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Aktion

 

Der un­ten ste­hen­de Satz ist

WAHR

 

Der oben ste­hen­de Satz ist

FALSCH

 

Bru­der Paul blin­zel­te mit den Au­gen ge­gen das grel­le Son­nen­licht. Er stand am Ran­de ei­nes Korn­fel­des, des­sen Ge­trei­desor­te ihm nicht ver­traut war, die aber ir­di­schem Wei­zen äh­nel­te; die Er­de ex­por­tier­te hy­bri­de Züch­tun­gen der Grund­korn­ar­ten, so rasch man sie nur züch­ten konn­te, auf der Su­che nach ei­ner idea­len Kom­bi­na­ti­on mit au­ßer­ir­di­schen Be­din­gun­gen. Es gab so vie­le Va­ria­blen von Licht und Schwer­kraft, Er­de und Kli­ma, daß der ein­zig ver­nünf­ti­ge Test über die Brauch­bar­keit ei­ner Sor­te die Ern­te be­deu­te­te. Die­ses Feld sah gut aus; die Hal­me stan­den hoch und grün und glänz­ten an der Spit­ze gol­den. Es kräu­sel­te sich un­ter den leich­ten Wind­stö­ßen. Wahr­schein­lich ei­ne er­folg­rei­che Züch­tung. Na­tür­lich konn­te das äu­ße­re Er­schei­nungs­bild al­lein täu­schen; viel­leicht stell­ten sich die Kör­ner als hol­zig, bit­ter oder so­gar gif­tig her­aus; oder die ört­li­che Fau­na drang in das Feld ein und ver­zehr­te die Ern­te. Je­den­falls wür­de es ein ganz schö­nes Stück Ar­beit be­deu­ten, das vor­han­de­ne Korn mit der Hand zu dre­schen.

Nicht weit ent­fernt er­hob sich ein klei­ner Berg. Paul zo­gen die leuch­ten­den Far­ben an der Hang­sei­te an. Er ging dar­auf zu, um sei­ne Neu­gier zu be­frie­di­gen. Es stell­te sich als ein Kom­post­hau­fen aus den Ab­fäl­len des Fel­des her­aus: Hal­me und Blät­ter, die zu ei­nem run­den Be­cher auf­ge­türmt wa­ren, um den Re­gen auf­zu­fan­gen und zu hal­ten, da das Was­ser für die Zer­set­zung not­wen­dig war.

Bru­der Paul lä­chel­te. Er be­trach­te­te die­sen Hau­fen als le­ben­di­gen, na­tür­li­chen Pro­zeß, in dem der Er­de die or­ga­ni­schen Stof­fe zu­rück­ge­führt wur­den, die man an­sons­ten nicht mehr be­nö­tig­te, ei­nes der groß­ar­ti­gen, ver­jün­gen­den Phä­no­me­ne der Exis­tenz. Was für ein bes­se­res Sym­bol für wirk­li­che Zi­vi­li­sa­ti­on in Har­mo­nie mit der Na­tur konn­te es sonst ge­ben als einen ak­ti­ven Kom­post­hau­fen? Grund­sätz­lich ge­se­hen stell­te der Kom­post für das Le­ben das glei­che dar, was der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on für die Mensch­heit zu tun ver­such­te: sie zu ei­nem Ideal­zu­stand zu­rück­füh­ren, frucht­ba­re Er­de für die künf­ti­ge Ge­ne­ra­ti­on bil­den. Es gab für den Men­schen oder ei­ne Ge­sell­schaft kei­ne bes­se­re Auf­ga­be!

Die bun­ten Far­ben stell­ten sich als klei­ne Bal­lons her­aus, die sich in dem schma­len Schat­ten des Hau­fens zu­sam­mendräng­ten. Sie wa­ren rot, gelb, grün und blau so­wie von an­de­ren Schat­tie­run­gen. Hat­te sie ein Kind hier als Op­fer an die Er­de lie­gen­las­sen? Das schi­en un­wahr­schein­lich, da man die Tech­no­lo­gie für die Plas­tik­her­stel­lung wohl kaum an­stel­le wich­ti­ger Pro­zes­se auf die­se Ko­lo­nie­welt über­tra­gen hat­te. Hat­te ein Kind die Bal­lons von der Er­de mit­ge­bracht? Aber die­ses Kind wür­de sie wohl kaum acht­los hier lie­gen­las­sen ha­ben. Bru­der Paul streck­te die Hand aus, um einen auf­zu­he­ben. Bei der Be­rüh­rung zer­platz­te er. Es war nichts als ei­ne zar­te Haut, kaum halt­ba­rer als ei­ne Sei­fen­bla­se. Kein Wun­der, daß sie im Schat­ten la­gen. Das blo­ße Son­nen­licht wür­de sie ver­ge­hen las­sen. Viel­leicht war es ein fremd­ar­ti­ges Pro­dukt des Kom­pos­tes, wo­bei das ent­ste­hen­de Gas bun­te Häut­chen auf­blies? Hübsch, aber von be­grenz­ter Halt­bar­keit. Man muß­te auf neu­en Wel­ten wohl mit neu­en Din­gen rech­nen, mit klei­nen wie auch mit be­deu­ten­de­ren.

