen fest­neh­men, wenn ich nicht si­cher bin?)

„Dein Kult … ich mei­ne, dein re­li­gi­öser Or­den … was tun sie? Ist das wie ei­ne Kom­mu­ne oder so?“ (Wur­den die Frau­en un­ter den Män­nern auf­ge­teilt, und nie­mand ver­wei­ger­te sich dem an­de­ren? Aber ge­wiß träum­te er.)

„Der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on ist ei­gent­lich kei­ne Re­li­gi­on“, ant­wor­te­te sie, und nun be­fand sie sich of­fen­sicht­lich bei ei­nem ver­trau­ten The­ma. Aber na­tür­lich wür­de ih­re Ge­schich­te auch stim­men. „Je­der kann bei­tre­ten, von je­der Re­li­gi­on, und der Or­den hat nichts da­ge­gen. Wir ver­su­chen, das Wohl­er­ge­hen von Mensch und Na­tur zu för­dern, wo im­mer wir nur kön­nen. Vie­le kom­men mit ver­wirr­tem Geist zu uns, und bei ei­ni­gen hilft auch das Ta­rot.“

„Ta­rot?“ frag­te er. „Die Kar­ten ken­ne ich.“

„Oh?“ Ihr In­ter­es­se schi­en echt. „Zu wel­chem Zweck?“

„Ge­schäf­te na­tür­lich. Ich spie­le Kar­ten für ei­ne li­zen­sier­te Spiel­hal­len­ket­te. Die­se zwei­und­zwan­zig Trümp­fe ver­lei­hen dem Spiel viel Glanz, Men­schen wie Bil­der, und na­tür­lich gibt es Son­der­prei­se.“

„Glückss­piel“, mur­mel­te sie trau­rig. „Das ist al­les, was Ta­rot für Sie be­deu­tet?“

„Oh nein. Nach­dem ich ein Weil­chen mit den Kar­ten ge­ar­bei­tet hat­te, fand ich, daß sie auch zum all­ge­mei­nen Ver­gnü­gen tau­gen. Es gibt vie­le Spie­le. Manch­mal, wenn ich wie jetzt von ei­nem Stand­ort zum an­de­ren rei­se, stel­le ich den Wa­gen auf Au­to­ma­tik und spie­le mit mir al­lein.“ Das war wich­tig für sei­ne Tar­nung, galt aber nicht viel, wenn sie sei­ne Ar­beits­stel­len über­prüf­ten.

„Wir be­nut­zen sie zur Me­di­ta­ti­on“, sag­te sie. „Die Kon­tem­pla­ti­on ei­ner ein­zi­gen Ar­ka­ne oder ei­ner Grup­pe von Ar­ka­nen kann be­son­de­re Er­kennt­nis brin­gen, die der Mü­he wert ist. Ich ha­be mei­nen Le­bens­sinn nie­mals rich­tig be­grif­fen, bis ich un­ter An­lei­tung des Ta­rots me­di­tiert ha­be. Wir stu­die­ren auch das Spiel als Gan­zes und ana­ly­sie­ren die Un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Kar­ten und den Kon­zep­ten der ver­schie­de­nen Ex­per­ten. Es wer­den gan­ze, in sich ge­schlos­se­ne phi­lo­so­phi­sche Sys­te­me er­kenn­bar, die zur Er­kennt­nis der Na­tur des mensch­li­chen Den­kens füh­ren.“

Paul lä­chel­te. „In­ter­essant, wie man mit ei­nem ein­zi­gen Kar­ten­spiel vier ver­schie­de­ne Din­ge an­stel­len kann“, mein­te er. „Me­di­ta­ti­on und Stu­di­um für Sie, Ge­schäft und Un­ter­hal­tung für mich. Für je­de Per­son das rich­ti­ge.“

„Stimmt“, mein­te sie mit ei­nem klei­nen, an­zie­hen­den Lä­cheln der Re­si­gna­ti­on. „Ich wünsch­te, ich hät­te mein Ta­rot da­bei. Aber die De­pro­gram­mie­rer ha­ben es mir fort­ge­nom­men und es als ein Hilfs­mit­tel be­zeich­net.“

Paul hat­te sei­ne Kar­ten da­bei, ent­schied sich aber, das nicht zu er­wäh­nen. Ihm fiel noch ei­ne Nut­zung des Ta­rot ein: Cha­rak­ter­le­sung oder Wahr­sa­ge­rei, und das konn­te ent­ner­vend ge­nau sein. Er glaub­te nicht an das Über­na­tür­li­che (au­ßer es be­zog sich auf den be­schränk­ten Be­reich von un­er­klär­li­chen Glücks- oder Pech­sträh­nen), aber er woll­te kei­ne Cha­rak­ter­ana­ly­se durch das Ta­rot ris­kie­ren. Au­ßer­dem wa­ren die­se Kar­ten voll von sei­nen Dau­men- und Schweiß­ab­drücken; ei­ne Po­li­zei­be­am­tin konn­te von ei­ner einen Ab­strich neh­men und ihn in ei­nem La­bor auf sei­ne Iden­ti­fi­zie­rung hin un­ter­su­chen las­sen. Es war ein Feh­ler ge­we­sen, den Na­men zu nen­nen, aber das konn­te er noch än­dern. Es war auch ein Feh­ler, wei­ter mit ihr zu re­den; viel­leicht zeich­ne­te sie sei­ne Stim­me mit ir­gend­ei­nem ver­bor­ge­nem Ge­rät auf. (Ein Arm­band? Nein, sie trug kei­nen Schmuck. Aber Frau­en hat­ten so vie­le ver­bor­ge­ne Stel­len …) Doch trotz al­lem be­gann er, sie zu nett zu fin­den. Sie war viel­leicht ei­ne re­li­gi­öse Ver­rück­te, aber an ih­rer Phi­lo­so­phie war et­was son­der­bar Ein­neh­men­des. Das konn­te ent­we­der be­deu­ten, daß die­ser Or­den der Vi­si­on wirk­lich ei­ne ver­nünf­ti­ge Ge­mein­schaft war oder daß die Po­li­zeifrau ih­re Haus­auf­ga­ben au­ßer­or­dent­lich gut er­le­digt hat­te.

Ge­nug – jetzt muß­te er han­deln.

Paul stell­te den Wa­gen auf Au­to­ma­tik und nahm die Hän­de vom Steu­er. Er wand­te sich mit ei­nem et­was schie­fen Lä­cheln ihr zu. „Ich den­ke, du weißt schon, warum ich dich mit­ge­nom­men ha­be“, sag­te er und zwang sich zu ei­nem spöt­ti­schen Ton­fall. Ei­ne Frau mit ei­nem sol­chen Kör­per muß­te das schon vie­le Ma­le er­lebt ha­ben und die­se Mie­ne so­gleich er­ken­nen.

Schwes­ter Beth riß die Au­gen auf. Sie tat nicht, als wür­de sie ihn nicht ver­ste­hen. „Oh, Mr. Cenji, ich hat­te ge­hofft … Sie wä­ren nicht so. Sie schie­nen so nett zu sein.“

Paul fühl­te sich wie ein ab­so­lu­ter Schur­ke. Aber er muß­te es tun, sonst wür­de sie ihn er­le­di­gen. Er muß­te die Rol­le des tum­ben Man­nes spie­len, der nichts an­de­res im Kopf hat als Sex. Das war nicht ein­mal weit her­ge­holt; je­der Mann ne­ben die­sem Mäd­chen wür­de ähn­lich rea­gie­ren und sich nur in der Art und Wei­se un­ter­schei­den, in der er sich aus­drück­te. Er war be­wußt grob und haß­te sich da­für, denn wenn sie aus ir­gend­ei­nem Grund ge­nau das war, was sie vor­gab zu sein, dann könn­te man mit ei­ner sanf­ten, um­schwei­fi­gen An­nä­he­rung eben­so­gut bei ihr lan­den. „Ich bin auch nett. Laß es mich nur ver­su­chen.“

Sie wich so weit zu­rück, wie es der auf­prall­si­che­re Sitz er­laub­te. Ihr Bu­sen wog­te. „Ich ha­be nicht die Kraft, mich ge­gen Sie zu weh­ren, aber im Or­den zie­hen wir es vor, vor der Ehe keusch zu le­ben.“

„Ehe? Höl­le.“ Er er­griff ih­ren Arm und zog sie zu ei­nem Kuß an sich, wäh­rend sich die Sit­ze auf sei­nen Druck hin aus­klapp­ten und ein Bett bil­de­ten. Ih­re Lip­pen zit­ter­ten, als die sei­nen sie be­rühr­ten. „Bit­te“, flüs­ter­te sie. „Las­sen Sie mich doch ge­hen. Nichts kön­nen Sie ge­win­nen, was mei­nem Ver­lust gleich­käme. Las­sen Sie mich hin­aus auf die Stra­ße; viel­leicht nimmt mich je­mand an­ders mit, ehe die Po­li­zei mir auf die Spur kommt.“

Das war ge­nau, was er ge­wollt hat­te: ih­ren frei­wil­li­gen Ab­gang. Es wür­de be­deu­ten, daß er sie zum Nar­ren ge­hal­ten hat­te und sie über­zeugt da­von sein wür­de, er ha­be nichts Ernst­haf­tes auf dem Kerb­holz – nichts mit Mnem. So wä­re ih­re Zeit sinn­vol­ler an­ge­wen­det, wenn sie einen an­de­ren Süch­ti­gen auf­ga­bel­te, wäh­rend das Netz der Po­li­zei nur auf Ihr Zei­chen war­te­te, um her­ab­ge­las­sen zu wer­den.

Aber nun er­reg­te ihn die Be­rüh­rung. So zer­zaust und ängst­lich sie auch schi­en, blieb sie doch ei­ne ver­füh­re­ri­sche jun­ge Frau. Er konn­te sie zwin­gen, des­sen war er si­cher. Sie war viel­leicht ei­ne Po­li­zis­tin, aber auch er war im Nah­kampf aus­ge­bil­det. Ein Hän­de­griff wür­de sie von der Waf­fe fern­hal­ten, wo im­mer sie auch steck­te, und sie zum Nach­ge­ben oh­ne Ge­gen­wehr zwin­gen. Ja, das konn­te er tun …

Und sie wür­de ihn als Mnem-Süch­ti­gen er­ken­nen. Man merk­te es im­mer ir­gend­wie an der Lei­den­schaft für das Bum­sen. Al­le Süch­ti­gen und Dea­ler wa­ren sich dar­in ei­nig, und man hat­te ihn schon ein­mal auf die­se Wei­se er­kannt. In je­nem Fall hat­te die Frau nicht die Ab­sicht ge­habt, ihn an­zu­zei­gen, aber sie hat­te sich hart­nä­ckig ge­wei­gert, ihm mit­zu­tei­len, was ihn ver­ra­ten hat­te. „Frau­en ha­ben ih­re Ge­heim­nis­se“, hat­te sie nur ge­flüs­tert ‚Män­ner hat­ten auch wel­che, aber ihm war es nie ge­lun­gen, einen an­de­ren Mnem-Süch­ti­gen aus­fin­dig zu ma­chen. Wahr­schein­lich ging es mit mehr Er­fah­rung – aber er kam vom The­ma ab, wie es bei ihm im­mer ge­sch­ah. Wenn ‚Schwes­ter Beth’ ein Po­li­zei­kö­der war, wür­de Sex für sie nichts be­deu­ten; sie wür­de gleich dar­auf zu ih­ren An­ti-Schwan­ger­schafts-, An­ti-Ge­schlechts­krank­heit- und An­ti-All­er­gie­sprit­zen wan­dern. Wahr­schein­lich hat­te sie vor, ihn durch ih­re künst­li­chen Pro­tes­te zu ver­füh­ren, um dann die ver­rä­te­rischen Spu­ren zu ent­de­cken.

„Ich kann dich gleich hier raus­wer­fen“, sag­te er. Er leg­te die rech­te Hand auf ih­ren glat­ten Schen­kel, wo das Nacht­hemd hoch­ge­rutscht war. Das war ge­nau das glei­che Bein, das er … wo ge­se­hen hat­te? Und der durch­sich­ti­ge Stoff ließ es auf­re­gen­der er­schei­nen, als wenn es nackt ge­we­sen wä­re. Das Bein war von klas­si­scher Form wie der Rest von ihr auch. Plötz­lich wur­de der Se­xual­trieb fast über­wäl­ti­gend. Viel­leicht war es wirk­lich den Ver­rat wert …

„Bit­te“, flüs­ter­te sie. Er sah den Stoff über ih­rem Bu­sen un­ter ih­rem Herz­schlag auf und ab tan­zen. Na­tür­lich pro­tes­tier­te sie; das war Teil ih­rer Rol­le. Die Auf­re­gung konn­te so­gar echt sein, weil sie kurz da­vor­stand, ihn fest­zu­na­geln. Wel­cher nor­ma­le Mann konn­te ei­nem sol­chen Lecker­bis­sen wohl wi­der­ste­hen, der so pro­vo­ka­tiv ver­packt war und ei­ne so un­glaub­wür­di­ge Ge­schich­te er­zähl­te? Ein Mäd­chen, das vor der De­pro­gram­mie­rung floh, be­reit, al­les zu tun, um mit­fah­ren zu dür­fen, un­fä­hig, sich so­gar ge­gen ei­ne Ver­ge­wal­ti­gung zu weh­ren – soll­te sie doch durch die Dro­ge aus­ge­löscht wer­den. Ein an­stän­di­ger, recht­schaf­fe­ner Bür­ger wür­de sie an­zei­gen, ein weich­her­zi­ger sie bis zur Sta­ti­on mit­neh­men. Ein har­ter und kri­mi­nel­ler wür­de sei­nen Vor­teil nut­zen.

Paul ge­hör­te zu kei­ner die­ser drei Sor­ten. Nicht ge­nau je­den­falls. Er war da­bei, sich zu be­wei­sen. Er dreh­te sich her­um, um auf die STOP-Tas­te zu drücken, und der Wa­gen wur­de lang­sa­mer, such­te sich den Weg aus dem Ver­kehrs­s­trom und blieb am Stra­ßen­rand ste­hen. Die Sit­ze rich­te­ten sich zur nor­ma­len Po­si­ti­on auf, und die Gur­te lös­ten sich. „Wie­der­se­hen“, sag­te Paul.

