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Emotion
Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden wider die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, auf daß, so er etliche des Weges fände, Männer und Weiber, er sie gebunden führe gen Jerusalem.
Und da er auf dem Wege war und nahe an Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel.
Und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich?
Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der Herr sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Es wird dir schwerfallen, wider den Stachel zu locken.
Und er sprach mit Zittern und Zagen: Herr, was willst du, das ich tun soll? Der Herr sprach zu ihm: Stehe auf und gehe in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst.
Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen und waren erstarrt, denn sie hörten die Stimme, aber sahen niemanden.
Saulus aber richtete sich auf von der Erde, und als er seine Augen auftat, sah er niemanden. Sie aber nahmen ihn bei der Hand und führten ihn gen Damaskus.
Und er war drei Tage nicht sehend und aß nicht und trank nicht.
Die Bibel, Apostelgeschichte, Kapitel 9, 1-9
Paul schneuzte sich und versuchte, den Geruch des Shit aus der Nase zu vertreiben. Er fuhr ein Auto, eine altmodische Verbrennungsmaschine, die reichlich Brennstoff verschwendete. Daher befand er sich auf der Erde in Prä-MÜ-Zeiten, und das war sonderbar, aber auch merkwürdig vertraut. Er wußte, daß es sich um eine weitere Animation handelte, die völlig anders war als die letzte, doch immerhin ein Konstrukt seiner Vorstellungskraft oder seiner Erinnerung. Eine weitere Richtung, die die Präzession vorschrieb, deren Gesetze er noch nicht soweit begriff, um sich bewußt ihrer bedienen zu können.
Er hatte irgendwie das Gefühl, er könne sich an diese Fahrt erinnern; vielleicht war es vor zehn Jahren gewesen, vielleicht aber auch vor neun, aber woher war er damals gekommen und wohin gefahren? Es wurde ihm nicht klar.
Auf der Autobahn gab es eine Menge anderer Wagen, die mit der von den Behörden festgesetzten Höchstgeschwindigkeit dahinfuhren: 100 Km/h, sanft und gleichmäßig. Alle guten Dinge wurden durch die Hundert bestimmt; es war das dezimale, metrische Prozentsystem. Leicht zu rechnen, leicht zu bestimmen, durch viele Zahlen teilbar.
Die Autos waren wie seines, kleine, stromlinienförmige, bequeme Wasserstoffverbrenner. Der Wasserstoff wurde in verschiedenen Kraftwerken aus Wasser gewonnen; einige der Kraftwerke wurden auch dazu eingesetzt, um es für stärkere Energie mit Helium zu verschmelzen, und einige zur Erzeugung von Sauerstoffverbindungen, um wiederum Wasser zu gewinnen (sauberes Wasser war selten). Zum Teil wurde es nicht brennbar gemacht und in dichte Transportbehälter gefüllt, in anderen Fällen wiederum in Motoren explosionsartig verbrannt. Wasserstoff: das vielseitigste Element. Paul war sich über die ursprüngliche Energiequelle im unklaren, die man einsetzte, das Gas abzuscheiden, aber offensichtlich reichte es aus, um das System auf dem laufenden zu halten.
In nur wenigen Jahren würde sich das alles ändern, wenn sie das MÜ-Programm überkommen und alle Hauptenergiequellen für sich in Anspruch nehmen würde. Das Wesen aus der Antares-Sphäre, dessen bloße Anwesenheit man vor den Menschen geheimhielt, für die es eine solche Änderung bedeuten würde – welches Unheil würde es der solarischen Sphäre bringen? Aber im Moment gaben sich die Menschen noch ihrem letzten Aufschwung hin: Privater Transport war dem durchschnittlichen Bürger noch erlaubt. Aber es ging gerade eben noch.
Paul selber konnte sich dieses Auto eigentlich nicht leisten. Er benützte es für einen ungesetzlichen Zweck: Er transportierte Drogen. So gut verborgen, daß er selber keine Ahnung davon hatte, gab es ein Versteck mit Mnem, ausgesprochen NEEM: die Erinnerungsdroge. Studenten benutzten sie für ihre Examen; wenn sie von Mnem high waren, wurde ihr Gedächtnis fast absolut und ermöglichte es ihnen, ohne wirklich zu täuschen, hervorragend abzuschneiden. Es vergrößerte nicht die Intelligenz und vermittelte auch keine dauerhaften Fähigkeiten, doch das zeitweise Wissen war so wichtig, wenn man computergesteuerte Prüfungen absolvierte, daß dies oftmals den entscheidenden Unterschied auf den Bewerbungslisten ausmachte, die die Auswahl für eine Arbeitsstelle oder die Promotion bestimmten. Paul selber hatte Mnem während seiner Universitätszeit niemals benutzt, nicht weil er es nicht bekommen konnte oder aus Geldmangel oder moralischen Gründen, sondern weil er es nicht gebraucht hatte. In seiner Fakultät gab es keine Prüfungen oder Graduierungen. Die Droge hatte nur geringe Nebeneffekte und konnte im menschlichen Organismus nur durch komplizierte medizinische Untersuchungen nachgewiesen werden, die mehr kosteten, als sich die Gesundheitsämter leisten konnten. Daher war der Gebrauch recht sicher, und es wurde viel danach verlangt.
Es gab eigentlich nur drei Nachteile von Mnem: Zunächst einmal war es illegal. Das machte aber nur wenigen etwas aus; wann immer die Moral in Konflikt mit der Bequemlichkeit geriet, unterlag die Moral. Zweitens war es wie alle abhängig machenden, illegalen Drogen teuer; die Kosten entstanden nicht bei der Produktion, sondern bei dem illegalen Verteilungssystem. Das machte schon mehr Leuten etwas aus, aber nicht so vielen, um den Gebrauch ernsthaft zu unterbinden. Das kriminelle Element, wie auch das Busineß-Element, hatten ein scharfes Auge dafür, was der Markt hergab. Eigentlich waren sich die Fähigkeiten und Skrupel beider Elemente ähnlich und überlappten sich beträchtlich. Das Mnem-Kartell bot jenen mit einem kritischen Bedürfnis danach anregende Möglichkeiten an, wie auch Paul selber. Denn er hatte nach der Universitätszeit einen Nutzen für Mnem gefunden. Drittens: Mnem-Entzug verursachte nicht allein den Verlust der durch Drogen intensivierten Gedächtnisleistung, sondern einen allgemeineren mnemonischen Verfall, der zu Desorientierung und unregelmäßigen Krankheitsbildern führte. So war die Sucht also weder psychisch noch physiologisch, sondern praktisch: Einmal süchtig geworden, konnte ein Benutzer ohne Mnem nicht mehr richtig funktionieren. Das machte den meisten Leuten etwas aus, aber sie neigten dazu, nicht darüber nachzudenken. Es war das Paradoxon von Mnem, Thema vieler Späße, daß es die Leute dazu brachte, den Hauptnachteil zu vergessen, während es ihr Gedächtnis ungeheuer schärfte.
Daher riskierte Paul seine Freiheit, indem er diese Ladung über die Staatsgrenzen fuhr. Er hatte die Droge benutzt, um auf diesem Gebiet Experte zu werden; nun konnte er diese Gewohnheit nur aufrechterhalten, indem er mit den Lieferanten kooperierte. Glücklicherweise war es nicht nötig, daß eine bestimmte Person dies oftmals unternahm; der Grund war allerdings nicht die Sorge um das Wohlergehen dieser Person, sondern eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber den Behörden. Es würde bis zu einem Jahr dauern, bis Paul wieder fahren mußte, und in der Zwischenzeit wurde er kostenlos mit Mnem versorgt. Das war wirklich ein gutes Geschäft.
Am Rand der Autobahn stand jemand; es schien eine weibliche Gestalt zu sein. Die anderen Autos fuhren vorbei, natürlich, denn es war gefährlich, einen Tramper mitzunehmen, ob nun Frau oder Mann. Paul allerdings wurde manchmal unruhig, wenn er auch nicht oft fuhr, denn diese lange Fahrt langweilte ihn. Mit ein wenig Gesellschaft wäre es anders, besonders mit weiblicher Gesellschaft.
Er hielt an. Das Mädchen sah ihn und rannte herbei. Sie war jung, wahrscheinlich noch unter zwanzig, aber überraschend gut entwickelt. Ihre Kleider waren unordentlich und komisch; eigentlich trug sie nur eine Art dünnes Nachthemd, das ihre wogende Brust erotischer umhüllte, als habe sie sich bewußt entkleidet. Ein natürliches Mädchen in unnatürlicher Umgebung.
„Oh, danke!“ keuchte sie, als sie auf den Beifahrersitz stieg. „Ich hatte schon Angst, niemand würde anhalten, ehe die Polizei kommt.“
„Die Polizei?“ fragte er, plötzlich nervös. Wenn sie eine Kriminelle war …
„Oh, bitte, Sir … fahren Sie los!“ rief sie. „Ich werde alles erklären. Es ist alles in Ordnung. Es wird keinen Ärger für Sie geben – aber fahren Sie bitte weiter. Bitte!“
Aber er zögerte und blieb weiter stehen. „Ich habe nicht genug Geld bei mir, daß es sich lohnen würde, nur eine verschlüsselte Kreditkarte, die Ihnen nichts nützt. Alle halbe Stunde braucht dieses Auto meinen Daumenabdruck, sonst blockiert der Motor, und die Automatik setzt ein, daher können Sie …“
Sie sah ihn an, und er war überrascht, als er Tränen auf ihren Wangen sah. Das helle Haar war zerzaust, doch auf diese wilde Art war sie auch wunderhübsch. „Sie haben von mir nichts zu befürchten, Sir! Ich habe keine Waffe. Ich habe gar nichts. Kein Essen. Keinen Ausweis. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen wiedergutmachen kann, aber bitte, bitte fahren Sie los, sonst ist alles verloren. Ich würde lieber sterben als dorthin zurückgehen!“
Ihm war immer noch unbehaglich, doch er fuhr weiter und beschleunigte so stark, daß er sich in den laufenden Verkehr wieder einfädeln konnte. „Wohin wollen Sie?“ fragte er.
„Zur Barlowville-Station“, antwortete sie.
Er begann, den Code in das Computerterminal einzuspeisen, um den Zielort genauer zu bestimmen. „Oh, nein!“ protestierte sie. „Bitte, Sir, fragen Sie nicht die Maschine! Sie werden sie auf mich einstimmen, und in wenigen Minuten wird die Polizei …“
Der Dämon in der Maschine. Pauls Finger erstarrten. „Sie stehen auf der Fahndungsliste?“ fragte er beunruhigt. Er hatte gerade geurteilt, sie sei harmlos, aber das gefiel ihm nicht. Das war das letzte, was er gebrauchen konnte, eine polizeiliche Untersuchung des Wagens!
„Ich werde deprogrammiert!“ erklärte sie hastig. „Ich gehöre zum Heiligen Orden der Vision, und meine Leute versuchen …“
„Deprogrammieren sie religiöse Verrückte immer noch?“ fragte er gedankenlos. „Ich dachte, das sei schon seit zehn Jahren zusammen mit anderen Formen des Exorzismus abgeschafft worden.“
„Es kommt immer noch vor“, entgegnete sie. „Mit den etablierten Sekten ist es in Ordnung – sie haben vor vielen Jahren mit ihren Initiationen aufgehört –, aber die neuen werden immer noch verfolgt.“
Der Ritus des Durchbruchs, dachte Bruder Paul. Jede neue Religion mußte einige Verfolgung durchstehen, um ihre Existenz zu rechtfertigen, und wenn sie stark genug wurde, um zurückzuschlagen wie das frühe Christentum, wurde sie legitim und begann, die nachfolgenden Religionen zu verfolgen.
Er zuckte die Achseln. „Ich weiß darüber nicht viel.“ Nicht in seinem Geschäft – und es war ihm auch egal. Religion war für ihn von nur geringem Interesse, abgesehen von einer morbiden Neugier auf die Leichtgläubigkeit der Menschen. Aber das hier war ein hübsches Mädchen, das ihm auch irgendwie vertraut zu sein schien. Das weich fallende Haar, diese vollen Brüste, die Art, wie sie redete – er wurde interessierter. „Aber wenn Sie wirklich zu diesem Kult zurückgehen wollen …“
„Oh, natürlich!“ rief sie. „Eines Tages werde ich zurückgehen.“
Paul traf eine Entscheidung. „Ich bringe Sie hin, wenn es nicht zu weit von meinem Weg liegt. Aber wenn ich nicht die Autobahnabfahrt aus dem Computer abfragen darf …“
„Ich kann Ihnen den Weg sagen“, sagte sie eifrig. Dann blickte sie ihn an und lächelte, und dieser Gesichtsausdruck ließ sie aufstrahlen. „Ich heiße Schwester Beth.“
„Mein Name ist Paul Cenji.“ Was zum Teufel hatte er für einen Namen erwartet? Dies schien eine Erinnerung zu sein, aber sie entfaltete sich in einer ihr eigenen Geschwindigkeit; er konnte sich nicht erinnern, was an diesem Tag in seiner Vergangenheit weiter geschehen war, daher mußte er es noch einmal durchleben.
