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Erinnerung

 

705 A. D. Die Toch­ter ei­nes eng­li­schen Missio­nars in Deutsch­land hat­te einen so klu­gen Kopf und war of­fen­sicht­lich so fromm, daß man sie als Jo­han­nes VII. auf den Papst­thron hob. Trotz der Ver­klei­dung als Mann blieb sie – ach – doch ei­ne Frau und da­her ein Pfuhl des Fre­vels. Sie un­ter­lag ih­ren nie­de­ren weib­li­chen Trie­ben, ließ ein Mit­glied ih­res Haus­hal­tes zu sich ins Bett und er­litt so­mit die dä­mo­ni­sche Er­fül­lung ih­res Ge­schlechts. Im Jah­re 707, wäh­rend ei­ner fei­er­li­chen Pfingst­pro­zes­si­on durch die Stra­ßen Roms in Be­glei­tung der Pries­ter­schaft, ent­band man die als Päps­tin Jo­han­na be­kannt ge­wor­de­ne Frau an ei­ner Stel­le zwi­schen Ko­los­se­um und der Kir­che des Hei­li­gen Cle­mens von ei­nem Ba­stard­sohn. So ver­riet sich die­se Päps­tin als Hu­re in Män­ner­klei­dern. Na­tür­lich hat die Kir­che die­se Ge­schich­te un­ter­drückt und als My­thos de­kla­riert, aber es gibt Leu­te, die sich noch dar­an er­in­nern. Dies ist der In­halt des Zwei­ten Schlüs­sels des Ta­rot, wel­cher heißt: Die Päps­tin. Ist es nicht im­mer­hin ei­ne wahr­haf­ti­ge Spie­ge­lung der Na­tur der Ge­schlech­ter?

 

Bru­der Paul ging an den üp­pi­gen Ge­mü­se­gär­ten der Sta­ti­on vor­bei auf das Bü­ro von Hoch­wür­den zu. Es war ein schö­ner Som­mer­tag. Er hoff­te, er ha­be sich gut be­tra­gen, doch beim Ge­hen summ­te er ner­vös vor sich hin.

Der An­blick der Mie­ne von Hoch­wür­den ver­stärk­te sei­ne Zwei­fel. Ir­gend et­was sehr Wich­ti­ges schi­en im Schwan­ge zu sein, und er be­fürch­te­te, wie­der ge­fehlt zu ha­ben. Da die Dis­zi­plin in­ner­halb des Or­dens sehr streng war, be­ging Bru­der Paul zahl­rei­che Feh­ler und hat­te be­reits ei­ne Rei­he von Stra­fen er­hal­ten.

Bei sei­nem Ein­tritt er­hob sich Hoch­wür­den und kam auf Paul zu, um ihn zu be­grü­ßen. „Es ist gut, dich zu se­hen, Paul. Du hast dich gut ent­wi­ckelt.“

Das hör­te sich gut an! Die­ses Mal ging es al­so nicht um ir­gend­wel­che Ver­ge­hen. „Ich tue, was mir der Herr be­fiehlt, Mut­ter Ma­ria“, sag­te er be­schei­den und ver­barg sei­ne Er­leich­te­rung.

„Mmm“, stimm­te die Pries­ter­mut­ter zu. Sie setz­te sich nicht wie­der hin, son­dern schritt un­ru­hig im Bü­ro auf und ab. „Paul, vor uns liegt ei­ne kri­ti­sche Ent­schei­dung, und ich muß et­was tun, was mir nicht be­hagt. Ver­gib mir.“

Ganz ge­wiß lag et­was sehr Schlim­mes in der Luft. Paul dach­te nach, be­vor er ei­ne Ant­wort gab, und ver­such­te, ei­ne an­ge­mes­se­ne Er­wi­de­rung zu fin­den.

Die Pries­ter­mut­ter war üb­ri­gens ei­ne jun­ge Frau, kaum äl­ter als er sel­ber, de­ren ma­kel­lo­se Or­den­stracht we­der ih­re weib­li­chen At­tri­bu­te ver­barg noch sie ge­schlechts­los wir­ken ließ. Das dun­kel­brau­ne Haar trug sie in der Mit­te ge­schei­telt; es war über die Oh­ren ge­stri­chen, um die­se zu ver­ber­gen, und im Nacken fest zu­sam­men­ge­steckt – doch es um­rahm­te ihr Ge­sicht wie ei­ne mys­ti­sche Au­ra. Der um­ge­bo­ge­ne Kra­gen um­schloß einen schlan­ken, wei­ßen Hals, und das Kreuz hing zwi­schen ih­ren Brüs­ten. Das Kleid war so lang, daß es den Bo­den be­rühr­te und ih­re Fü­ße ver­barg. Ge­le­gent­lich bausch­te es sich beim Ge­hen, und sie zog den Saum hin­ter sich her. Ihr Cha­rak­ter, das wuß­te er, war freund­lich und of­fen. Nur wenn es ab­so­lut not­wen­dig war, wur­de sie streng. Es wä­re nur all­zu leicht ge­we­sen, sie als hüb­sches Mäd­chen zu lie­ben, wenn es nicht wich­tig ge­we­sen wä­re, sie als ver­ant­wort­li­che Frau und weib­li­chen Mit­menschen zu ver­eh­ren. Und na­tür­lich als Pries­te­rin.

Da­her schi­en es das Bes­te, ihr zu ge­stat­ten, oh­ne Rück­sicht auf sei­ne Ge­füh­le ihr Herz aus­zu­schüt­ten, und leicht konn­te man ihn oh­ne­hin nicht ver­let­zen. Of­fen­sicht­lich war sie der Mei­nung, was sie zu sa­gen hat­te, wür­de ihn be­tref­fen, und viel­leicht wür­de es das auch – aber er war si­cher, es aus­hal­ten zu kön­nen. „Bit­te re­det frei, Mut­ter.“

Die Oberin trat an ih­ren Schreib­tisch und schi­en sich dort fast auf et­was zu stür­zen. „Bit­te, nimm dies hier, wenn du willst“, sag­te sie und bot ihm ei­ne klei­ne Schach­tel an.