Schwes­ter Beth blick­te in über­rascht an. In dem Blick lag noch et­was an­de­res. „Tut mir leid, wenn ich Ih­re Er­war­tun­gen ent­täuscht ha­be“, sag­te sie rasch, und dann stieg sie schnell aus. „Gott seg­ne Sie, Mr. Cenji.“

Gott seg­ne Siel Die­se un­ver­trau­ten Wor­te be­rühr­ten ihn recht son­der­bar. Selbst ihm, dem Bru­ta­lo, schenk­te sie die­sen Se­gen. War sie viel­leicht doch echt?

Die Tür schloß sich. Au­to­ma­tisch drück­te er auf FAHRT, und der Wa­gen glitt wei­ter, im­mer noch selbst­ge­steu­ert. Paul dreh­te sich um, um ihr nach­zu­se­hen.

Ver­lo­ren und schön stand Schwes­ter Beth am kie­si­gen Stra­ßen­rand. Der Wind zerr­te an ih­rem Haar und Ge­wand. Paul spür­te einen hef­ti­gen Trieb zu­rück­zu­keh­ren, um sie wie­der mit­zu­neh­men – und zur Höl­le mit al­len Kon­se­quen­zen. Es gab im­mer noch die Chan­ce, daß sie echt war …

Dann sah er, wie sich ei­ne Ver­kehrs­strei­fe ihr nä­her­te. Die Po­li­zei hat­te sie aus­fin­dig ge­macht und wür­de auch ihn fin­den, wenn er sich nicht be­eil­te. Er tauch­te im Ver­kehrs­ge­wühl un­ter und schwitz­te. Wahr­schein­lich sen­de­te sie ein be­stimm­tes Zei­chen aus, da­mit ih­re Chefs im­mer wuß­ten, wo sie war. Da war er aber knapp da­von­ge­kom­men.

Doch un­ver­mit­telt wie­der­hol­te er ih­re Wor­te: „Gott seg­ne Sie.“ Er glaub­te we­der an Gott noch an Schwes­ter Beth, doch die Kraft die­ses un­er­war­te­ten Se­gens er­schüt­ter­te ihn.

Oh­ne wei­te­re Er­eig­nis­se be­en­de­te Paul sei­ne Rei­se und lie­fer­te den Wa­gen wie­der ab. In dem üp­pi­gen Bü­ro war­te­te er auf sei­ne Be­zah­lung – in Form ei­nes er­höh­ten Kre­dits, der ihm in­of­fi­zi­el­le, aber wert­vol­le Vor­tei­le bei ei­ner Rei­he von un­ge­setz­li­chen Ge­schäf­ten ver­schaff­te, und na­tür­lich in Form ei­nes neu­en Vor­rats an Mnem, ver­bor­gen in der Höh­lung sei­nes Ta­schen­kamms. In dem La­ger­haus dau­er­te es ei­ne Wei­le, bis das Au­to aus­ge­la­den und die Rein­heit und Echt­heit des Stof­fes über­prüft war, und glei­ches galt für die Si­cher­heits­maß­nah­men, die ge­währ­leis­ten soll­ten, daß kei­ne Po­li­zei dem Fahr­zeug auf den Spu­ren war. So­bald sie in ge­schäft­li­cher Ma­nier al­les ge­checkt hat­ten, wür­den sie sich mit ihm be­fas­sen. Das war ei­ne höchst pro­fes­sio­nel­le Or­ga­ni­sa­ti­on.

Die ge­sam­te Schwarz­markt-Mnem-In­dus­trie war höchst pro­fes­sio­nell or­ga­ni­siert – stär­ker als vie­le recht­mä­ßi­ge Un­ter­neh­men. Paul war all­mäh­lich dort hin­ein­ge­ra­ten; sei­ne Le­bens­phi­lo­so­phie hat­te sich eben­so all­mäh­lich den Be­dürf­nis­sen sei­nes hö­he­ren Le­bens­stan­dards an­ge­paßt. Er hat­te die Uni­ver­si­tät mit ei­nem Ab­schluß der Phi­lo­so­phi­schen Fa­kul­tät ver­las­sen, aber kei­ne ge­eig­ne­te An­stel­lung ge­fun­den. Da er ge­schick­te Hän­de be­saß, hat­te er sich zu Kar­ten­tricks ver­dingt, und das hat­te zu Kon­tak­ten zum le­gi­ti­men Glückss­piel ge­führt. Ei­nes der be­kann­ten Spie­le – ei­gent­lich kein Glückss­piel, son­dern mehr ei­ne Übung für die­je­ni­gen, die sich noch nicht an die här­te­ren Sa­chen trau­ten – war das mit­tel­al­ter­li­che Ta­r­ochi, mit dem fünf­und­sieb­zig Kar­ten um­fas­sen­den Ta­rot­spiel an­stel­le des drei­und­fünf­zig Kar­ten um­fas­sen­den Stan­dard­spiels. Man hat­te den Jo­ker des Stan­dard­spiels zu zwei­und­zwan­zig Trümp­fen aus­ge­baut. Er hat­te das Spiel an­de­ren Spie­len an­ge­paßt, teils mit Glück, teils mit Ge­schick zu spie­len. Ein wirk­lich gu­tes Ge­dächt­nis ver­min­der­te den ers­ten Fak­tor und ver­stärk­te den letz­te­ren, was ihn zum Mnem ge­bracht hat­te. Ein Ka­si­no, das durch sei­ne Sie­ges­se­rie ir­ri­tiert war, hat­te ver­sucht, ihn raus­zu­wer­fen. Das war ein Feh­ler ge­we­sen, denn Paul war in un­be­waff­ne­tem Kampf fast noch pro­fes­sio­nel­ler, als beim Kar­ten­spiel. Der Ge­schäfts­füh­rer des Ka­si­nos, der kein Feig­ling war, hat­te rasch die Tak­tik ge­wech­selt und Paul einen Job an­ge­bo­ten. Nun war Paul fein her­aus, so­lan­ge er nicht durch­dreh­te …

Gott seg­ne Sie …

Auf dem Vi­deo­ge­rät er­schie­nen die Nach­rich­ten. Plötz­lich er­reg­te ei­ne In­for­ma­ti­on sei­ne Auf­merk­sam­keit. „Letz­te Nacht be­ging ei­ne jun­ge Frau Selbst­mord, in­dem sie sich aus ei­nem Po­li­zei­hub­schrau­ber stürz­te“, sag­te der Spre­cher. „Man hat sie als Schwes­ter Beth iden­ti­fi­ziert, seit ei­nem Jahr Mit­glied der Sta­ti­on ei­ner re­li­gi­ösen Sek­te, dem Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on. Of­fen­sicht­lich war sie de­pri­miert über den Plan, sie mit Hil­fe von Dro­gen we­gen ei­nes Ju­we­len­dieb­stahls zu de­pro­gram­mie­ren …“

„Sie hat aber die Ju­we­len nicht ge­stoh­len!“ rief Bru­der Paul, merk­te dann aber, was er tat, und fühl­te sich al­bern. Auf dem Bild­schirm fla­cker­te ein Fo­to auf. Es war das Mäd­chen, das er mit­ge­nom­men hat­te, fast ge­nau­so, wie er sie zu­letzt ge­se­hen hat­te, und ihr durch­sich­ti­ges Nacht­hemd flat­ter­te im Wind. Auch Ro­bo­ka­me­ras hat­ten ein schar­fes Au­ge für De­tails, be­son­ders wenn es um et­was rich­tig Mor­bi­des ging wie den Tod.

„Sie wirk­te so ru­hig“, mein­te ein uni­for­mier­ter Po­li­zei­be­am­ter ent­schul­di­gend. „Ich hät­te nie ge­dacht, daß sie so was ma­chen wür­de, sonst hät­te ich sie ge­fes­selt.“ Er be­rühr­te die Hand­schel­len, die wie Ge­ni­ta­li­en in sei­ner Len­den­ge­gend hin­gen.

Paul wur­de skep­tisch. Das konn­te sie doch nicht sein! Er hat­te sie erst ges­tern ge­se­hen. Sie war ein Po­li­zei­kö­der mit gu­ter Tar­nung ge­we­sen. Dann ver­spür­te er Wut. Wie konn­te das pas­siert sein? Warum hat­te die Po­li­zei nicht rich­tig auf sie auf­ge­paßt? Aber selbst wenn sie es ge­tan hät­te, wä­re sie jetzt tot, weil man ihr das ge­sam­te Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen aus­ge­löscht hät­te.

War es Teil des Pla­nes ge­we­sen? Nein, das er­gab kei­nen Sinn. Kei­ne Po­li­zis­tin wür­de ih­re Tar­nung durch ei­ne sol­che In­for­ma­ti­on auf­ge­ben, selbst wenn der Tod fin­giert war. Ihr Bild wür­de die po­ten­ti­el­len Op­fer auf­rei­zen. Man konn­te sich zu gut an sie er­in­nern, mit ih­rem schö­nen Kör­per, dem un­schul­di­gen Ge­sicht. Ein männ­li­cher Traum vom Him­mel. Sie muß­te echt ge­we­sen sein – und da­her war sie nun tot.

Warum hat­te er ihr nicht ge­glaubt, an sie ge­glaubt, als es dar­auf an­ge­kom­men war? Er wuß­te warum; er stand je­der Recht­mä­ßig­keit ei­ner re­li­gi­ösen Ver­ei­ni­gung zy­nisch ge­gen­über. Er hat­te die un­säg­lich selbst­süch­ti­gen Ap­pel­le der re­li­gi­ösen Bot­schaf­ten noch im Ohr: Un­ter­stüt­ze uns, gib uns Geld, da­mit du in den Him­mel kommst und auf im­mer ge­seg­net sein wirst, Frei­heit von der Sün­de. Die­se Sa­chen. Wie je­mand gleich­zei­tig den Se­gen und Frei­heit von Sün­de er­lan­gen konn­te, war ihm ein Rät­sel.

Aber Schwes­ter Beth hat­te einen an­de­ren Ein­druck ge­macht – als glau­be sie wirk­lich an die spe­zi­el­le Ret­tung, die sie such­te. Sie hat­te nicht ein ein­zi­ges Mal den Him­mel an­ge­ru­fen. Wenn er doch nur auf ih­re Wor­te ge­ach­tet hät­te, an­statt auf ih­ren Kör­per zu ach­ten!

Aber wenn sie wirk­lich ei­ne Schwes­ter ge­we­sen war, warum hat­te ihr Gott sie nicht be­schützt? Si­cher hät­te er den Be­hör­den einen Han­del vor­schla­gen kön­nen. Ir­gend­wie hät­te er es so dre­hen kön­nen, daß sie sich wie­der er­holt hät­te. Es war nur wich­tig, dar­an zu glau­ben …

Paul glaub­te nichts. Er war der Grund ih­res To­des. Er hat­te sie se­xu­ell an­ge­grif­fen und sie wie­der auf die Stra­ße ge­wor­fen. Sie hat­ten schon auf sie ge­war­tet und rasch zu­ge­sto­ßen.

Wenn er ihr nur so ge­traut hät­te wie sie ihm. Er hät­te sie leicht und si­cher bei ih­rer Sta­ti­on ab­lie­fern kön­nen. In der letz­ten Zeit hat­te er sel­ten an­stän­dig ge­han­delt. Da hat­te sich ihm die Mög­lich­keit ge­bo­ten, ei­nem bes­se­ren Men­schen zu hel­fen, als er sel­ber war, und statt des­sen …

„Sir, Ihr Be­richt wur­de be­stä­tigt“, in­for­mier­te ihn die Se­kre­tä­rin mit sü­ßer Stim­me.

Paul sah sie an und er­blick­te für einen Mo­ment das Bild von Schwes­ter Beth. In ihm koch­te et­was Schreck­li­ches hoch, ei­ne De­pres­si­on, die an Ge­walt­tä­tig­keit grenz­te. Aber was konn­te er tun? Das war nur ei­ne ge­wöhn­li­che Se­kre­tä­rin, ei­ne kon­for­me Hül­le über ei­ner ge­stalt­lo­sen See­le, nicht ein­mal ei­ner flüch­ti­gen Auf­merk­sam­keit wert. Schwes­ter Beth war tot.

Un­ver­mit­telt und mit ei­nem schreck­li­chen Ent­schluß stand Paul auf. „Ich schlie­ße mei­nen Be­richt“, sag­te er. „Al­le frü­he­ren Ta­ten sol­len oh­ne Vor­ur­teil auf­ge­ho­ben und ver­ges­sen sein.“

Sie zuck­te nie­mals zu­sam­men. Warum soll­te sie auch? Sie war zwar aus Fleisch und Blut, hat­te aber den Kopf ei­nes Ro­bo­ters. „Das wird die Ge­schäfts­lei­tung aber be­stä­ti­gen müs­sen“, sag­te sie.

„Ich scheiß auf die Ge­schäfts­lei­tung.“ Er wir­bel­te her­um und ging hin­aus.

Drau­ßen traf ihn die vol­le Wucht des­sen, was er ge­ra­de ge­tan hat­te. In der Spra­che sei­ner Bran­che hat­te er die Ma­gna­ten da­von in­for­miert, daß er kün­dig­te, kei­ne Ab­lö­se­sum­me er­war­te­te und nicht zur Po­li­zei ge­hen wür­de. Mit Mnem war er fer­tig.

Un­glück­li­cher­wei­se be­fand er sich aber nun in Schwie­rig­kei­ten. Er hät­te nicht mehr die Ne­ben­ein­künf­te sei­nes zwei­ten Be­ru­fes – und das be­deu­te­te ein Ab­sin­ken des Le­bens­stan­dards. Der ers­te Job im Ka­si­no wür­de auch rasch dar­un­ter lei­den, denn er hat­te nun kein Mnem mehr und wür­de bald die Ent­zugs­er­schei­nun­gen spü­ren.