Die Zeit ver­strich. Gab es kein Emp­fangs­ko­mi­tee? Er konn­te nie­man­den er­bli­cken. War ih­nen die Lan­dung egal? Wuß­ten sie über­haupt da­von? Of­fen­sicht­lich ge­sch­a­hen die­se Über­tra­gun­gen recht un­re­gel­mä­ßig, wie es dem dicht­ge­dräng­ten Zeit­plan des MÜ-Pro­gramms ge­ra­de ent­sprach. Bei tau­send Ko­lo­nie­pla­ne­ten und viel­leicht fünf grö­ße­ren Sied­lun­gen pro Welt, die man be­ob­ach­te­te – nun, das mach­te über fünf Mil­li­ar­den Men­schen, über die Hälf­te der Erd­be­völ­ke­rung vor dem Ex­odus. Der Pla­net Ta­rot hat­te Glück, über­haupt Nach­fol­ger zu be­kom­men! Da­her hat­te die Lan­dung die Ko­lo­nis­ten wohl über­rascht. Nor­ma­ler­wei­se hät­te sie ein Schiff wohl auf­ge­stört, und man wä­re her­bei­ge­eilt, ehe es zu­rück zur Er­de flog.

Soll­te er ih­nen zu­vor­kom­men, in­dem er ei­ni­ges von der Aus­rüs­tung selbst aus­pack­te? Die Tat­sa­che, daß er sich hier auf ei­ner Spe­zial­mis­si­on be­fand, soll­te ihn nicht da­von ab­hal­ten, sich nütz­lich zu ma­chen, und die Be­we­gung wür­de ihm gut­tun.

Er dreh­te sich um – und er­blick­te et­was hin­ter dem An­kunfts­platz der Kap­sel. Dort stand ein Stein, ein Block nein, ein Thron, dort, mit­ten im Wei­zen! Dar­auf saß ein Mäd­chen, ein wun­der­schö­nes blon­des Ge­schöpf, ei­ne rich­ti­ge Prin­zes­sin. Was tat sie dort?

Er ging auf sie zu. Doch da er­hob sich die Frau und flüch­te­te durch das Feld. Ih­re kö­nig­li­che Ro­be flat­ter­te hin­ter ihr her. „War­te!“ rief er. „Ich kom­me von der Er­de!“ Aber sie rann­te wei­ter und war über­ra­schend schnell. Of­fen­sicht­lich ein ge­sun­des Mäd­chen.

Bru­der Paul gab die Jagd auf. Sie hat­te Angst, und es wür­de ihm nichts nüt­zen, wenn er sie wei­ter ver­folg­te, ob­wohl er sie mit ei­ni­ger Mü­he si­cher­lich ge­fan­gen hät­te. Die­se Si­tua­ti­on schi­en ihm nach sei­ner Be­geg­nung mit dem au­ßer­ir­di­schen Geist noch son­der­ba­rer zu sein:

Er blieb ste­hen. „Ar­kan Drei!“ rief er. Die Frau auf dem Thron im Wei­zen­feld – die­se Kar­te be­zeich­ne­te das drit­te Große Ar­kan im Ta­rot­spiel mit Na­men ‚Herr­sche­rin’.

Dies war der Pla­net Ta­rot, wo Kar­ten le­ben­dig wur­den. Aber so rasch hat­te er das nicht er­war­tet – und nicht so wört­lich!

War dies ei­ne wei­te­re geis­ter­haf­te Ma­ni­fes­ta­ti­on? Spiel­te sich al­les nur in sei­nem Kopf ab? Wenn dies der Fall war, dann muß­te er sei­nen Ur­tei­len über die­se Rei­se miß­trau­en. Was wür­de der Auf­zeich­ner ver­ra­ten? Er hät­te ihn sich gern an­ge­se­hen, hat­te aber na­tür­lich kei­nen Pro­jek­tor und be­griff die Wir­kungs­wei­se des Arm­bands oh­ne­hin nicht. Nichts­de­sto­we­ni­ger war ihm die Frau re­al und trotz (oder we­gen?) ih­rer Furcht­sam­keit höchst at­trak­tiv er­schie­nen.

