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Erinnerung
705 A. D. Die Tochter eines englischen Missionars in Deutschland hatte einen so klugen Kopf und war offensichtlich so fromm, daß man sie als Johannes VII. auf den Papstthron hob. Trotz der Verkleidung als Mann blieb sie – ach – doch eine Frau und daher ein Pfuhl des Frevels. Sie unterlag ihren niederen weiblichen Trieben, ließ ein Mitglied ihres Haushaltes zu sich ins Bett und erlitt somit die dämonische Erfüllung ihres Geschlechts. Im Jahre 707, während einer feierlichen Pfingstprozession durch die Straßen Roms in Begleitung der Priesterschaft, entband man die als Päpstin Johanna bekannt gewordene Frau an einer Stelle zwischen Kolosseum und der Kirche des Heiligen Clemens von einem Bastardsohn. So verriet sich diese Päpstin als Hure in Männerkleidern. Natürlich hat die Kirche diese Geschichte unterdrückt und als Mythos deklariert, aber es gibt Leute, die sich noch daran erinnern. Dies ist der Inhalt des Zweiten Schlüssels des Tarot, welcher heißt: Die Päpstin. Ist es nicht immerhin eine wahrhaftige Spiegelung der Natur der Geschlechter?
Bruder Paul ging an den üppigen Gemüsegärten der Station vorbei auf das Büro von Hochwürden zu. Es war ein schöner Sommertag. Er hoffte, er habe sich gut betragen, doch beim Gehen summte er nervös vor sich hin.
Der Anblick der Miene von Hochwürden verstärkte seine Zweifel. Irgend etwas sehr Wichtiges schien im Schwange zu sein, und er befürchtete, wieder gefehlt zu haben. Da die Disziplin innerhalb des Ordens sehr streng war, beging Bruder Paul zahlreiche Fehler und hatte bereits eine Reihe von Strafen erhalten.
Bei seinem Eintritt erhob sich Hochwürden und kam auf Paul zu, um ihn zu begrüßen. „Es ist gut, dich zu sehen, Paul. Du hast dich gut entwickelt.“
Das hörte sich gut an! Dieses Mal ging es also nicht um irgendwelche Vergehen. „Ich tue, was mir der Herr befiehlt, Mutter Maria“, sagte er bescheiden und verbarg seine Erleichterung.
„Mmm“, stimmte die Priestermutter zu. Sie setzte sich nicht wieder hin, sondern schritt unruhig im Büro auf und ab. „Paul, vor uns liegt eine kritische Entscheidung, und ich muß etwas tun, was mir nicht behagt. Vergib mir.“
Ganz gewiß lag etwas sehr Schlimmes in der Luft. Paul dachte nach, bevor er eine Antwort gab, und versuchte, eine angemessene Erwiderung zu finden.
Die Priestermutter war übrigens eine junge Frau, kaum älter als er selber, deren makellose Ordenstracht weder ihre weiblichen Attribute verbarg noch sie geschlechtslos wirken ließ. Das dunkelbraune Haar trug sie in der Mitte gescheitelt; es war über die Ohren gestrichen, um diese zu verbergen, und im Nacken fest zusammengesteckt – doch es umrahmte ihr Gesicht wie eine mystische Aura. Der umgebogene Kragen umschloß einen schlanken, weißen Hals, und das Kreuz hing zwischen ihren Brüsten. Das Kleid war so lang, daß es den Boden berührte und ihre Füße verbarg. Gelegentlich bauschte es sich beim Gehen, und sie zog den Saum hinter sich her. Ihr Charakter, das wußte er, war freundlich und offen. Nur wenn es absolut notwendig war, wurde sie streng. Es wäre nur allzu leicht gewesen, sie als hübsches Mädchen zu lieben, wenn es nicht wichtig gewesen wäre, sie als verantwortliche Frau und weiblichen Mitmenschen zu verehren. Und natürlich als Priesterin.
Daher schien es das Beste, ihr zu gestatten, ohne Rücksicht auf seine Gefühle ihr Herz auszuschütten, und leicht konnte man ihn ohnehin nicht verletzen. Offensichtlich war sie der Meinung, was sie zu sagen hatte, würde ihn betreffen, und vielleicht würde es das auch – aber er war sicher, es aushalten zu können. „Bitte redet frei, Mutter.“
Die Oberin trat an ihren Schreibtisch und schien sich dort fast auf etwas zu stürzen. „Bitte, nimm dies hier, wenn du willst“, sagte sie und bot ihm eine kleine Schachtel an.