Bru­der Paul nahm sie. Er muß­te fest zu­grei­fen, denn ih­re Hand zit­ter­te. Wenn sie auch ih­re Fä­hig­kei­ten zur ‚Mut­ter’ ge­macht hat­ten, war sie doch manch­mal wie ein klei­nes Mäd­chen, so un­si­cher, daß es schon fast pein­lich wirk­te. Es war ihm schon frü­her in den Sinn ge­kom­men, daß viel­leicht ei­ne äl­te­re Per­son bes­ser für die­ses Amt ge­eig­net wä­re. Aber es gab vie­le Sta­tio­nen, und das Al­ter war meis­tens nicht aus­schlag­ge­bend bei der Be­set­zung.

Er blick­te in die Schach­tel. Sie ent­hielt ein Ta­rot-Kar­ten­spiel, die sym­bo­li­sche Weis­heit al­ler Zeit­al­ter.

Nun setz­te sie sich, als ha­be man sie von ei­ner Last be­freit. „Bit­te, misch sie.“

Bru­der Paul nahm die Kar­ten her­aus und brei­te­te ei­ni­ge der obe­ren Kar­ten aus: Sie la­gen der Rei­hen­fol­ge nach, die mit Ar­kan Null oder dem Nar­ren be­gann, und wei­ter ging es mit dem Wei­sen, der Ho­he­pries­te­rin (auch die ‚Päps­tin’ ge­nannt), der Herr­sche­rin, dem Herr­scher und so wei­ter al­le zwei­und­zwan­zig Trümp­fe oder Großen Ar­ka­nen hin­durch, und dann folg­ten die sechs­und­fünf­zig an­de­ren Kar­ten oder Klei­ne­ren Ar­ka­nen. Da wa­ren die Kom­bi­na­tio­nen von Stab, Kelch, Schwert und Mün­ze ent­spre­chend den nor­ma­len Far­ben Kreuz, Herz, Pik und Ka­ro oder den Ele­men­ten Feu­er, Was­ser, Er­de und Luft. Ei­ne je­de Bild­kar­te war wun­der­schön ge­zeich­net und ko­lo­riert. Er hat­te wie al­le Brü­der und Schwes­tern des Or­dens den Ta­rot-Sym­bo­lis­mus stu­diert, re­spek­tier­te die­se Kunst und war mit den Kar­ten wohl­ver­traut. Ei­ne der Übun­gen des Or­dens be­stand dar­in, schwarz-wei­ße Kar­ten ent­spre­chend der Vor­schrift bunt zu be­ma­len. Das war kein Kin­der­spiel; es war über­ra­schend, wie­viel Of­fen­ba­rung in die­sem Akt ver­bor­gen lag. Far­ben wie auch Zah­len und Bil­der dienten ei­nem grund­sätz­li­chen sym­bo­li­schen Zweck.

Wäh­rend er dar­über nach­dach­te, misch­ten sei­ne Fin­ger die Kar­ten mit ei­ner sol­chen Ge­schick­lich­keit, die kaum zu sei­ner as­ke­ti­schen Be­ru­fung paß­te. Er war nicht im­mer ein Bru­der ge­we­sen, aber wie der Apo­stel Pau­lus, dem er sei­nen Or­dens­na­men ver­dank­te, hat­te er sein frü­he­res, wil­des Le­ben hin­ter sich ge­las­sen. Nur als not­wen­di­ge Reu­e­übung dach­te er zu­wei­len über sei­ne ver­gan­ge­nen Feh­ler nach. Ei­nes Ta­ges – wenn er es wert sein wür­de – wür­de er die­se Büch­se der Pan­do­ra auf im­mer schlie­ßen.

Er war nun mit dem Mi­schen fer­tig und gab die Kar­ten der Oberin zu­rück.

„Die Fra­ge, die du im Kopf hat­test – hing sie mit mei­ner Sor­ge um dich zu­sam­men?“ frag­te die Pries­te­rin und hielt die Kar­ten in den schma­len Fin­gern.

Zu­stim­mend beug­te Paul den Kopf. Es war ei­ne klei­ne Not­lü­ge, da sich sei­ne Ge­dan­ken ver­bo­te­ner­wei­se nur mit den Kar­ten be­schäf­tigt hat­ten. Na­tür­lich hat­te er sich ge­fragt, warum er hier war; man hat­te ihn nicht we­gen ei­nes klei­nen Plau­der­stünd­chens mit­ten aus sei­ner Klas­se ge­ru­fen. Aber ei­ne Not­lü­ge war im­mer noch ei­ne Lü­ge!

„Laß uns die Kar­ten le­gen“, sag­te sie.

Wie schnell er für die Lü­ge be­zah­len muß­te. Ih­re Ab­sicht war of­fen­kun­dig ge­we­sen, als sie ihm die Kar­ten ge­reicht hat­te; wie hat­te es ihm nur ent­ge­hen kön­nen. „Ich fürch­te, ich …“

„Nein, ich mei­ne es ernst. Ta­rot ist ein le­gi­ti­mer Weg, ein Pro­blem zu lö­sen – be­son­ders in die­sem Fall. Laß dich da­von lei­ten.“

Sie deck­te die ers­te Kar­te auf, wo­bei sie dar­auf ach­te­te, sie seit­lich ab­zu­he­ben und nicht Kan­te an Kan­te, um sie nicht um­zu­dre­hen. Bru­der Paul ver­barg sei­ne Auf­re­gung. Er hat­te einen dum­men Feh­ler be­gan­gen, der ih­nen bei­den pein­lich wer­den konn­te. Er ver­such­te, an einen ver­nünf­ti­gen Grund zu den­ken, die­se Sit­zung ab­zu­bre­chen, aber al­les, was ihm ein­fiel, war ei­ne blas­phe­mi­sche An­ek­do­te über die Päps­tin Jo­han­na, die In­kar­na­ti­on der ba­by­lo­ni­schen Hu­re, Epi­the­ton für die rö­misch-ka­tho­li­sche Kir­che. Ein der­ar­ti­ger Ge­dan­ke war in Ge­gen­wart der Ober­pries­te­rin Mut­ter Ma­ria, die ab­so­lut keusch leb­te, ein­fach skan­da­lös. Es sei denn, sie hat­te ihn her­ge­ru­fen, um ihn … Nein, das war un­mög­lich! Ei­ne völ­lig un­wür­di­ge Vor­stel­lung, für die er die Selbst­kas­tei­ung ver­dien­te.

Die Kar­te war das Keu­len-As, das Bild ei­ner aus Wol­ken auf­tau­chen­den Hand mit ei­ner Keu­le.