Er fuhr ein Weilchen weiter und fragte dann: „Wie konnte man Sie denn von der Kirche wegschnappen?“
„Meiner Station. Wir haben keine richtigen Kirchen, nur Operationszentren. Meine Mutter hat mich angerufen und gesagt, meine Großmutter liege im Sterben, daher bin ich sofort gefahren. Ich habe meiner Familie niemals abgeschworen; so ist der Heilige Orden der Vision nicht. Ich wünschte, meine Familie würde auch dazu gehören. Aber als ich dorthin kam …“
„Haben sie Sie geschnappt und in die Deprogrammierungsklinik geschleppt“, beendete Paul für sie den Satz.
„Ja, ich hätte es mir denken können, aber ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß meine eigene Mutter …“ Traurig zuckte sie die Achseln. „Aber ich bin sicher, sie hat es für das richtige gehalten. Ich verzeihe ihr. Sie haben versucht, mir die Rückkehr auszureden, und als das nichts nützte, sagten sie, sie würden Mnem anwenden …“
„Mnem!“ rief er.
„Das ist eine Droge“, sagte sie, erkannte aber nicht den Charakter seines Ausrufes. „Sie setzen sie bei der Rehabilitation von unbelehrbaren Kriminellen ein. Man sollte es eigentlich bei …“ Sie brach ab.
Wieder erwachte Pauls Mißtrauen. Konnte das ein Zufall sein? Dieser Hinweis auf die Droge, die er schmuggelte? Oder war dies eine Polizeifalle? „Ich dachte, das sei illegal“, meinte er.
„Ja, generell schon, außer für die Rehabilitation von Kriminellen und einigen Geisteskrankheiten. Aber bei Mnem gibt es einen schwarzen Markt. So kostet es eine Menge, aber meine Leute haben das Geld aufgebracht.“
Das gefiel Paul alles ganz und gar nicht. Ein verführerisches, unschuldiges Mädchen in abgerissener Kleidung auf der Autobahn, um wurzellose Abenteurer wie ihn anzuziehen, die sich vielleicht den Lebensunterhalt durch Schmuggelei verdienten. So fing man eine Menge von Dummköpfen, dessen war er sicher. Und jetzt nannte sie das Kind sogar beim Namen, um vielleicht seine Reaktion zu testen. Es war nur allzu leicht, Geheimnisse zu verraten, wenn man von einem solchen Kaliber verwirrt wurde. Ihm schien es bereits, als kenne er sie länger, von anderen Orten her, mit einem anderen Namen – das ewige Geheimnis des Weiblichen. Vielleicht wollte er sie nur gekannt haben. Ihr Charme korrumpierte ihn bereits; diesen Mitfahrer mußte er so rasch wie möglich loswerden, ohne Mißtrauen zu erregen. Wenn es nur noch nicht zu spät war. „Welchen Weg geht es zu Ihrer … Station?“
„Im nächsten Staat. Noch etwa hundert Kilometer auf dieser Autobahn, ehe man abbiegt.“ Richtig. Sie mußte in der Lage sein zu bezeugen, daß er bereits eine Staatengrenze überquert hatte. Eine der Nettigkeiten der Gesetze. Die Polizei würde alle Leute auf Verdacht einfach exekutieren, wenn das Gesetz von ihr gemacht würde. Aber Amerika war noch kein totaler Polizeistaat.
Also mußte er handeln, ehe sie die Staatsgrenze erreichten. Er mußte aushalten, bis er wußte, was zu tun war. „Schön, für die hundert Kilometer Gesellschaft zu haben“, sagte er. Die Ironie war, daß es sogar gestimmt hätte, wenn sie nicht das Mnem erwähnt hätte. Was für ein Gesicht, was für ein Körper, was für eine einnehmende Schlichtheit sie an den Tag legte. Er war an andere Frauen gewöhnt und entdeckte nun, daß er sich in seinem Geschmack getäuscht hatte.
„Ich bin wirklich froh, Mr. Cenji. Als ich das mit dem Mnem erfuhr, habe ich bis zur Nacht gewartet und bin dann in meinem Nachthemd aus dem Fenster gestiegen, und hier bin ich nun. Das haben sie mir niemals zugetraut. Wenn Sie nicht angehalten hätten – wahrscheinlich geht schon die Fahndung nach mir los.“
Paul stellte den Audiotaster der Autobahn an. Wenn es eine Durchsage gab … aber das war vielleicht Teil des Polizeiplans und würde nichts bedeuten. Das beste wäre wohl, wenn er sie am Reden hielt, während er sich überlegte, was er mit ihr anstellen würde. „Ich dachte, die Deprogrammierung selber sei heutzutage illegal.“
„Ist sie auch, aber man nennt es nicht mehr so. Auch auf diesem Gebiet gibt es Schwarzmarktspezialisten. Man hat mich angeklagt, wertvolle Juwelen geraubt zu haben. Ich würde niemals etwas stehen! Zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Anklage als nichtig herausstellt, haben sie mich schon durch die Droge ausgelöscht, und ich würde mich nicht einmal mehr daran erinnern, eine Ordensschwester gewesen zu sein – oh, lieber würde ich sterben!“ Sie barg das Gesicht in den Händen.
Was für eine rührende Vorstellung! Sie war schon gut in ihrer Rolle! Unangenehm gut: Er war versucht, das Auto auf Automatik zu stellen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Gefahr! Sie plante sicher seinen Verrat, um unter Polizeigewahrsam seinen Skalp ihrer Sammlung beizufügen.
Aber wie konnte sie das tun, wenn er selber keine Ahnung hatte, wo in dem Wagen die Mnem-Ladung versteckt war? Er war nicht einmal sicher, ob es dieses Mal überhaupt dabei war; ab und zu schickte das Kartell einen auch mal leer auf die Strecke, um den Feind weiter zu verwirren. Wenn das dieses Mal der Fall sein sollte, brauchte er nur die Nerven behalten, und er würde gewinnen. Er hatte nicht vor, ihr über seine Fracht zu erzählen, und wenn die Polizei es sicher wußte, würden sie ihn einfach sofort verhaften. Dieser ausgefeilte Plan ergab also überhaupt keinen Sinn. Es sei denn, sie war eine ausgebildete Spionin, die genau auf Zeichen von Mnem-Sucht achtete. Solche Anzeichen waren gering, aber es gab sie, und er war süchtig. Wenn er heute abend nicht seinen Schuß bekam, würde er bis morgen den Heimweg vergessen. Daher mußte er sie vorher loswerden und sie hinausbluffen. Auch wenn er vor der Staatsgrenze anhielt, käme er von der Angel nicht wieder los.
„Ich habe gehört, diese Droge sei nicht so schlecht – für Kriminelle“, sagte er. „Es tut nicht weh. Zumindest habe ich das gehört.“
„Oh, für Kriminelle ist es auch gut“, meinte sie. „Wir vom Heiligen Orden der Vision sind in Sorge um das Kriminalitätsproblem. Wir halten nichts davon, Leben zu nehmen; es ist für den Staat ebenso schlimm zu töten wie für das Individuum. Und wir wissen auch, daß es sich unsere Gesellschaft nicht leisten kann, Leute in Gefängnissen zu halten, doch einige sind unbelehrbar. Da lautet die Antwort Mnem. Es löst den Konflikt zwischen den Alternativen, entweder den Gefangenen zu töten oder ihn unbestraft freizulassen. Wir glauben an die Vergebung, aber in bestimmten Fällen ist eine Besserung vorzuziehen. Es macht den Kriminellen wieder zum Bürger. Einige Mitglieder unseres Ordens sind durch Mnem ausgelöschte Rehabilitanden …“
„Es löscht die Persönlichkeit aus? Ich dachte, es verbessert das Gedächtnis!“ Wieviel wußte sie?
„In Überdosis wirkt es so. In winzigen Dosierungen verstärkt es in der Tat das Gedächtnis in außerordentlichem Maße, aber dann muß man es weiter nehmen, niemals zuviel auf einmal. Ich könnte es niemals aushalten, daß mir meine Erinnerung fortgenommen würde und ich lebenslang an eine solche Droge gebunden wäre. Der Orden könnte mir helfen, wenn ich süchtig wäre, aber eine einzige Überdosis würde mich dem Orden entreißen, weil ich ihn nicht mehr kennen würde. Das hielte ich nicht aus, daher bin ich auch geflohen.“
„Ja, das ist verständlich.“ Sie wußte in der Tat zuviel für eine normale junge Bürgerin. Sie mußte eine Polizeiagentin mit fast perfekter Tarnung sein. Bald hätte sie ihn wohl entdeckt.
Aber ein Teil dessen, was sie sagte, bezog sich ganz speziell auf ihn. Er hatte niemals ernsthaft über seine Zukunft nachgedacht. Sein Leben lang würde er an die Droge, wie auch an das kriminelle Verteilungssystem, gebunden sein und diesem Gefängnis konnte er nur mit Verlust seines Gedächtnisses entgehen. War es wirklich das, was er vom Leben gewollt hatte? Es spielte keine Rolle; so war es nun einmal. Sie war, wenn die Geschichte stimmte, rechtzeitig geflohen; für ihn war es zu spät. Alles, was er tun konnte, war nun zu schützen, was er besaß – vor ihr.
Doch er zögerte, etwas zu tun, angenagt von Zweifeln. Sie war ein so verdammt attraktives Mädchen, schien so nett zu sein und stellte genau das Leben dar, das er gewählt hätte, wenn er früher klug geworden wäre. Wie eine feine Rennmaschine mit richtigem Design, einem passenden Motor, der Leistungen bis zu Mach 1 erbringen konnte, wenn er aufgeheizt war, aber normalerweise bequem und zahm. Wie konnte er sie rauswerfen, wenn er sich nicht sicher war? (Und sie dachte vielleicht: Wie kann ich ihn als Mnem-Süchtigen festnehmen, wenn ich nicht sicher bin?)
„Dein Kult … ich meine, dein religiöser Orden … was tun sie? Ist das wie eine Kommune oder so?“ (Wurden die Frauen unter den Männern aufgeteilt, und niemand verweigerte sich dem anderen? Aber gewiß träumte er.)
„Der Heilige Orden der Vision ist eigentlich keine Religion“, antwortete sie, und nun befand sie sich offensichtlich bei einem vertrauten Thema. Aber natürlich würde ihre Geschichte auch stimmen. „Jeder kann beitreten, von jeder Religion, und der Orden hat nichts dagegen. Wir versuchen, das Wohlergehen von Mensch und Natur zu fördern, wo immer wir nur können. Viele kommen mit verwirrtem Geist zu uns, und bei einigen hilft auch das Tarot.“
„Tarot?“ fragte er. „Die Karten kenne ich.“
„Oh?“ Ihr Interesse schien echt. „Zu welchem Zweck?“
„Geschäfte natürlich. Ich spiele Karten für eine lizensierte Spielhallenkette. Diese zweiundzwanzig Trümpfe verleihen dem Spiel viel Glanz, Menschen wie Bilder, und natürlich gibt es Sonderpreise.“
„Glücksspiel“, murmelte sie traurig. „Das ist alles, was Tarot für Sie bedeutet?“
„Oh nein. Nachdem ich ein Weilchen mit den Karten gearbeitet hatte, fand ich, daß sie auch zum allgemeinen Vergnügen taugen. Es gibt viele Spiele. Manchmal, wenn ich wie jetzt von einem Standort zum anderen reise, stelle ich den Wagen auf Automatik und spiele mit mir allein.“ Das war wichtig für seine Tarnung, galt aber nicht viel, wenn sie seine Arbeitsstellen überprüften.
„Wir benutzen sie zur Meditation“, sagte sie. „Die Kontemplation einer einzigen Arkane oder einer Gruppe von Arkanen kann besondere Erkenntnis bringen, die der Mühe wert ist. Ich habe meinen Lebenssinn niemals richtig begriffen, bis ich unter Anleitung des Tarots meditiert habe. Wir studieren auch das Spiel als Ganzes und analysieren die Unterschiede zwischen den einzelnen Karten und den Konzepten der verschiedenen Experten. Es werden ganze, in sich geschlossene philosophische Systeme erkennbar, die zur Erkenntnis der Natur des menschlichen Denkens führen.“
Paul lächelte. „Interessant, wie man mit einem einzigen Kartenspiel vier verschiedene Dinge anstellen kann“, meinte er. „Meditation und Studium für Sie, Geschäft und Unterhaltung für mich. Für jede Person das richtige.“
„Stimmt“, meinte sie mit einem kleinen, anziehenden Lächeln der Resignation. „Ich wünschte, ich hätte mein Tarot dabei. Aber die Deprogrammierer haben es mir fortgenommen und es als ein Hilfsmittel bezeichnet.“
Paul hatte seine Karten dabei, entschied sich aber, das nicht zu erwähnen. Ihm fiel noch eine Nutzung des Tarot ein: Charakterlesung oder Wahrsagerei, und das konnte entnervend genau sein. Er glaubte nicht an das Übernatürliche (außer es bezog sich auf den beschränkten Bereich von unerklärlichen Glücks- oder Pechsträhnen), aber er wollte keine Charakteranalyse durch das Tarot riskieren. Außerdem waren diese Karten voll von seinen Daumen- und Schweißabdrücken; eine Polizeibeamtin konnte von einer einen Abstrich nehmen und ihn in einem Labor auf seine Identifizierung hin untersuchen lassen. Es war ein Fehler gewesen, den Namen zu nennen, aber das konnte er noch ändern. Es war auch ein Fehler, weiter mit ihr zu reden; vielleicht zeichnete sie seine Stimme mit irgendeinem verborgenem Gerät auf. (Ein Armband? Nein, sie trug keinen Schmuck. Aber Frauen hatten so viele verborgene Stellen …) Doch trotz allem begann er, sie zu nett zu finden. Sie war vielleicht eine religiöse Verrückte, aber an ihrer Philosophie war etwas sonderbar Einnehmendes. Das konnte entweder bedeuten, daß dieser Orden der Vision wirklich eine vernünftige Gemeinschaft war oder daß die Polizeifrau ihre Hausaufgaben außerordentlich gut erledigt hatte.