Ein Pla­net, wo Ta­rot­bil­der zum Le­ben er­wach­ten, Bru­der Paul blieb ste­hen und dach­te dar­über nach, an­ge­regt durch den plötz­li­chen Be­weis für die­se Be­haup­tung. Er hat­te als Teil sei­ner Pflich­ten für den Or­den Tan­nen­holz ge­sägt, und manch­mal wa­ren sei­ne Ge­dan­ken wäh­rend der schwe­ren Ar­beit ab­ge­schweift, und er hat­te ei­ne Par­al­le­le zwi­schen dem Holz und dem Ta­rot her­bei­be­schwo­ren. Das Holz war au­ßen weich und weiß, leicht zu sä­gen und zu ver­ar­bei­ten, leicht zu ver­bren­nen, aber oh­ne all­zu­viel Sub­stanz. Das Herz der Fich­te hin­ge­gen war stein­hart und dicht, ge­sät­tigt mit or­gan­ge­far­be­nem Saft. Es über­dau­er­te De­ka­den oh­ne Zer­fall, und die Ter­mi­ten, de­ren Lieb­lings­holz wei­che Tan­ne war, wag­ten sich nicht an die Herz­stücke. Es brann­te so gut, daß es Me­tall­git­ter und Zie­gel­ka­mi­ne zer­stör­te. Die Kö­ni­gin der Ka­min­höl­zer. Das Ta­rot er­schi­en ihm ähn­lich: es war ober­fläch­lich ge­se­hen in­ter­essant; leicht wa­ren die Bil­der von Ama­teu­ren zu in­ter­pre­tie­ren. Doch wenn man sich tief ge­nug hin­ein­ver­senk­te, stieß man auf das Herz des Ta­rot – und das war tief, dicht und schwie­rig und zwang die Ge­dan­ken durch die vier­te und fünf­te Di­men­si­on von Den­ken und Zeit. Nur we­ni­ge Men­schen konn­ten da­mit um­ge­hen, doch je­ne, die hart­nä­ckig da­beib­lie­ben, er­hiel­ten große und dau­er­haf­te Be­loh­nung da­für. Bru­der Paul sah sich sel­ber am Rand zwi­schen weißem Holz und dem oran­ge­far­be­nen Herz­stück, ein No­vi­ze, der vor dem Por­tal der wah­ren Be­deu­tung zit­tert und kaum weiß, was für Ent­de­ckun­gen vor ihm lie­gen. Wür­de er hier, auf dem Pla­ne­ten Ta­rot, wei­ter­kom­men?

Nun, der Thron der Herr­sche­rin blieb ste­hen. Das konn­te er rasch über­prü­fen. Er ging dar­auf zu und blick­te sich da­bei um. Es war ei­ne wun­der­schö­ne Ge­gend mit ei­nem au­gen­schein­li­chen Vul­kan di­rekt hin­ter dem Feld und da­ne­ben ei­ner Ket­te aus bun­tem Fels­ge­stein. Die Luft war warm und die Schwer­kraft ähn­lich wie auf der Er­de, so daß er sich wohl­fühl­te. Nie­mals hät­te er die­sen Ort für einen von Geis­tern heim­ge­such­ten Pla­ne­ten ge­hal­ten!

Doch dar­über gab es kei­nen Zwei­fel. Das war der ech­te Herr­sche­rinn­en­thron aus dem Ta­rot. Oder et­was sehr Ähn­li­ches. Er be­stand aus dich­tem, po­lier­tem Holz und nicht aus Stein; Paul mach­te sich klar, daß es hier viel­leicht nicht den pas­sen­den Stein gab. Auf ei­ner Sei­te war das sechs­e­cki­ge Schild mit dem zwei­köp­fi­gen Ad­ler ein­ge­schnitzt. Ein sol­ches Sym­bol konn­te man wohl kaum für Zu­fall hal­ten, doch er war sich auch nicht völ­lig si­cher, ob es nicht doch ei­ner war. Im­mer noch Zwei­fel al­so. Aber den gab es im­mer.

Mäch­ti­ge Holz­säu­len stütz­ten einen Bal­da­chin, der den Thron be­schat­te­te. Ei­ne not­wen­di­ge Ein­rich­tung, denn selbst die schöns­te Herr­sche­rin wür­de ver­ge­hen, wenn sie den gan­zen Tag un­ter die­ser Son­ne sit­zen müß­te. Aber …

Ein ent­set­zen­er­re­gen­des Knur­ren ließ ihn zu­sam­men­zu­cken. Er sprang in Rich­tung des Lau­tes auf und sah ein rie­si­ges kat­zen­ar­ti­ges We­sen auf sich zu­schlei­chen. Das We­sen schi­en fünf Bei­ne zu ha­ben. Viel­leicht war der Schwanz um­ge­bil­det.