Bruder Paul nahm sie. Er mußte fest zugreifen, denn ihre Hand zitterte. Wenn sie auch ihre Fähigkeiten zur ‚Mutter’ gemacht hatten, war sie doch manchmal wie ein kleines Mädchen, so unsicher, daß es schon fast peinlich wirkte. Es war ihm schon früher in den Sinn gekommen, daß vielleicht eine ältere Person besser für dieses Amt geeignet wäre. Aber es gab viele Stationen, und das Alter war meistens nicht ausschlaggebend bei der Besetzung.
Er blickte in die Schachtel. Sie enthielt ein Tarot-Kartenspiel, die symbolische Weisheit aller Zeitalter.
Nun setzte sie sich, als habe man sie von einer Last befreit. „Bitte, misch sie.“
Bruder Paul nahm die Karten heraus und breitete einige der oberen Karten aus: Sie lagen der Reihenfolge nach, die mit Arkan Null oder dem Narren begann, und weiter ging es mit dem Weisen, der Hohepriesterin (auch die ‚Päpstin’ genannt), der Herrscherin, dem Herrscher und so weiter alle zweiundzwanzig Trümpfe oder Großen Arkanen hindurch, und dann folgten die sechsundfünfzig anderen Karten oder Kleineren Arkanen. Da waren die Kombinationen von Stab, Kelch, Schwert und Münze entsprechend den normalen Farben Kreuz, Herz, Pik und Karo oder den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Eine jede Bildkarte war wunderschön gezeichnet und koloriert. Er hatte wie alle Brüder und Schwestern des Ordens den Tarot-Symbolismus studiert, respektierte diese Kunst und war mit den Karten wohlvertraut. Eine der Übungen des Ordens bestand darin, schwarz-weiße Karten entsprechend der Vorschrift bunt zu bemalen. Das war kein Kinderspiel; es war überraschend, wieviel Offenbarung in diesem Akt verborgen lag. Farben wie auch Zahlen und Bilder dienten einem grundsätzlichen symbolischen Zweck.
Während er darüber nachdachte, mischten seine Finger die Karten mit einer solchen Geschicklichkeit, die kaum zu seiner asketischen Berufung paßte. Er war nicht immer ein Bruder gewesen, aber wie der Apostel Paulus, dem er seinen Ordensnamen verdankte, hatte er sein früheres, wildes Leben hinter sich gelassen. Nur als notwendige Reueübung dachte er zuweilen über seine vergangenen Fehler nach. Eines Tages – wenn er es wert sein würde – würde er diese Büchse der Pandora auf immer schließen.
Er war nun mit dem Mischen fertig und gab die Karten der Oberin zurück.
„Die Frage, die du im Kopf hattest – hing sie mit meiner Sorge um dich zusammen?“ fragte die Priesterin und hielt die Karten in den schmalen Fingern.
Zustimmend beugte Paul den Kopf. Es war eine kleine Notlüge, da sich seine Gedanken verbotenerweise nur mit den Karten beschäftigt hatten. Natürlich hatte er sich gefragt, warum er hier war; man hatte ihn nicht wegen eines kleinen Plauderstündchens mitten aus seiner Klasse gerufen. Aber eine Notlüge war immer noch eine Lüge!
„Laß uns die Karten legen“, sagte sie.
Wie schnell er für die Lüge bezahlen mußte. Ihre Absicht war offenkundig gewesen, als sie ihm die Karten gereicht hatte; wie hatte es ihm nur entgehen können. „Ich fürchte, ich …“
„Nein, ich meine es ernst. Tarot ist ein legitimer Weg, ein Problem zu lösen – besonders in diesem Fall. Laß dich davon leiten.“
Sie deckte die erste Karte auf, wobei sie darauf achtete, sie seitlich abzuheben und nicht Kante an Kante, um sie nicht umzudrehen. Bruder Paul verbarg seine Aufregung. Er hatte einen dummen Fehler begangen, der ihnen beiden peinlich werden konnte. Er versuchte, an einen vernünftigen Grund zu denken, diese Sitzung abzubrechen, aber alles, was ihm einfiel, war eine blasphemische Anekdote über die Päpstin Johanna, die Inkarnation der babylonischen Hure, Epitheton für die römisch-katholische Kirche. Ein derartiger Gedanke war in Gegenwart der Oberpriesterin Mutter Maria, die absolut keusch lebte, einfach skandalös. Es sei denn, sie hatte ihn hergerufen, um ihn … Nein, das war unmöglich! Eine völlig unwürdige Vorstellung, für die er die Selbstkasteiung verdiente.
Die Karte war das Keulen-As, das Bild einer aus Wolken auftauchenden Hand mit einer Keule.