Es war ein gu­ter Abend im Ka­si­no. Die Kun­den wa­ren zahl­reich ver­tre­ten und frei­ge­big. Paul nahm sei­nen Platz am Blackjack-Tisch ein und spiel­te rou­ti­niert mit den Kar­ten. Die Ant­wor­ten auf die Ru­fe der Kun­den ka­men au­to­ma­tisch, wäh­rend sei­ne Ge­dan­ken an­ders­wo wa­ren. „Mir.“ Er reich­te dem Mann ei­ne Ex­tra-Kar­te. Warum hat Schwes­ter Beth das ge­tan?

„Mir auch.“ Der Da­me eben­falls ei­ne. Sie trug ein Loch­sti­cke­rei-De­kol­leté, aber er war heu­te nicht in­ter­es­siert. Wenn ich es nur ge­wußt hät­te! Wie­der teil­te er ihr ei­ne aus und spür­te das ge­lee­ar­ti­ge Zit­tern ih­rer Brust, als sie sich vorn­über­beug­te. Mit zu­neh­men­dem Al­ter ver­fes­tig­te sich ein sol­cher Pud­ding ent­we­der, oder er wur­de noch lo­cke­rer, und das war das be­gin­nen­de Al­ter. Schwes­ter Beths Brust hät­te echt ge­zit­tert. Sie hät­te die­je­ni­ge wel­che sein kön­nen. Nicht so sen­sa­ti­ons­lüs­tern und bil­lig und fa­de wie die­se Glückss­pie­le­rin.

Die Rou­ti­ne wur­de un­be­stimm­bar. Plötz­lich hat­te er kei­ne Lust mehr. Doch das war sein Le­bens­un­ter­halt; er brach­te den An­teil des Hau­ses ein. Wo­hin soll­te er sonst ge­hen?

„Ich sa­ge Foul!“ sag­te ei­ne rau­he Stim­me und schnitt in Pauls Träu­me. „Er teilt zwei­te Kar­ten aus!“

Zwei­te Kar­ten aus­tei­len: an­de­ren Spie­lern die zwei­te Kar­te im Spiel ge­ben und die obers­te für sich be­hal­ten. Ei­ner der äl­tes­ten und ab­ge­schmack­tes­ten Tricks im Ar­se­nal des Falsch- oder Trick­spie­lers.

Pauls Hand er­starr­te. Al­le Au­gen ruh­ten auf dem Bu­ben in sei­nen Fin­gern. Ein Vor­wurf des Falsch­spiels war ernst zu neh­men. „Der Com­pu­ter des Ka­si­nos hat Auf­zeich­nun­gen von je­dem ge­misch­ten Kar­ten­spiel, das auf den Tisch kommt“, sag­te Paul oh­ne Groll. Es gab fest­ge­leg­te Ver­hal­tens­wei­sen, mit der­ar­ti­gen Vor­wür­fen fer­tig zu wer­den, eben­so wie es sie für das Spiel gab. „Wol­len Sie den Aus­druck?“

„Mir ist das Mi­schen egal“, schnapp­te der Mann. Er war hoch­ge­wach­sen, schlank und von un­be­stimm­tem Al­ter. Er sah nicht wie ein Spie­ler aus, aber Paul hat­te schon lan­ge be­grif­fen, daß es ein ty­pi­sches Er­schei­nungs­bild nicht gab. Ei­ne Per­son war ein Spie­ler­typ, wenn sie spiel­te, das war al­les. „Es geht doch hier um das Aus­tei­len. Sie ha­ben mir ei­ne Acht ge­ge­ben und mich aus­ge­knockt, weil sie die nied­ri­ge­re Kar­te für sich sel­ber be­hal­ten ha­ben. Ich ha­be es ge­se­hen! Kein Wun­der, daß ich kein Glück ha­be!“

„Su­chen Sie je­man­den aus, der das Kon­troll­kar­ten­spiel über­nimmt“, ant­wor­te­te Paul kalt. „Ich den­ke, wir kön­nen Ih­nen be­wei­sen, daß es in die­sem Spiel kor­rekt zu­geht.“

„Nein, Sie ha­ben Ih­re Leu­te doch über­all! Ich sel­ber wer­de es tun!“

Paul nick­te gleich­mü­tig. Wenn der Mann ehr­lich war, wür­de er bald mer­ken, daß er einen Feh­ler be­gan­gen hat­te. Wenn er Paul ein­krei­sen woll­te, in­dem er selbst falsch aus­teil­te, wür­de ihn die Com­pu­ter­auf­zeich­nung der Kar­ten über­füh­ren und in Miß­kre­dit brin­gen. „Neh­men Sie die Kar­ten von dem Tisch dort und tei­len Sie sie lang­sam mit dem Bild nach oben aus. Die Kar­ten ent­spre­chen de­nen, die ich aus­ge­teilt ha­be.“

„Na­tür­lich tun sie das!“ rief der Mann wü­tend aus. „Sie ha­ben Sie ja auch aus­ge­teilt, aber in wel­cher Rei­hen­fol­ge? Sie ha­ben doch einen Aus­druck im vor­aus, und da­her wis­sen Sie, wel­che Kar­ten kom­men, und …“

„Wir möch­ten Sie zu­frie­den­stel­len, Sir“, sag­te Paul. Aber er merk­te, daß ein ra­tio­na­ler Be­weis den Mann nicht be­frie­di­gen wür­de. War er ein Stö­ren­fried von ei­nem Kon­kur­renz­ka­si­no? Mit dem Fuß lös­te Paul den Alarm­knopf aus.

Der Ka­si­no­bild­schirm fla­cker­te auf. „Was gibt es für ein Pro­blem?“ frag­te der Saal­ma­na­ger, und selbst auf dem Fern­seh­schirm wirk­te sein Blick durch­boh­rend.

„An­schul­di­gung, zwei­te Kar­ten aus­ge­teilt zu ha­ben“, sag­te Paul und deu­te­te mit dem Kopf in Rich­tung des An­klä­gers.

Der Ma­na­ger sah sich den Mann an. „Wir ha­ben es nicht nö­tig zu täu­schen, Sir. Der An­teil des Hau­ses sorgt gut für uns. Das Kon­troll­spiel wird …“

„Nein!“ sag­te der Mann.

Der Ma­na­ger er­faß­te so­gleich die La­ge. Er war von ra­scher Auf­fas­sungs­ga­be; da­für wur­de er ja schließ­lich auch be­zahlt. Die An­zahl sei­ner Mit­tel und Mög­lich­kei­ten war grö­ßer als die Pauls, und er zog ge­las­sen an sei­nen Re­gis­tern. „Spiel noch ein­mal, Paul. Wie du es im­mer machst. Zeig es ihm.“

Paul lä­chel­te. Man hat­te ihm ge­ra­de die Zü­gel ge­lo­ckert. „So wä­re es wei­ter­ge­gan­gen, wenn ich ge­trickst hät­te“, sag­te er und nahm das Kon­troll­spiel. „Kei­ne die­ser Kar­ten reicht für ei­ne Wet­te. Das ist nur ei­ne De­mons­tra­ti­on.“ Das Zei­chen NE­GA­TI­ON leuch­te­te auf.

Er teil­te die Kar­ten aus wie zu­vor, den glei­chen Leu­ten in der glei­chen Rei­hen­fol­ge. Miß Loch­sti­cke­rei war fas­zi­niert; das war so un­ge­fähr das Auf­re­gends­te, was den gan­zen Abend über pas­siert war. Die­ses Mal zeig­ten Pauls Hän­de ih­re ver­steck­te Zau­ber­kraft; sei­ne ei­ge­nen Kar­ten la­gen im­mer recht hoch und lie­ßen das Haus zum hun­dert­pro­zen­ti­gen Ge­win­ner wer­den. Doch es sah ge­nau­so aus, als sei es ein eh­ren­wer­tes Spiel.

„Wir stel­len die bes­ten Trick­spie­ler ein, da­mit sie nicht ge­gen uns spie­len“, sag­te der Ma­na­ger vom Bild­schirm her­ab. Viel­leicht dach­te er dar­an, wie Paul sel­ber ein­ge­stellt wor­den war. „Aber un­se­re Spie­le sind ehr­lich. Wir neh­men zwan­zig Pro­zent, und die Auf­zeich­nun­gen ste­hen der Öf­fent­lich­keit zur Un­ter­su­chung zur Ver­fü­gung. Wir ha­ben es nicht nö­tig, ir­gend je­man­den zu be­trü­gen, und wir wün­schen es auch nicht, aber wir kön­nen es uns auch nicht leis­ten, uns von ir­gend je­man­den zu be­trü­gen las­sen. Sind Sie nun zu­frie­den, Sir? Oder wol­len Sie uns zwin­gen, ge­gen Sie we­gen üb­ler Nach­re­de Kla­ge zu er­he­ben?“

Das war hoch ge­reizt! Ei­ne An­kla­ge we­gen üb­ler Nach­re­de wür­de nichts be­wir­ken, aber mit ein we­nig Glück wür­de der Kun­de das nicht wis­sen. Der Ma­na­ger zeig­te, wie Pro­fes­sio­nel­le spiel­ten: mit di­cken Ner­ven und Ele­ganz.

Grol­lend wand­te sich der Her­aus­for­de­rer ab. Der Blick des Ma­na­gers fla­cker­te zu Paul. „Mach ei­ne Pau­se; der Kun­den­strom ist un­ter­bro­chen.“ Der Kun­den­strom war wich­tig; die Leu­te soll­ten sich wohl­füh­len, wenn sie von Spiel zu Spiel und von ei­ner Un­ter­hal­tung zur an­de­ren gin­gen und ih­ren Kre­dit ver­spiel­ten. Kun­den­strom be­deu­te­te Geld­strom.

Paul schloß sei­nen Tisch. Miß Loch­sti­cke­rei zö­ger­te zu ge­hen. Of­fen­sicht­lich spiel­te sie mit dem Ge­dan­ken, et­was zu sa­gen, doch er igno­rier­te sie be­wußt. Sie zuck­te die Ach­seln und nahm ih­re Chips mit an einen an­de­ren Tisch.

Aber der zor­ni­ge Spie­ler war noch nicht fer­tig. Er war ein schlech­ter Ver­lie­rer bis auf die Kno­chen. Er folg­te Paul – nicht zu auf­fäl­lig, weil er nicht aus dem Ka­si­no hin­aus­ge­wor­fen wer­den woll­te, aber auch nicht zu un­auf­fäl­lig.

Paul spa­zier­te durch den Ball­saal, wo sich im Mo­ment die Sieb­zi­ger ver­gnüg­ten; auf ei­ner er­höh­ten Büh­ne stell­ten sich leicht dis­har­mo­nisch spie­len­de Grup­pen dar, die eher laut als gut spiel­ten, und die Leu­te tanz­ten ent­we­der al­lein oder zu Paa­ren da­zu. Ei­ne jun­ge Frau in eng­an­lie­gen­dem An­zug sang in ein Mi­kro­phon, des­sen Mund­stück und Stän­der her­aus­for­dernd phal­lisch ge­formt wa­ren; sie hielt es mit bei­den Hän­den dicht an den wohl­ge­form­ten Bu­sen und nahm es fast in den Mund. Mi­kros wa­ren seit den Sieb­zi­gern ei­gent­lich über­flüs­sig ge­wor­den; sie dienten mehr ei­nem sym­bo­li­schen als ei­nem prak­ti­schen Zweck.

Paul sah zu sei­nem Ver­fol­ger hin­über, als er die Büh­ne um­run­de­te. Er fand einen Tisch am Rand, setz­te sich und zwang den Mann, sich an ei­nem an­de­ren Tisch nie­der­zu­las­sen, wo die Laut­stär­ke oh­ren­be­täu­bend war. Lau­te Mu­sik hat­te ero­ti­sche An­reiz­kraft; das war das Ge­heim­nis. Die Mit­glie­der der da­ma­li­gen Grup­pen wa­ren für ih­re Ver­füh­run­gen be­rüch­tigt, und viel­leicht hat­ten die Grou­pies, die sich um die­se Ver­füh­run­gen so ge­ris­sen hat­ten, den Grund für die­se An­zie­hungs­kraft nicht be­grif­fen. Je­ne, die Sex nicht moch­ten, wur­den von der Laut­stär­ke ab­ge­turnt, oh­ne zu be­grei­fen, warum; ih­re Pro­tes­te, es sei ‚schlech­te Mu­sik’, ge­gen die sie et­was hät­ten, wur­den von der nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­ti­on nur mit­lei­dig be­lä­chelt.

Na­tür­lich er­schi­en so­fort ei­ne Kell­ne­rin, ei­ne rich­ti­ge, mensch­li­che, weib­li­che Kell­ne­rin, Stück aus ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit und nicht ei­nes von den mo­der­nen Tisch-Ter­mi­nals. „Wod­ka pur“, sag­te Paul und mach­te ei­ne win­zi­ge Ges­te, die Ein­ver­ständ­nis an­deu­ten soll­te. Sie er­kann­te ihn als einen An­ge­stell­ten und nick­te; nach ei­nem Mo­ment brach­te sie ihm rei­nes Was­ser in ei­nem Wod­ka­g­las. Er zeig­te sei­ne Kre­dit­kar­te, und sie steck­te sie in ihr Ter­mi­nal mit dem Schlüs­sel OH­NE BE­ZAH­LUNG. Den Kun­den an den an­de­ren Ti­schen blieb das al­les ver­bor­gen. Der Mann muß­te einen rich­ti­gen Drink be­stel­len – und Paul ver­mu­te­te, daß er An­ti­al­ko­ho­li­ker war. Die­se Art von Leu­ten war das oft. Die Sa­che ver­sprach lus­tig zu wer­den.