Von der Frau zum Ti­ger! Bru­der Paul duck­te sich hin­ter den Thron. Das We­sen schlich hin­ter ihm her. Kat­zen­ar­tig, aber kei­ne Kat­ze; die Bein­be­we­gun­gen wa­ren auf merk­wür­di­ge, aber ein­drucks­vol­le Wei­se fremd­ar­tig. Nicht, weil die Bei­ne sich an den Ge­len­ken nach hin­ten bo­gen; die Beu­gung schi­en ir­gend­wie an­ders zu sein …

Kei­ne Zeit, das jetzt ge­nau zu stu­die­ren! Das Ding muß­te an die hun­dert­fünf­zig Ki­lo­gramm wie­gen – dop­pelt so­viel wie Bru­der Paul –, und über sei­ne Ab­sicht gab es kei­nen Zwei­fel. Es be­trach­te­te ihn ent­we­der als Feind oder als Beu­te­tier.

Es hät­te schon ge­hol­fen, wenn man ihn vor­her über die­se Ein­zel­hei­ten der Öko­lo­gie die­ses Pla­ne­ten in­for­miert hät­te. Aber viel­leicht hat­te man es nicht ge­wußt. Er hät­te in der Kap­sel blei­ben sol­len, bis je­mand von den Ko­lo­nis­ten ge­kom­men wä­re; die­se Schwie­rig­keit hat­te er sich nun sel­ber zu­zu­schrei­ben.

Bru­der Paul duck­te sich wie­der hin­ter den Thron, doch das Ti­ger­we­sen hat­te es vor­aus­ge­se­hen. Es sprang auf der an­de­ren Sei­te her­um, wo­bei es sich mit ge­spens­ti­scher Leich­tig­keit her­um­dreh­te, und stand un­ver­mit­telt mit aus­ge­streck­ten Vor­der­bei­nen vor ihm.

Bru­der Paul er­leb­te einen je­ner Geis­tes­blit­ze, die ei­ni­ge Men­schen vor dem Tod er­le­ben. Die Ex­tre­mi­tä­ten der Krea­tur wa­ren we­der Klau­en noch Hu­fe, son­dern äh­nel­ten le­der­nen Hand­schu­hen oder Fäust­lin­gen. Sie wa­ren ge­teilt, wo­bei sich der grö­ße­re Teil wie ei­ne halb­ge­schlos­se­ne Hand zu ei­nem Halb­kreis bog, wo­bei al­ler­dings die Fin­ger fehl­ten. Der klei­ne­re Teil war wie ein ent­ge­gen­ge­setz­ter Dau­men. Die Ge­schick­lich­keit die­ser ‚Hand’ kam der mensch­li­chen in kei­ner Wei­se na­he, und die schwie­li­gen Stel­len an den Au­ßen­rän­dern deu­te­ten dar­auf hin, daß sie eher zum Lau­fen als an­de­ren Funk­tio­nen diente. Doch ein Huf oder ei­ne Tat­ze wä­re zum Lau­fen bes­ser ge­eig­net ge­we­sen. Was war das für ein ver­zerr­tes We­sen?

Der Ti­ger sprang auf ihn zu, die son­der­ba­ren Fü­ße aus­ge­streckt, als wol­le er mit ihm bo­xen, wo­bei al­ler­dings nicht Bru­der Pauls Rumpf das An­griffs­ziel bil­de­te. Bru­der Paul sprang hoch und zur Sei­te, so daß das We­sen ihn ver­fehl­te. Die Vor­der­bei­ne des Tie­res zuck­ten zu­rück, wäh­rend die keu­len­ar­ti­gen Hin­ter­bei­ne nach vorn schos­sen. Es lan­de­te auf den Hin­ter­bei­nen und kipp­te nach hin­ten über.

Wä­re Bru­der Paul an der glei­chen Stel­le ste­hen­ge­blie­ben, hät­ten sich die­se Vor­der­pfo­ten um sei­ne Knö­chel ge­hakt, wäh­rend ihn die Hin­ter­bei­ne mit sol­cher Ge­walt ge­trof­fen hät­ten, daß sei­ne Bei­ne ge­bro­chen wä­ren. Der­art ver­letzt wä­re er ei­ne leich­te Beu­te ge­we­sen. Das war kei­ne auf der Er­de be­kann­te An­griffs­art, doch ge­wiß eben­so bru­tal und wirk­sam wie Zäh­ne oder Reiß­zäh­ne oder Klau­en.