„Er­staun­lich“, be­merk­te die Oberin. „Das be­deu­tet den Be­ginn ei­nes neu­en, großen Aben­teu­ers.“

Ein großes neu­es Aben­teu­er? Mit ihr? Er ver­such­te an­ge­strengt, die­se Ge­dan­ken zu un­ter­drücken, so teuf­lisch ver­lo­ckend sie auch wa­ren. In die­sem Au­gen­blick wünsch­te er sich, sie wä­re acht­zig Jah­re alt und hät­te ei­ne rie­si­ge, be­haar­te War­ze auf der Na­se. Dann wür­den sich sei­ne Ge­dan­ken schon fü­gen. „Nun, ich muß er­klä­ren …“

„De­cken wir die zwei­te auf.“ Sie leg­te ei­ne zwei­te Kar­te von oben ab. Jetzt war ihr schon woh­ler zu­mu­te; die Kar­ten hal­fen ihr, ih­re Ge­füh­le aus­zu­drücken. „Die­se soll dich kreu­zen“, sag­te sie und leg­te die Kar­te seit­lich über die ers­te.

„Mö­ge Gott Gna­de mit mir ha­ben“, dach­te er in­brüns­tig.

Sie blick­te ver­dutzt auf die zwei­te Kar­te. „Das Kelch-As!“

„Seht, ich …“ stam­mel­te Bru­der Paul.

Die Pries­te­rin run­zel­te die Stirn. Sie ge­hör­te zu den Frau­en, die auf­ge­regt so­gar noch sü­ßer aus­se­hen als ver­gnügt, wenn dies über­haupt noch mög­lich war. Stumm deck­te sie die drit­te Kar­te auf. Das Schwert-As. Dann die vier­te: Münz-As. Bei je­der tauch­te ei­ne Hand aus Wol­ken auf und trug das ent­spre­chen­de Sym­bol.

Sie hob den grün­grau­en Blick und sah ihn vor­wurfs­voll an. Bru­der Paul er­klär­te lahm: „Ich … al­te Ge­wohn­heit … ich woll­te Euch nicht in Ver­le­gen­heit brin­gen.“ Oh­ne Zwei­fel gab es in Dan­tes In­fer­no ei­ne be­son­de­re Höl­le für ihn!

Mut­ter Ma­ria hol­te tief Luft, und dann lä­chel­te sie – als brä­chen Son­nen­strah­len aus ei­nem dunklen Him­mel. „Ich ha­be ver­ges­sen, daß du ein­mal ein Kar­ten­teu­fel warst.“ Sie blick­te auf die vier As­se und zuck­te zu­sam­men. „Und bist es im­mer noch, wie es scheint.“

„Auf­ge­ge­ben“, gab Paul zu­rück. „Und ge­bes­sert.“

„Das will ich hof­fen.“ Sie nahm die Kar­ten auf.

„Ich mi­sche sie noch ein­mal, aber rich­tig“, bot er an.

Sie mach­te ei­ne kur­ze, ab­weh­ren­de Hand­be­we­gung. „Das Falsche lehrt das Rich­ti­ge.“ Aber das Eis war ge­bro­chen. „Paul, es spielt kei­ne Rol­le, wie du ge­mischt hast, so lan­ge du die kor­rek­te Fra­ge for­mu­liert hast.“

Aber na­tür­lich hat­te er sie nicht for­mu­liert. Sein Kopf war vol­ler Ge­dan­ken an die Kar­ten, Päps­tin Jo­han­na und ähn­li­ches ge­we­sen. Sein Ge­sicht war wie ei­ne Mu­schel, die die Ka­ta­stro­phe sei­ner Ge­dan­ken ver­barg.

„Dann wirst du dich in der Tat zu ei­nem be­mer­kens­wer­ten neu­en Aben­teu­er auf­ma­chen – wenn du so willst.“

Und plötz­lich merk­te er, daß sei­ne Stra­fe dar­in be­ste­hen wür­de, die­se Missi­on zu un­ter­neh­men, wie müh­se­lig sie auch im­mer wer­den wür­de. Die schwin­den­de Zi­vi­li­sa­ti­on heut­zu­ta­ge schuf ei­ne Men­ge höchst un­an­ge­neh­mer Si­tua­tio­nen. „Ich ge­he hin, wo­hin ich ge­wie­sen wer­de“, sag­te Bru­der Paul.

„Nicht die­ses Mal. Ich kann dich nicht auf die­sen be­son­de­ren Auf­trag schi­cken, und der Or­den kann es auch nicht. Du mußt dich frei­wil­lig da­für mel­den. So wie ich dich ken­ne, wirst du das auch tun, und da­her bin ich ver­ant­wort­lich.“ Sie blick­te zur De­cke mit den gro­ben Holz­bal­ken. Sie ver­rich­te­te, das war ihm klar, ein kur­z­es, stil­les Ge­bet. „Ich ha­be Angst um dich, Paul, und mei­ne See­le lei­det.“

Das ewig Weib­li­che! Ei­ne Missi­on war durch die Hier­ar­chie des Or­dens auf sie zu­ge­kom­men, und sie war auf­ge­regt, weil er sie viel­leicht ak­zep­tier­te. Das war nicht blo­ße Rhe­to­rik von ihr; ein­mal be­rühr­te ih­re Hand leicht die Ta­rot­kar­ten, nun um­klam­mer­te sie das Kreuz. Er hat­te sie noch nie­mals so auf­ge­regt ge­se­hen. Es war, als ha­be sie ver­werf­li­che Vor­stel­lun­gen und nicht er. „Wir al­le ge­hen dort­hin, wo wir ge­braucht wer­den“, sag­te er.

„Aber ei­ni­ge sind stär­ker als an­de­re“, mur­mel­te die Pries­te­rin, und ihr Blick hob sich, um sei­nem zu be­geg­nen. Ihr Ge­sicht war töd­lich ernst. Was konn­te sie da­mit mei­nen? „Ich schi­cke dich in die Höl­le, Bru­der.“

Bru­der Paul lä­chel­te nicht. Noch nie­mals hat­te er von ihr sol­che Wor­te ver­nom­men! Na­tür­lich fluch­te sie nicht, das wür­de sie nie­mals tun. Wenn sie Höl­le sag­te, wuß­te man, was sie mein­te, eben­so wie beim Ta­rot­spiel. Sie mein­te das Reich des Teu­fels. „Bild­lich ge­spro­chen, ver­mu­te ich?“

„Wört­lich, Paul. Und die Rück­kehr wird schwe­rer sein als die Hin­rei­se.“

„Das wird wohl so sein. Be­son­ders, wenn es not­wen­dig sein soll­te, zu­erst zu ster­ben.“ War er nun un­ver­schämt, wenn er an­deu­te­te, er wür­de vom To­de auf­er­ste­hen wie Je­sus? Das hat­te er nicht ge­wollt.