Der Ban­jo­spie­ler trat auf der Büh­ne nach vorn, um sei­nen So­lo­part zu spie­len; er beug­te sich so tief in den Kni­en, daß das ge­wölb­te In­stru­ment di­rekt zwi­schen sei­nen Bei­nen hing. Den Hals reck­te er in fast rech­tem Win­kel nach vorn. Die Fin­ger tanz­ten über die straff ge­zo­ge­nen Sai­ten in der Len­den­ge­gend, wäh­rend er das Ban­jo or­gias­tisch auf und nie­der riß und die Mu­sik her­auspreß­te. Paul lä­chel­te; in die­sen Zei­ten leg­te man zwar kei­nen Wert auf gu­te Mu­sik, aber man hat­te ge­lernt, Sym­bo­le rich­tig ein­zu­set­zen.

Der Kun­de am an­de­ren Tisch ver­such­te, sei­nen Blick zu mei­den, doch die Mu­sik dröhn­te gna­den­los auf ihn ein. Si­cher war er ein Pu­ri­ta­ner. Die Fra­ge war nur, warum er in ein der­ar­ti­ges Eta­blis­se­ment ge­kom­men war. War er Agent ei­nes Kon­kur­renz-Ka­si­nos? Das war un­wahr­schein­lich; er wirk­te zu un­be­hol­fen und hät­te sich bei der Blackjack-Sa­che nicht so tol­pat­schig be­neh­men dür­fen. Konn­te es sein, daß er An­ge­hö­ri­ger der Bun­des­po­li­zei war und sie auf Täu­schun­gen und Falsch­spie­le­rei un­ter­such­te? Wie­der­um: zu un­be­hol­fen. Die Ta­ge, in de­nen man Be­hör­de­n­agen­ten gut iden­ti­fi­zie­ren konn­te, wa­ren lan­ge schon vor­bei; die Bun­des­po­li­zei stell­te nur ech­te Pro­fis ein, wie je­de an­de­re Fir­ma auch. War er ein Ab­ge­sand­ter der Mnem-Front, der si­cher­ge­hen woll­te, daß Paul sie nicht ver­riet?

Nein, das ein­zig Ein­leuch­ten­de schi­en zu sein, daß er ein schlech­ter Ver­lie­rer war und nach ei­nem Aus­weg such­te, sich zu rä­chen. Der Mann hat­te nicht ein­mal viel Geld ver­lo­ren; es han­del­te sich eher um einen Sta­tus­ver­lust, weil ihn Paul und das Ma­na­ge­ment aus­ge­trickst hat­ten, und das hät­te er vor­aus­se­hen müs­sen. Kein Ama­teur hat­te ge­gen die Pro­fes­sio­nel­len ei­ne Chan­ce. Die Spie­le wur­den ehr­lich be­trie­ben, und wenn ein­mal ge­trickst wur­de, dann auf so un­auf­fäl­li­ge Wei­se, daß je­mand wie er es nie­mals mer­ken wür­de. Paul sel­ber konn­te beim Blackjack ge­win­nen, oh­ne die Kar­ten auch nur im ge­rings­ten zu ma­ni­pu­lie­ren, in­dem er ein­fach al­le aus­ge­teil­ten Kar­ten im Kopf be­hielt und sei­ne Wet­ten ent­spre­chend den noch aus­ste­hen­den Kar­ten setz­te. Manch­mal ar­bei­te­te er für das Ma­na­ge­ment, in­dem er so spiel­te, de­mons­trier­te so auf ein­drucks­vol­le Wei­se, daß man das Haus nicht schla­gen konn­te und zog auf die­se Art mehr Kun­den an. Na­tür­lich war es sein durch Mnem er­wei­ter­tes Ge­dächt­nis, wel­ches ihm dies er­mög­lich­te; die re­gu­lä­ren Kun­den, als Klas­se, ka­men ge­gen die­se Ver­hält­nis­se nicht an. Manch­mal schaff­ten das glück­li­che In­di­vi­du­en, aber das wur­de durch die un­glück­li­chen mehr als aus­ge­gli­chen.

Die­ser Ge­dan­ke mach­te ihn trau­rig. Das wür­de er nicht mehr schaf­fen – ge­gen al­le Ver­nunft zu ge­win­nen. Er hat­te ei­ne Men­ge auf­ge­ge­ben, als er Mnem ent­sag­te. War es der Sa­che wirk­lich wert?

Er stell­te sich ei­ne jun­ge Frau vor, die sich aus ei­nem Po­li­zei­hub­schrau­ber stürz­te. Viel­leicht wür­de die­se Er­in­ne­rung aus­ge­löscht durch die Mnem-Ent­zugs­er­schei­nun­gen.

Paul trank sein Was­ser aus und ging. Der Kun­de folg­te ihm. Sie ka­men an dem Glücks­rad vor­bei – und das er­in­ner­te Paul an das Ta­rot­spiel. Die Ar­ka­ne Zehn war das Glücks­rad. Si­cher er­höh­ten die­se Rä­der das Ver­mö­gen von ei­ni­gen Kun­den – und brach­ten sie auch wie­der auf Null! Aber das Ta­rot wie­der­um er­in­ner­te ihn an Schwes­ter Beth vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on, das Mäd­chen, das er ge­tö­tet hat­te. Vol­ler Kreis, als sich das Glücks­rad dreh­te. Er konn­te nicht vor sich sel­ber fort­lau­fen. Und das zer­stör­te et­was in ihm.

Paul dreht sich um. Der Mann stand di­rekt hin­ter ihm. „Was wol­len Sie?“ frag­te er.

„Ich will mein Geld zu­rück“, er­wi­der­te der Mann.

Paul hol­te sei­ne Kre­dit­kar­te her­aus. „Wie hoch ist Ihr Ver­lust?“ frag­te er.

„Nicht so. Ich will es zu­rück­ge­win­nen! Ich will Sie schla­gen.“

Was für ein Idi­ot! „Sie kön­nen mich nicht schla­gen. Ich spie­le für das Haus; auf lan­ge Sicht fällt der Pro­zent­satz mir zu.“

„Ich kann Sie schla­gen – wenn wir Mann ge­gen Mann spie­len.“

„Gut“, stimm­te Paul zu, nur aus dem Wunsch her­aus, den Är­ger los­zu­wer­den. „Mann ge­gen Mann. Wel­ches Spiel?“

„Ken­nen Sie Ak­kor­de­on?“

„Ich ken­ne es. Da ver­lie­re ich nie, wenn es auf mei­ne Art ge­spielt wird.“

„Ih­re Art, ein­ver­stan­den“, stimm­te der Mann zu. Sein dum­mer, un­be­grün­de­ter Stolz trieb ihn zum äu­ßers­ten.

„Ta­rot­kar­ten. Trümp­fe halb­wild.“

Halbwild?“

„Je­de der zwei­und­zwan­zig Trumpf­kar­ten schlägt je­de Far­be – aber kein Trumpf hat ei­ne Zahl; da­her kann er kei­ne Nor­mal­kar­te ste­chen. Trümp­fe sind pas­siv wild; sie ver­schwin­den le­dig­lich.“

„Und wenn die letz­te Kar­te ein Trumpf ist?“

Doch nicht so naiv! „Die Kar­te ist wild, bis sie be­zeich­net wird. Dann friert sie ein.“

Der Mann schüt­tel­te ver­wun­dert den Kopf. „Halb­wil­des Ta­rot-Ak­kor­de­on!“

„Be­steht die Her­aus­for­de­rung wei­ter?“ lock­te Paul ihn.

Der Mann run­zel­te die Stirn. „Ja. Iden­ti­sches Kon­troll­spiel, se­pa­ra­te Wür­fel, Täu­schungs­mes­ser an­ge­stellt.“

„Na­tür­lich“, stimm­te Paul zu. „Es geht um die Hö­he der bis­he­ri­gen Ver­lus­te.“ Viel­leicht war dies doch ein Spaß, und der Bur­sche hat­te dar­um ge­be­ten. „Nur ein Spiel“, sag­te Paul, um ei­ne neue Her­aus­for­de­rung zu ver­mei­den.

Sie gin­gen zum Ak­kor­deon­tisch. Sie setz­ten sich in ge­gen­über­lie­gen­den Zel­len nie­der. Die me­cha­ni­sche Aus­teil­ma­schi­ne gab ih­nen die Kar­ten, doch sie konn­ten die des an­de­ren nicht se­hen.

Paul konn­te so­gar fast ein of­fe­nes Ak­kor­de­on ge­win­nen, weil der Er­folg haupt­säch­lich auf dem Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen an die aus­ge­teil­ten Kar­ten be­ruh­te. Wenn es ihm ge­stat­tet war, vor dem Spiel die Rei­hen­fol­ge der Kar­ten auf dem Aus­druck­bild­schirm zu se­hen, auch nur für ei­ne ein­zi­ge Se­kun­de, dann ließ ihn sein durch Mnem in­ten­si­vier­tes Ge­dächt­nis das ge­sam­te Spiel hin­durch die Kar­ten wie auf­ge­reiht vor ihm lie­gend se­hen. So konn­te er sei­ne Stra­te­gie auf ei­ner achtund­sieb­zig Kar­ten-Ba­sis auf­bau­en. Aber selbst in ei­nem ver­deck­ten Spiel wie die­sem, wo die Rei­hen­fol­ge der Kar­ten nicht be­kannt war, war er im­mer noch gut, weil je­de ge­spiel­te Kar­te in sei­nem Ge­dächt­nis ab­ge­stri­chen wur­de und er bes­ser wuß­te, was noch aus­stand. Bei Blackjack wur­de so sein Spiel ge­gen En­de hin ge­nau­er, wäh­rend das bei an­de­ren Per­so­nen ge­nau um­ge­kehrt lief.

Aber nun be­fand sich Paul in Schwie­rig­kei­ten. Lang­sam schwand das Mnem aus sei­nem Kör­per, so daß er kein ei­de­ti­sches Ge­dächt­nis mehr be­saß. Er war im­mer noch ein gu­ter Spie­ler und seit lan­gem ver­traut mit den Stra­te­gi­en für pas­sen­de Far­ben und Zah­len in po­ten­ti­el­len Ket­ten, so daß er sei­ne Wahl­mög­lich­kei­ten ver­grö­ßer­te, oh­ne dem Geg­ner sei­ne Po­si­ti­on be­kannt­zu­ge­ben, doch er hat­te nie ge­merkt, wie sehr er von sei­nem per­fek­ten Ge­dächt­nis ab­hän­gig war. Oh­ne es fühl­te er sich nackt – und das be­un­ru­hig­te ihn weit mehr als es ei­gent­lich hät­te sol­len. Er hat­te fast ver­ges­sen, wie man sich als Ver­lie­rer fühl­te, und die Vor­stel­lung, auf die­sen Sta­tus zu­rück­zu­fal­len, er­schi­en ihm nicht ver­lo­ckend. In ei­ner star­ken Pe­ri­ode als Er­geb­nis von Pau­sen ein­mal zu ver­lie­ren war das ei­ne – aus Schwä­che ver­lie­ren schon et­was an­de­res. Und das hat­te den an­de­ren Mann so an­ge­trie­ben.

Soll­te er zum Mnem zu­rück­keh­ren? Das blieb ihm im­mer noch of­fen. Er wä­re kaum der ers­te – auch nicht der zehn­te oder hun­derts­te –, der ver­such­te, von Mnem frei­zu­kom­men und schei­ter­te.

Die Sucht war sub­ti­ler als bei Dro­gen, von de­nen man psy­chisch ab­hän­gig war. Ei­ni­ge Ex­per­ten wei­ger­ten sich im­mer noch, Mnem über­haupt als such­ter­zeu­gend ein­zu­stu­fen. Aber das wa­ren Nar­ren im El­fen­bein­turm. Sucht war mehr als nur kör­per­li­che Ab­hän­gig­keit, was Ko­kain­schnup­fern wohl­be­kannt war. Die ge­sam­te Selbst­wahr­neh­mung ei­ner Per­son war im Spiel; wenn er sein Ge­dächt­nis ver­lor, ver­lor er auch sei­ne Per­sön­lich­keit. Das war Schwes­ter Beths Un­ter­gang ge­we­sen. Paul konn­te al­so sei­nen Irr­tum zu­ge­ben und zu­rück­ge­hen und …

Nein! Das war sei­ne Stra­fe, weil er die­ses un­schul­di­ge Mäd­chen ge­tö­tet hat­te. Viel­leicht war es un­ver­nünf­tig, aber es war end­gül­tig. Er wür­de ent­we­der als frei­er Mensch le­ben oder ster­ben – wie auch sie hat­te frei sein wol­len.

In der Zwi­schen­zeit spiel­te er. Kelch-Sie­ben auf Kelch-Fünf; Stab-Fünf auf Turm-Trumpf – oh, ver­tan! Er hät­te die bei­den Fün­fen ver­bin­den sol­len – nein, in die­sem Fall spiel­te es kei­ne Rol­le. Aber hät­te we­nigs­tens an die Fün­fen den­ken sol­len, ehe er ei­ne an­de­re Wahl traf. Von sol­chen Ent­schei­dun­gen hin­gen Ge­winn oder Ver­lust ab.

Paul mach­te wei­ter und kon­zen­trier­te sich nun stär­ker auf das Spiel, leg­te zu­sam­men­pas­sen­de Far­ben oder Zah­len zu zwei­en oder vie­ren ab und brei­te­te sei­nen Fä­cher so aus, wie es dem Spiel den Na­men ge­ge­ben hat­te. Die häu­fi­gen halb­wil­den Trümp­fe schenk­ten ihm wert­vol­len Raum, er­mög­lich­ten ihm, das Ak­kor­de­on zu­sam­men­ge­zo­gen zu las­sen, doch hat­te na­tür­lich sein Geg­ner den glei­chen Vor­teil. Und der Mann ließ nicht lo­cker, denn bei ei­nem Ak­kor­de­on muß­ten sich bei­de Spie­ler je­weils auf die Ab­la­ge ei­ner neu­en Kar­te ei­ni­gen. Pauls Geg­ner hat­te of­fen­sicht­lich ei­ne Kar­te ent­deckt, die Paul ent­gan­gen war, und sei­ne Ab­la­ge um ei­ne Kar­te wei­ter zu­sam­men­ge­zo­gen als er; da­her durf­te er zwei oder drei Kar­ten zie­hen, wäh­rend Pauls Ab­la­ge auf­ge­scho­ben war. Er wuß­te, wie man Ak­kor­de­on ge­gen­ein­an­der spielt, nun gut. Er hat­te Paul auf der Rol­le, und er wuß­te es, und er ließ auch nicht mehr lo­cker. Paul konn­te ver­su­chen, was er woll­te, er konn­te die In­itia­ti­ve nicht zu­rück­er­lan­gen.