„Erstaunlich“, bemerkte die Oberin. „Das bedeutet den Beginn eines neuen, großen Abenteuers.“
Ein großes neues Abenteuer? Mit ihr? Er versuchte angestrengt, diese Gedanken zu unterdrücken, so teuflisch verlockend sie auch waren. In diesem Augenblick wünschte er sich, sie wäre achtzig Jahre alt und hätte eine riesige, behaarte Warze auf der Nase. Dann würden sich seine Gedanken schon fügen. „Nun, ich muß erklären …“
„Decken wir die zweite auf.“ Sie legte eine zweite Karte von oben ab. Jetzt war ihr schon wohler zumute; die Karten halfen ihr, ihre Gefühle auszudrücken. „Diese soll dich kreuzen“, sagte sie und legte die Karte seitlich über die erste.
„Möge Gott Gnade mit mir haben“, dachte er inbrünstig.
Sie blickte verdutzt auf die zweite Karte. „Das Kelch-As!“
„Seht, ich …“ stammelte Bruder Paul.
Die Priesterin runzelte die Stirn. Sie gehörte zu den Frauen, die aufgeregt sogar noch süßer aussehen als vergnügt, wenn dies überhaupt noch möglich war. Stumm deckte sie die dritte Karte auf. Das Schwert-As. Dann die vierte: Münz-As. Bei jeder tauchte eine Hand aus Wolken auf und trug das entsprechende Symbol.
Sie hob den grüngrauen Blick und sah ihn vorwurfsvoll an. Bruder Paul erklärte lahm: „Ich … alte Gewohnheit … ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen.“ Ohne Zweifel gab es in Dantes Inferno eine besondere Hölle für ihn!
Mutter Maria holte tief Luft, und dann lächelte sie – als brächen Sonnenstrahlen aus einem dunklen Himmel. „Ich habe vergessen, daß du einmal ein Kartenteufel warst.“ Sie blickte auf die vier Asse und zuckte zusammen. „Und bist es immer noch, wie es scheint.“
„Aufgegeben“, gab Paul zurück. „Und gebessert.“
„Das will ich hoffen.“ Sie nahm die Karten auf.
„Ich mische sie noch einmal, aber richtig“, bot er an.
Sie machte eine kurze, abwehrende Handbewegung. „Das Falsche lehrt das Richtige.“ Aber das Eis war gebrochen. „Paul, es spielt keine Rolle, wie du gemischt hast, so lange du die korrekte Frage formuliert hast.“
Aber natürlich hatte er sie nicht formuliert. Sein Kopf war voller Gedanken an die Karten, Päpstin Johanna und ähnliches gewesen. Sein Gesicht war wie eine Muschel, die die Katastrophe seiner Gedanken verbarg.
„Dann wirst du dich in der Tat zu einem bemerkenswerten neuen Abenteuer aufmachen – wenn du so willst.“
Und plötzlich merkte er, daß seine Strafe darin bestehen würde, diese Mission zu unternehmen, wie mühselig sie auch immer werden würde. Die schwindende Zivilisation heutzutage schuf eine Menge höchst unangenehmer Situationen. „Ich gehe hin, wohin ich gewiesen werde“, sagte Bruder Paul.
„Nicht dieses Mal. Ich kann dich nicht auf diesen besonderen Auftrag schicken, und der Orden kann es auch nicht. Du mußt dich freiwillig dafür melden. So wie ich dich kenne, wirst du das auch tun, und daher bin ich verantwortlich.“ Sie blickte zur Decke mit den groben Holzbalken. Sie verrichtete, das war ihm klar, ein kurzes, stilles Gebet. „Ich habe Angst um dich, Paul, und meine Seele leidet.“
Das ewig Weibliche! Eine Mission war durch die Hierarchie des Ordens auf sie zugekommen, und sie war aufgeregt, weil er sie vielleicht akzeptierte. Das war nicht bloße Rhetorik von ihr; einmal berührte ihre Hand leicht die Tarotkarten, nun umklammerte sie das Kreuz. Er hatte sie noch niemals so aufgeregt gesehen. Es war, als habe sie verwerfliche Vorstellungen und nicht er. „Wir alle gehen dorthin, wo wir gebraucht werden“, sagte er.
„Aber einige sind stärker als andere“, murmelte die Priesterin, und ihr Blick hob sich, um seinem zu begegnen. Ihr Gesicht war tödlich ernst. Was konnte sie damit meinen? „Ich schicke dich in die Hölle, Bruder.“
Bruder Paul lächelte nicht. Noch niemals hatte er von ihr solche Worte vernommen! Natürlich fluchte sie nicht, das würde sie niemals tun. Wenn sie Hölle sagte, wußte man, was sie meinte, ebenso wie beim Tarotspiel. Sie meinte das Reich des Teufels. „Bildlich gesprochen, vermute ich?“
„Wörtlich, Paul. Und die Rückkehr wird schwerer sein als die Hinreise.“
„Das wird wohl so sein. Besonders, wenn es notwendig sein sollte, zuerst zu sterben.“ War er nun unverschämt, wenn er andeutete, er würde vom Tode auferstehen wie Jesus? Das hatte er nicht gewollt.