Genug – jetzt mußte er handeln.
Paul stellte den Wagen auf Automatik und nahm die Hände vom Steuer. Er wandte sich mit einem etwas schiefen Lächeln ihr zu. „Ich denke, du weißt schon, warum ich dich mitgenommen habe“, sagte er und zwang sich zu einem spöttischen Tonfall. Eine Frau mit einem solchen Körper mußte das schon viele Male erlebt haben und diese Miene sogleich erkennen.
Schwester Beth riß die Augen auf. Sie tat nicht, als würde sie ihn nicht verstehen. „Oh, Mr. Cenji, ich hatte gehofft … Sie wären nicht so. Sie schienen so nett zu sein.“
Paul fühlte sich wie ein absoluter Schurke. Aber er mußte es tun, sonst würde sie ihn erledigen. Er mußte die Rolle des tumben Mannes spielen, der nichts anderes im Kopf hat als Sex. Das war nicht einmal weit hergeholt; jeder Mann neben diesem Mädchen würde ähnlich reagieren und sich nur in der Art und Weise unterscheiden, in der er sich ausdrückte. Er war bewußt grob und haßte sich dafür, denn wenn sie aus irgendeinem Grund genau das war, was sie vorgab zu sein, dann könnte man mit einer sanften, umschweifigen Annäherung ebensogut bei ihr landen. „Ich bin auch nett. Laß es mich nur versuchen.“
Sie wich so weit zurück, wie es der aufprallsichere Sitz erlaubte. Ihr Busen wogte. „Ich habe nicht die Kraft, mich gegen Sie zu wehren, aber im Orden ziehen wir es vor, vor der Ehe keusch zu leben.“
„Ehe? Hölle.“ Er ergriff ihren Arm und zog sie zu einem Kuß an sich, während sich die Sitze auf seinen Druck hin ausklappten und ein Bett bildeten. Ihre Lippen zitterten, als die seinen sie berührten. „Bitte“, flüsterte sie. „Lassen Sie mich doch gehen. Nichts können Sie gewinnen, was meinem Verlust gleichkäme. Lassen Sie mich hinaus auf die Straße; vielleicht nimmt mich jemand anders mit, ehe die Polizei mir auf die Spur kommt.“
Das war genau, was er gewollt hatte: ihren freiwilligen Abgang. Es würde bedeuten, daß er sie zum Narren gehalten hatte und sie überzeugt davon sein würde, er habe nichts Ernsthaftes auf dem Kerbholz – nichts mit Mnem. So wäre ihre Zeit sinnvoller angewendet, wenn sie einen anderen Süchtigen aufgabelte, während das Netz der Polizei nur auf Ihr Zeichen wartete, um herabgelassen zu werden.
Aber nun erregte ihn die Berührung. So zerzaust und ängstlich sie auch schien, blieb sie doch eine verführerische junge Frau. Er konnte sie zwingen, dessen war er sicher. Sie war vielleicht eine Polizistin, aber auch er war im Nahkampf ausgebildet. Ein Händegriff würde sie von der Waffe fernhalten, wo immer sie auch steckte, und sie zum Nachgeben ohne Gegenwehr zwingen. Ja, das konnte er tun …
Und sie würde ihn als Mnem-Süchtigen erkennen. Man merkte es immer irgendwie an der Leidenschaft für das Bumsen. Alle Süchtigen und Dealer waren sich darin einig, und man hatte ihn schon einmal auf diese Weise erkannt. In jenem Fall hatte die Frau nicht die Absicht gehabt, ihn anzuzeigen, aber sie hatte sich hartnäckig geweigert, ihm mitzuteilen, was ihn verraten hatte. „Frauen haben ihre Geheimnisse“, hatte sie nur geflüstert ‚Männer hatten auch welche, aber ihm war es nie gelungen, einen anderen Mnem-Süchtigen ausfindig zu machen. Wahrscheinlich ging es mit mehr Erfahrung – aber er kam vom Thema ab, wie es bei ihm immer geschah. Wenn ‚Schwester Beth’ ein Polizeiköder war, würde Sex für sie nichts bedeuten; sie würde gleich darauf zu ihren Anti-Schwangerschafts-, Anti-Geschlechtskrankheit- und Anti-Allergiespritzen wandern. Wahrscheinlich hatte sie vor, ihn durch ihre künstlichen Proteste zu verführen, um dann die verräterischen Spuren zu entdecken.
„Ich kann dich gleich hier rauswerfen“, sagte er. Er legte die rechte Hand auf ihren glatten Schenkel, wo das Nachthemd hochgerutscht war. Das war genau das gleiche Bein, das er … wo gesehen hatte? Und der durchsichtige Stoff ließ es aufregender erscheinen, als wenn es nackt gewesen wäre. Das Bein war von klassischer Form wie der Rest von ihr auch. Plötzlich wurde der Sexualtrieb fast überwältigend. Vielleicht war es wirklich den Verrat wert …
„Bitte“, flüsterte sie. Er sah den Stoff über ihrem Busen unter ihrem Herzschlag auf und ab tanzen. Natürlich protestierte sie; das war Teil ihrer Rolle. Die Aufregung konnte sogar echt sein, weil sie kurz davorstand, ihn festzunageln. Welcher normale Mann konnte einem solchen Leckerbissen wohl widerstehen, der so provokativ verpackt war und eine so unglaubwürdige Geschichte erzählte? Ein Mädchen, das vor der Deprogrammierung floh, bereit, alles zu tun, um mitfahren zu dürfen, unfähig, sich sogar gegen eine Vergewaltigung zu wehren – sollte sie doch durch die Droge ausgelöscht werden. Ein anständiger, rechtschaffener Bürger würde sie anzeigen, ein weichherziger sie bis zur Station mitnehmen. Ein harter und krimineller würde seinen Vorteil nutzen.
Paul gehörte zu keiner dieser drei Sorten. Nicht genau jedenfalls. Er war dabei, sich zu beweisen. Er drehte sich herum, um auf die STOP-Taste zu drücken, und der Wagen wurde langsamer, suchte sich den Weg aus dem Verkehrsstrom und blieb am Straßenrand stehen. Die Sitze richteten sich zur normalen Position auf, und die Gurte lösten sich. „Wiedersehen“, sagte Paul.
Schwester Beth blickte in überrascht an. In dem Blick lag noch etwas anderes. „Tut mir leid, wenn ich Ihre Erwartungen enttäuscht habe“, sagte sie rasch, und dann stieg sie schnell aus. „Gott segne Sie, Mr. Cenji.“
Gott segne Siel Diese unvertrauten Worte berührten ihn recht sonderbar. Selbst ihm, dem Brutalo, schenkte sie diesen Segen. War sie vielleicht doch echt?
Die Tür schloß sich. Automatisch drückte er auf FAHRT, und der Wagen glitt weiter, immer noch selbstgesteuert. Paul drehte sich um, um ihr nachzusehen.
Verloren und schön stand Schwester Beth am kiesigen Straßenrand. Der Wind zerrte an ihrem Haar und Gewand. Paul spürte einen heftigen Trieb zurückzukehren, um sie wieder mitzunehmen – und zur Hölle mit allen Konsequenzen. Es gab immer noch die Chance, daß sie echt war …
Dann sah er, wie sich eine Verkehrsstreife ihr näherte. Die Polizei hatte sie ausfindig gemacht und würde auch ihn finden, wenn er sich nicht beeilte. Er tauchte im Verkehrsgewühl unter und schwitzte. Wahrscheinlich sendete sie ein bestimmtes Zeichen aus, damit ihre Chefs immer wußten, wo sie war. Da war er aber knapp davongekommen.
Doch unvermittelt wiederholte er ihre Worte: „Gott segne Sie.“ Er glaubte weder an Gott noch an Schwester Beth, doch die Kraft dieses unerwarteten Segens erschütterte ihn.
Ohne weitere Ereignisse beendete Paul seine Reise und lieferte den Wagen wieder ab. In dem üppigen Büro wartete er auf seine Bezahlung – in Form eines erhöhten Kredits, der ihm inoffizielle, aber wertvolle Vorteile bei einer Reihe von ungesetzlichen Geschäften verschaffte, und natürlich in Form eines neuen Vorrats an Mnem, verborgen in der Höhlung seines Taschenkamms. In dem Lagerhaus dauerte es eine Weile, bis das Auto ausgeladen und die Reinheit und Echtheit des Stoffes überprüft war, und gleiches galt für die Sicherheitsmaßnahmen, die gewährleisten sollten, daß keine Polizei dem Fahrzeug auf den Spuren war. Sobald sie in geschäftlicher Manier alles gecheckt hatten, würden sie sich mit ihm befassen. Das war eine höchst professionelle Organisation.
Die gesamte Schwarzmarkt-Mnem-Industrie war höchst professionell organisiert – stärker als viele rechtmäßige Unternehmen. Paul war allmählich dort hineingeraten; seine Lebensphilosophie hatte sich ebenso allmählich den Bedürfnissen seines höheren Lebensstandards angepaßt. Er hatte die Universität mit einem Abschluß der Philosophischen Fakultät verlassen, aber keine geeignete Anstellung gefunden. Da er geschickte Hände besaß, hatte er sich zu Kartentricks verdingt, und das hatte zu Kontakten zum legitimen Glücksspiel geführt. Eines der bekannten Spiele – eigentlich kein Glücksspiel, sondern mehr eine Übung für diejenigen, die sich noch nicht an die härteren Sachen trauten – war das mittelalterliche Tarochi, mit dem fünfundsiebzig Karten umfassenden Tarotspiel anstelle des dreiundfünfzig Karten umfassenden Standardspiels. Man hatte den Joker des Standardspiels zu zweiundzwanzig Trümpfen ausgebaut. Er hatte das Spiel anderen Spielen angepaßt, teils mit Glück, teils mit Geschick zu spielen. Ein wirklich gutes Gedächtnis verminderte den ersten Faktor und verstärkte den letzteren, was ihn zum Mnem gebracht hatte. Ein Kasino, das durch seine Siegesserie irritiert war, hatte versucht, ihn rauszuwerfen. Das war ein Fehler gewesen, denn Paul war in unbewaffnetem Kampf fast noch professioneller, als beim Kartenspiel. Der Geschäftsführer des Kasinos, der kein Feigling war, hatte rasch die Taktik gewechselt und Paul einen Job angeboten. Nun war Paul fein heraus, solange er nicht durchdrehte …
Gott segne Sie …
Auf dem Videogerät erschienen die Nachrichten. Plötzlich erregte eine Information seine Aufmerksamkeit. „Letzte Nacht beging eine junge Frau Selbstmord, indem sie sich aus einem Polizeihubschrauber stürzte“, sagte der Sprecher. „Man hat sie als Schwester Beth identifiziert, seit einem Jahr Mitglied der Station einer religiösen Sekte, dem Heiligen Orden der Vision. Offensichtlich war sie deprimiert über den Plan, sie mit Hilfe von Drogen wegen eines Juwelendiebstahls zu deprogrammieren …“
„Sie hat aber die Juwelen nicht gestohlen!“ rief Bruder Paul, merkte dann aber, was er tat, und fühlte sich albern. Auf dem Bildschirm flackerte ein Foto auf. Es war das Mädchen, das er mitgenommen hatte, fast genauso, wie er sie zuletzt gesehen hatte, und ihr durchsichtiges Nachthemd flatterte im Wind. Auch Robokameras hatten ein scharfes Auge für Details, besonders wenn es um etwas richtig Morbides ging wie den Tod.
„Sie wirkte so ruhig“, meinte ein uniformierter Polizeibeamter entschuldigend. „Ich hätte nie gedacht, daß sie so was machen würde, sonst hätte ich sie gefesselt.“ Er berührte die Handschellen, die wie Genitalien in seiner Lendengegend hingen.
Paul wurde skeptisch. Das konnte sie doch nicht sein! Er hatte sie erst gestern gesehen. Sie war ein Polizeiköder mit guter Tarnung gewesen. Dann verspürte er Wut. Wie konnte das passiert sein? Warum hatte die Polizei nicht richtig auf sie aufgepaßt? Aber selbst wenn sie es getan hätte, wäre sie jetzt tot, weil man ihr das gesamte Erinnerungsvermögen ausgelöscht hätte.