Die letz­te Kar­te war ein Trumpf: die Ho­he­pries­te­rin, die iro­ni­scher­wei­se auch für das Ge­dächt­nis stand. Ge­dächt­nis – jetzt sei­ne Schwach­stel­le. Und sie lag auch noch um­ge­dreht. Das Ta­rot barg ge­heim­nis­vol­le Fä­hig­kei­ten, be­deut­sa­me As­so­zia­tio­nen zu we­cken. So war die Pries­te­rin al­so wild und be­reit, ihm zu hel­fen, um sei­ne Ab­la­ge ein­drucks­voll zu ver­rin­gern. Aber das hat­te er nicht vor­aus­ge­se­hen, so ein­fach es schon ge­we­sen wä­re, nur die Trümp­fe zu zäh­len, und so konn­te er nur zwei Sta­pel los­wer­den. Ihm blie­ben acht Sta­pel, und das war für ihn kein gu­tes Er­geb­nis.

Und sein Geg­ner hat­te sie­ben. Paul hat­te ver­lo­ren. Er run­zel­te die Stirn und zog sei­ne Kre­dit­kar­te her­vor.

„Nein“, sag­te der Mann, der in Sie­ges­lau­ne recht groß­zü­gig wur­de. „Das re­geln wir pri­vat.“

Was hat­te das zu be­deu­ten? Ein Aus­tausch von Kre­di­ten war in sich et­was Un­pri­va­tes; es war ei­ne Sa­che von un­mit­tel­ba­ren Ein­tra­gun­gen im weit­ver­brei­tets­ten Com­pu­ter­sys­tem der Welt. Der Mann woll­te al­so kein Geld. Aber die Wet­te war um Geld ge­gan­gen. Paul war nicht ver­pflich­tet, auf ei­ne an­de­re Zah­lungs­art ein­zu­ge­hen.

Er zuck­te die Ach­seln. Sie ver­lie­ßen das Ka­si­no. Auf der Stra­ße be­gann der Mann rasch und lei­se zu spre­chen. „Sie sind ein Mnem-Süch­ti­ger auf Ge­walt­kur. Ich bin Dro­ge­n­agent der Bun­des­be­hör­den. Man wird Ih­nen bald den Kre­dit sper­ren, wenn das nicht schon ge­sche­hen ist. Da­her ha­be ich un­ter­bun­den, daß Sie ei­ne Kre­dit­trans­ak­ti­on vor­neh­men; wir wol­len nicht, daß es schon ir­gend je­mand weiß. Sie sind in Schwie­rig­kei­ten. Sa­gen Sie bei uns aus, dann wird es nie­mals ir­gend je­mand er­fah­ren.“

Al­so ein Bun­des­dro­gen­spit­zel! So be­wußt un­be­hol­fen, daß er Paul voll­stän­dig ir­re­ge­führt hat­te!

„Ich weiß nicht, wo­von Sie re­den“, sag­te Paul, wohl wis­send, daß ein Pro­test völ­lig nutz­los war.

„Sie ha­ben ei­ne Fracht be­för­dert, die Sie heu­te mor­gen dem Kar­tell ab­ge­lie­fert ha­ben“, be­harr­te der Mann. „Wir be­ob­ach­ten Sie schon seit sechs Mo­na­ten, zu­sam­men mit hun­dert an­de­ren Süch­ti­gen. Wir ha­ben Sie noch nicht fest­ge­nom­men, weil wir nicht Sie wol­len; wir wol­len die Hin­ter­män­ner. Ihr Psy­cho-Pro­fil läßt dar­auf schlie­ßen, daß Sie ei­ne un­se­rer bes­ten Kar­ten sind, denn Sie sind auf­rich­tig und in­tel­li­gent; für Sie be­deu­tet Mnem ei­ne Sack­gas­se. Frü­her oder spä­ter wer­den Sie es auf­ge­ben müs­sen; und Sie hat­ten den Mut, es auch durch­zu­zie­hen. Ir­gend et­was ist ge­sche­hen, was die­sen Bruch aus­ge­löst hat, und nun sind Sie drau­ßen. War es die Frau, die Sie da auf­ge­ga­belt hat­ten, die­se Sek­ten­nuß?“

„Sie war kei­ne Sek­ten­nuß!“ pro­tes­tier­te Paul. „Sie war ein net­tes Mäd­chen!“

„Nun gut, dann war sie eben ein net­tes Mäd­chen, aber zu in­sta­bil, um in ei­nem Po­li­zei­hub­schrau­ber still sit­zen zu kön­nen. Gut für uns, denn sie muß ge­schafft ha­ben, was wir nicht konn­ten, näm­lich Sie zum Bruch mit Mnem füh­ren. Viel­leicht hat Sie ihr Fa­na­tis­mus an­ge­steckt? Sie war ein hüb­sches Ding, ha­be ich ge­hört. Und nun grei­fen wir ein, weil Sie be­reit sind, sich ge­gen die Rä­der zu dre­hen. Mit Ih­rer Hil­fe kön­nen wir die­se Sa­che auf­bre­chen und Mnem auf im­mer ver­ban­nen.“

„Nein“, sag­te Paul.

„Ich weiß, daß Sie run­ter sind. Die An­zei­chen ha­be ich schon beim Blackjack ge­se­hen. Ih­re Ge­dan­ken wa­ren wo­an­ders. Ich ha­be das Spiel un­ter­bro­chen und Sie aus dem Kreis ge­nom­men, ehe das Ka­si­no ein­griff. Beim Ak­kor­de­on­spiel war es noch schlim­mer. Sie ha­ben den Ge­dächt­nis­pu­scher ver­lo­ren, und bald gibt es die Ent­zugs­aus­fäl­le. Re­den Sie mit mir; grei­fen Sie in die Spei­chen. Ge­ben Sie mir die Da­ten, so­lan­ge Sie sich noch er­in­nern kön­nen, und wir wer­den für Sie sor­gen. Es gibt Ge­gen­dro­gen, mit de­nen wir den Über­gang er­leich­tern und einen Teil Ih­res Ge­dächt­nis schüt­zen kön­nen. Mein Auf­zeich­ner ist ein­ge­stellt. Das ist Ih­re ein­zi­ge Chan­ce.“

Einen Mo­ment lang fühl­te sich Paul in Ver­su­chung. Aber er merk­te, daß die­ser Mann eben­so­gut ein Kar­tel­l­agent wie ein Dro­gen­knacker sein konn­te. Viel­leicht über­prüf­te ihn das Kar­tell, um si­cher­zu­ge­hen, daß er den Mund hielt. Und er muß­te den Mund hal­ten, sonst wür­de er in Kür­ze tot sein. „Ich weiß nichts da­von“, sag­te er. „Las­sen Sie mich in Ru­he.“

„Sie kön­nen sich nicht mehr selbst er­näh­ren“, be­harr­te der Bun­des(Kar­tell?)-Agent. „Sie sind am En­de. Wir kön­nen Ih­nen hel­fen, wenn Sie uns hel­fen. Jetzt, so­lan­ge Sie noch kön­nen.“

Paul tauch­te in der Men­ge un­ter und ließ den Mann ste­hen. Er schob sich durch die Men­schen, bis er den Mann ab­ge­schüt­telt hat­te. Bald be­fand er sich auf ei­ner an­de­ren Stra­ße. Ein rie­si­ges No­va­ne­on-Schild leuch­te­te auf, weil sich der Me­cha­nis­mus bei sei­nem Her­an­na­hen aus­lös­te: CHRIST = SCHULD.

Paul lä­chel­te. War das un­ge­woll­te Iro­nie? Bei den re­li­gi­ösen Kul­ten wuß­te man das nie. Er ging dar­un­ter hin­weg und sah sich um. Von die­ser Sei­te aus las er: SEX = SÜN­DE. Kein Feh­ler. Für vie­le Re­li­gi­ons­an­ge­hö­ri­ge be­deu­te­te je­de Art von Ver­gnü­gen et­was Un­mo­ra­li­sches, und nie­mand konn­te hei­lig sein, wenn er sich nicht auch schul­dig fühl­te. Selbst im Ver­gnü­gen des wah­ren Glau­bens muß­te er sich schul­dig füh­len für die­ses freu­di­ge Ge­fühl.

Doch bei ei­ni­gen Leu­ten nahm es ei­ne at­trak­tiv be­schei­de­ne Qua­li­tät an, und es konn­te ei­nem ei­ne ge­wis­se Ver­lo­ckung, die Si­cher­heit ei­nes Zu­ge­hö­rig­keits­ge­fühls ge­ben. Wie hieß noch der Ver­ein, zu dem Schwes­ter Beth ge­hört hat­te? Hei­li­ger Or­den der Vi­si­on. Sein Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen ließ ihn nicht im Stich. Viel­leicht war das auch nur ein re­pres­si­ver Kult als Re­ak­ti­on auf ei­ne re­pres­si­ve Ge­sell­schaft – aber sie war ein sü­ßes Mäd­chen ge­we­sen. Warum hat­te sie ster­ben müs­sen?

Paul blieb ste­hen, weil er in der Brust ei­ne Art Ex­plo­si­on spür­te. Hit­ze wall­te auf, brei­te­te sich im gan­zen Brust­korb aus, ei­ne bren­nen­de Flut, die lang­sam zu­rück­ging. Plötz­lich be­griff er, was die All­ge­mein­heit ein ge­bro­che­nes Herz nann­te. Es war kein kör­per­li­cher Schmerz; das Ge­fühl war so­gar son­der­bar an­ge­nehm. Aber et­was, was für ihn un­ter­schwel­lig le­bens­wich­tig ge­we­sen war, war ver­schwun­den. An sei­ner Stel­le gab es – Schuld.

Einen Mo­ment lang war er ver­wirrt, und dann war es Spät­nach­mit­tag, und er war al­lein. Er be­trat ein her­un­ter­ge­kom­me­nes Ge­bäu­de. Es trug kei­ne Be­zeich­nung, doch je­der, der hier zu tun hat­te, kann­te es. Es hieß ‚Zum Dut­zend’ – Auf­fang­be­cken der Aus­ge­sto­ße­nen. Ge­nau­er ge­sagt: Es war die aus­drück­lich nicht­wei­ße En­kla­ve aus ei­ner Zeit, als es qua Ge­setz kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund von Ras­se oder Ab­stam­mung ge­ge­ben hat­te. Da­her hat­te die­ses In­sti­tut recht­mä­ßig kei­ne Grund­la­ge. Aber die hat­te das Mnem-Kar­tell auch nicht. Recht­mä­ßig­keit lei­te­te sich aus Sach­ver­hal­ten ab, und kein Wei­ßer war so dumm, sei­nen Fuß in das ‚Dut­zend’ zu set­zen.

Pauls Auf­tau­chen ver­ur­sach­te einen klei­nen Auf­ruhr. So­fort ver­sperr­ten ihm drei kräf­ti­ge Män­ner den Weg. Ei­ner hat­te die röt­lich­blaue Haut­far­be ei­nes fast voll­blü­ti­gen In­dia­ners; der an­de­re war Ori­en­ta­le und der drit­te Ne­ger. „Hast du dich viel­leicht ver­irrt, Schnee­ball?“ frag­te der Schwar­ze sanft.

Ein Schnee­ball war ein hun­dert­pro­zen­tig Wei­ßer, und der wür­de in die­ser far­bi­gen Höl­le nicht lan­ge über­le­ben. Paul ließ sich in Bück­stel­lung fal­len, die nie­mand miß­ver­ste­hen konn­te. „Nein.“ Er hielt sich zu­rück, ei­ne Be­lei­di­gung zu ent­geg­nen: „Pech­ku­gel.“

„Das ist mei­ner“, sag­te der Gel­be. Die bei­den an­de­ren tra­ten zu­rück. Der Ori­en­ta­le stell­te sich vor Paul auf, der wie­der ei­ne na­tür­li­che Hal­tung ein­nahm. „Ka­ra­te?“

„Ju­do.“

„Ko­do­kan?“

„Ikyu“, er­wi­der­te Paul.

„Ni­dan“, mein­te der Gel­be.

Sie ver­beug­ten sich vor­ein­an­der, ei­ne kur­ze, stei­fe Be­we­gung aus der Hüf­te her­aus. Sie hat­ten sich ge­gen­sei­tig die Kampf­schu­len und Rän­ge be­kannt­ge­ge­ben. Der Gel­be hat­te einen zwei Stu­fen hö­he­ren Rang als Paul, und die­se Rän­ge wa­ren kei­ne zu­fäl­lig er­wor­be­nen Din­ge: Es war recht wahr­schein­lich, daß er Paul in ei­nem ge­wöhn­li­chen Kampf be­sie­gen wür­de. Paul konn­te ge­gen den Gel­ben kämp­fen, wenn er woll­te, aber lan­ge wür­de er nicht auf dem Ge­län­de des ‚Dut­zend’ blei­ben. Es wä­re wohl bes­ser, von die­ser Be­geg­nung Ab­stand zu neh­men. Je­den­falls war er an­ge­hört wor­den, und das war sein Ziel ge­we­sen.

„Ich ge­hö­re da­zu“, sag­te Paul. „Ich bin zu ei­nem Ach­tel schwarz. Ich bin Ka­si­no­spie­ler, aus­ge­bil­de­ter Me­cha­ni­ker, und die Bun­des­po­li­zei ist hin­ter mir her. Mnem-Sucht.“ Das war der ein­zi­ge Ort, an dem er we­der von dem Mnem-Kar­tell noch von der Po­li­zei et­was zu be­fürch­ten hat­te; mit ge­walt­tä­ti­ger Wirk­sam­keit stand das ‚Dut­zend’ auf ei­ge­nen Fü­ßen, und sei­ne Res­sour­cen er­streck­ten sich so weit wie nicht­wei­ßes Blut reich­te. Aber zu­nächst muß­te Paul Ein­laß ge­währt wer­den.