Sie lächelte nicht. „Nein. Wie Dante wirst du lebendiger Besucher sein. Vielleicht wirst du auch den Himmel sehen.“
„Ich glaube, dazu bin ich nicht bereit.“ Dieses Mal war er absolut ernst. Vor dem Himmel besaß er mehr Ehrfurcht als vor der Hölle. Das war wohl eine wirklich außergewöhnliche Sache, die sie nun beschrieb.
Nervös schüttelte die Priesterin den Kopf, so daß man für einen Moment eines ihrer Ohrläppchen sehen konnte wie ein verbotenes Körperteil. „Ich bin zwischen den Säulen von Gut und Böse gefangen, und ich kann sie nicht mehr auseinanderhalten.“ Sie wandte sich von ihm ab; er hatte noch nicht gemerkt, daß sie auf einem Drehstuhl saß. „Paul, es ist meine Pflicht, dir dies als deine zukünftige Mission vorzustellen – aber wenn ich als Schwester, als Freundin zu dir rede, dann muß ich dich dazu drängen, diese Aufgabe abzulehnen. Nicht nur, daß ich traurig wäre, dich nie wiederzusehen – wenn ich auch aus keinem erfindlichen Grund Angst davor habe –, sondern, weil diese Mission der absolute Horror ist. Horror!“
„Jetzt werde ich aber neugierig“, sagte Bruder Paul, und seine Spannung nahm ab, während ihre zunahm. „Kann ich mehr darüber erfahren?“
„Soviel, wie wir auch wissen“, antwortete sie. „Man hat uns gebeten, unseren am besten qualifizierten Vertreter zum Planeten Tarot zu schicken, um dessen Gottheit zu bewerten. Einen starken Mann, nicht zu alt, nicht zu einseitig einer bestimmten Ideologie ergeben, klug und mit ausgeprägtem Objektivismus. Du scheinst uns dieser Mann zu sein.“
Bruder Paul ignorierte das Kompliment, weil er wußte, es war nicht als solches gemeint. „Planet Tarot?“
„Wie du weißt, hat die Erde während des gegenwärtigen Materieübertragungsprogramms an die tausend bewohnbare Welten kolonisiert. Eine davon heißt Tarot, und dort gibt es ein Problem.“
„Hölle, habt Ihr gesagt. Ich hatte gedacht, man habe Kolonisten nicht in unfreundliche Gegenden geschickt? Wenn dieser Planet so höllisch ist …“
„Ich habe nicht höllisch gesagt, Paul. Ich habe Hölle gesagt. Und der Weg dorthin …“
„Oh, ich verstehe. Er hat bewohnbar ausgesehen bei den Voruntersuchungen.“
„Die Untersuchenden müssen stark übertrieben haben. Wie sie dazu kamen, diesen Planeten so einzustufen …“ Die Mutter Oberin machte eine fragende Handbewegung. „Schon der Name …“
„Ja, das macht mich auch neugierig. Die meisten der Namen zielen auf Verständlichkeit. ‚Eroberung’, ‚Wiesenland’, ‚Zephyr’ – wie sind sie bloß auf Tarot gekommen?“
„Vermutlich hatte ein Mitglied der Untersuchungskommission ein Tarotspiel dabei. Und während der Mann im Basislager auf die Rückkehr seiner Kollegen wartete, hat er sich die Karten für die Zukunft gelegt. Und …“ Sie hielt inne.