War es Teil des Planes gewesen? Nein, das ergab keinen Sinn. Keine Polizistin würde ihre Tarnung durch eine solche Information aufgeben, selbst wenn der Tod fingiert war. Ihr Bild würde die potentiellen Opfer aufreizen. Man konnte sich zu gut an sie erinnern, mit ihrem schönen Körper, dem unschuldigen Gesicht. Ein männlicher Traum vom Himmel. Sie mußte echt gewesen sein – und daher war sie nun tot.
Warum hatte er ihr nicht geglaubt, an sie geglaubt, als es darauf angekommen war? Er wußte warum; er stand jeder Rechtmäßigkeit einer religiösen Vereinigung zynisch gegenüber. Er hatte die unsäglich selbstsüchtigen Appelle der religiösen Botschaften noch im Ohr: Unterstütze uns, gib uns Geld, damit du in den Himmel kommst und auf immer gesegnet sein wirst, Freiheit von der Sünde. Diese Sachen. Wie jemand gleichzeitig den Segen und Freiheit von Sünde erlangen konnte, war ihm ein Rätsel.
Aber Schwester Beth hatte einen anderen Eindruck gemacht – als glaube sie wirklich an die spezielle Rettung, die sie suchte. Sie hatte nicht ein einziges Mal den Himmel angerufen. Wenn er doch nur auf ihre Worte geachtet hätte, anstatt auf ihren Körper zu achten!
Aber wenn sie wirklich eine Schwester gewesen war, warum hatte ihr Gott sie nicht beschützt? Sicher hätte er den Behörden einen Handel vorschlagen können. Irgendwie hätte er es so drehen können, daß sie sich wieder erholt hätte. Es war nur wichtig, daran zu glauben …
Paul glaubte nichts. Er war der Grund ihres Todes. Er hatte sie sexuell angegriffen und sie wieder auf die Straße geworfen. Sie hatten schon auf sie gewartet und rasch zugestoßen.
Wenn er ihr nur so getraut hätte wie sie ihm. Er hätte sie leicht und sicher bei ihrer Station abliefern können. In der letzten Zeit hatte er selten anständig gehandelt. Da hatte sich ihm die Möglichkeit geboten, einem besseren Menschen zu helfen, als er selber war, und statt dessen …
„Sir, Ihr Bericht wurde bestätigt“, informierte ihn die Sekretärin mit süßer Stimme.
Paul sah sie an und erblickte für einen Moment das Bild von Schwester Beth. In ihm kochte etwas Schreckliches hoch, eine Depression, die an Gewalttätigkeit grenzte. Aber was konnte er tun? Das war nur eine gewöhnliche Sekretärin, eine konforme Hülle über einer gestaltlosen Seele, nicht einmal einer flüchtigen Aufmerksamkeit wert. Schwester Beth war tot.
Unvermittelt und mit einem schrecklichen Entschluß stand Paul auf. „Ich schließe meinen Bericht“, sagte er. „Alle früheren Taten sollen ohne Vorurteil aufgehoben und vergessen sein.“
Sie zuckte niemals zusammen. Warum sollte sie auch? Sie war zwar aus Fleisch und Blut, hatte aber den Kopf eines Roboters. „Das wird die Geschäftsleitung aber bestätigen müssen“, sagte sie.
„Ich scheiß auf die Geschäftsleitung.“ Er wirbelte herum und ging hinaus.
Draußen traf ihn die volle Wucht dessen, was er gerade getan hatte. In der Sprache seiner Branche hatte er die Magnaten davon informiert, daß er kündigte, keine Ablösesumme erwartete und nicht zur Polizei gehen würde. Mit Mnem war er fertig.
Unglücklicherweise befand er sich aber nun in Schwierigkeiten. Er hätte nicht mehr die Nebeneinkünfte seines zweiten Berufes – und das bedeutete ein Absinken des Lebensstandards. Der erste Job im Kasino würde auch rasch darunter leiden, denn er hatte nun kein Mnem mehr und würde bald die Entzugserscheinungen spüren.
Es war ein guter Abend im Kasino. Die Kunden waren zahlreich vertreten und freigebig. Paul nahm seinen Platz am Blackjack-Tisch ein und spielte routiniert mit den Karten. Die Antworten auf die Rufe der Kunden kamen automatisch, während seine Gedanken anderswo waren. „Mir.“ Er reichte dem Mann eine Extra-Karte. Warum hat Schwester Beth das getan?
„Mir auch.“ Der Dame ebenfalls eine. Sie trug ein Lochstickerei-Dekolleté, aber er war heute nicht interessiert. Wenn ich es nur gewußt hätte! Wieder teilte er ihr eine aus und spürte das geleeartige Zittern ihrer Brust, als sie sich vornüberbeugte. Mit zunehmendem Alter verfestigte sich ein solcher Pudding entweder, oder er wurde noch lockerer, und das war das beginnende Alter. Schwester Beths Brust hätte echt gezittert. Sie hätte diejenige welche sein können. Nicht so sensationslüstern und billig und fade wie diese Glücksspielerin.
Die Routine wurde unbestimmbar. Plötzlich hatte er keine Lust mehr. Doch das war sein Lebensunterhalt; er brachte den Anteil des Hauses ein. Wohin sollte er sonst gehen?
„Ich sage Foul!“ sagte eine rauhe Stimme und schnitt in Pauls Träume. „Er teilt zweite Karten aus!“
Zweite Karten austeilen: anderen Spielern die zweite Karte im Spiel geben und die oberste für sich behalten. Einer der ältesten und abgeschmacktesten Tricks im Arsenal des Falsch- oder Trickspielers.
Pauls Hand erstarrte. Alle Augen ruhten auf dem Buben in seinen Fingern. Ein Vorwurf des Falschspiels war ernst zu nehmen. „Der Computer des Kasinos hat Aufzeichnungen von jedem gemischten Kartenspiel, das auf den Tisch kommt“, sagte Paul ohne Groll. Es gab festgelegte Verhaltensweisen, mit derartigen Vorwürfen fertig zu werden, ebenso wie es sie für das Spiel gab. „Wollen Sie den Ausdruck?“
„Mir ist das Mischen egal“, schnappte der Mann. Er war hochgewachsen, schlank und von unbestimmtem Alter. Er sah nicht wie ein Spieler aus, aber Paul hatte schon lange begriffen, daß es ein typisches Erscheinungsbild nicht gab. Eine Person war ein Spielertyp, wenn sie spielte, das war alles. „Es geht doch hier um das Austeilen. Sie haben mir eine Acht gegeben und mich ausgeknockt, weil sie die niedrigere Karte für sich selber behalten haben. Ich habe es gesehen! Kein Wunder, daß ich kein Glück habe!“
„Suchen Sie jemanden aus, der das Kontrollkartenspiel übernimmt“, antwortete Paul kalt. „Ich denke, wir können Ihnen beweisen, daß es in diesem Spiel korrekt zugeht.“
„Nein, Sie haben Ihre Leute doch überall! Ich selber werde es tun!“
Paul nickte gleichmütig. Wenn der Mann ehrlich war, würde er bald merken, daß er einen Fehler begangen hatte. Wenn er Paul einkreisen wollte, indem er selbst falsch austeilte, würde ihn die Computeraufzeichnung der Karten überführen und in Mißkredit bringen. „Nehmen Sie die Karten von dem Tisch dort und teilen Sie sie langsam mit dem Bild nach oben aus. Die Karten entsprechen denen, die ich ausgeteilt habe.“
„Natürlich tun sie das!“ rief der Mann wütend aus. „Sie haben Sie ja auch ausgeteilt, aber in welcher Reihenfolge? Sie haben doch einen Ausdruck im voraus, und daher wissen Sie, welche Karten kommen, und …“
„Wir möchten Sie zufriedenstellen, Sir“, sagte Paul. Aber er merkte, daß ein rationaler Beweis den Mann nicht befriedigen würde. War er ein Störenfried von einem Konkurrenzkasino? Mit dem Fuß löste Paul den Alarmknopf aus.
Der Kasinobildschirm flackerte auf. „Was gibt es für ein Problem?“ fragte der Saalmanager, und selbst auf dem Fernsehschirm wirkte sein Blick durchbohrend.
„Anschuldigung, zweite Karten ausgeteilt zu haben“, sagte Paul und deutete mit dem Kopf in Richtung des Anklägers.
Der Manager sah sich den Mann an. „Wir haben es nicht nötig zu täuschen, Sir. Der Anteil des Hauses sorgt gut für uns. Das Kontrollspiel wird …“
„Nein!“ sagte der Mann.
Der Manager erfaßte sogleich die Lage. Er war von rascher Auffassungsgabe; dafür wurde er ja schließlich auch bezahlt. Die Anzahl seiner Mittel und Möglichkeiten war größer als die Pauls, und er zog gelassen an seinen Registern. „Spiel noch einmal, Paul. Wie du es immer machst. Zeig es ihm.“
Paul lächelte. Man hatte ihm gerade die Zügel gelockert. „So wäre es weitergegangen, wenn ich getrickst hätte“, sagte er und nahm das Kontrollspiel. „Keine dieser Karten reicht für eine Wette. Das ist nur eine Demonstration.“ Das Zeichen NEGATION leuchtete auf.
Er teilte die Karten aus wie zuvor, den gleichen Leuten in der gleichen Reihenfolge. Miß Lochstickerei war fasziniert; das war so ungefähr das Aufregendste, was den ganzen Abend über passiert war. Dieses Mal zeigten Pauls Hände ihre versteckte Zauberkraft; seine eigenen Karten lagen immer recht hoch und ließen das Haus zum hundertprozentigen Gewinner werden. Doch es sah genauso aus, als sei es ein ehrenwertes Spiel.
„Wir stellen die besten Trickspieler ein, damit sie nicht gegen uns spielen“, sagte der Manager vom Bildschirm herab. Vielleicht dachte er daran, wie Paul selber eingestellt worden war. „Aber unsere Spiele sind ehrlich. Wir nehmen zwanzig Prozent, und die Aufzeichnungen stehen der Öffentlichkeit zur Untersuchung zur Verfügung. Wir haben es nicht nötig, irgend jemanden zu betrügen, und wir wünschen es auch nicht, aber wir können es uns auch nicht leisten, uns von irgend jemanden zu betrügen lassen. Sind Sie nun zufrieden, Sir? Oder wollen Sie uns zwingen, gegen Sie wegen übler Nachrede Klage zu erheben?“
Das war hoch gereizt! Eine Anklage wegen übler Nachrede würde nichts bewirken, aber mit ein wenig Glück würde der Kunde das nicht wissen. Der Manager zeigte, wie Professionelle spielten: mit dicken Nerven und Eleganz.
Grollend wandte sich der Herausforderer ab. Der Blick des Managers flackerte zu Paul. „Mach eine Pause; der Kundenstrom ist unterbrochen.“ Der Kundenstrom war wichtig; die Leute sollten sich wohlfühlen, wenn sie von Spiel zu Spiel und von einer Unterhaltung zur anderen gingen und ihren Kredit verspielten. Kundenstrom bedeutete Geldstrom.
Paul schloß seinen Tisch. Miß Lochstickerei zögerte zu gehen. Offensichtlich spielte sie mit dem Gedanken, etwas zu sagen, doch er ignorierte sie bewußt. Sie zuckte die Achseln und nahm ihre Chips mit an einen anderen Tisch.
Aber der zornige Spieler war noch nicht fertig. Er war ein schlechter Verlierer bis auf die Knochen. Er folgte Paul – nicht zu auffällig, weil er nicht aus dem Kasino hinausgeworfen werden wollte, aber auch nicht zu unauffällig.
Paul spazierte durch den Ballsaal, wo sich im Moment die Siebziger vergnügten; auf einer erhöhten Bühne stellten sich leicht disharmonisch spielende Gruppen dar, die eher laut als gut spielten, und die Leute tanzten entweder allein oder zu Paaren dazu. Eine junge Frau in enganliegendem Anzug sang in ein Mikrophon, dessen Mundstück und Ständer herausfordernd phallisch geformt waren; sie hielt es mit beiden Händen dicht an den wohlgeformten Busen und nahm es fast in den Mund. Mikros waren seit den Siebzigern eigentlich überflüssig geworden; sie dienten mehr einem symbolischen als einem praktischen Zweck.
Paul sah zu seinem Verfolger hinüber, als er die Bühne umrundete. Er fand einen Tisch am Rand, setzte sich und zwang den Mann, sich an einem anderen Tisch niederzulassen, wo die Lautstärke ohrenbetäubend war. Laute Musik hatte erotische Anreizkraft; das war das Geheimnis. Die Mitglieder der damaligen Gruppen waren für ihre Verführungen berüchtigt, und vielleicht hatten die Groupies, die sich um diese Verführungen so gerissen hatten, den Grund für diese Anziehungskraft nicht begriffen. Jene, die Sex nicht mochten, wurden von der Lautstärke abgeturnt, ohne zu begreifen, warum; ihre Proteste, es sei ‚schlechte Musik’, gegen die sie etwas hätten, wurden von der nachfolgenden Generation nur mitleidig belächelt.