Sie lä­chel­te nicht. „Nein. Wie Dan­te wirst du le­ben­di­ger Be­su­cher sein. Viel­leicht wirst du auch den Him­mel se­hen.“

„Ich glau­be, da­zu bin ich nicht be­reit.“ Die­ses Mal war er ab­so­lut ernst. Vor dem Him­mel be­saß er mehr Ehr­furcht als vor der Höl­le. Das war wohl ei­ne wirk­lich au­ßer­ge­wöhn­li­che Sa­che, die sie nun be­schrieb.

Ner­vös schüt­tel­te die Pries­te­rin den Kopf, so daß man für einen Mo­ment ei­nes ih­rer Ohr­läpp­chen se­hen konn­te wie ein ver­bo­te­nes Kör­per­teil. „Ich bin zwi­schen den Säu­len von Gut und Bö­se ge­fan­gen, und ich kann sie nicht mehr aus­ein­an­der­hal­ten.“ Sie wand­te sich von ihm ab; er hat­te noch nicht ge­merkt, daß sie auf ei­nem Dreh­stuhl saß. „Paul, es ist mei­ne Pflicht, dir dies als dei­ne zu­künf­ti­ge Missi­on vor­zu­stel­len – aber wenn ich als Schwes­ter, als Freun­din zu dir re­de, dann muß ich dich da­zu drän­gen, die­se Auf­ga­be ab­zu­leh­nen. Nicht nur, daß ich trau­rig wä­re, dich nie wie­der­zu­se­hen – wenn ich auch aus kei­nem er­find­li­chen Grund Angst da­vor ha­be –, son­dern, weil die­se Missi­on der ab­so­lu­te Hor­ror ist. Hor­ror!“

„Jetzt wer­de ich aber neu­gie­rig“, sag­te Bru­der Paul, und sei­ne Span­nung nahm ab, wäh­rend ih­re zu­nahm. „Kann ich mehr dar­über er­fah­ren?“

„So­viel, wie wir auch wis­sen“, ant­wor­te­te sie. „Man hat uns ge­be­ten, un­se­ren am bes­ten qua­li­fi­zier­ten Ver­tre­ter zum Pla­ne­ten Ta­rot zu schi­cken, um des­sen Gott­heit zu be­wer­ten. Einen star­ken Mann, nicht zu alt, nicht zu ein­sei­tig ei­ner be­stimm­ten Ideo­lo­gie er­ge­ben, klug und mit aus­ge­präg­tem Ob­jek­ti­vis­mus. Du scheinst uns die­ser Mann zu sein.“

Bru­der Paul igno­rier­te das Kom­pli­ment, weil er wuß­te, es war nicht als sol­ches ge­meint. „Pla­net Ta­rot?“

„Wie du weißt, hat die Er­de wäh­rend des ge­gen­wär­ti­gen Ma­te­rie­über­tra­gungs­pro­gramms an die tau­send be­wohn­ba­re Wel­ten ko­lo­ni­siert. Ei­ne da­von heißt Ta­rot, und dort gibt es ein Pro­blem.“

„Höl­le, habt Ihr ge­sagt. Ich hat­te ge­dacht, man ha­be Ko­lo­nis­ten nicht in un­freund­li­che Ge­gen­den ge­schickt? Wenn die­ser Pla­net so höl­lisch ist …“

„Ich ha­be nicht höl­lisch ge­sagt, Paul. Ich ha­be Höl­le ge­sagt. Und der Weg dort­hin …“

„Oh, ich ver­ste­he. Er hat be­wohn­bar aus­ge­se­hen bei den Vor­un­ter­su­chun­gen.“

„Die Un­ter­su­chen­den müs­sen stark über­trie­ben ha­ben. Wie sie da­zu ka­men, die­sen Pla­ne­ten so ein­zu­stu­fen …“ Die Mut­ter Oberin mach­te ei­ne fra­gen­de Hand­be­we­gung. „Schon der Na­me …“

„Ja, das macht mich auch neu­gie­rig. Die meis­ten der Na­men zie­len auf Ver­ständ­lich­keit. ‚Er­obe­rung’, ‚Wie­sen­land’, ‚Ze­phyr’ – wie sind sie bloß auf Ta­rot ge­kom­men?“

„Ver­mut­lich hat­te ein Mit­glied der Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on ein Ta­rot­spiel da­bei. Und wäh­rend der Mann im Ba­sis­la­ger auf die Rück­kehr sei­ner Kol­le­gen war­te­te, hat er sich die Kar­ten für die Zu­kunft ge­legt. Und …“ Sie hielt in­ne.

„Und ir­gend et­was ist ge­sche­hen?“

„Ja, ge­wiß. Er … die Kar­te … das Bild auf ei­ner sei­ner Kar­ten nahm Ge­stalt an. Drei­di­men­sio­nal und le­ben­dig.“

Bru­der Pauls In­ter­es­se ver­tief­te sich. Er kann­te sich aus mit Ta­schen­spie­ler­tricks und hal­lu­zi­na­to­ri­schen Phä­no­me­nen. „Hat­te er ei­ne Dro­ge ge­schluckt?“

Sie schüt­tel­te den Kopf. „Sie be­haup­ten, nein. Kein Al­ko­hol, kei­ne Dro­gen, kei­ne Pil­ze, kein Leim, kein Pflan­zen­ex­trakt. Da­her hat er sich über­haupt mit den Kar­ten be­schäf­tigt. Und die an­de­ren Teil­neh­mer der Grup­pe ha­ben die Le­ben­dig­wer­dung eben­falls be­ob­ach­tet.“

„Al­so kei­ne Hal­lu­zi­na­ti­on. Aber viel­leicht ein prak­ti­scher Scherz?“

„Nein, auch kein Scherz.“

„Wel­che Kar­te war es?“

„Schwert-Zehn.“

Bru­der Paul hät­te fast durch die Zäh­ne ge­pfif­fen, be­schränk­te sich aber auf ein erns­tes Ni­cken. „Deu­tet auf Ruin hin. War es ein rich­ti­ges Bild?“