„Und irgend etwas ist geschehen?“
„Ja, gewiß. Er … die Karte … das Bild auf einer seiner Karten nahm Gestalt an. Dreidimensional und lebendig.“
Bruder Pauls Interesse vertiefte sich. Er kannte sich aus mit Taschenspielertricks und halluzinatorischen Phänomenen. „Hatte er eine Droge geschluckt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie behaupten, nein. Kein Alkohol, keine Drogen, keine Pilze, kein Leim, kein Pflanzenextrakt. Daher hat er sich überhaupt mit den Karten beschäftigt. Und die anderen Teilnehmer der Gruppe haben die Lebendigwerdung ebenfalls beobachtet.“
„Also keine Halluzination. Aber vielleicht ein praktischer Scherz?“
„Nein, auch kein Scherz.“
„Welche Karte war es?“
„Schwert-Zehn.“
Bruder Paul hätte fast durch die Zähne gepfiffen, beschränkte sich aber auf ein ernstes Nicken. „Deutet auf Ruin hin. War es ein richtiges Bild?“
„Ja. Zehn lange Schwerter durchbohren einen Leichnam. Alles war richtig plastisch.“
„Das hat die Gruppe aber ganz schön in Aufregung versetzt!“
„Sicher. Sie zogen die Schwerter heraus und drehten den Körper herum. Es war ein Mann, aber niemand, den sie kannten. Auch fehlte niemand aus der Mannschaft. Sie haben ihn begraben, die Schwerter behalten und einen Bericht geschrieben.“
„Solide Beweise. Das war aber clever.“
„So clever nun doch nicht. Als sie auf der Erde ankamen, sahen die Objekte, die sie für Schwerter hielten, exakt so wie viele Steinsäulen, wie Stalaktiten aus einer Höhle aus. Eine zweite Gruppe, die man hinschickte, um die Leiche auszugraben und die Situation zu klären, fand lediglich die Karkasse eines dort lebenden Tieres.“
„Massenhalluzination?“ schlug Bruder Paul vor. „Sie haben ein Tier getötet und es für einen Menschen gehalten. Vielleicht aus Erschöpfung oder Schuld … oder weil die Situation Ähnlichkeit mit dieser bestimmten Karte hatte? Stalaktiten sind Schwertern nicht unähnlich.“
„Das war die offizielle Schlußfolgerung.“ Sie hielt inne, riß sich dann aber zusammen, um fortzufahren. „Die zweite Gruppe nahm ebenfalls Tarotkarten mit und spielte häufig damit, dieses Mal als Hauptbeschäftigung, aber die Szene hat sich nicht wiederholt. Offensichtlich war die erste Mannschaft überarbeitet und unausgeschlafen gewesen, während die zweite frisch war. Sie haben also den Planeten Tarot genannt und ihn für die Kolonisation freigegeben.“
„Einfach so?“ fragte Bruder Paul und zog dabei eine Braue hoch.
„Einfach so“, antwortete die Oberin trocken und vergaß sich soweit, daß sie ebenfalls eine Augenbraue hochzog. „Sie hatten eine bestimmte Quote von Planeten zur Untersuchung und konnten es sich nicht leisten, Zeit mit wilder Geisterjagd zu vergeuden, wie sie es nannten. So haben sie es begründet.“
„Wieviel doch durch Hast verlorengeht“, bemerkte Bruder Paul. Er verspürte wachsende Aufregung und Dankbarkeit, daß sich ein solches Geheimnis zugetragen hatte. Wilde Geister! So etwas würde er gern einmal sehen!
„Die Kolonisierung verlief normal“, fuhr sie fort. „Innerhalb von vierzig Tagen hat man eine Million Menschen dorthin verfrachtet, mit Überlebensausrüstung in Anfangslager aufgeteilt und sie dann ihrem Schicksal überlassen. Nur der monatliche Fährverkehr hielt den Kontakt aufrecht. Kolonisierung ist so etwas“, sagte sie mit mißbilligendem Stirnrunzeln, „wie jemanden ins Wasser werfen, damit er schwimmen lernt.“
„Ohne Zweifel“, stimmte Bruder Paul ihr zu. „Doch die große Mehrheit der Emigranten war froh, es riskieren zu können … und die meisten scheinen schwimmen zu können.“
„Ja.“ Sie zuckte die Achseln. „Nicht der Weg, den ich gewählt hätte … aber diese Entscheidung habe ich auch nicht treffen müssen. Jedenfalls haben sich die Kolonisten niedergelassen … und dann begann der Spaß.“
„Weitere Tarot-Auferstehungen?“
„Nein, nicht nur das. Diese Animationen stammten aus dem Himmel wie aus der Hölle. Ich meine das Geschichtenbuch Perlenlüre, wo Engel vorbeifliegen und Harfenisten auf Wolken hocken. Oder andere Extreme … tiefe Höhlen, in denen rote, mehrschwänzige Teufel mit Gabeln saßen.“
„Offensichtlich bildgetreue Szenen religiöser Vorstellungen“, sagte Bruder Paul. „Viele Gläubige besitzen ein sehr materielles Bild vom Immateriellen.“
„Das stimmt. Auf dieser Kolonistenwelt scheint es eine ungewöhnliche Häufung von schismatischen Religionen zu geben. Aber es waren recht substantielle Vorstellungen.“ Sie zog eine Schreibtischschublade auf und zog einige Fotografien hervor. „Skeptiker haben für ein paar Aufnahmen gesorgt … und die haben wir hier.“ Sie breitete sie aus.