Natürlich erschien sofort eine Kellnerin, eine richtige, menschliche, weibliche Kellnerin, Stück aus einer vergangenen Zeit und nicht eines von den modernen Tisch-Terminals. „Wodka pur“, sagte Paul und machte eine winzige Geste, die Einverständnis andeuten sollte. Sie erkannte ihn als einen Angestellten und nickte; nach einem Moment brachte sie ihm reines Wasser in einem Wodkaglas. Er zeigte seine Kreditkarte, und sie steckte sie in ihr Terminal mit dem Schlüssel OHNE BEZAHLUNG. Den Kunden an den anderen Tischen blieb das alles verborgen. Der Mann mußte einen richtigen Drink bestellen – und Paul vermutete, daß er Antialkoholiker war. Diese Art von Leuten war das oft. Die Sache versprach lustig zu werden.
Der Banjospieler trat auf der Bühne nach vorn, um seinen Solopart zu spielen; er beugte sich so tief in den Knien, daß das gewölbte Instrument direkt zwischen seinen Beinen hing. Den Hals reckte er in fast rechtem Winkel nach vorn. Die Finger tanzten über die straff gezogenen Saiten in der Lendengegend, während er das Banjo orgiastisch auf und nieder riß und die Musik herauspreßte. Paul lächelte; in diesen Zeiten legte man zwar keinen Wert auf gute Musik, aber man hatte gelernt, Symbole richtig einzusetzen.
Der Kunde am anderen Tisch versuchte, seinen Blick zu meiden, doch die Musik dröhnte gnadenlos auf ihn ein. Sicher war er ein Puritaner. Die Frage war nur, warum er in ein derartiges Etablissement gekommen war. War er Agent eines Konkurrenz-Kasinos? Das war unwahrscheinlich; er wirkte zu unbeholfen und hätte sich bei der Blackjack-Sache nicht so tolpatschig benehmen dürfen. Konnte es sein, daß er Angehöriger der Bundespolizei war und sie auf Täuschungen und Falschspielerei untersuchte? Wiederum: zu unbeholfen. Die Tage, in denen man Behördenagenten gut identifizieren konnte, waren lange schon vorbei; die Bundespolizei stellte nur echte Profis ein, wie jede andere Firma auch. War er ein Abgesandter der Mnem-Front, der sichergehen wollte, daß Paul sie nicht verriet?
Nein, das einzig Einleuchtende schien zu sein, daß er ein schlechter Verlierer war und nach einem Ausweg suchte, sich zu rächen. Der Mann hatte nicht einmal viel Geld verloren; es handelte sich eher um einen Statusverlust, weil ihn Paul und das Management ausgetrickst hatten, und das hätte er voraussehen müssen. Kein Amateur hatte gegen die Professionellen eine Chance. Die Spiele wurden ehrlich betrieben, und wenn einmal getrickst wurde, dann auf so unauffällige Weise, daß jemand wie er es niemals merken würde. Paul selber konnte beim Blackjack gewinnen, ohne die Karten auch nur im geringsten zu manipulieren, indem er einfach alle ausgeteilten Karten im Kopf behielt und seine Wetten entsprechend den noch ausstehenden Karten setzte. Manchmal arbeitete er für das Management, indem er so spielte, demonstrierte so auf eindrucksvolle Weise, daß man das Haus nicht schlagen konnte und zog auf diese Art mehr Kunden an. Natürlich war es sein durch Mnem erweitertes Gedächtnis, welches ihm dies ermöglichte; die regulären Kunden, als Klasse, kamen gegen diese Verhältnisse nicht an. Manchmal schafften das glückliche Individuen, aber das wurde durch die unglücklichen mehr als ausgeglichen.
Dieser Gedanke machte ihn traurig. Das würde er nicht mehr schaffen – gegen alle Vernunft zu gewinnen. Er hatte eine Menge aufgegeben, als er Mnem entsagte. War es der Sache wirklich wert?
Er stellte sich eine junge Frau vor, die sich aus einem Polizeihubschrauber stürzte. Vielleicht würde diese Erinnerung ausgelöscht durch die Mnem-Entzugserscheinungen.
Paul trank sein Wasser aus und ging. Der Kunde folgte ihm. Sie kamen an dem Glücksrad vorbei – und das erinnerte Paul an das Tarotspiel. Die Arkane Zehn war das Glücksrad. Sicher erhöhten diese Räder das Vermögen von einigen Kunden – und brachten sie auch wieder auf Null! Aber das Tarot wiederum erinnerte ihn an Schwester Beth vom Heiligen Orden der Vision, das Mädchen, das er getötet hatte. Voller Kreis, als sich das Glücksrad drehte. Er konnte nicht vor sich selber fortlaufen. Und das zerstörte etwas in ihm.
Paul dreht sich um. Der Mann stand direkt hinter ihm. „Was wollen Sie?“ fragte er.
„Ich will mein Geld zurück“, erwiderte der Mann.
Paul holte seine Kreditkarte heraus. „Wie hoch ist Ihr Verlust?“ fragte er.
„Nicht so. Ich will es zurückgewinnen! Ich will Sie schlagen.“
Was für ein Idiot! „Sie können mich nicht schlagen. Ich spiele für das Haus; auf lange Sicht fällt der Prozentsatz mir zu.“
„Ich kann Sie schlagen – wenn wir Mann gegen Mann spielen.“
„Gut“, stimmte Paul zu, nur aus dem Wunsch heraus, den Ärger loszuwerden. „Mann gegen Mann. Welches Spiel?“
„Kennen Sie Akkordeon?“
„Ich kenne es. Da verliere ich nie, wenn es auf meine Art gespielt wird.“
„Ihre Art, einverstanden“, stimmte der Mann zu. Sein dummer, unbegründeter Stolz trieb ihn zum äußersten.
„Tarotkarten. Trümpfe halbwild.“
„Halbwild?“
„Jede der zweiundzwanzig Trumpfkarten schlägt jede Farbe – aber kein Trumpf hat eine Zahl; daher kann er keine Normalkarte stechen. Trümpfe sind passiv wild; sie verschwinden lediglich.“
„Und wenn die letzte Karte ein Trumpf ist?“
Doch nicht so naiv! „Die Karte ist wild, bis sie bezeichnet wird. Dann friert sie ein.“
Der Mann schüttelte verwundert den Kopf. „Halbwildes Tarot-Akkordeon!“
„Besteht die Herausforderung weiter?“ lockte Paul ihn.
Der Mann runzelte die Stirn. „Ja. Identisches Kontrollspiel, separate Würfel, Täuschungsmesser angestellt.“
„Natürlich“, stimmte Paul zu. „Es geht um die Höhe der bisherigen Verluste.“ Vielleicht war dies doch ein Spaß, und der Bursche hatte darum gebeten. „Nur ein Spiel“, sagte Paul, um eine neue Herausforderung zu vermeiden.
Sie gingen zum Akkordeontisch. Sie setzten sich in gegenüberliegenden Zellen nieder. Die mechanische Austeilmaschine gab ihnen die Karten, doch sie konnten die des anderen nicht sehen.
Paul konnte sogar fast ein offenes Akkordeon gewinnen, weil der Erfolg hauptsächlich auf dem Erinnerungsvermögen an die ausgeteilten Karten beruhte. Wenn es ihm gestattet war, vor dem Spiel die Reihenfolge der Karten auf dem Ausdruckbildschirm zu sehen, auch nur für eine einzige Sekunde, dann ließ ihn sein durch Mnem intensiviertes Gedächtnis das gesamte Spiel hindurch die Karten wie aufgereiht vor ihm liegend sehen. So konnte er seine Strategie auf einer achtundsiebzig Karten-Basis aufbauen. Aber selbst in einem verdeckten Spiel wie diesem, wo die Reihenfolge der Karten nicht bekannt war, war er immer noch gut, weil jede gespielte Karte in seinem Gedächtnis abgestrichen wurde und er besser wußte, was noch ausstand. Bei Blackjack wurde so sein Spiel gegen Ende hin genauer, während das bei anderen Personen genau umgekehrt lief.
Aber nun befand sich Paul in Schwierigkeiten. Langsam schwand das Mnem aus seinem Körper, so daß er kein eidetisches Gedächtnis mehr besaß. Er war immer noch ein guter Spieler und seit langem vertraut mit den Strategien für passende Farben und Zahlen in potentiellen Ketten, so daß er seine Wahlmöglichkeiten vergrößerte, ohne dem Gegner seine Position bekanntzugeben, doch er hatte nie gemerkt, wie sehr er von seinem perfekten Gedächtnis abhängig war. Ohne es fühlte er sich nackt – und das beunruhigte ihn weit mehr als es eigentlich hätte sollen. Er hatte fast vergessen, wie man sich als Verlierer fühlte, und die Vorstellung, auf diesen Status zurückzufallen, erschien ihm nicht verlockend. In einer starken Periode als Ergebnis von Pausen einmal zu verlieren war das eine – aus Schwäche verlieren schon etwas anderes. Und das hatte den anderen Mann so angetrieben.
Sollte er zum Mnem zurückkehren? Das blieb ihm immer noch offen. Er wäre kaum der erste – auch nicht der zehnte oder hundertste –, der versuchte, von Mnem freizukommen und scheiterte.
Die Sucht war subtiler als bei Drogen, von denen man psychisch abhängig war. Einige Experten weigerten sich immer noch, Mnem überhaupt als suchterzeugend einzustufen. Aber das waren Narren im Elfenbeinturm. Sucht war mehr als nur körperliche Abhängigkeit, was Kokainschnupfern wohlbekannt war. Die gesamte Selbstwahrnehmung einer Person war im Spiel; wenn er sein Gedächtnis verlor, verlor er auch seine Persönlichkeit. Das war Schwester Beths Untergang gewesen. Paul konnte also seinen Irrtum zugeben und zurückgehen und …
Nein! Das war seine Strafe, weil er dieses unschuldige Mädchen getötet hatte. Vielleicht war es unvernünftig, aber es war endgültig. Er würde entweder als freier Mensch leben oder sterben – wie auch sie hatte frei sein wollen.
In der Zwischenzeit spielte er. Kelch-Sieben auf Kelch-Fünf; Stab-Fünf auf Turm-Trumpf – oh, vertan! Er hätte die beiden Fünfen verbinden sollen – nein, in diesem Fall spielte es keine Rolle. Aber hätte wenigstens an die Fünfen denken sollen, ehe er eine andere Wahl traf. Von solchen Entscheidungen hingen Gewinn oder Verlust ab.
Paul machte weiter und konzentrierte sich nun stärker auf das Spiel, legte zusammenpassende Farben oder Zahlen zu zweien oder vieren ab und breitete seinen Fächer so aus, wie es dem Spiel den Namen gegeben hatte. Die häufigen halbwilden Trümpfe schenkten ihm wertvollen Raum, ermöglichten ihm, das Akkordeon zusammengezogen zu lassen, doch hatte natürlich sein Gegner den gleichen Vorteil. Und der Mann ließ nicht locker, denn bei einem Akkordeon mußten sich beide Spieler jeweils auf die Ablage einer neuen Karte einigen. Pauls Gegner hatte offensichtlich eine Karte entdeckt, die Paul entgangen war, und seine Ablage um eine Karte weiter zusammengezogen als er; daher durfte er zwei oder drei Karten ziehen, während Pauls Ablage aufgeschoben war. Er wußte, wie man Akkordeon gegeneinander spielt, nun gut. Er hatte Paul auf der Rolle, und er wußte es, und er ließ auch nicht mehr locker. Paul konnte versuchen, was er wollte, er konnte die Initiative nicht zurückerlangen.
Die letzte Karte war ein Trumpf: die Hohepriesterin, die ironischerweise auch für das Gedächtnis stand. Gedächtnis – jetzt seine Schwachstelle. Und sie lag auch noch umgedreht. Das Tarot barg geheimnisvolle Fähigkeiten, bedeutsame Assoziationen zu wecken. So war die Priesterin also wild und bereit, ihm zu helfen, um seine Ablage eindrucksvoll zu verringern. Aber das hatte er nicht vorausgesehen, so einfach es schon gewesen wäre, nur die Trümpfe zu zählen, und so konnte er nur zwei Stapel loswerden. Ihm blieben acht Stapel, und das war für ihn kein gutes Ergebnis.
Und sein Gegner hatte sieben. Paul hatte verloren. Er runzelte die Stirn und zog seine Kreditkarte hervor.
„Nein“, sagte der Mann, der in Siegeslaune recht großzügig wurde. „Das regeln wir privat.“
Was hatte das zu bedeuten? Ein Austausch von Krediten war in sich etwas Unprivates; es war eine Sache von unmittelbaren Eintragungen im weitverbreitetsten Computersystem der Welt. Der Mann wollte also kein Geld. Aber die Wette war um Geld gegangen. Paul war nicht verpflichtet, auf eine andere Zahlungsart einzugehen.
Er zuckte die Achseln. Sie verließen das Kasino. Auf der Straße begann der Mann rasch und leise zu sprechen. „Sie sind ein Mnem-Süchtiger auf Gewaltkur. Ich bin Drogenagent der Bundesbehörden. Man wird Ihnen bald den Kredit sperren, wenn das nicht schon geschehen ist. Daher habe ich unterbunden, daß Sie eine Kredittransaktion vornehmen; wir wollen nicht, daß es schon irgend jemand weiß. Sie sind in Schwierigkeiten. Sagen Sie bei uns aus, dann wird es niemals irgend jemand erfahren.“
Also ein Bundesdrogenspitzel! So bewußt unbeholfen, daß er Paul vollständig irregeführt hatte!