„Ja. Zehn lan­ge Schwer­ter durch­boh­ren einen Leich­nam. Al­les war rich­tig plas­tisch.“

„Das hat die Grup­pe aber ganz schön in Auf­re­gung ver­setzt!“

„Si­cher. Sie zo­gen die Schwer­ter her­aus und dreh­ten den Kör­per her­um. Es war ein Mann, aber nie­mand, den sie kann­ten. Auch fehl­te nie­mand aus der Mann­schaft. Sie ha­ben ihn be­gra­ben, die Schwer­ter be­hal­ten und einen Be­richt ge­schrie­ben.“

„So­li­de Be­wei­se. Das war aber cle­ver.“

„So cle­ver nun doch nicht. Als sie auf der Er­de an­ka­men, sa­hen die Ob­jek­te, die sie für Schwer­ter hiel­ten, ex­akt so wie vie­le Ste­in­säu­len, wie Sta­lak­ti­ten aus ei­ner Höh­le aus. Ei­ne zwei­te Grup­pe, die man hin­schick­te, um die Lei­che aus­zu­gra­ben und die Si­tua­ti­on zu klä­ren, fand le­dig­lich die Kar­kas­se ei­nes dort le­ben­den Tie­res.“

„Mas­sen­hal­lu­zi­na­ti­on?“ schlug Bru­der Paul vor. „Sie ha­ben ein Tier ge­tö­tet und es für einen Men­schen ge­hal­ten. Viel­leicht aus Er­schöp­fung oder Schuld … oder weil die Si­tua­ti­on Ähn­lich­keit mit die­ser be­stimm­ten Kar­te hat­te? Sta­lak­ti­ten sind Schwer­tern nicht un­ähn­lich.“

„Das war die of­fi­zi­el­le Schluß­fol­ge­rung.“ Sie hielt in­ne, riß sich dann aber zu­sam­men, um fort­zu­fah­ren. „Die zwei­te Grup­pe nahm eben­falls Ta­rot­kar­ten mit und spiel­te häu­fig da­mit, die­ses Mal als Haupt­be­schäf­ti­gung, aber die Sze­ne hat sich nicht wie­der­holt. Of­fen­sicht­lich war die ers­te Mann­schaft über­ar­bei­tet und un­aus­ge­schla­fen ge­we­sen, wäh­rend die zwei­te frisch war. Sie ha­ben al­so den Pla­ne­ten Ta­rot ge­nannt und ihn für die Ko­lo­ni­sa­ti­on frei­ge­ge­ben.“

„Ein­fach so?“ frag­te Bru­der Paul und zog da­bei ei­ne Braue hoch.

„Ein­fach so“, ant­wor­te­te die Oberin tro­cken und ver­gaß sich so­weit, daß sie eben­falls ei­ne Au­gen­braue hoch­zog. „Sie hat­ten ei­ne be­stimm­te Quo­te von Pla­ne­ten zur Un­ter­su­chung und konn­ten es sich nicht leis­ten, Zeit mit wil­der Geis­ter­jagd zu ver­geu­den, wie sie es nann­ten. So ha­ben sie es be­grün­det.“

„Wie­viel doch durch Hast ver­lo­ren­geht“, be­merk­te Bru­der Paul. Er ver­spür­te wach­sen­de Auf­re­gung und Dank­bar­keit, daß sich ein sol­ches Ge­heim­nis zu­ge­tra­gen hat­te. Wil­de Geis­ter! So et­was wür­de er gern ein­mal se­hen!

„Die Ko­lo­ni­sie­rung ver­lief nor­mal“, fuhr sie fort. „In­ner­halb von vier­zig Ta­gen hat man ei­ne Mil­li­on Men­schen dort­hin ver­frach­tet, mit Über­le­bens­aus­rüs­tung in An­fangs­la­ger auf­ge­teilt und sie dann ih­rem Schick­sal über­las­sen. Nur der mo­nat­li­che Fähr­ver­kehr hielt den Kon­takt auf­recht. Ko­lo­ni­sie­rung ist so et­was“, sag­te sie mit miß­bil­li­gen­dem Stirn­run­zeln, „wie je­man­den ins Was­ser wer­fen, da­mit er schwim­men lernt.“

„Oh­ne Zwei­fel“, stimm­te Bru­der Paul ihr zu. „Doch die große Mehr­heit der Emi­gran­ten war froh, es ris­kie­ren zu kön­nen … und die meis­ten schei­nen schwim­men zu kön­nen.“

„Ja.“ Sie zuck­te die Ach­seln. „Nicht der Weg, den ich ge­wählt hät­te … aber die­se Ent­schei­dung ha­be ich auch nicht tref­fen müs­sen. Je­den­falls ha­ben sich die Ko­lo­nis­ten nie­der­ge­las­sen … und dann be­gann der Spaß.“

„Wei­te­re Ta­rot-Auf­er­ste­hun­gen?“

„Nein, nicht nur das. Die­se Ani­ma­tio­nen stamm­ten aus dem Him­mel wie aus der Höl­le. Ich mei­ne das Ge­schich­ten­buch Per­len­lü­re, wo En­gel vor­bei­flie­gen und Har­fe­nis­ten auf Wol­ken hocken. Oder an­de­re Ex­tre­me … tie­fe Höh­len, in de­nen ro­te, mehr­schwän­zi­ge Teu­fel mit Ga­beln sa­ßen.“

„Of­fen­sicht­lich bild­ge­treue Sze­nen re­li­gi­öser Vor­stel­lun­gen“, sag­te Bru­der Paul. „Vie­le Gläu­bi­ge be­sit­zen ein sehr ma­te­ri­el­les Bild vom Im­ma­te­ri­el­len.“

„Das stimmt. Auf die­ser Ko­lo­nis­ten­welt scheint es ei­ne un­ge­wöhn­li­che Häu­fung von schis­ma­ti­schen Re­li­gio­nen zu ge­ben. Aber es wa­ren recht sub­stan­ti­el­le Vor­stel­lun­gen.“ Sie zog ei­ne Schreib­tisch­schub­la­de auf und zog ei­ni­ge Fo­to­gra­fi­en her­vor. „Skep­ti­ker ha­ben für ein paar Auf­nah­men ge­sorgt … und die ha­ben wir hier.“ Sie brei­te­te sie aus.