Erstaunt betrachtete er die Bilder. „Das war keine … äh … Trickphotographie? Sie sehen sehr authentisch aus!“
„Keine Trickaufnahmen. Noch etwas: Die Kolonisten haben ein planetarisches Orchester auf die Beine gestellt – bei einer zufällig zusammengewürfelten Million von Menschen gibt es viele Talente – und sie haben eine Menge halbklassischer Stücke eingeübt. Eines Tages haben sie ein Tongedicht von Saint-Saens, Danse Macabre, gespielt und …“
„Oh nein, nicht die tanzenden Skelette?“
„Doch. Das gesamte Orchester geriet in Panik, und bei dem Aufruhr wurden zwei Musiker zu Tode getrampelt. Ich glaube, man hat danach das Orchester aufgelöst, und es ist niemals wieder zusammengetreten. Aber als kühlere Köpfe eine Untersuchung anstellten, haben sie keine Spuren von wandelnden Skeletten gefunden.“
„Ich beginne zu verstehen“, sagte Bruder Paul und verspürte ein unheiliges Gefühl der Herausforderung. „Der Planet Tarot wird von Geistern heimgesucht.“
„So kann man es auch nennen“, stimmte sie zu. „Wir betrachten es als ernsteres Problem.“ Sie wartete, bis seine Miene einen angemessen seriösen Ausdruck annahm. „Die meisten Geister lassen sich nicht auf Zelluloid bannen.“ Sie zog eine Spule aus der Schublade.
Bruder Paul versuchte eine Doppelfrage: „Ein Film mit Skeletten?“
„Richtig. Ein Kolonist hat offensichtlich das Konzert filmen wollen. Er dachte, die Skelette gehörten zu der Schau dazu – bis der Aufruhr ausbrach.“
„Das würde ich gerne sehen!“
„Das wirst du auch.“ Die Priesterin stellte einen kleinen Projektor auf, knipste die Lampe an und bediente den Hebel. Auf der Wand gegenüber dem Schreibtisch begannen Bilder zu tanzen.
Es war in der Tat ein Todestanz. Zunächst sah man nur die Musiker, die auf ihren groben, selbstgefertigten Geigen spielten. Dann sprangen die Skelette auf die Bühne und bewegten sich im Takt zur Musik. Man hörte natürlich nichts, das konnte ein Projektor mit Lampe und Handkurbel nicht leisten. Aber Bruder Paul sah, wie die Musiker nach Luft schnappten, sah die Bewegungen der Hände auf den Instrumenten und die Handbewegungen des Dirigenten; der Takt war eindeutig.
Ein Skelett glitt dicht vor der Kamera entlang. Der magere weiße Brustkorb verdeckte einen Augenblick lang das Orchester. Bruder Paul blickte genau hin und versuchte herauszufinden, wie sich diese Knochen bewegten. Es war kaum zu glauben, aber sie bewegten sich ohne Muskeln, Sehnen oder Drähte. Aber sie bewegten sich.
Dann begann der Tumult. Das Bild tanzte hin und her und erlosch schließlich.
„Ich weiß, daß es eine Beschränkung für persönliche Besitztümer auf ein Kilogramm gibt“, bemerkte Bruder Paul. „Wie gelangte ein so kompliziertes Gerät wie eine Filmkamera dorthin?“
„Man kann sie heutzutage recht klein herstellen“, sagte die Priesterin. „Hier haben sich zwei Emigranten das Gewicht geteilt, und drei weitere Familienmitglieder haben geholfen, kleinere Teile eines dazu passenden Projektors mitzunehmen, den man mit der Hand betreiben kann. Wie dieser hier.“ Sie tätschelte das Gerät. „Sie haben sich eher ihren Bedürfnissen als einer Philosophie ergeben, aber sie waren genial. Nun wissen wir, wie vorteilhaft das war. Sonst hätte niemand auf der Erde diese Geschichte geglaubt. Dieser Film ist ein Beweis, den man nicht aus dem Raum schaffen kann: Irgend etwas geschieht auf dem Planeten Tarot, etwas Außergewöhnliches. Und die Behörden wollen es herausfinden.“
„Aber warum kommen sie damit zu uns?“ fragte Bruder Paul. „Ich hätte gedacht, sie schicken Wissenschaftler mit hochtechnisierter Ausrüstung dorthin?“
Sie machte unbewußt eine ‚Geduld’ bedeutende Handbewegung. „Das haben sie auch. Aber es schien aufhebende Wirkung zu haben.“
Aufhebung! Die Sorge aller Reparaturkräfte und Psychoforscher. Wie war es möglich, etwas zu begreifen, das nur in Abwesenheit des Untersuchenden eintrat? „Heißt das, daß die Experten nichts herausbekamen?“ fragte er.