Der Gel­be trat zu­rück und der Schwar­ze vor. „Wir kön­nen einen Me­cha­ni­ker ge­brau­chen. Aber du bist zu sie­ben Ach­teln weiß.“ Das klang wie ei­ne Be­lei­di­gung.

„Ja. Mein Na­me ist Paul Cenji. Ich bin un­ter Wei­ßen auf­ge­wach­sen. Aber mei­ne Ah­nen kann man beim Auf­zeich­nungs­bü­ro nach­wei­sen.“

Der Schwar­ze hol­te einen Knopf­sen­der her­aus. „Paul Cenji“, sprach er hin­ein.

Nach ei­nem Au­gen­blick kam die Ant­wort. „Zwölf kom­ma fünf Pro­zent schwarz. Drei Pro­zent gelb. Spu­ren­ele­men­te an­de­rer Nicht­wei­ßer. Ge­sucht vom Kar­tell und der Bun­des­po­li­zei.“

Der Schwar­ze sah ihn kri­tisch an. „Du bist in Schwie­rig­kei­ten. Dein Kör­per ist schon okay, bei dei­ner Vor­haut, aber dei­ne See­le ist weiß.“

„Ver­such’s doch“, er­wi­der­te Paul. Er wuß­te, das wür­den sie tun – und ehe sie da­mit fer­tig sein wür­den, wä­re die Wahr­heit schon her­aus.

Der Schwar­ze sprach wie­der et­was ins Mi­kro. Das war of­fen­sicht­lich kein Stan­dard-Com­pu­ter­ter­mi­nal; ‚Dut­zend’ be­saß um­fas­sen­de­re und neue­re In­for­ma­tio­nen als er für mög­lich ge­hal­ten hät­te. Sie kann­ten schon sei­ne Schwie­rig­kei­ten mit Mnem und auch von dem An­ge­bot des Bun­des­be­am­ten. Und die­se drei­pro­zen­ti­ge ori­en­ta­li­sche Ab­stam­mung. Zum ers­ten Mal hat­te Paul da­von ge­hört. Es muß­te ir­gend­wo bei sei­ner wei­ßen Kom­po­nen­te lie­gen; die hat­te er nicht so ein­ge­hend über­prüft wie die schwar­ze. „Kar­rie.“

Nach ei­nem Au­gen­blick kam ein braun­häu­ti­ges Mäd­chen von viel­leicht sechs Jah­ren hin­zu. Der Schwar­ze mach­te ihr mit der glei­chen for­mel­len Höf­lich­keit Platz, die an die Kampf­küns­te er­in­ner­te. Was ging hier vor?

Das Kind starr­te Paul mit of­fen aus­ge­drück­ter Ver­ach­tung an. Sie hat­te einen leicht schie­fen Mund, der ihr ein be­wun­derns­wert spöt­ti­sches Grin­sen ver­lieh. „Kennst du das Dut­zend?“ frag­te sie.

Sie mein­te nicht die­ses Ge­bäu­de. Nicht di­rekt je­den­falls. Ver­wirrt hob Paul ver­nei­nend die Hän­de. „Ein biß­chen – aber nicht mit Frau­en oder Kin­dern.“

„Dann schlepp dei­nen wei­ßen Arsch wo­an­ders­hin“, sag­te sie.

Paul starr­te sie an. Er kann­te das ‚dre­cki­ge Dut­zend’, die Wett­be­wer­be in Be­lei­di­gun­gen, ei­ne spe­zi­ell schwar­ze Form der In­itia­ti­on. Schwar­zer Hu­mor in ei­nem ganz be­stimm­ten Sin­ne. Der Na­me die­ses Clubs war da­von ab­ge­lei­tet. Das war ei­ne pas­sen­de Her­aus­for­de­rung. Wenn er den Meis­ter des Hau­ses schla­gen konn­te, wür­de er sei­ne schwar­ze See­le be­wei­sen, denn Wei­ße nah­men sel­ten an so et­was teil und schnit­ten auch nicht gut ab. Es war gut vor­be­rei­tet ge­kom­men. Aber er hat­te an ei­ne Mann-ge­gen-Mann-Sa­che ge­glaubt. Die­se Si­tua­ti­on Mann ge­gen Kind fand er un­ge­heu­er fremd­ar­tig.

Doch sie hat­ten es so be­stimmt. Wenn er hier rein­kom­men woll­te, muß­te er sich schon be­wäh­ren.

Er kon­zen­trier­te sich auf das Kind Kar­rie. Sie hat­te mit scho­ckie­ren­der Di­rekt­heit ih­re Kampf­be­reit­schaft kund­ge­tan. Das war ei­ne eben­so ech­te Aus­ein­an­der­set­zung, wie es der Ju­do­kampf mit dem Gel­ben ge­we­sen wä­re, und der Sa­che noch an­ge­mes­se­ner. Die klei­ne Kar­rie hat­te ihn auf­ge­for­dert, sich aus dem Staub zu ma­chen und zwar mit Hil­fe ei­ner un­freund­li­chen Be­zeich­nung der Far­be sei­nes Hin­ter­teils. Das muß­te er zu­rück­wei­sen, die Be­lei­di­gung ge­gen den An­grei­fer wen­den so­wie einen Reim fin­den, falls das mög­lich wä­re.

„Ich kneif den Arsch zu­samm’n, wenn du be­nutzt ’nen Kamm“, sag­te er – und ver­spür­te so­fort Ekel vor sich sel­ber. Die Zu­rück­wei­sung und den Reim hat­te er hin­ge­kriegt, doch es war ein schwa­cher An­griff. Ein Mäd­chen ih­res Al­ters wür­de das so ma­chen wie sie woll­te. Oft­mals war es Punkt des Stol­zes, sich nicht zu käm­men; da­her hat­te er ei­gent­lich kei­nen Punkt ge­macht. Er hat­te nur de­mons­triert, daß er mit­ma­chen woll­te.

Sie schnapp­te zu­rück: „Ich neh­me den Kamm schon, schieb ihn dir in den Chrom.“ Sie hielt in­ne und schlug dann wei­ter zu: „Mit Schaum.“

Das war nicht sehr kind­lich, trotz ih­res Al­ters. Chrom spie­gel­te näm­lich weiß und nicht schwarz, und Schaum­mit­tel wur­den von Min­der­hei­ten zur Ver­hü­tung an­ge­wen­det. Punkt für sie; sie hat­te sein Kon­zept zu sei­nem Nach­teil über­nom­men.

„Wenn dei­ne Ma­ma Schaum rein­ge­steckt hät­te, wä­rest du nie raus­ge­kom­men“, sag­te er. Kein Reim, aber die Be­lei­di­gung war schär­fer; leg­te na­he, sie sei ein Be­triebs­un­fall ge­we­sen, ein un­ge­woll­tes Kind. Es war schwie­rig, al­les un­ter einen Hut zu be­kom­men: Schlag­kraft, Reim, Be­lei­di­gung, oh­ne groß­ar­tig Zeit zum Nach­den­ken zu ha­ben. Aber ge­nau das mach­te es zu ei­ner sol­chen Her­aus­for­de­rung. Auch die meis­ten Schwar­zen wa­ren dar­in nicht wirk­lich gut, weil es ih­nen an Geis­tes­ge­gen­wart fehl­te. Wenn er da­mit fer­tig wur­de, wür­de das mehr als aus­rei­chen, sei­nen ge­ne­ti­schen Man­gel aus­zu­glei­chen. Aber zu spät fiel ihm nun der Reim ein: „Und du hät­test hier nie rum­ge­spon­nen.“

Um sie her­um ver­sam­mel­te sich ei­ne Men­schen­men­ge. Das war ih­re Art von Un­ter­hal­tung. Nicht al­le stan­den ge­gen ihn; er be­gann sich durch sei­nen Stil zu be­wei­sen, und ei­ne gan­ze Rei­he von Leu­ten hat­ten hel­le Haut wie er. Et­wa ein Dut­zend oder so. Das war viel­leicht auch ein Wort­spiel; das ‚Dut­zend’ hat­te mit der Zahl Zwölf nicht viel zu tun. Es stamm­te von ei­nem wei­ßen Aus­druck ab, den man für ‚er­staun­lich’ oder ‚ver­blüf­fend’ ge­brauch­te. Wenn er die­sen Wett­be­werb ge­wann, wür­de er auch Freun­de ge­won­nen ha­ben, und sei­ne Zu­kunft wä­re ab­schätz­bar, wenn auch nicht ab­so­lut si­cher. „Gut ge­macht“, mur­mel­te ei­ner.

Ge­trof­fen schlug Kar­rie hef­tig zu­rück. „Bei dei­ner Ma kam der Schaum her­aus, als sie vö­gel­te die wei­ße Laus.“

„Patt“, kom­men­tier­te ein Zu­schau­er mit pro­fes­sio­nel­ler Schär­fe. Er mein­te, sie ha­be Pauls Be­lei­di­gung auf­ge­fan­gen und ge­gen ihn ge­wen­det, durch einen Reim und einen wei­te­ren ras­si­schen Be­zug ver­stärkt. Die­se An­grif­fe auf sein Weiß­sein ver­letz­ten ihn hier.

Er muß­te mit här­te­ren Ban­da­gen kämp­fen. Er konn­te es sich nicht leis­ten, Kar­rie als Kind oder als Frau an­zu­se­hen; sie war sein Feind und woll­te ihn ver­nich­ten. „Das war kei­ne Laus, das war ihr Mann, dei­ne Ma hat zwei Bö­cke, da­mit sie über­haupt kann.“

Kur­z­er Ap­plaus. Paul hat­te auf ih­ren Vers sei­nen ent­geg­net und an­ge­deu­tet, ih­re Mut­ter sei ei­ne Hu­re. Bei sol­chen Wett­be­wer­ben war die Mut­ter häu­fig das Ziel der Be­lei­di­gun­gen, der schwa­che Punkt in je­dem Men­schen. „Bö­cke!“ mur­mel­te je­mand be­wun­dernd. Vor ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert war die­ser Aus­druck tra­di­tio­nell ge­we­sen; nun be­zeich­ne­te er un­ge­wöhn­li­che Bil­lig­keit, kaum den Preis des Schaum­sprit­zers wert – was die Qua­li­tät des Scher­zes ver­bes­ser­te. Er hat­te nun nach ei­nem un­si­che­ren Start sei­nen Weg ge­fun­den.

Das Mäd­chen spür­te den Hieb und wuß­te, daß es ver­wun­det war. Viel­leicht war sie wirk­lich das Kind ei­ner Pro­sti­tu­ier­ten. Die­se Be­lei­di­gun­gen soll­ten ei­gent­lich nicht der Wirk­lich­keit des Geg­ners ent­spre­chen, aber wenn man dicht ge­nug traf, daß ei­ne Per­son die Hal­tung ver­lor, ver­lor sie auch den Wett­be­werb. „Hau ab hier, du Sie­be­nach­tel­schwein!“ schrie Kar­rie. „Geh zu­rück an die li­li­en­wei­ße Fot­ze dei­ner Ma!“

„Ho­ho!“ rief je­mand be­wun­dernd. Kar­rie ver­lor den Bo­den un­ter den Fü­ßen und schlug hart zu­rück, in­dem sie ein wun­der­ba­res Wort­spiel mit sei­ner Sie­be­nach­tel-Ab­stam­mung mach­te und ihn einen Mo­ther­fu­cker nann­te. Das grenz­te an die schärfs­te Be­lei­di­gung, die man bei nor­ma­lem Spiel­ver­lauf kaum über­tref­fen konn­te, und in die­sem Fall wuß­te er kaum ei­ne Ent­geg­nung. Sie konn­te man kaum einen Mo­ther­fu­cker nen­nen. Nun merk­te er, daß das Spiel ge­gen ihn lief; ei­ni­ge der Haupt­be­lei­di­gun­gen paß­ten ein­fach nicht auf Kin­der oder Frau­en. Kar­rie stell­te ein ver­wir­rend klei­nes Ziel für ihn dar.

Aber er hat­te sich nun auf­ge­wärmt und gab sich noch nicht ge­schla­gen. „Mei­ne Ma ist in Afri­ka, und ih­re Fot­ze ist mir schnup­pe; Und dich geht das gar nichts an, du mie­se schwar­ze Pup­pe.“

Kein Kom­men­tar von der Ga­le­rie. Paul hat­te sich ge­schickt ver­tei­digt, sie aber nicht an­ge­grif­fen. Er hat­te die In­itia­ti­ve aus der Hand ge­ge­ben.

Kar­rie roch Sieg. Sie ging zum To­dess­toß über. „Ihr Arsch, der ist in Afri­ka, und dort sorgt sie da­für, daß Pa­pas Trip­per wie­der wird und er wie­der bum­sen kann.“

Was ihn zu ei­nem Kind von Ge­schlechts­kran­ken mach­te. Was hat­te er dar­auf zu ent­geg­nen?

Plötz­lich kam er dar­auf: ei­ne un­schlag­ba­re An­deu­tung, ab­so­lut ekel­haft: Ver­bin­dung mit Kot! „Als dein Pa dei­ne Ma ge­fickt, da fand er nicht den Schlitz; er pißt ihr in den Arsch hin­ein, und raus kamst du, kack­braun wie ein Kitz.“ Ein Vier­zei­ler!

Kar­rie starr­te ihn an, ge­schla­gen, nicht zu ei­ner Ant­wort fä­hig. Er hat­te sie be­siegt, hat­te sie zu ei­nem Pro­dukt aus Urin und Kot ge­macht. Aber es er­tön­te kein Ap­plaus. Al­le stan­den wie ver­stei­nert da.