Der Ti­ger wir­bel­te her­um und nahm die ur­sprüng­li­che Stel­lung wie­der ein, wo­bei er den viel­sei­ti­gen Schwanz zu Hil­fe nahm, und sprang er­neut nach vorn. Die­ses Mal setz­te er hö­her an, denn er schi­en mit ent­mu­ti­gen­der Schnel­lig­keit zu ler­nen. Doch Bru­der Paul blieb ste­hen. Er wir­bel­te her­um, um aus sei­ner Reich­wei­te zu ge­lan­gen, fiel gleich­zei­tig auf die Knie und um­fing mit der rech­ten Arm­beu­ge die lin­ke Vor­der­pfo­te. Dann roll­te er sich nach vorn und zerr­te an dem Bein. Das war ip­pon seoi na­ge, der ein­ar­mi­ge Schul­ter­wurf – der ers­te Ju­do­griff, den er bei ei­nem Tier aus­pro­bier­te, ob es nun ter­rest­risch oder au­ßer­ir­disch war. Und im­mer­hin mit Er­folg!

Die Hin­ter­bei­ne des Ti­gers schos­sen mit dem kno­chen­bre­chen­den Re­flex nach vorn. Sie scho­ben sich schmerz­haft über Bru­der Pauls Rücken und rech­te Schul­ter, und ei­ner streif­te sei­nen Kopf. Die­se Hin­ter­bei­ne wa­ren wie Schmie­de­häm­mer; Paul sah Ster­ne, als der Schlag auf das Seh­zen­trum sei­nes Hirns auf­traf.

Er hat­te den falschen Griff an­ge­wen­det. Da sich der Ti­ger nor­ma­ler­wei­se der Glied­ma­ßen sei­ner Beu­te be­mäch­tig­te und sie brach, hat­te Paul sich nun le­dig­lich be­reit­ge­setzt, um den Hieb des um­klam­mer­ten Tie­res zu emp­fan­gen. Einen Men­schen hät­te es über Bru­der Pauls Rücken ge­schleu­dert, doch das Dreh­mo­ment und Gleich­ge­wicht des Ti­gers wa­ren an­ders. Er hat­te Glück, daß er nicht nie­der­ge­schla­gen wor­den war, doch wenn er einen wei­te­ren Feh­ler be­ging, wür­de die­ses Glück nicht an­dau­ern.

Doch er hielt das Vor­der­bein fest, schleu­der­te sich dar­über und ver­such­te wei­ter­zu­rol­len. Die­ses Mal roll­te das We­sen mit ihm, denn die Wucht des Falls war nun auf­ge­fan­gen, und es war ihm nicht ge­lun­gen, wie­der auf die Fü­ße zu kom­men. Es flog auf den Rücken, und Bru­der Paul woll­te einen Hal­te­griff an­wen­den – doch dann wür­de er der Gna­de der wuch­ti­gen Hin­ter­bei­ne aus­ge­lie­fert sein.

Statt des­sen dreh­te er sich rasch her­um und griff nach dem nächst­lie­gen­den Hin­ter­bein. Dann beug­te er sich zu­rück, streck­te bei­de Bei­ne aus und um­klam­mer­te mit den Kni­en die­ses Glied. Das war ei­ne Be­in­sper­re, die im Ju­do nicht zu­läs­sig ge­we­sen wä­re, doch was be­deu­te­ten schon mensch­li­che Re­geln in ei­nem Kampf auf Le­ben und Tod mit ei­nem au­ßer­ir­di­schen We­sen? Das war nicht ganz die Si­tua­ti­on, die er sich aus­ge­malt hat­te, als er in den Or­den ein­trat! Bru­der Paul bog den Rücken durch, schob die Hüf­ten nach vorn und zerr­te an dem um­klam­mer­ten Hin­ter­bein, in­dem er sei­nen Druck auf das Ge­lenk ver­la­ger­te. Er hat­te kei­ne Ah­nung, ob die­se Tech­nik bei ei­nem sol­chen We­sen funk­tio­nie­ren wür­de, ver­mein­te je­doch, es sei einen Ver­such wert. Ein Mensch hät­te da­bei vor Schmerz ge­schri­en …

Der Ti­ger schrie vor Schmerz. Durch die­sen un­er­war­te­ten Er­folg ver­dutzt, ließ Bru­der Paul ihn los, wie er es bei ei­nem mensch­li­chen Geg­ner ge­tan hät­te, der ihm be­deu­te­te, er gä­be sich ge­schla­gen. Zu spät fiel ihm ein, daß er es nicht mit ei­nem mensch­li­chen Geg­ner zu tun hat­te, son­dern mit ei­nem We­sen, daß ihm die Kno­chen zer­bre­chen woll­te. Jetzt war er an der Rei­he!