„Richtig. Aber sie haben die Kolonisten befragt und eine Liste von Vorfällen aufgezeichnet. Sie entdeckten, daß sich die Erscheinungen auf bestimmte Zeiten und bestimmte Orte beschränkten – normalerweise. Und sie vollzogen sich nur in Anwesenheit von Gläubigen.“
„Das hört sich vertraut an“, meinte Bruder Paul. „Der Gläubige hat die Erfahrung und der Ungläubige nicht. So ist das immer mit dem Glauben.“ Er dachte an seine Diskussion mit den Jungen und Mädchen aus dem Dorf; sein Glaube war stärker gewesen als ihr Unglaube.
„Genau. Abgesehen davon, daß die Skeptiker der Kolonie ebenfalls in der Lage waren, einige der Phänomene zu sehen. Woraufhin sie zu Gläubigen wurden.“
Wie auch Saulus von Tarsus auf der Straße nach Damaskus die Größe Gottes erfuhr und zum Christen wurde. Wie die Jungen aus dem Dorf die Macht der Kampfkunst begriffen hatten. „Gläubige von was?“
„Sie glaubten nun alles, was sie sahen. Es hatte Skeptiker gegeben, als der Danse macabre begann, aber am Ende gab es keinen mehr, weil man die Skelette sogar berühren konnte. Aber es gab noch andere Manifestationen. In einem Fall war es Gott … oder zumindest ein brennender Busch, der deutlich behauptete, er sei Gott.“
Dreister Busch! „Hört sich wie ein Fall für Priester, Rabbis und andere heilige Menschen an.“
„Die haben als nächste dort untersucht. Sie sind direkt in die heimgesuchten Gegenden vorgedrungen.“ Sie hielt inne, und Bruder Paul lockte sie nicht durch eine weitere Frage. Einige Zeit lang starrte sie auf ihren Schreibtisch, als betrachte sie jede Faser des groben Holzes, und fuhr schließlich fort: „Es war eine Katastrophe. Zwei haben ihrem Amt abgeschworen. Zwei mußte man als geistig inkompetent einsperren, und zwei starben. Es scheint, daß sie mehr Hölle als Himmel erlebt haben. Und so ist diese Aufgabe nun bei uns gelandet.“
„Und diese Erscheinungen haben wirklich getötet? Haben menschliches Leben angetastet? Es war nicht der Tumult oder ein anderer körperlicher Grund?“
„Diese Erscheinungen oder was immer es auch war, was jene Menschen wahrnahmen, haben wirklich Gemüter verwirrt und menschliches Leben zerstört.“ Sie blickte Bruder Paul direkt an, und ihre Sorge um ihn ließ sie richtig erstrahlen. Er wußte, mit der gleichen Miene würde sie sich einer verwundeten Klapperschlange oder einem zerrissenen Manuskript zuwenden, aber das machte sie so liebreizend. „Nun weißt du, wovor ich Angst habe. Bist du bereit, in diese Hölle zu geben?“
Bereit? Er brannte darauf. „Es klingt faszinierend. Aber wie würde meine Mission genau aussehen? Müßte ich den Teufel von Tarot exorzieren?“
„Nein, ich fürchte, das liegt jenseits deiner Kräfte und auch meiner und aller anderen aus dem Orden.“ Sie lächelte flüchtig. „Die heiligen Männer, die gescheitert sind, waren berühmte, gläubige Menschen, deren Glauben geprüft und wahrhaftig war. Ich finde es sonderbar, daß sie so gelitten haben, während die Mehrzahl der Kolonisten, die nur eine zufällige Mischung der Erdenbevölkerung darstellen, nur wenige derartiger Probleme hatte.“
Bruder Paul nickte. „Vielleicht doch nicht so merkwürdig. Kann sein, daß Ausbildung und Glauben für diese Situationen prädestinieren.“
„Vielleicht. Es stimmt, daß wir, die wir ein starkes Gefühl zur Religion haben, auch die stärkste Reaktion vom Planeten Tarot erhalten. Jene, deren Hauptbedürfnis es ist, einfach ihren Augen zu trauen – tun das auch einfach.“
Wie das Glück es so wollte, durchzog den Raum der intensive Duft von Bruder Peters heißem Brot und ließ Paul das Wasser im Munde zusammenlaufen. „Wollt Ihr damit sagen, ich folge einfach meinen Bedürfnissen?“ fragte er lächelnd. Nun, als ihm die Bedeutung seiner Mission klargeworden war, war auch seine Spannung verschwunden.