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Paul, wohl wissend, daß ein Protest völlig nutzlos war.
„Sie haben eine Fracht befördert, die Sie heute morgen dem Kartell abgeliefert haben“, beharrte der Mann. „Wir beobachten Sie schon seit sechs Monaten, zusammen mit hundert anderen Süchtigen. Wir haben Sie noch nicht festgenommen, weil wir nicht Sie wollen; wir wollen die Hintermänner. Ihr Psycho-Profil läßt darauf schließen, daß Sie eine unserer besten Karten sind, denn Sie sind aufrichtig und intelligent; für Sie bedeutet Mnem eine Sackgasse. Früher oder später werden Sie es aufgeben müssen; und Sie hatten den Mut, es auch durchzuziehen. Irgend etwas ist geschehen, was diesen Bruch ausgelöst hat, und nun sind Sie draußen. War es die Frau, die Sie da aufgegabelt hatten, diese Sektennuß?“
„Sie war keine Sektennuß!“ protestierte Paul. „Sie war ein nettes Mädchen!“
„Nun gut, dann war sie eben ein nettes Mädchen, aber zu instabil, um in einem Polizeihubschrauber still sitzen zu können. Gut für uns, denn sie muß geschafft haben, was wir nicht konnten, nämlich Sie zum Bruch mit Mnem führen. Vielleicht hat Sie ihr Fanatismus angesteckt? Sie war ein hübsches Ding, habe ich gehört. Und nun greifen wir ein, weil Sie bereit sind, sich gegen die Räder zu drehen. Mit Ihrer Hilfe können wir diese Sache aufbrechen und Mnem auf immer verbannen.“
„Nein“, sagte Paul.
„Ich weiß, daß Sie runter sind. Die Anzeichen habe ich schon beim Blackjack gesehen. Ihre Gedanken waren woanders. Ich habe das Spiel unterbrochen und Sie aus dem Kreis genommen, ehe das Kasino eingriff. Beim Akkordeonspiel war es noch schlimmer. Sie haben den Gedächtnispuscher verloren, und bald gibt es die Entzugsausfälle. Reden Sie mit mir; greifen Sie in die Speichen. Geben Sie mir die Daten, solange Sie sich noch erinnern können, und wir werden für Sie sorgen. Es gibt Gegendrogen, mit denen wir den Übergang erleichtern und einen Teil Ihres Gedächtnis schützen können. Mein Aufzeichner ist eingestellt. Das ist Ihre einzige Chance.“
Einen Moment lang fühlte sich Paul in Versuchung. Aber er merkte, daß dieser Mann ebensogut ein Kartellagent wie ein Drogenknacker sein konnte. Vielleicht überprüfte ihn das Kartell, um sicherzugehen, daß er den Mund hielt. Und er mußte den Mund halten, sonst würde er in Kürze tot sein. „Ich weiß nichts davon“, sagte er. „Lassen Sie mich in Ruhe.“
„Sie können sich nicht mehr selbst ernähren“, beharrte der Bundes(Kartell?)-Agent. „Sie sind am Ende. Wir können Ihnen helfen, wenn Sie uns helfen. Jetzt, solange Sie noch können.“
Paul tauchte in der Menge unter und ließ den Mann stehen. Er schob sich durch die Menschen, bis er den Mann abgeschüttelt hatte. Bald befand er sich auf einer anderen Straße. Ein riesiges Novaneon-Schild leuchtete auf, weil sich der Mechanismus bei seinem Herannahen auslöste: CHRIST = SCHULD.
Paul lächelte. War das ungewollte Ironie? Bei den religiösen Kulten wußte man das nie. Er ging darunter hinweg und sah sich um. Von dieser Seite aus las er: SEX = SÜNDE. Kein Fehler. Für viele Religionsangehörige bedeutete jede Art von Vergnügen etwas Unmoralisches, und niemand konnte heilig sein, wenn er sich nicht auch schuldig fühlte. Selbst im Vergnügen des wahren Glaubens mußte er sich schuldig fühlen für dieses freudige Gefühl.
Doch bei einigen Leuten nahm es eine attraktiv bescheidene Qualität an, und es konnte einem eine gewisse Verlockung, die Sicherheit eines Zugehörigkeitsgefühls geben. Wie hieß noch der Verein, zu dem Schwester Beth gehört hatte? Heiliger Orden der Vision. Sein Erinnerungsvermögen ließ ihn nicht im Stich. Vielleicht war das auch nur ein repressiver Kult als Reaktion auf eine repressive Gesellschaft – aber sie war ein süßes Mädchen gewesen. Warum hatte sie sterben müssen?
Paul blieb stehen, weil er in der Brust eine Art Explosion spürte. Hitze wallte auf, breitete sich im ganzen Brustkorb aus, eine brennende Flut, die langsam zurückging. Plötzlich begriff er, was die Allgemeinheit ein gebrochenes Herz nannte. Es war kein körperlicher Schmerz; das Gefühl war sogar sonderbar angenehm. Aber etwas, was für ihn unterschwellig lebenswichtig gewesen war, war verschwunden. An seiner Stelle gab es – Schuld.
Einen Moment lang war er verwirrt, und dann war es Spätnachmittag, und er war allein. Er betrat ein heruntergekommenes Gebäude. Es trug keine Bezeichnung, doch jeder, der hier zu tun hatte, kannte es. Es hieß ‚Zum Dutzend’ – Auffangbecken der Ausgestoßenen. Genauer gesagt: Es war die ausdrücklich nichtweiße Enklave aus einer Zeit, als es qua Gesetz keine Diskriminierung aufgrund von Rasse oder Abstammung gegeben hatte. Daher hatte dieses Institut rechtmäßig keine Grundlage. Aber die hatte das Mnem-Kartell auch nicht. Rechtmäßigkeit leitete sich aus Sachverhalten ab, und kein Weißer war so dumm, seinen Fuß in das ‚Dutzend’ zu setzen.
Pauls Auftauchen verursachte einen kleinen Aufruhr. Sofort versperrten ihm drei kräftige Männer den Weg. Einer hatte die rötlichblaue Hautfarbe eines fast vollblütigen Indianers; der andere war Orientale und der dritte Neger. „Hast du dich vielleicht verirrt, Schneeball?“ fragte der Schwarze sanft.
Ein Schneeball war ein hundertprozentig Weißer, und der würde in dieser farbigen Hölle nicht lange überleben. Paul ließ sich in Bückstellung fallen, die niemand mißverstehen konnte. „Nein.“ Er hielt sich zurück, eine Beleidigung zu entgegnen: „Pechkugel.“
„Das ist meiner“, sagte der Gelbe. Die beiden anderen traten zurück. Der Orientale stellte sich vor Paul auf, der wieder eine natürliche Haltung einnahm. „Karate?“
„Judo.“
„Kodokan?“
„Ikyu“, erwiderte Paul.
„Nidan“, meinte der Gelbe.
Sie verbeugten sich voreinander, eine kurze, steife Bewegung aus der Hüfte heraus. Sie hatten sich gegenseitig die Kampfschulen und Ränge bekanntgegeben. Der Gelbe hatte einen zwei Stufen höheren Rang als Paul, und diese Ränge waren keine zufällig erworbenen Dinge: Es war recht wahrscheinlich, daß er Paul in einem gewöhnlichen Kampf besiegen würde. Paul konnte gegen den Gelben kämpfen, wenn er wollte, aber lange würde er nicht auf dem Gelände des ‚Dutzend’ bleiben. Es wäre wohl besser, von dieser Begegnung Abstand zu nehmen. Jedenfalls war er angehört worden, und das war sein Ziel gewesen.
„Ich gehöre dazu“, sagte Paul. „Ich bin zu einem Achtel schwarz. Ich bin Kasinospieler, ausgebildeter Mechaniker, und die Bundespolizei ist hinter mir her. Mnem-Sucht.“ Das war der einzige Ort, an dem er weder von dem Mnem-Kartell noch von der Polizei etwas zu befürchten hatte; mit gewalttätiger Wirksamkeit stand das ‚Dutzend’ auf eigenen Füßen, und seine Ressourcen erstreckten sich so weit wie nichtweißes Blut reichte. Aber zunächst mußte Paul Einlaß gewährt werden.
Der Gelbe trat zurück und der Schwarze vor. „Wir können einen Mechaniker gebrauchen. Aber du bist zu sieben Achteln weiß.“ Das klang wie eine Beleidigung.
„Ja. Mein Name ist Paul Cenji. Ich bin unter Weißen aufgewachsen. Aber meine Ahnen kann man beim Aufzeichnungsbüro nachweisen.“
Der Schwarze holte einen Knopfsender heraus. „Paul Cenji“, sprach er hinein.
Nach einem Augenblick kam die Antwort. „Zwölf komma fünf Prozent schwarz. Drei Prozent gelb. Spurenelemente anderer Nichtweißer. Gesucht vom Kartell und der Bundespolizei.“
Der Schwarze sah ihn kritisch an. „Du bist in Schwierigkeiten. Dein Körper ist schon okay, bei deiner Vorhaut, aber deine Seele ist weiß.“
„Versuch’s doch“, erwiderte Paul. Er wußte, das würden sie tun – und ehe sie damit fertig sein würden, wäre die Wahrheit schon heraus.
Der Schwarze sprach wieder etwas ins Mikro. Das war offensichtlich kein Standard-Computerterminal; ‚Dutzend’ besaß umfassendere und neuere Informationen als er für möglich gehalten hätte. Sie kannten schon seine Schwierigkeiten mit Mnem und auch von dem Angebot des Bundesbeamten. Und diese dreiprozentige orientalische Abstammung. Zum ersten Mal hatte Paul davon gehört. Es mußte irgendwo bei seiner weißen Komponente liegen; die hatte er nicht so eingehend überprüft wie die schwarze. „Karrie.“
Nach einem Augenblick kam ein braunhäutiges Mädchen von vielleicht sechs Jahren hinzu. Der Schwarze machte ihr mit der gleichen formellen Höflichkeit Platz, die an die Kampfkünste erinnerte. Was ging hier vor?
Das Kind starrte Paul mit offen ausgedrückter Verachtung an. Sie hatte einen leicht schiefen Mund, der ihr ein bewundernswert spöttisches Grinsen verlieh. „Kennst du das Dutzend?“ fragte sie.
Sie meinte nicht dieses Gebäude. Nicht direkt jedenfalls. Verwirrt hob Paul verneinend die Hände. „Ein bißchen – aber nicht mit Frauen oder Kindern.“
„Dann schlepp deinen weißen Arsch woandershin“, sagte sie.
Paul starrte sie an. Er kannte das ‚dreckige Dutzend’, die Wettbewerbe in Beleidigungen, eine speziell schwarze Form der Initiation. Schwarzer Humor in einem ganz bestimmten Sinne. Der Name dieses Clubs war davon abgeleitet. Das war eine passende Herausforderung. Wenn er den Meister des Hauses schlagen konnte, würde er seine schwarze Seele beweisen, denn Weiße nahmen selten an so etwas teil und schnitten auch nicht gut ab. Es war gut vorbereitet gekommen. Aber er hatte an eine Mann-gegen-Mann-Sache geglaubt. Diese Situation Mann gegen Kind fand er ungeheuer fremdartig.
Doch sie hatten es so bestimmt. Wenn er hier reinkommen wollte, mußte er sich schon bewähren.
Er konzentrierte sich auf das Kind Karrie. Sie hatte mit schockierender Direktheit ihre Kampfbereitschaft kundgetan. Das war eine ebenso echte Auseinandersetzung, wie es der Judokampf mit dem Gelben gewesen wäre, und der Sache noch angemessener. Die kleine Karrie hatte ihn aufgefordert, sich aus dem Staub zu machen und zwar mit Hilfe einer unfreundlichen Bezeichnung der Farbe seines Hinterteils. Das mußte er zurückweisen, die Beleidigung gegen den Angreifer wenden sowie einen Reim finden, falls das möglich wäre.
„Ich kneif den Arsch zusamm’n, wenn du benutzt ’nen Kamm“, sagte er – und verspürte sofort Ekel vor sich selber. Die Zurückweisung und den Reim hatte er hingekriegt, doch es war ein schwacher Angriff. Ein Mädchen ihres Alters würde das so machen wie sie wollte. Oftmals war es Punkt des Stolzes, sich nicht zu kämmen; daher hatte er eigentlich keinen Punkt gemacht. Er hatte nur demonstriert, daß er mitmachen wollte.
Sie schnappte zurück: „Ich nehme den Kamm schon, schieb ihn dir in den Chrom.“ Sie hielt inne und schlug dann weiter zu: „Mit Schaum.“
Das war nicht sehr kindlich, trotz ihres Alters. Chrom spiegelte nämlich weiß und nicht schwarz, und Schaummittel wurden von Minderheiten zur Verhütung angewendet. Punkt für sie; sie hatte sein Konzept zu seinem Nachteil übernommen.