Doch der Ti­ger hat­te ge­nug. Er roll­te sich auf die Bei­ne, brach­te sich mit Hil­fe des Schwan­zes ins Gleich­ge­wicht und sprang eben­so rasch, wie er ge­kom­men war, von dan­nen. Bru­der Paul stand auf und be­ob­ach­te­te er­leich­tert, wie er durch das wo­gen­de Wei­zen­meer sprang. Er hat­te ihn nicht ver­let­zen wol­len, doch ge­dacht, er ha­be kei­ne an­de­re Wahl. Er sel­ber hat­te Ab­schür­fun­gen, war zer­zaust und ein we­nig schwind­lig, doch an­sons­ten in­takt. Es hät­te schlim­mer aus­ge­hen kön­nen, viel schlim­mer!

Ei­ne Be­we­gung fiel ihm ins Au­ge. Es nä­her­ten sich Men­schen, et­wa ein hal­b­es Dut­zend Män­ner. Sie wa­ren be­waff­net, tru­gen lan­ge Spee­re – nein, es wa­ren Drei­za­cke, ele­gant ge­form­ten Mist­ga­beln ver­gleich­bar, ex­zel­lent da­zu ge­eig­net, ein Tier ab­zu­ste­chen, wäh­rend man es in si­che­rer Di­stanz hielt. Auch ge­gen­über Men­schen sehr ef­fek­tiv.

Paul er­war­te­te mit leich­ter Ner­vo­si­tät die An­kunft der Grup­pe. Auch dies war nicht ganz das, was er ei­gent­lich er­war­tet hat­te.

Als die Män­ner nä­her ka­men, er­kann­te er je­doch, daß sie eher vor­sich­tig als ag­gres­siv wirk­ten. Sie sa­hen sich um und hiel­ten die Waf­fen be­reit, als hät­ten sie Angst, es sprän­ge et­was Ge­fähr­li­ches her­bei.

„Hal­lo“, rief Bru­der Paul. „Ich kom­me von der Er­de mit ei­nem Son­der­auf­trag.“

Die Män­ner blick­ten sich be­deut­sam an. „Was ist dein Glau­be?“ frag­te ei­ner.

„Ich bin Bru­der Paul vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on. Ich bin nicht ge­kom­men, um bei euch zu blei­ben. Ich soll …“ Aber da brach er ab, weil er sich über ih­re Re­ak­ti­on nicht im kla­ren war.

Wie­der tausch­ten sie Bli­cke aus. „Vi­si­on“, sag­te der ers­te Spre­cher be­wun­dernd. Er war ein un­ter­setz­ter, dun­kel­haa­ri­ger Mann mit tie­fen Fal­ten um den Mund, die man so­gar beim Lä­cheln, wie eben ge­ra­de jetzt, sah. „Ei­ne gu­te Wahl. Aber ich wuß­te nicht, daß es ein krie­ge­ri­scher Kult ist.“

Krie­ge­ri­scher Kult? „Der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on ist ei­ne pa­zi­fis­ti­sche Ver­ei­ni­gung, die im­mer den Weg des ge­rings­ten …“

„Aber du hast den Kno­chen­bre­cher be­siegt!“

Den Kno­chen­bre­cher. Ein pas­sen­der Na­me. „Mich hat der Selbs­t­er­hal­tungs­trieb in Ver­su­chung ge­führt. Ich glau­be aber nicht, daß ich dem Tier et­was zu­lei­de ge­tan ha­be.“

Wie­der ein Blickaus­tausch. „Die Fra­ge ist, wie kommt es, daß der Kno­chen­bre­cher dir nichts zu­lei­de ge­tan hat! Wir be­we­gen uns im­mer in be­waff­ne­ten Grup­pen, um sei­ner Wild­heit wäh­rend die­ser Ta­ges­zeit, wenn er um­her­schweift, be­geg­nen zu kön­nen.“

Of­fen­sicht­lich kann­ten sie die Ge­wohn­hei­ten des Kno­chen­bre­chers, und jetzt war ge­ra­de sei­ne Jagd­zeit. Das wür­de auch er­klä­ren, warum sie nicht so­gleich zu sei­ner Be­grü­ßung her­bei­ge­eilt wa­ren; sie muß­ten zu­erst ihr Trüpp­chen or­ga­ni­sie­ren und mit der not­wen­di­gen Vor­sicht vor­ge­hen. „Ver­mut­lich ha­be ich Glück ge­habt“, mein­te Bru­der Paul. „Mir ist es ge­lun­gen, ihn zu ver­trei­ben, als ich mich schon ver­lo­ren wähn­te.“

„Ge­nau“, sag­te der Spre­cher mit zwei­feln­dem Ge­sichts­aus­druck – sein Ge­sicht war für säu­er­li­che Mie­nen gut ge­eig­net –, „dein Gott paßt of­fen­sicht­lich gut auf dich auf.“

„Mein Gott ist der glei­che wie der eu­re“, ent­geg­ne­te Bru­der Paul be­schei­den – und war er­staunt über die Re­ak­ti­on dar­auf. Of­fen­sicht­lich hat­te er einen Feh­ler be­gan­gen.