„Du weißt es besser, Paul! Aber du bist kein besonders göttlicher Mensch. Dein Background ist breiter und kennt viele Aspekte menschlichen Lebens. Du kennst die Bedeutung von Gebeten – und auch, wie man einen Abfluß repariert. Du weißt von Heiligkeit – und Glücksspielen.“
„Das sind passende Parallelen.“
„Danke. Du nimmst Dinge wahr, die jenseits meines Auffassungsvermögens liegen.“ Das hoffte Bruder Paul inbrünstig. Wenn sie auch nur die leiseste Ahnung von dem Mischmasch an Gedanken hatte, die sein Hirn durchzogen, wäre sie schockiert gewesen. Er erinnerte sich an ein Kinderspiel, das er früher mit seinen Freunden gespielt hatte. Es hieß Himmel und Hölle. Aus einer Gruppe wurden ein Mädchen und ein Junge ausgewählt, und sie mußten sich in einen dunklen Schrank begeben. Eine Minute lang mußte er sie entweder küssen (Himmel) oder sie schlagen (Hölle). Einmal hatte Bruder Paul geträumt, er nähme die Priesterin mit in einen solchen Schrank, und er war in Schweiß gebadet und entsetzt wieder aufgewacht. Die bloße Erinnerung daran ekelte ihn nun an. Bis diese Erinnerung verschwunden war, würde es kein geeignetes Material sein für einen Aufstieg innerhalb des Heiligen Ordens der Vision.
Aber diesen Abgrund in ihm kannte sie nicht – eine Naivität, für die er Gott dankte. „Ich habe den Eindruck, als würdest du dich nicht ausschließlich um die religiösen Implikationen des Problems kümmern“, fuhr sie munter fort. „Du würdest dich auch mit den anderen Problemen der Kolonisten befassen. Vielleicht bekommst du sogar heraus, warum das, was den Priestern geschehen ist, nicht auch den Kolonisten zustieß, und warum Glaube ein solches Risiko bedeutet. Aber noch wichtiger …“
„Ich glaube, ich weiß, was Ihr sagen wollt“, murmelte Paul.
„Wir wollen herausfinden, ob dieses Phänomen letztendlich materiell oder spirituell ist. Wir haben bislang nur die Grenzen erkunden können, aber es scheint Elemente von beidem zu haben. Eine Erklärung lautet, daß es eine Probe für die Menschheit bedeutet für das kommende Zeitalter, daß es Gott, wenn man so will, gefallen hat, sich den Menschen in dieser herausfordernden Gestalt zu zeigen. Wir wollen diese Herausforderung nicht ignorieren und sicher nicht riskieren, Christus erneut zu kreuzigen! Aber wir können uns auch die Verlegenheit nicht gestatten, ein Phänomen, das gänzlich weltlichen Ursprungs ist, als allzu ernsthaft anzusehen.“
„Auch Gott hat gänzlich weltlichen Ursprung“, bemerkte Bruder Paul ohne negative Absicht.
„Aber Er hat auch absolut göttliche Züge. Das eine ohne das andere …“
„Ja, ich erkenne die Kompliziertheit des Problems.“
„Wenn diese Manifestationen wirklich von Gott stammen sollten, müssen wir sie anerkennen und den Ruf beantworten“, sagte die Ehrwürdige Mutter. „Wenn es eine rein materielle Sache ist, möchten wir gern genau wissen, welcher Art sie ist und wie sie funktioniert und warum die Religion dadurch so verletzbar ist. Das wird sicher keine leichte Aufgabe sein!“ Sie hielt inne. „Warum ich so aufgeregt bin, Bruder Paul, warum so ängstlich? Ich habe dich gedrängt, nicht zu gehen, doch zugleich …“
Bruder Paul lächelte. „Ihr habt Angst, ich könnte versagen. Oder daß ich Gott wirklich dort finde. Beides würde höchst peinlich sein, denn natürlich ist der Gott von Tarot zugleich der Erdengott, der Gott der Menschen.“
„Ja“, sagte sie unsicher. „Aber können wir nach all den Jahrhunderten unseres Glaubens wirklich der Realität ins Auge sehen? Gott paßt vielleicht nicht zu unseren Vorstellungen von Ihm, aber wie könnten wir Ihn zurückweisen? Wir müssen Ihn erkennen! Es macht mir Angst. Kurz gesagt …“
„Kurz gesagt“, unterbrach sie Bruder Paul, „Ihr wollt, daß ich in die Hölle gehe, um nachzusehen, ob Gott dort ist.“