„Wenn deine Mama Schaum reingesteckt hätte, wärest du nie rausgekommen“, sagte er. Kein Reim, aber die Beleidigung war schärfer; legte nahe, sie sei ein Betriebsunfall gewesen, ein ungewolltes Kind. Es war schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen: Schlagkraft, Reim, Beleidigung, ohne großartig Zeit zum Nachdenken zu haben. Aber genau das machte es zu einer solchen Herausforderung. Auch die meisten Schwarzen waren darin nicht wirklich gut, weil es ihnen an Geistesgegenwart fehlte. Wenn er damit fertig wurde, würde das mehr als ausreichen, seinen genetischen Mangel auszugleichen. Aber zu spät fiel ihm nun der Reim ein: „Und du hättest hier nie rumgesponnen.“
Um sie herum versammelte sich eine Menschenmenge. Das war ihre Art von Unterhaltung. Nicht alle standen gegen ihn; er begann sich durch seinen Stil zu beweisen, und eine ganze Reihe von Leuten hatten helle Haut wie er. Etwa ein Dutzend oder so. Das war vielleicht auch ein Wortspiel; das ‚Dutzend’ hatte mit der Zahl Zwölf nicht viel zu tun. Es stammte von einem weißen Ausdruck ab, den man für ‚erstaunlich’ oder ‚verblüffend’ gebrauchte. Wenn er diesen Wettbewerb gewann, würde er auch Freunde gewonnen haben, und seine Zukunft wäre abschätzbar, wenn auch nicht absolut sicher. „Gut gemacht“, murmelte einer.
Getroffen schlug Karrie heftig zurück. „Bei deiner Ma kam der Schaum heraus, als sie vögelte die weiße Laus.“
„Patt“, kommentierte ein Zuschauer mit professioneller Schärfe. Er meinte, sie habe Pauls Beleidigung aufgefangen und gegen ihn gewendet, durch einen Reim und einen weiteren rassischen Bezug verstärkt. Diese Angriffe auf sein Weißsein verletzten ihn hier.
Er mußte mit härteren Bandagen kämpfen. Er konnte es sich nicht leisten, Karrie als Kind oder als Frau anzusehen; sie war sein Feind und wollte ihn vernichten. „Das war keine Laus, das war ihr Mann, deine Ma hat zwei Böcke, damit sie überhaupt kann.“
Kurzer Applaus. Paul hatte auf ihren Vers seinen entgegnet und angedeutet, ihre Mutter sei eine Hure. Bei solchen Wettbewerben war die Mutter häufig das Ziel der Beleidigungen, der schwache Punkt in jedem Menschen. „Böcke!“ murmelte jemand bewundernd. Vor einem halben Jahrhundert war dieser Ausdruck traditionell gewesen; nun bezeichnete er ungewöhnliche Billigkeit, kaum den Preis des Schaumspritzers wert – was die Qualität des Scherzes verbesserte. Er hatte nun nach einem unsicheren Start seinen Weg gefunden.
Das Mädchen spürte den Hieb und wußte, daß es verwundet war. Vielleicht war sie wirklich das Kind einer Prostituierten. Diese Beleidigungen sollten eigentlich nicht der Wirklichkeit des Gegners entsprechen, aber wenn man dicht genug traf, daß eine Person die Haltung verlor, verlor sie auch den Wettbewerb. „Hau ab hier, du Siebenachtelschwein!“ schrie Karrie. „Geh zurück an die lilienweiße Fotze deiner Ma!“
„Hoho!“ rief jemand bewundernd. Karrie verlor den Boden unter den Füßen und schlug hart zurück, indem sie ein wunderbares Wortspiel mit seiner Siebenachtel-Abstammung machte und ihn einen Motherfucker nannte. Das grenzte an die schärfste Beleidigung, die man bei normalem Spielverlauf kaum übertreffen konnte, und in diesem Fall wußte er kaum eine Entgegnung. Sie konnte man kaum einen Motherfucker nennen. Nun merkte er, daß das Spiel gegen ihn lief; einige der Hauptbeleidigungen paßten einfach nicht auf Kinder oder Frauen. Karrie stellte ein verwirrend kleines Ziel für ihn dar.
Aber er hatte sich nun aufgewärmt und gab sich noch nicht geschlagen. „Meine Ma ist in Afrika, und ihre Fotze ist mir schnuppe; Und dich geht das gar nichts an, du miese schwarze Puppe.“
Kein Kommentar von der Galerie. Paul hatte sich geschickt verteidigt, sie aber nicht angegriffen. Er hatte die Initiative aus der Hand gegeben.
Karrie roch Sieg. Sie ging zum Todesstoß über. „Ihr Arsch, der ist in Afrika, und dort sorgt sie dafür, daß Papas Tripper wieder wird und er wieder bumsen kann.“
Was ihn zu einem Kind von Geschlechtskranken machte. Was hatte er darauf zu entgegnen?
Plötzlich kam er darauf: eine unschlagbare Andeutung, absolut ekelhaft: Verbindung mit Kot! „Als dein Pa deine Ma gefickt, da fand er nicht den Schlitz; er pißt ihr in den Arsch hinein, und raus kamst du, kackbraun wie ein Kitz.“ Ein Vierzeiler!
Karrie starrte ihn an, geschlagen, nicht zu einer Antwort fähig. Er hatte sie besiegt, hatte sie zu einem Produkt aus Urin und Kot gemacht. Aber es ertönte kein Applaus. Alle standen wie versteinert da.
Dann merkte er: Er hatte die Schimpfkanonade gewonnen, aber sein Ziel verfehlt. Denn dadurch hatte er alle Braunhäute zu Scheiße degradiert, Gelbe zu Urin und damit seine eigene nichtweiße Komponente beleidigt. In seinem Eifer zu gewinnen, hatte er den Zweck die Mittel heiligen lassen und so sein Ziel verfehlt. Nur eine weiße Seele konnte sich eine derartige Beleidigung ausdenken und aussprechen.
Wieder einmal hatte er nach der Rettung gegriffen – und in einen Kothaufen gegriffen.
Es schien nur einen Augenblick zu dauern, bevor es geschah. Er fand sich wieder auf der Straße und fragte sich, wohin er gehen konnte. Er wußte, daß Stunden vergangen waren, denn nun waren die Schatten länger geworden, und er war hungrig. Das Mnem verließ seinen Körper, und er besaß nichts, um es zu ersetzen. Langsam verließ ihn auch das Erinnerungsvermögen. Er mußte ohnmächtig gewesen sein; so wirkte die Droge. Manchmal schwand sein Gedächtnis merkbar dahin, manchmal schubweise.
Er roch Scheiße. Und er wußte es. Das war die Animation, die seinen inneren Wert enthüllen würde, die Quellen seiner Schmutzigkeit. Amaranth hatte die Rolle von Schwester Beth gespielt – aber diese Erinnerung war echt. Er hatte das unschuldige Mädchen umgebracht, vor zehn Jahren. Oder neun oder acht. Mnem hatte sein Gedächtnis vernebelt, und nun brachte die Animation seine schmutzigsten Geheimnisse zurück. Er war absolut wertlos.
In einem Fenster leuchtete Licht auf. Er stand vor einem Wohnhaus, und bei dieser Öffnung im Parterre war kein Vorhang vorgezogen, andernfalls hätte er nicht schnüffelnd auf der Feuertreppe gestanden. Das Fenster war schmutzig, aber das war nicht wichtig. Er spähte hinein und sah Therion nackt dort stehen, während das Mädchen angekleidet in der Ecke hockte. Nenn sie Amaranth, Licht, Schwester Beth, die Kartellsekretärin oder eine anonyme Kasinokellnerin; sie war ein namenloses Mädchen, das Ziel eines jeden Mannes’ Auge und Penis. Dies war das Schloß der Entdeckungen von menschlichen Beziehungen.
Irgend etwas beunruhigte ihn an der Position der beiden in dem Zimmer. Es war der gleiche Raum, den er mit ihnen geteilt hatte, und er begriff, warum er selbst nicht anwesend war, weil er nun hier draußen stand und alles aus anderer Perspektive sah. Aber er hatte in der Mitte mit ihr geschlafen, nicht in einer Ecke.
Und sie war nackt gewesen, nicht angekleidet. Hier stand Therion in der Mitte, war nackt.
Nun hörte Paul Therions Stimme: „Stich dein dämonisches Lächeln in mein Hirn, weich mich in Cognac, Mose und Kokain ein.“ Und der dickleibige Mann schob sein flabbriges Hinterteil nach vorn.
Der Geruch nach Scheiße wurde überwältigend. Paul wurde übel; er versuchte, den Drang zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht. Er wandte sich ab von dem Fenster und erbrach sich in die darunterliegende Straße. Erbrochenes strömte ihm in mehreren Schüben aus Nase und Rachen, braun anzusehen in diesem Licht, mit gelben Schleimspuren, die sich kaum lösen ließen. Doch immer noch roch er die Scheiße.
Der Pfeil, im Dunkeln nur schlecht gezielt, traf seinen Gürtel und prallte ab. Die Nadel war durch bloßen Zufall und die Bewegung seines würgenden Körpers nicht in sein Fleisch eingedrungen. Aber Paul schlug sich mit der Hand auf die Seite und schrie auf.
Aus dem Schatten tauchte ein Mann auf. „Ist nicht persönlich gemeint“, sagte er. „Wahrscheinlich hast du gedacht, du könntest einfach beim Kartell kündigen und würdest dich in ein paar Tagen an nichts mehr erinnern.“
Paul merkte, daß ihm ein weiterer Teil seines Gedächtnisses abhanden gekommen war. Es war jetzt Nacht, und die Kotzflecken auf seinem Hemd waren getrocknet. Nur noch schwach roch er den Kot. Was hatte er in den letzten Stunden getan? Er hatte keine Ahnung; Mnem hatte es ausgelöscht, so säuberlich, wie das Messer dem Knaben die Vorhaut abschnitt. Der Pfeil hatte ihn zu vollem Bewußtsein gebracht; er kannte auch seine Bedeutung. Der Überlebensinstinkt war tiefliegender als es die Routineereignisse waren. All seine Fähigkeiten wurden mobilisiert, um dieser Bedrohung entgegenzustehen. Der Pfeil war mit einem Betäubungsmittel versehen, um seinen Körper träge und unkoordiniert zu machen, damit man sich seiner bequem entledigen konnte. Auch anderen war dies geschehen, das wußte er.
„Komm doch einfach mit“, sagte der Mann, der nicht gemerkt hatte, daß sein Pfeil nicht getroffen hatte und daß ihm ein wacher, gefährlicher Mann gegenüberstand. „Eine nette kleine Fahrt. Wenn du mit einem Mnem-Kater herumläufst, würde dich die Polizei sofort aufspüren und erwischen, und dann wüßten sie, daß du süchtig bist. Und das wäre für uns alle schlimm. Wir können es uns einfach nicht leisten, daß sie dich finden. Niemals.“ Er griff nach Pauls Schulter.
Paul streckte den rechten Arm aus, um ihn von sich fernzuhalten, Unterarm gegen Unterarm. Er wirbelte nach rechts, hielt den Mann auf Abstand, überwand ihn und umschloß mit der Rechten dessen rechte Hand. Die Finger griffen nach der Messerklinge. Paul drehte seinen Arm einwärts, als tanze er ein Menuett. Als er die Drehung vollendet hatte, umschloß er mit beiden Händen den Arm des Mannes und bog grausam hart dessen Handgelenk ab. Er setzte die Hebelwirkung an.
Mit einem Aufschrei, aus Überraschung und Schmerz gemischt, fiel der Mann zu Boden. Das war auch gut so, denn wenn er standgehalten hätte, wäre das Handgelenk ausgebogen worden. Mit diesem Griff konnte ein Kind einen hundertachtzig Kilo schweren Sumoringer aus dem Gleichgewicht bringen.
Paul drehte den Arm des Mannes herum und zwang ihn, mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster liegenzubleiben. Er nahm den herabfallenden Pfeil auf und stieß ihn in den entblößten Hals des Mannes. Ein paar Sekunden lang mußte er warten, bis der Körper schlaff wurde. Dann ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. Der Mann stand nicht wieder auf. „Nicht persönlich gemeint, mein Freund“, sagte Paul und fügte hinzu: „Gott schütze dich.“ Dann ging er fort.
Nun wußte er, was abzusehen gewesen war: Das Kartell ließ ihn nicht einfach so gehen. Sein Leben war in Gefahr, ganz gleich, was mit seinem Gedächtnis passierte. Er mußte sich verstecken, ehe die nächste Totschlägerbande ihn fing. Oder die Bullen.
Sie war Wahrsagerin aus einer uralten Schule: eine Frau von unbestimmtem Alter mit großen, dunklen Augen. Sie trug ein langes Gewand, das mit rätselhaften Symbolen bestickt war, und saß in einem verhangenen, düsteren Raum an einem Tisch mit einer echt falschen Kristallkugel. Die moderne Technologie hatte sich eingeschlichen. Das Kristall enthielt ein beleuchtetes Hologramm einer Landschaft im Dämmerlicht, mit einem Vollmond über knorrigen Eichen.