„Wir wol­len uns vor­stel­len“, sag­te der Mann und be­sänf­tig­te auf un­ver­mit­tel­te Art die un­be­hag­li­che Stil­le. „Ich bin Pfar­rer Siltz von der Zwei­ten Kom­mu­nis­ti­schen Kir­che, durch Be­schluß die­ser Grup­pe ihr Spre­cher.“

Bru­der Pauls Mie­ne zuck­te nicht ein­mal. Nach An­ta­res, dem ge­la­ti­nösen Frem­den, ei­ner le­ben­di­gen Ta­ro­therr­sche­rin und dem Kno­chen­bre­cher war ei­ne Kom­mu­nis­ti­sche Kir­che doch nur ei­ne ge­rin­ge An­oma­li­tät. „Freue mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen, Pfar­rer Siltz“, sag­te er. Der Mann bot ihm nicht die Hand an, da­her nick­te Bru­der Paul beim Re­den nur zu­stim­mend mit dem Kopf.

Der Mann zur Rech­ten des Pfar­rers er­griff das Wort: „Jan­son, Ad­ven­tist.“ Und die an­de­ren der Rei­he nach: „Bon­ly, Frei­mau­rer.“

„Ap­per­met, Yo­ga.“

„Smith, Swe­den­bor­gia­ner.“

„Mil­ler, we­ga­ni­scher Ve­ge­ta­ri­er.“

„Wir hat­ten Sie schon er­war­tet“, sag­te Pfar­rer Siltz brum­mig. „Über Ih­re ex­ak­te An­kunfts­zeit wa­ren wir nicht in­for­miert, doch die Sa­che liegt uns am Her­zen.“ Hier un­ter­drück­te ei­ner der an­de­ren ein kur­z­es Schnau­ben und er­in­ner­te den Bru­der wie­der­um an die ver­wi­ckel­ten Strö­mun­gen, die un­ter­halb die­ses heim­ge­such­ten Pla­ne­ten flos­sen. Wo war er da hin­ein­ge­ra­ten?

Pfar­rer Siltz run­zel­te die Stirn, fuhr je­doch fort: „Durch Los war es der Kom­mu­nis­ti­schen Kir­che zu­ge­fal­len, Sie in Über­ein­stim­mung mit dem Ver­trag zu be­grü­ßen und Ih­nen für die Dau­er Ih­res Auf­ent­hal­tes un­se­re Gast­freund­schaft an­zu­bie­ten. Dies be­deu­tet kein Ur­teil über den Wert Ih­rer Missi­on oder un­se­re Mei­nung dar­über. Sie sind na­tür­lich frei, ei­ne an­de­re Un­ter­brin­gung zu wäh­len. Der Or­den der Vi­si­on un­ter­hält hier kei­ne Sta­ti­on.“

In der Tat Strö­mun­gen! War das Los auf einen Feind ge­fal­len, ihn zu be­her­ber­gen, oder war dies ein­fach über­trie­be­ne Höf­lich­keit? Er muß­te sein leich­tes Boot vor­sich­tig steu­ern, bis er mehr über die Be­son­der­heit der Si­tua­ti­on wuß­te. „Ich freue mich, Ihr An­ge­bot an­neh­men zu dür­fen, Pfar­rer, in der Hoff­nung, daß mei­ne Ge­gen­wart Ih­nen kei­ne Un­an­nehm­lich­kei­ten oder Ver­le­gen­hei­ten ver­ur­sacht.“

Nun lä­chel­te Siltz auf­rich­tig. „Wir wis­sen von Ih­rem Or­den. Sie zu be­her­ber­gen wird uns ei­ne vor­neh­me Auf­ga­be sein.“