Er­staunt be­trach­te­te er die Bil­der. „Das war kei­ne … äh … Trick­pho­to­gra­phie? Sie se­hen sehr au­then­tisch aus!“

„Kei­ne Trick­auf­nah­men. Noch et­was: Die Ko­lo­nis­ten ha­ben ein pla­ne­ta­ri­sches Or­che­s­ter auf die Bei­ne ge­stellt – bei ei­ner zu­fäl­lig zu­sam­men­ge­wür­fel­ten Mil­li­on von Men­schen gibt es vie­le Ta­len­te – und sie ha­ben ei­ne Men­ge halb­klas­si­scher Stücke ein­ge­übt. Ei­nes Ta­ges ha­ben sie ein Ton­ge­dicht von Saint-Saens, Dan­se Ma­ca­b­re, ge­spielt und …“

„Oh nein, nicht die tan­zen­den Ske­let­te?“

„Doch. Das ge­sam­te Or­che­s­ter ge­riet in Pa­nik, und bei dem Auf­ruhr wur­den zwei Mu­si­ker zu To­de ge­tram­pelt. Ich glau­be, man hat da­nach das Or­che­s­ter auf­ge­löst, und es ist nie­mals wie­der zu­sam­men­ge­tre­ten. Aber als küh­le­re Köp­fe ei­ne Un­ter­su­chung an­stell­ten, ha­ben sie kei­ne Spu­ren von wan­deln­den Ske­let­ten ge­fun­den.“

„Ich be­gin­ne zu ver­ste­hen“, sag­te Bru­der Paul und ver­spür­te ein un­hei­li­ges Ge­fühl der Her­aus­for­de­rung. „Der Pla­net Ta­rot wird von Geis­tern heim­ge­sucht.“

„So kann man es auch nen­nen“, stimm­te sie zu. „Wir be­trach­ten es als erns­te­res Pro­blem.“ Sie war­te­te, bis sei­ne Mie­ne einen an­ge­mes­sen se­ri­ösen Aus­druck an­nahm. „Die meis­ten Geis­ter las­sen sich nicht auf Zel­lu­loid ban­nen.“ Sie zog ei­ne Spu­le aus der Schub­la­de.

Bru­der Paul ver­such­te ei­ne Dop­pel­fra­ge: „Ein Film mit Ske­let­ten?“

„Rich­tig. Ein Ko­lo­nist hat of­fen­sicht­lich das Kon­zert fil­men wol­len. Er dach­te, die Ske­let­te ge­hör­ten zu der Schau da­zu – bis der Auf­ruhr aus­brach.“

„Das wür­de ich ger­ne se­hen!“

„Das wirst du auch.“ Die Pries­te­rin stell­te einen klei­nen Pro­jek­tor auf, knips­te die Lam­pe an und be­dien­te den He­bel. Auf der Wand ge­gen­über dem Schreib­tisch be­gan­nen Bil­der zu tan­zen.

Es war in der Tat ein To­destanz. Zu­nächst sah man nur die Mu­si­ker, die auf ih­ren gro­ben, selbst­ge­fer­tig­ten Gei­gen spiel­ten. Dann spran­gen die Ske­let­te auf die Büh­ne und be­weg­ten sich im Takt zur Mu­sik. Man hör­te na­tür­lich nichts, das konn­te ein Pro­jek­tor mit Lam­pe und Hand­kur­bel nicht leis­ten. Aber Bru­der Paul sah, wie die Mu­si­ker nach Luft schnapp­ten, sah die Be­we­gun­gen der Hän­de auf den In­stru­men­ten und die Hand­be­we­gun­gen des Di­ri­gen­ten; der Takt war ein­deu­tig.

Ein Ske­lett glitt dicht vor der Ka­me­ra ent­lang. Der ma­ge­re wei­ße Brust­korb ver­deck­te einen Au­gen­blick lang das Or­che­s­ter. Bru­der Paul blick­te ge­nau hin und ver­such­te her­aus­zu­fin­den, wie sich die­se Kno­chen be­weg­ten. Es war kaum zu glau­ben, aber sie be­weg­ten sich oh­ne Mus­keln, Seh­nen oder Dräh­te. Aber sie be­weg­ten sich.

Dann be­gann der Tu­mult. Das Bild tanz­te hin und her und er­losch schließ­lich.

„Ich weiß, daß es ei­ne Be­schrän­kung für per­sön­li­che Be­sitz­tü­mer auf ein Ki­lo­gramm gibt“, be­merk­te Bru­der Paul. „Wie ge­lang­te ein so kom­pli­zier­tes Ge­rät wie ei­ne Film­ka­me­ra dort­hin?“

„Man kann sie heut­zu­ta­ge recht klein her­stel­len“, sag­te die Pries­te­rin. „Hier ha­ben sich zwei Emi­gran­ten das Ge­wicht ge­teilt, und drei wei­te­re Fa­mi­li­en­mit­glie­der ha­ben ge­hol­fen, klei­ne­re Tei­le ei­nes da­zu pas­sen­den Pro­jek­tors mit­zu­neh­men, den man mit der Hand be­trei­ben kann. Wie die­ser hier.“ Sie tät­schel­te das Ge­rät. „Sie ha­ben sich eher ih­ren Be­dürf­nis­sen als ei­ner Phi­lo­so­phie er­ge­ben, aber sie wa­ren ge­ni­al. Nun wis­sen wir, wie vor­teil­haft das war. Sonst hät­te nie­mand auf der Er­de die­se Ge­schich­te ge­glaubt. Die­ser Film ist ein Be­weis, den man nicht aus dem Raum schaf­fen kann: Ir­gend et­was ge­schieht auf dem Pla­ne­ten Ta­rot, et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches. Und die Be­hör­den wol­len es her­aus­fin­den.“

„Aber warum kom­men sie da­mit zu uns?“ frag­te Bru­der Paul. „Ich hät­te ge­dacht, sie schi­cken Wis­sen­schaft­ler mit hoch­tech­ni­sier­ter Aus­rüs­tung dort­hin?“

Sie mach­te un­be­wußt ei­ne ‚Ge­duld’ be­deu­ten­de Hand­be­we­gung. „Das ha­ben sie auch. Aber es schi­en auf­he­ben­de Wir­kung zu ha­ben.“

Auf­he­bung! Die Sor­ge al­ler Re­pa­ra­tur­kräf­te und Psy­cho­for­scher. Wie war es mög­lich, et­was zu be­grei­fen, das nur in Ab­we­sen­heit des Un­ter­su­chen­den ein­trat? „Heißt das, daß die Ex­per­ten nichts her­aus­be­ka­men?“ frag­te er.