„Deine Karte“, murmelte sie.
„Nein … ich habe keine Karte“, erwiderte Paul. Er wußte, daß man ihm den Kredit abgeschnitten hatte, und selbst ein Versuch, ihn weiter auszuschöpfen, würde ihm die Verfolger auf die Fersen hetzen. Es war die große Stunde der Technokraten gewesen, als man das Kreditsystem universell einführte, denn jedermann mußte irgendwann etwas ausgeben, um leben zu können, und wenn er etwas ausgab, war er identifiziert. Es war bequemer geworden, aber dies geschah auf Kosten der Freiheit. Die Furcht von Schwester Beth, durch das Computersystem geschnappt zu werden, wurde nun zu seiner eigenen.
Schwester wer? Verfolger? War er in Schwierigkeiten? Er konnte sich nicht erinnern.
„Dann Geld bitte“, sagte sie resigniert. Bargeld war ein unsicheres Mittel; es war leicht zu fälschen und bot keinen Beweis für Identität. Aber eine Wahrsagerin konnte kaum wählerisch sein.
Paul griff tief in die Tasche und fand ein bißchen Kleingeld: zwei Fünfzigdollarnoten und eine Fünfundzwanziger-Note. Er legte sie auf den Tisch neben die Kristallkugel.
Sie seufzte. Das war nicht genug – aber auch hier war sie gezwungen anzunehmen, was sie bekommen konnte. Heute war offensichtlich ein schlechter Tag. „Setz dich.“
Paul setzte sich. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin“, sagte er.
„Das werden wir herausfinden.“ Sie blickte in die Kristallkugel, und das Hologramm veränderte sich, wurde zu einem bunten Farbenwirbel. Das war das Tolle bei vielfacettigen Hologrammen: Die kleinste Bewegung der Kugel veränderte den Blickwinkel und brachte ein neues Bild hervor. Aber das war auch verwirrend, denn der dreidimensionale Effekt litt, wenn die Bewegung auf der vertikalen Ebene zwischen den beiden Augen geschah, und brachte verschiedene Bilder hervor. Man mußte die Kugel etwas kippen. Allgemein standen die Facettenlinien horizontal zueinander, so daß beide Augen den gleichen Blickwinkel hatten, und der Ball wurde auf einer horizontalen Achse gedreht. Die Farben drehten sich hypnotisierend, und Paul wußte es, doch es war ihm gleichgültig.
„Du bist verwirrt, hungrig, müde und allein“, begann die Wahrsagerin. „Du brauchst Hilfe, aber du weißt nicht, wie und wo du sie suchen sollst.“
Paul nickte. „Programmierung“, sagte er bei einem schwachen Aufblitzen seines Gedächtnisses. „Deprogrammierung … muß fliehen … Drogen …“
Leicht zog sie die Augen zusammen. „Gib mir deine Hand.“
Paul streckte die Hand aus. Sie nahm die Handfläche und studierte die Linien. „Gemischter Typ, unklassifizierbar, aber mit Anzeichen psychischer Gaben“, sagte sie, als läse sie aus einem Buch ab. „Lange Lebenslinie, aber unterbrochen …“ Sie hielt inne und blickte genauer hin. „Aber da ist auch eine schwache Marslinie. Und eine Gabelung am unteren Ende.“ Sie blickte auf, und ihre Augen trafen sich. „Du hast ein langes Leben vor dir, aber bald … gerade jetzt … einen Unfall oder eine sehr schwere Krankheit. Du wirst überleben, aber in veränderter Form. Dein Leben wird niemals wieder das gleiche sein, und du wirst in einem Land leben und sterben, das nicht das deiner Geburt ist.“
„Sehr wahrscheinlich“, stimmte Paul zu.
„Deutliche Kopflinie, die aus dem Jupiterhügel aufsteigt und zum Mondhügel abzweigt. Du hast einen außergewöhnlich starken Intellekt und Ehrgeiz und wirst durch Phantasie und psychische Wahrnehmungsfähigkeit Erfolg haben.“
„Im Moment scheine ich nur zu versagen“, meinte Paul.
„Deine Hände wissen es besser als dein Kopf“, versicherte sie ihm. „Im Augenblick scheinst du im Fluß zu sein, aber du hast ausgezeichnete Kräfte.“ Sie wandte sich wieder der Hand zu. „Die Herzlinie steigt zwischen Jupiter- und Saturnhügel auf. Du hast sowohl die Fähigkeit zu idealistischer als auch zu leidenschaftlicher Liebe … und diese Liebe ist ungewöhnlich stark.“ Wieder sah sie ihm in die Augen. „Übrigens bist du ein höchst anziehender Mann. Ich könnte dir ein Angebot machen …“ Sie zuckte die Achseln und ließ den Schal herabgleiten, um den Busen zu zeigen. Amaranth in einer neuen Rolle spielte wieder mit ihrem Sex-Appeal.
„Ich will einfach nur meine Zukunft wissen“, sagte er.
Sie seufzte. „Schicksalslinie … sehr kurz, steigt nicht an bis zur Mitte der Handfläche, ist dann gut sichtbar und gegabelt. Du hast eine extrem schwierige frühe Lebensphase, wirst aber durch eigene Mühen Erfolg haben, besonders durch deine Phantasie. Die Glückslinie … klar und deutlich über dem Apollohügel. Du wirst Glück haben und in den späteren Lebensjahren Zufriedenheit.“
„Erzählst du mir nur, was ich hören will?“ fragte Paul. „Ich will nicht hören, was ich hören möchte! Ich meine … was meine ich denn eigentlich?“
„Ich sage dir, was mir deine Hand verrät“, beharrte sie. „Willst du eine andere Methode? Das Tarot …?“
„Nein, nicht Tarot!“
„I Ging?“
Paul kannte es nicht, und das in seinem Alter, daher war er mißtrauisch. „Nein.“
„Dann das Ouija?“
Auch damit verband Paul unangenehme Assoziationen; er betrachtete es als Kinderspiel, das man nicht ernst nehmen konnte. „Nein.“
„Dann also Astrologie.“
Verwirrt und verstört stand Paul auf. „Nein, ich will nicht mehr wissen! Ich will nur …“ Aber er konnte nicht weitersprechen, weil er nicht wußte, was er wollte, außer Befreiung von … was denn? Irgendein schreckliches Gefühl …
„Oder Weissagung durch Träume“, schlug sie vor. „Oder die Teeblätter. Oder auf der Stirn … du hast eine sehr ausdrucksvolle Stirn mit guten Saturn- und Jupiterlinien.“
Aber Paul ging schon hinaus, floh vor ihr. Er wußte, es gab Hunderte oder Tausende von Wahrsagemethoden, und sie alle mochten ihre Gültigkeit haben, aber jetzt hatte er plötzlich Angst vor der Zukunft und wollte sie meiden.
Dämmerung. Seine Beine waren erschöpft, ein Arm verletzt, und Staub und getrocknete Kotze überzogen seine Kleidung. Er war hungrig und müde, aber er konnte nicht einschlafen. Er mußte die ganze Nacht herumgelaufen sein und sich absolut verausgabt haben, und nun konnte er sich nicht mehr daran erinnern und wußte auch nicht mehr, wo er war. Er hatte wohl wieder kämpfen müssen und wußte, daß er immer noch nicht in Sicherheit war. Aber wohin konnte er sich wenden?
Wohin war er denn während seiner Ausfälle gegangen? Er mußte bei Bewußtsein gewesen sein und richtig gedacht haben, und dumm war er auch nicht. Vielleicht hatte er sich ein gutes Versteck überlegt und war fast da … wenn er sich nur erinnern könnte. Vielleicht fiel es ihm wieder ein. Vielleicht hatte er es sich bereits ein halbes Dutzend Mal im Laufe der Nacht ausgedacht und kam ihm jedes Mal näher, ehe er wieder zusammenbrach.
Pfff! Er stolperte weiter. Dann begann der leise Schmerz. Er sah den Stein über das Pflaster tanzen. Er hatte ihn am Hinterkopf getroffen, ihn jedoch nicht umgeworfen. Er taumelte weiter und spürte, wie sein Bewußtsein schwand; der Mnem-Entzug machte es noch schwieriger und ließ sein Gehirn unangemessen reagieren. Er streckte eine Hand aus, um sich gegen eine Ziegelmauer zu stützen.
Aus Nischen tauchten Kinder auf, die handgefertigte Waffen trugen. Eine Teenager-Gang auf der Suche nach Abenteuern, Geld und vielleicht einer fetten Provision von einer räuberischen Organbank. Künstliches Blut und Organe ließen die natürlichen überflüssig werden, doch einige Patienten bestanden auf echter Ware. Lungen, Nieren und Leber brachten ausgezeichnete Preise, wenn sie frisch und gesund waren, und seine Organe waren das.
Paul versuchte sich, zur Flucht aufzurappeln, doch er hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern, warum er fliehen wollte oder wie die unmittelbare Bedrohung aussah. Deprogrammierung? Was war das? Nein, das war das Mädchen, Schwester Wasweißich, und die war tot, und er hatte sie umgebracht, und ein fremder Mann hatte sich über ihrem Gesicht entleert, und was konnte er tun, um sie zurückzubringen? Er war schuldig, eine unschuldige Person verfolgt zu haben, und dafür mußte er zahlen … die Strafe mußte dem Verbrechen angemessen sein. Christus war gleich Schuld. Er mußte den Trivialitäten der Gesellschaft geopfert werden – Zahn um Zahn, Leben um Leben, Scheiße für Scheiße – aber das war die Todesstrafe, und sie wollte das nicht …
„Aber das ist nicht nett!“ sagte eine sanfte Stimme.
Erstaunt verschwanden die Kinder in die Nischen, aus denen sie gekommen waren. Ein fremder junger Mann nahm Paul beim Arm und stützte ihn. „Kommen sie, Sir, ich fürchte, Sie sind verletzt. Wir können Ihnen helfen.“
„Nein, nein“, protestierte Paul schwach. „Ich muß noch wohin.“
„Sie bluten am Kopf, sind todmüde, schmutzverkrustet und …“ Der Mann hielt inne und sah ihn scharf an. „Sie sehen aus wie ein Mnem-Süchtiger in den Fängen eines plötzlichen Entzuges. Sie haben Schwierigkeiten, Sir.“
„Kann mich nicht erinnern“, sagte Paul. „Wer …“
„Ich bin Bruder John vom Heiligen Orden der Vision“, sagte der Mann. „Wir verstehen etwas von Mnem-Sucht. Wir können Ihnen helfen. Vertrauen Sie uns.“
Der Heilige Orden der Vision! Da hatte er doch auch hin gewollt! Und er hatte es fast geschafft, ehe er zusammenbrach. Aber was würden sie tun, wenn sie von seiner Rolle beim Tod von Schwester Beth erfuhren? Denn das würde er ihnen erzählen müssen. Ehe er seine Schuld vergaß.
Schuld! Das war das Ding, das ihn verfolgte. Wie konnte er dem je entkommen?
„Du kannst mir nicht helfen“, sagte er. „Mein Leben ist Scheiße. Mein innerstes Selbst … meine Seele … ist ein dampfender Kackhaufen. Wertlos. Beschmutze nicht deine Hände an mir.“
Bruder John zuckte weder zusammen, noch runzelte er die Stirn. „Fäkalien sind gut für den Komposthaufen“, sagte er. „Ein lebenswichtiger Zustand im Erneuerungszyklus. Erde, das Fundament – ohne das würde fast alles Leben auf diesem und anderen Planeten ersticken und ausgelöscht werden. Es muß Tod und Wiedergeburt geben, und dazwischen liegt die Erde. Deine Seele dient also einem Zweck Gottes, und dafür braucht man sich nicht zu schämen.“
Nicht schämen! Wenn er das nur glauben könne! Aber diese andere Sache, der Tod von … „Ich kann nicht.“
Bruder John hielt ihm ein Kartenspiel entgegen. „Würde das Tarnt helfen?“
Nachdenklich nahm Paul irgendeine Karte heraus. Er drehte sie um. Es war die Stab-Acht: Acht sprossende Zweige flogen durch die Luft und kamen auf dem Boden zur Ruhe. Ihre Kraft war verbraucht. „Meine Kraft ist verbraucht“, sagte Paul.
„Weil du dich deinem Ziel zu rasch näherst, deinem wahren Wunsch?“ fragte Bruder John.
Sein Ziel. Plötzlich war es, als umstrahle ihn ein großes Licht, das ihn blendete. Paul wußte, was er zu tun hatte.
„Starren Sie nicht in die Morgensonne, Sir“, warnte ihn Bruder John. „Das ist für Ihre Augen nicht gut.“
Aber das war egal. Was war schon die Sehkraft, verglichen mit der phänomenalen Offenbarung, die er gerade erfuhr? Er hatte das Leben eines Mitgliedes des Heiligen Ordens der Vision verfolgt und genommen; er mußte dem Orden ein Leben zurückgeben. Sein eigenes Leben. Es hatte Tod gegeben, es würde eine Erneuerung geben. Dazwischen lag Erde. Seine Seele.
Er hatte … nach Hause gefunden. „Gott segne dich, Bruder“, flüsterte Paul.