Dann merk­te er: Er hat­te die Schimpf­ka­no­na­de ge­won­nen, aber sein Ziel ver­fehlt. Denn da­durch hat­te er al­le Braun­häu­te zu Schei­ße de­gra­diert, Gel­be zu Urin und da­mit sei­ne ei­ge­ne nicht­wei­ße Kom­po­nen­te be­lei­digt. In sei­nem Ei­fer zu ge­win­nen, hat­te er den Zweck die Mit­tel hei­li­gen las­sen und so sein Ziel ver­fehlt. Nur ei­ne wei­ße See­le konn­te sich ei­ne der­ar­ti­ge Be­lei­di­gung aus­den­ken und aus­spre­chen.

Wie­der ein­mal hat­te er nach der Ret­tung ge­grif­fen – und in einen Kot­hau­fen ge­grif­fen.

 

Es schi­en nur einen Au­gen­blick zu dau­ern, be­vor es ge­sch­ah. Er fand sich wie­der auf der Stra­ße und frag­te sich, wo­hin er ge­hen konn­te. Er wuß­te, daß Stun­den ver­gan­gen wa­ren, denn nun wa­ren die Schat­ten län­ger ge­wor­den, und er war hung­rig. Das Mnem ver­ließ sei­nen Kör­per, und er be­saß nichts, um es zu er­set­zen. Lang­sam ver­ließ ihn auch das Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen. Er muß­te ohn­mäch­tig ge­we­sen sein; so wirk­te die Dro­ge. Manch­mal schwand sein Ge­dächt­nis merk­bar da­hin, manch­mal schub­wei­se.

Er roch Schei­ße. Und er wuß­te es. Das war die Ani­ma­ti­on, die sei­nen in­ne­ren Wert ent­hül­len wür­de, die Quel­len sei­ner Schmut­zig­keit. Ama­ranth hat­te die Rol­le von Schwes­ter Beth ge­spielt – aber die­se Er­in­ne­rung war echt. Er hat­te das un­schul­di­ge Mäd­chen um­ge­bracht, vor zehn Jah­ren. Oder neun oder acht. Mnem hat­te sein Ge­dächt­nis ver­ne­belt, und nun brach­te die Ani­ma­ti­on sei­ne schmut­zigs­ten Ge­heim­nis­se zu­rück. Er war ab­so­lut wert­los.

In ei­nem Fens­ter leuch­te­te Licht auf. Er stand vor ei­nem Wohn­haus, und bei die­ser Öff­nung im Par­terre war kein Vor­hang vor­ge­zo­gen, an­dern­falls hät­te er nicht schnüf­felnd auf der Feu­er­trep­pe ge­stan­den. Das Fens­ter war schmut­zig, aber das war nicht wich­tig. Er späh­te hin­ein und sah The­ri­on nackt dort ste­hen, wäh­rend das Mäd­chen an­ge­klei­det in der Ecke hock­te. Nenn sie Ama­ranth, Licht, Schwes­ter Beth, die Kar­tell­se­kre­tä­rin oder ei­ne an­ony­me Ka­si­no­kell­ne­rin; sie war ein na­men­lo­ses Mäd­chen, das Ziel ei­nes je­den Man­nes’ Au­ge und Pe­nis. Dies war das Schloß der Ent­de­ckun­gen von mensch­li­chen Be­zie­hun­gen.

Ir­gend et­was be­un­ru­hig­te ihn an der Po­si­ti­on der bei­den in dem Zim­mer. Es war der glei­che Raum, den er mit ih­nen ge­teilt hat­te, und er be­griff, warum er selbst nicht an­we­send war, weil er nun hier drau­ßen stand und al­les aus an­de­rer Per­spek­ti­ve sah. Aber er hat­te in der Mit­te mit ihr ge­schla­fen, nicht in ei­ner Ecke.

Und sie war nackt ge­we­sen, nicht an­ge­klei­det. Hier stand The­ri­on in der Mit­te, war nackt.

Nun hör­te Paul The­ri­ons Stim­me: „Stich dein dä­mo­ni­sches Lä­cheln in mein Hirn, weich mich in Co­gnac, Mo­se und Ko­kain ein.“ Und der dick­lei­bi­ge Mann schob sein flab­b­ri­ges Hin­ter­teil nach vorn.

Der Ge­ruch nach Schei­ße wur­de über­wäl­ti­gend. Paul wur­de übel; er ver­such­te, den Drang zu un­ter­drücken, doch es ge­lang ihm nicht. Er wand­te sich ab von dem Fens­ter und er­brach sich in die dar­un­ter­lie­gen­de Stra­ße. Er­bro­che­nes ström­te ihm in meh­re­ren Schü­ben aus Na­se und Ra­chen, braun an­zu­se­hen in die­sem Licht, mit gel­ben Schleim­spu­ren, die sich kaum lö­sen lie­ßen. Doch im­mer noch roch er die Schei­ße.

Der Pfeil, im Dun­keln nur schlecht ge­zielt, traf sei­nen Gür­tel und prall­te ab. Die Na­del war durch blo­ßen Zu­fall und die Be­we­gung sei­nes wür­gen­den Kör­pers nicht in sein Fleisch ein­ge­drun­gen. Aber Paul schlug sich mit der Hand auf die Sei­te und schrie auf.

Aus dem Schat­ten tauch­te ein Mann auf. „Ist nicht per­sön­lich ge­meint“, sag­te er. „Wahr­schein­lich hast du ge­dacht, du könn­test ein­fach beim Kar­tell kün­di­gen und wür­dest dich in ein paar Ta­gen an nichts mehr er­in­nern.“

Paul merk­te, daß ihm ein wei­te­rer Teil sei­nes Ge­dächt­nis­ses ab­han­den ge­kom­men war. Es war jetzt Nacht, und die Kotz­fle­cken auf sei­nem Hemd wa­ren ge­trock­net. Nur noch schwach roch er den Kot. Was hat­te er in den letz­ten Stun­den ge­tan? Er hat­te kei­ne Ah­nung; Mnem hat­te es aus­ge­löscht, so säu­ber­lich, wie das Mes­ser dem Kna­ben die Vor­haut ab­schnitt. Der Pfeil hat­te ihn zu vol­lem Be­wußt­sein ge­bracht; er kann­te auch sei­ne Be­deu­tung. Der Über­le­bens­in­stinkt war tief­lie­gen­der als es die Rou­ti­ne­ereig­nis­se wa­ren. All sei­ne Fä­hig­kei­ten wur­den mo­bi­li­siert, um die­ser Be­dro­hung ent­ge­gen­zu­ste­hen. Der Pfeil war mit ei­nem Be­täu­bungs­mit­tel ver­se­hen, um sei­nen Kör­per trä­ge und un­ko­or­di­niert zu ma­chen, da­mit man sich sei­ner be­quem ent­le­di­gen konn­te. Auch an­de­ren war dies ge­sche­hen, das wuß­te er.

„Komm doch ein­fach mit“, sag­te der Mann, der nicht ge­merkt hat­te, daß sein Pfeil nicht ge­trof­fen hat­te und daß ihm ein wa­cher, ge­fähr­li­cher Mann ge­gen­über­stand. „Ei­ne net­te klei­ne Fahrt. Wenn du mit ei­nem Mnem-Ka­ter her­um­läufst, wür­de dich die Po­li­zei so­fort auf­spü­ren und er­wi­schen, und dann wüß­ten sie, daß du süch­tig bist. Und das wä­re für uns al­le schlimm. Wir kön­nen es uns ein­fach nicht leis­ten, daß sie dich fin­den. Nie­mals.“ Er griff nach Pauls Schul­ter.

Paul streck­te den rech­ten Arm aus, um ihn von sich fern­zu­hal­ten, Un­ter­arm ge­gen Un­ter­arm. Er wir­bel­te nach rechts, hielt den Mann auf Ab­stand, über­wand ihn und um­schloß mit der Rech­ten des­sen rech­te Hand. Die Fin­ger grif­fen nach der Mes­ser­klin­ge. Paul dreh­te sei­nen Arm ein­wärts, als tan­ze er ein Me­nuett. Als er die Dre­hung vollen­det hat­te, um­schloß er mit bei­den Hän­den den Arm des Man­nes und bog grau­sam hart des­sen Hand­ge­lenk ab. Er setz­te die He­bel­wir­kung an.

Mit ei­nem Auf­schrei, aus Über­ra­schung und Schmerz ge­mischt, fiel der Mann zu Bo­den. Das war auch gut so, denn wenn er stand­ge­hal­ten hät­te, wä­re das Hand­ge­lenk aus­ge­bo­gen wor­den. Mit die­sem Griff konn­te ein Kind einen hun­dert­acht­zig Ki­lo schwe­ren Su­mo­rin­ger aus dem Gleich­ge­wicht brin­gen.

Paul dreh­te den Arm des Man­nes her­um und zwang ihn, mit dem Ge­sicht nach un­ten auf dem Pflas­ter lie­gen­zu­blei­ben. Er nahm den her­ab­fal­len­den Pfeil auf und stieß ihn in den ent­blö­ßten Hals des Man­nes. Ein paar Se­kun­den lang muß­te er war­ten, bis der Kör­per schlaff wur­de. Dann ließ er ihn los und trat einen Schritt zu­rück. Der Mann stand nicht wie­der auf. „Nicht per­sön­lich ge­meint, mein Freund“, sag­te Paul und füg­te hin­zu: „Gott schüt­ze dich.“ Dann ging er fort.

Nun wuß­te er, was ab­zu­se­hen ge­we­sen war: Das Kar­tell ließ ihn nicht ein­fach so ge­hen. Sein Le­ben war in Ge­fahr, ganz gleich, was mit sei­nem Ge­dächt­nis pas­sier­te. Er muß­te sich ver­ste­cken, ehe die nächs­te Tot­schlä­ger­ban­de ihn fing. Oder die Bul­len.

 

Sie war Wahr­sa­ge­rin aus ei­ner ur­al­ten Schu­le: ei­ne Frau von un­be­stimm­tem Al­ter mit großen, dunklen Au­gen. Sie trug ein lan­ges Ge­wand, das mit rät­sel­haf­ten Sym­bo­len be­stickt war, und saß in ei­nem ver­han­ge­nen, düs­te­ren Raum an ei­nem Tisch mit ei­ner echt falschen Kris­tall­ku­gel. Die mo­der­ne Tech­no­lo­gie hat­te sich ein­ge­schli­chen. Das Kris­tall ent­hielt ein be­leuch­te­tes Ho­lo­gramm ei­ner Land­schaft im Däm­mer­licht, mit ei­nem Voll­mond über knor­ri­gen Ei­chen.

„Dei­ne Kar­te“, mur­mel­te sie.

„Nein … ich ha­be kei­ne Kar­te“, er­wi­der­te Paul. Er wuß­te, daß man ihm den Kre­dit ab­ge­schnit­ten hat­te, und selbst ein Ver­such, ihn wei­ter aus­zu­schöp­fen, wür­de ihm die Ver­fol­ger auf die Fer­sen het­zen. Es war die große Stun­de der Tech­no­kra­ten ge­we­sen, als man das Kre­dit­sys­tem uni­ver­sell ein­führ­te, denn je­der­mann muß­te ir­gend­wann et­was aus­ge­ben, um le­ben zu kön­nen, und wenn er et­was aus­gab, war er iden­ti­fi­ziert. Es war be­que­mer ge­wor­den, aber dies ge­sch­ah auf Kos­ten der Frei­heit. Die Furcht von Schwes­ter Beth, durch das Com­pu­ter­sys­tem ge­schnappt zu wer­den, wur­de nun zu sei­ner ei­ge­nen.

Schwes­ter wer? Ver­fol­ger? War er in Schwie­rig­kei­ten? Er konn­te sich nicht er­in­nern.

„Dann Geld bit­te“, sag­te sie re­si­gniert. Bar­geld war ein un­si­che­res Mit­tel; es war leicht zu fäl­schen und bot kei­nen Be­weis für Iden­ti­tät. Aber ei­ne Wahr­sa­ge­rin konn­te kaum wäh­le­risch sein.

Paul griff tief in die Ta­sche und fand ein biß­chen Klein­geld: zwei Fünf­zig­dol­lar­no­ten und ei­ne Fünf­und­zwan­zi­ger-No­te. Er leg­te sie auf den Tisch ne­ben die Kris­tall­ku­gel.

Sie seufz­te. Das war nicht ge­nug – aber auch hier war sie ge­zwun­gen an­zu­neh­men, was sie be­kom­men konn­te. Heu­te war of­fen­sicht­lich ein schlech­ter Tag. „Setz dich.“

Paul setz­te sich. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin“, sag­te er.

„Das wer­den wir her­aus­fin­den.“ Sie blick­te in die Kris­tall­ku­gel, und das Ho­lo­gramm ver­än­der­te sich, wur­de zu ei­nem bun­ten Far­ben­wir­bel. Das war das Tol­le bei viel­fa­cet­ti­gen Ho­lo­gram­men: Die kleins­te Be­we­gung der Ku­gel ver­än­der­te den Blick­win­kel und brach­te ein neu­es Bild her­vor. Aber das war auch ver­wir­rend, denn der drei­di­men­sio­na­le Ef­fekt litt, wenn die Be­we­gung auf der ver­ti­ka­len Ebe­ne zwi­schen den bei­den Au­gen ge­sch­ah, und brach­te ver­schie­de­ne Bil­der her­vor. Man muß­te die Ku­gel et­was kip­pen. All­ge­mein stan­den die Fa­cet­ten­li­ni­en ho­ri­zon­tal zu­ein­an­der, so daß bei­de Au­gen den glei­chen Blick­win­kel hat­ten, und der Ball wur­de auf ei­ner ho­ri­zon­ta­len Ach­se ge­dreht. Die Far­ben dreh­ten sich hyp­no­ti­sie­rend, und Paul wuß­te es, doch es war ihm gleich­gül­tig.