„Rich­tig. Aber sie ha­ben die Ko­lo­nis­ten be­fragt und ei­ne Lis­te von Vor­fäl­len auf­ge­zeich­net. Sie ent­deck­ten, daß sich die Er­schei­nun­gen auf be­stimm­te Zei­ten und be­stimm­te Or­te be­schränk­ten – nor­ma­ler­wei­se. Und sie voll­zo­gen sich nur in An­we­sen­heit von Gläu­bi­gen.“

„Das hört sich ver­traut an“, mein­te Bru­der Paul. „Der Gläu­bi­ge hat die Er­fah­rung und der Un­gläu­bi­ge nicht. So ist das im­mer mit dem Glau­ben.“ Er dach­te an sei­ne Dis­kus­si­on mit den Jun­gen und Mäd­chen aus dem Dorf; sein Glau­be war stär­ker ge­we­sen als ihr Un­glau­be.

„Ge­nau. Ab­ge­se­hen da­von, daß die Skep­ti­ker der Ko­lo­nie eben­falls in der La­ge wa­ren, ei­ni­ge der Phä­no­me­ne zu se­hen. Wor­auf­hin sie zu Gläu­bi­gen wur­den.“

Wie auch Sau­lus von Tar­sus auf der Stra­ße nach Da­mas­kus die Grö­ße Got­tes er­fuhr und zum Chris­ten wur­de. Wie die Jun­gen aus dem Dorf die Macht der Kampf­kunst be­grif­fen hat­ten. „Gläu­bi­ge von was?“

„Sie glaub­ten nun al­les, was sie sa­hen. Es hat­te Skep­ti­ker ge­ge­ben, als der Dan­se ma­ca­b­re be­gann, aber am En­de gab es kei­nen mehr, weil man die Ske­let­te so­gar be­rüh­ren konn­te. Aber es gab noch an­de­re Ma­ni­fes­ta­tio­nen. In ei­nem Fall war es Gott … oder zu­min­dest ein bren­nen­der Busch, der deut­lich be­haup­te­te, er sei Gott.“

Dreis­ter Busch! „Hört sich wie ein Fall für Pries­ter, Rab­bis und an­de­re hei­li­ge Men­schen an.“

„Die ha­ben als nächs­te dort un­ter­sucht. Sie sind di­rekt in die heim­ge­such­ten Ge­gen­den vor­ge­drun­gen.“ Sie hielt in­ne, und Bru­der Paul lock­te sie nicht durch ei­ne wei­te­re Fra­ge. Ei­ni­ge Zeit lang starr­te sie auf ih­ren Schreib­tisch, als be­trach­te sie je­de Fa­ser des gro­ben Hol­zes, und fuhr schließ­lich fort: „Es war ei­ne Ka­ta­stro­phe. Zwei ha­ben ih­rem Amt ab­ge­schwo­ren. Zwei muß­te man als geis­tig in­kom­pe­tent ein­sper­ren, und zwei star­ben. Es scheint, daß sie mehr Höl­le als Him­mel er­lebt ha­ben. Und so ist die­se Auf­ga­be nun bei uns ge­lan­det.“

„Und die­se Er­schei­nun­gen ha­ben wirk­lich ge­tö­tet? Ha­ben mensch­li­ches Le­ben an­ge­tas­tet? Es war nicht der Tu­mult oder ein an­de­rer kör­per­li­cher Grund?“

„Die­se Er­schei­nun­gen oder was im­mer es auch war, was je­ne Men­schen wahr­nah­men, ha­ben wirk­lich Ge­mü­ter ver­wirrt und mensch­li­ches Le­ben zer­stört.“ Sie blick­te Bru­der Paul di­rekt an, und ih­re Sor­ge um ihn ließ sie rich­tig er­strah­len. Er wuß­te, mit der glei­chen Mie­ne wür­de sie sich ei­ner ver­wun­de­ten Klap­per­schlan­ge oder ei­nem zer­ris­se­nen Ma­nu­skript zu­wen­den, aber das mach­te sie so lieb­rei­zend. „Nun weißt du, wo­vor ich Angst ha­be. Bist du be­reit, in die­se Höl­le zu ge­ben?“

Be­reit? Er brann­te dar­auf. „Es klingt fas­zi­nie­rend. Aber wie wür­de mei­ne Missi­on ge­nau aus­se­hen? Müß­te ich den Teu­fel von Ta­rot ex­or­zie­ren?“

„Nein, ich fürch­te, das liegt jen­seits dei­ner Kräf­te und auch mei­ner und al­ler an­de­ren aus dem Or­den.“ Sie lä­chel­te flüch­tig. „Die hei­li­gen Män­ner, die ge­schei­tert sind, wa­ren be­rühm­te, gläu­bi­ge Men­schen, de­ren Glau­ben ge­prüft und wahr­haf­tig war. Ich fin­de es son­der­bar, daß sie so ge­lit­ten ha­ben, wäh­rend die Mehr­zahl der Ko­lo­nis­ten, die nur ei­ne zu­fäl­li­ge Mi­schung der Er­den­be­völ­ke­rung dar­stel­len, nur we­ni­ge der­ar­ti­ger Pro­ble­me hat­te.“

Bru­der Paul nick­te. „Viel­leicht doch nicht so merk­wür­dig. Kann sein, daß Aus­bil­dung und Glau­ben für die­se Si­tua­tio­nen prä­des­ti­nie­ren.“

„Viel­leicht. Es stimmt, daß wir, die wir ein star­kes Ge­fühl zur Re­li­gi­on ha­ben, auch die stärks­te Re­ak­ti­on vom Pla­ne­ten Ta­rot er­hal­ten. Je­ne, de­ren Haupt­be­dürf­nis es ist, ein­fach ih­ren Au­gen zu trau­en – tun das auch ein­fach.“

Wie das Glück es so woll­te, durch­zog den Raum der in­ten­si­ve Duft von Bru­der Pe­ters heißem Brot und ließ Paul das Was­ser im Mun­de zu­sam­men­lau­fen. „Wollt Ihr da­mit sa­gen, ich fol­ge ein­fach mei­nen Be­dürf­nis­sen?“ frag­te er lä­chelnd. Nun, als ihm die Be­deu­tung sei­ner Missi­on klar­ge­wor­den war, war auch sei­ne Span­nung ver­schwun­den.

„Du weißt es bes­ser, Paul! Aber du bist kein be­son­ders gött­li­cher Mensch. Dein Back­ground ist brei­ter und kennt vie­le Aspek­te mensch­li­chen Le­bens. Du kennst die Be­deu­tung von Ge­be­ten – und auch, wie man einen Ab­fluß re­pa­riert. Du weißt von Hei­lig­keit – und Glückss­pie­len.“

„Das sind pas­sen­de Par­al­le­len.“

„Dan­ke. Du nimmst Din­ge wahr, die jen­seits mei­nes Auf­fas­sungs­ver­mö­gens lie­gen.“ Das hoff­te Bru­der Paul in­brüns­tig. Wenn sie auch nur die lei­ses­te Ah­nung von dem Misch­masch an Ge­dan­ken hat­te, die sein Hirn durch­zo­gen, wä­re sie scho­ckiert ge­we­sen. Er er­in­ner­te sich an ein Kin­der­spiel, das er frü­her mit sei­nen Freun­den ge­spielt hat­te. Es hieß Him­mel und Höl­le. Aus ei­ner Grup­pe wur­den ein Mäd­chen und ein Jun­ge aus­ge­wählt, und sie muß­ten sich in einen dunklen Schrank be­ge­ben. Ei­ne Mi­nu­te lang muß­te er sie ent­we­der küs­sen (Him­mel) oder sie schla­gen (Höl­le). Ein­mal hat­te Bru­der Paul ge­träumt, er näh­me die Pries­te­rin mit in einen sol­chen Schrank, und er war in Schweiß ge­ba­det und ent­setzt wie­der auf­ge­wacht. Die blo­ße Er­in­ne­rung dar­an ekel­te ihn nun an. Bis die­se Er­in­ne­rung ver­schwun­den war, wür­de es kein ge­eig­ne­tes Ma­te­ri­al sein für einen Auf­stieg in­ner­halb des Hei­li­gen Or­dens der Vi­si­on.

Aber die­sen Ab­grund in ihm kann­te sie nicht – ei­ne Nai­vi­tät, für die er Gott dank­te. „Ich ha­be den Ein­druck, als wür­dest du dich nicht aus­schließ­lich um die re­li­gi­ösen Im­pli­ka­tio­nen des Pro­blems küm­mern“, fuhr sie mun­ter fort. „Du wür­dest dich auch mit den an­de­ren Pro­ble­men der Ko­lo­nis­ten be­fas­sen. Viel­leicht be­kommst du so­gar her­aus, warum das, was den Pries­tern ge­sche­hen ist, nicht auch den Ko­lo­nis­ten zu­stieß, und warum Glau­be ein sol­ches Ri­si­ko be­deu­tet. Aber noch wich­ti­ger …“

„Ich glau­be, ich weiß, was Ihr sa­gen wollt“, mur­mel­te Paul.

„Wir wol­len her­aus­fin­den, ob die­ses Phä­no­men letzt­end­lich ma­te­ri­ell oder spi­ri­tu­ell ist. Wir ha­ben bis­lang nur die Gren­zen er­kun­den kön­nen, aber es scheint Ele­men­te von bei­dem zu ha­ben. Ei­ne Er­klä­rung lau­tet, daß es ei­ne Pro­be für die Mensch­heit be­deu­tet für das kom­men­de Zeit­al­ter, daß es Gott, wenn man so will, ge­fal­len hat, sich den Men­schen in die­ser her­aus­for­dern­den Ge­stalt zu zei­gen. Wir wol­len die­se Her­aus­for­de­rung nicht igno­rie­ren und si­cher nicht ris­kie­ren, Chris­tus er­neut zu kreu­zi­gen! Aber wir kön­nen uns auch die Ver­le­gen­heit nicht ge­stat­ten, ein Phä­no­men, das gänz­lich welt­li­chen Ur­sprungs ist, als all­zu ernst­haft an­zu­se­hen.“

„Auch Gott hat gänz­lich welt­li­chen Ur­sprung“, be­merk­te Bru­der Paul oh­ne ne­ga­ti­ve Ab­sicht.

„Aber Er hat auch ab­so­lut gött­li­che Zü­ge. Das ei­ne oh­ne das an­de­re …“

„Ja, ich er­ken­ne die Kom­pli­ziert­heit des Pro­blems.“

„Wenn die­se Ma­ni­fes­ta­tio­nen wirk­lich von Gott stam­men soll­ten, müs­sen wir sie an­er­ken­nen und den Ruf be­ant­wor­ten“, sag­te die Ehr­wür­di­ge Mut­ter. „Wenn es ei­ne rein ma­te­ri­el­le Sa­che ist, möch­ten wir gern ge­nau wis­sen, wel­cher Art sie ist und wie sie funk­tio­niert und warum die Re­li­gi­on da­durch so ver­letz­bar ist. Das wird si­cher kei­ne leich­te Auf­ga­be sein!“ Sie hielt in­ne. „Warum ich so auf­ge­regt bin, Bru­der Paul, warum so ängst­lich? Ich ha­be dich ge­drängt, nicht zu ge­hen, doch zu­gleich …“

Bru­der Paul lä­chel­te. „Ihr habt Angst, ich könn­te ver­sa­gen. Oder daß ich Gott wirk­lich dort fin­de. Bei­des wür­de höchst pein­lich sein, denn na­tür­lich ist der Gott von Ta­rot zu­gleich der Er­den­gott, der Gott der Men­schen.“

„Ja“, sag­te sie un­si­cher. „Aber kön­nen wir nach all den Jahr­hun­der­ten un­se­res Glau­bens wirk­lich der Rea­li­tät ins Au­ge se­hen? Gott paßt viel­leicht nicht zu un­se­ren Vor­stel­lun­gen von Ihm, aber wie könn­ten wir Ihn zu­rück­wei­sen? Wir müs­sen Ihn er­ken­nen! Es macht mir Angst. Kurz ge­sagt …“

„Kurz ge­sagt“, un­ter­brach sie Bru­der Paul, „Ihr wollt, daß ich in die Höl­le ge­he, um nach­zu­se­hen, ob Gott dort ist.“