„Du bist ver­wirrt, hung­rig, mü­de und al­lein“, be­gann die Wahr­sa­ge­rin. „Du brauchst Hil­fe, aber du weißt nicht, wie und wo du sie su­chen sollst.“

Paul nick­te. „Pro­gram­mie­rung“, sag­te er bei ei­nem schwa­chen Auf­blit­zen sei­nes Ge­dächt­nis­ses. „De­pro­gram­mie­rung … muß flie­hen … Dro­gen …“

Leicht zog sie die Au­gen zu­sam­men. „Gib mir dei­ne Hand.“

Paul streck­te die Hand aus. Sie nahm die Hand­flä­che und stu­dier­te die Li­ni­en. „Ge­misch­ter Typ, un­klas­si­fi­zier­bar, aber mit An­zei­chen psy­chi­scher Ga­ben“, sag­te sie, als lä­se sie aus ei­nem Buch ab. „Lan­ge Le­bens­li­nie, aber un­ter­bro­chen …“ Sie hielt in­ne und blick­te ge­nau­er hin. „Aber da ist auch ei­ne schwa­che Mars­li­nie. Und ei­ne Ga­be­lung am un­te­ren En­de.“ Sie blick­te auf, und ih­re Au­gen tra­fen sich. „Du hast ein lan­ges Le­ben vor dir, aber bald … ge­ra­de jetzt … einen Un­fall oder ei­ne sehr schwe­re Krank­heit. Du wirst über­le­ben, aber in ver­än­der­ter Form. Dein Le­ben wird nie­mals wie­der das glei­che sein, und du wirst in ei­nem Land le­ben und ster­ben, das nicht das dei­ner Ge­burt ist.“

„Sehr wahr­schein­lich“, stimm­te Paul zu.

„Deut­li­che Ko­pf­li­nie, die aus dem Ju­pi­ter­hü­gel auf­steigt und zum Mond­hü­gel ab­zweigt. Du hast einen au­ßer­ge­wöhn­lich star­ken In­tel­lekt und Ehr­geiz und wirst durch Phan­ta­sie und psy­chi­sche Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit Er­folg ha­ben.“

„Im Mo­ment schei­ne ich nur zu ver­sa­gen“, mein­te Paul.

„Dei­ne Hän­de wis­sen es bes­ser als dein Kopf“, ver­si­cher­te sie ihm. „Im Au­gen­blick scheinst du im Fluß zu sein, aber du hast aus­ge­zeich­ne­te Kräf­te.“ Sie wand­te sich wie­der der Hand zu. „Die Herz­li­nie steigt zwi­schen Ju­pi­ter- und Sa­turn­hü­gel auf. Du hast so­wohl die Fä­hig­keit zu idea­lis­ti­scher als auch zu lei­den­schaft­li­cher Lie­be … und die­se Lie­be ist un­ge­wöhn­lich stark.“ Wie­der sah sie ihm in die Au­gen. „Üb­ri­gens bist du ein höchst an­zie­hen­der Mann. Ich könn­te dir ein An­ge­bot ma­chen …“ Sie zuck­te die Ach­seln und ließ den Schal her­ab­glei­ten, um den Bu­sen zu zei­gen. Ama­ranth in ei­ner neu­en Rol­le spiel­te wie­der mit ih­rem Sex-Ap­pe­al.

„Ich will ein­fach nur mei­ne Zu­kunft wis­sen“, sag­te er.

Sie seufz­te. „Schick­sals­li­nie … sehr kurz, steigt nicht an bis zur Mit­te der Hand­flä­che, ist dann gut sicht­bar und ge­ga­belt. Du hast ei­ne ex­trem schwie­ri­ge frü­he Le­ben­s­pha­se, wirst aber durch ei­ge­ne Mü­hen Er­folg ha­ben, be­son­ders durch dei­ne Phan­ta­sie. Die Glücks­li­nie … klar und deut­lich über dem Apol­lohü­gel. Du wirst Glück ha­ben und in den spä­te­ren Le­bens­jah­ren Zu­frie­den­heit.“

„Er­zählst du mir nur, was ich hö­ren will?“ frag­te Paul. „Ich will nicht hö­ren, was ich hö­ren möch­te! Ich mei­ne … was mei­ne ich denn ei­gent­lich?“

„Ich sa­ge dir, was mir dei­ne Hand ver­rät“, be­harr­te sie. „Willst du ei­ne an­de­re Me­tho­de? Das Ta­rot …?“

„Nein, nicht Ta­rot!“

„I Ging?“

Paul kann­te es nicht, und das in sei­nem Al­ter, da­her war er miß­trau­isch. „Nein.“

„Dann das Oui­ja?“

Auch da­mit ver­band Paul un­an­ge­neh­me As­so­zia­tio­nen; er be­trach­te­te es als Kin­der­spiel, das man nicht ernst neh­men konn­te. „Nein.“

„Dann al­so Astro­lo­gie.“

Ver­wirrt und ver­stört stand Paul auf. „Nein, ich will nicht mehr wis­sen! Ich will nur …“ Aber er konn­te nicht wei­ter­spre­chen, weil er nicht wuß­te, was er woll­te, au­ßer Be­frei­ung von … was denn? Ir­gend­ein schreck­li­ches Ge­fühl …

„Oder Weis­sa­gung durch Träu­me“, schlug sie vor. „Oder die Tee­blät­ter. Oder auf der Stirn … du hast ei­ne sehr aus­drucks­vol­le Stirn mit gu­ten Sa­turn- und Ju­pi­ter­li­ni­en.“

Aber Paul ging schon hin­aus, floh vor ihr. Er wuß­te, es gab Hun­der­te oder Tau­sen­de von Wahr­sa­ge­me­tho­den, und sie al­le moch­ten ih­re Gül­tig­keit ha­ben, aber jetzt hat­te er plötz­lich Angst vor der Zu­kunft und woll­te sie mei­den.

Däm­me­rung. Sei­ne Bei­ne wa­ren er­schöpft, ein Arm ver­letzt, und Staub und ge­trock­ne­te Kot­ze über­zo­gen sei­ne Klei­dung. Er war hung­rig und mü­de, aber er konn­te nicht ein­schla­fen. Er muß­te die gan­ze Nacht her­um­ge­lau­fen sein und sich ab­so­lut ver­aus­gabt ha­ben, und nun konn­te er sich nicht mehr dar­an er­in­nern und wuß­te auch nicht mehr, wo er war. Er hat­te wohl wie­der kämp­fen müs­sen und wuß­te, daß er im­mer noch nicht in Si­cher­heit war. Aber wo­hin konn­te er sich wen­den?

Wo­hin war er denn wäh­rend sei­ner Aus­fäl­le ge­gan­gen? Er muß­te bei Be­wußt­sein ge­we­sen sein und rich­tig ge­dacht ha­ben, und dumm war er auch nicht. Viel­leicht hat­te er sich ein gu­tes Ver­steck über­legt und war fast da … wenn er sich nur er­in­nern könn­te. Viel­leicht fiel es ihm wie­der ein. Viel­leicht hat­te er es sich be­reits ein hal­b­es Dut­zend Mal im Lau­fe der Nacht aus­ge­dacht und kam ihm je­des Mal nä­her, ehe er wie­der zu­sam­men­brach.

Pfff! Er stol­per­te wei­ter. Dann be­gann der lei­se Schmerz. Er sah den Stein über das Pflas­ter tan­zen. Er hat­te ihn am Hin­ter­kopf ge­trof­fen, ihn je­doch nicht um­ge­wor­fen. Er tau­mel­te wei­ter und spür­te, wie sein Be­wußt­sein schwand; der Mnem-Ent­zug mach­te es noch schwie­ri­ger und ließ sein Ge­hirn un­an­ge­mes­sen rea­gie­ren. Er streck­te ei­ne Hand aus, um sich ge­gen ei­ne Zie­gel­mau­er zu stüt­zen.

Aus Ni­schen tauch­ten Kin­der auf, die hand­ge­fer­tig­te Waf­fen tru­gen. Ei­ne Tee­na­ger-Gang auf der Su­che nach Aben­teu­ern, Geld und viel­leicht ei­ner fet­ten Pro­vi­si­on von ei­ner räu­be­ri­schen Or­gan­bank. Künst­li­ches Blut und Or­ga­ne lie­ßen die na­tür­li­chen über­flüs­sig wer­den, doch ei­ni­ge Pa­ti­en­ten be­stan­den auf ech­ter Wa­re. Lun­gen, Nie­ren und Le­ber brach­ten aus­ge­zeich­ne­te Prei­se, wenn sie frisch und ge­sund wa­ren, und sei­ne Or­ga­ne wa­ren das.

Paul ver­such­te sich, zur Flucht auf­zurap­peln, doch er hat­te Schwie­rig­kei­ten, sich zu er­in­nern, warum er flie­hen woll­te oder wie die un­mit­tel­ba­re Be­dro­hung aus­sah. De­pro­gram­mie­rung? Was war das? Nein, das war das Mäd­chen, Schwes­ter Was­wei­ßich, und die war tot, und er hat­te sie um­ge­bracht, und ein frem­der Mann hat­te sich über ih­rem Ge­sicht ent­leert, und was konn­te er tun, um sie zu­rück­zu­brin­gen? Er war schul­dig, ei­ne un­schul­di­ge Per­son ver­folgt zu ha­ben, und da­für muß­te er zah­len … die Stra­fe muß­te dem Ver­bre­chen an­ge­mes­sen sein. Chris­tus war gleich Schuld. Er muß­te den Tri­via­li­tä­ten der Ge­sell­schaft ge­op­fert wer­den – Zahn um Zahn, Le­ben um Le­ben, Schei­ße für Schei­ße – aber das war die To­dess­tra­fe, und sie woll­te das nicht …

„Aber das ist nicht nett!“ sag­te ei­ne sanf­te Stim­me.

Er­staunt ver­schwan­den die Kin­der in die Ni­schen, aus de­nen sie ge­kom­men wa­ren. Ein frem­der jun­ger Mann nahm Paul beim Arm und stütz­te ihn. „Kom­men sie, Sir, ich fürch­te, Sie sind ver­letzt. Wir kön­nen Ih­nen hel­fen.“

„Nein, nein“, pro­tes­tier­te Paul schwach. „Ich muß noch wo­hin.“

„Sie blu­ten am Kopf, sind tod­mü­de, schmutz­ver­krus­tet und …“ Der Mann hielt in­ne und sah ihn scharf an. „Sie se­hen aus wie ein Mnem-Süch­ti­ger in den Fän­gen ei­nes plötz­li­chen Ent­zu­ges. Sie ha­ben Schwie­rig­kei­ten, Sir.“

„Kann mich nicht er­in­nern“, sag­te Paul. „Wer …“

„Ich bin Bru­der John vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on“, sag­te der Mann. „Wir ver­ste­hen et­was von Mnem-Sucht. Wir kön­nen Ih­nen hel­fen. Ver­trau­en Sie uns.“

Der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on! Da hat­te er doch auch hin ge­wollt! Und er hat­te es fast ge­schafft, ehe er zu­sam­men­brach. Aber was wür­den sie tun, wenn sie von sei­ner Rol­le beim Tod von Schwes­ter Beth er­fuh­ren? Denn das wür­de er ih­nen er­zäh­len müs­sen. Ehe er sei­ne Schuld ver­gaß.

Schuld! Das war das Ding, das ihn ver­folg­te. Wie konn­te er dem je ent­kom­men?

„Du kannst mir nicht hel­fen“, sag­te er. „Mein Le­ben ist Schei­ße. Mein in­ners­tes Selbst … mei­ne See­le … ist ein damp­fen­der Kack­hau­fen. Wert­los. Be­schmut­ze nicht dei­ne Hän­de an mir.“

Bru­der John zuck­te we­der zu­sam­men, noch run­zel­te er die Stirn. „Fä­ka­li­en sind gut für den Kom­post­hau­fen“, sag­te er. „Ein le­bens­wich­ti­ger Zu­stand im Er­neue­rungs­zy­klus. Er­de, das Fun­da­ment – oh­ne das wür­de fast al­les Le­ben auf die­sem und an­de­ren Pla­ne­ten er­sti­cken und aus­ge­löscht wer­den. Es muß Tod und Wie­der­ge­burt ge­ben, und da­zwi­schen liegt die Er­de. Dei­ne See­le dient al­so ei­nem Zweck Got­tes, und da­für braucht man sich nicht zu schä­men.“

Nicht schä­men! Wenn er das nur glau­ben kön­ne! Aber die­se an­de­re Sa­che, der Tod von … „Ich kann nicht.“

Bru­der John hielt ihm ein Kar­ten­spiel ent­ge­gen. „Wür­de das Tarnt hel­fen?“

Nach­denk­lich nahm Paul ir­gend­ei­ne Kar­te her­aus. Er dreh­te sie um. Es war die Stab-Acht: Acht spros­sen­de Zwei­ge flo­gen durch die Luft und ka­men auf dem Bo­den zur Ru­he. Ih­re Kraft war ver­braucht. „Mei­ne Kraft ist ver­braucht“, sag­te Paul.

„Weil du dich dei­nem Ziel zu rasch nä­herst, dei­nem wah­ren Wunsch?“ frag­te Bru­der John.

Sein Ziel. Plötz­lich war es, als um­strah­le ihn ein großes Licht, das ihn blen­de­te. Paul wuß­te, was er zu tun hat­te.

„Star­ren Sie nicht in die Mor­gen­son­ne, Sir“, warn­te ihn Bru­der John. „Das ist für Ih­re Au­gen nicht gut.“

Aber das war egal. Was war schon die Seh­kraft, ver­gli­chen mit der phä­no­me­na­len Of­fen­ba­rung, die er ge­ra­de er­fuhr? Er hat­te das Le­ben ei­nes Mit­glie­des des Hei­li­gen Or­dens der Vi­si­on ver­folgt und ge­nom­men; er muß­te dem Or­den ein Le­ben zu­rück­ge­ben. Sein ei­ge­nes Le­ben. Es hat­te Tod ge­ge­ben, es wür­de ei­ne Er­neue­rung ge­ben. Da­zwi­schen lag Er­de. Sei­ne See­le.

Er hat­te … nach Hau­se ge­fun­den. „Gott seg­ne dich, Bru­der“, flüs­ter­te Paul.