Die An­nah­me war al­so die rich­ti­ge Ent­schei­dung ge­we­sen. Viel­leicht war man in Furcht vor ei­ner Zu­rück­wei­sung so muf­fig ge­we­sen, um nicht das Ge­sicht zu ver­lie­ren, wenn Bru­der Paul das Er­war­te­te tat. Aber es konn­te auch einen an­de­ren Grund ha­ben, wie et­wa die­se of­fen­sicht­li­che In­di­vi­dua­li­tät von Göt­tern, als ha­be je­de Re­li­gi­on ih­re ei­ge­ne Gott­heit. Bru­der Paul be­te­te ins­ge­heim, daß er hier nicht all­zu vie­le falsche Ent­schei­dun­gen traf. Wie gut, daß sich der Ruf sei­nes Or­dens auch auf ei­nem so fer­nen Pla­ne­ten ver­brei­tet hat­te. Na­tür­lich konn­te die­se Ko­lo­nie wie al­le an­de­ren in der mensch­li­chen Sphä­re kaum äl­ter als vier, fünf Jah­re sein. So konn­ten die Ko­lo­nis­ten ih­re Kennt­nis über re­li­gi­öse Sek­ten von der Er­de mit hier­her­ge­tra­gen ha­ben. Es war al­so kein Wun­der.

Pfar­rer Siltz dreh­te sich rasch her­um, um zu dem Kaps­el­emp­fangs­ge­bäu­de her­über­zu­se­hen. Sei­ne Be­we­gung und Hal­tung da­bei er­in­ner­ten Bru­der Paul ent­fernt an den Kno­chen­bre­cher. „Nun müs­sen wir aus­la­den, ehe sie wie­der rück­über­tra­gen wird. Ist es ei­ne gu­te La­dung?“

„Näh­ma­schi­nen, Spinn­rä­der, Öfen“, zähl­te Bru­der Paul auf, wäh­rend sie auf das Ge­bäu­de zu­gin­gen. „Schleif­ge­rät, Äx­te …“

„Gut, gut“, mein­te Pfar­rer Siltz. „Man hat Sie gut aus­ge­stat­tet.“ Man hör­te ein für Bru­der Paul über­ra­schen­des Ge­mur­mel der Zu­stim­mung. Ihm kam ein zwei­schich­ti­ger Ge­dan­ke in den Sinn: Zu­nächst fühl­te er sich dar­in be­stä­tigt, daß er hier nicht recht will­kom­men war – al­so hat­te man ihn ‚aus­ge­stat­tet’, als sei er ei­ne häß­li­che Braut, die man mit ei­nem Geld­ge­schenk ver­sieht, um ihn und sei­nen Auf­trag schmack­haft zu ma­chen. Zwei­tens gab ihm die Re­ak­ti­on auf die La­dung zu den­ken. Na­tür­lich wa­ren sol­che Ge­gen­stän­de nütz­lich, doch spür­ten die­se Ko­lo­nis­ten kein Ver­lan­gen nach ent­wi­ckel­te­ren, zi­vi­li­sier­te­ren Pro­duk­ten?

Die nächs­ten zwei Stun­den lang lu­den sie aus. Es war ei­ne schwe­re Ar­beit, doch nie­mand drück­te sich; al­le Män­ner wa­ren kräf­tig, und Pfar­rer Siltz er­wies sich als eben­so tat­kräf­tig wie al­le an­de­ren. Doch die gan­ze Zeit über war sich Bru­der Paul ei­ner be­stimm­ten Vor­sicht be­wußt, die sich nicht ge­gen ihn rich­te­te, son­dern zwi­schen den Ko­lo­nis­ten sel­ber vi­brier­te, als traue nie­mand dem an­de­ren in vol­lem Um­fang. Was war das für ein Pro­blem hier?

Schließ­lich war al­les er­le­digt. „Gut, gut!“ sag­te Pfar­rer Siltz zu­frie­den, als er sich die Ge­rä­te an­sah, die man un­or­dent­lich am Ran­de des Wei­zen­fel­des auf­ge­sta­pelt hat­te. „Mor­gen kom­men die Wag­g­ons.“ Sie be­deck­ten die Ge­rät­schaf­ten mit leich­ten Plas­tik­fo­li­en, die Teil der La­dung ge­we­sen wa­ren, und be­gan­nen den Rück­marsch.

Als sie an dem Thron vor­bei­ka­men, woll­te Bru­der Paul nach dem Mäd­chen fra­gen, das er dort ge­se­hen hat­te, zö­ger­te je­doch, weil es sein konn­te, daß weib­li­chen Ko­lo­nis­ten der Kon­takt mit frem­den Män­nern viel­leicht nicht ge­stat­tet war. Das wür­de ih­re Flucht er­klä­ren und je­de Fra­ge über ihr un­an­ge­mes­se­nes Er­schei­nen un­mög­lich ma­chen. In ei­ner so kult­be­herrsch­ten Ge­sell­schaft, wie es die­se hier zu sein schi­en, war der Sta­tus von Frau­en sehr frag­lich.

Hin­ter dem Hü­gel­rücken lag ein Dorf, nicht wei­ter als zwei Ki­lo­me­ter von ih­rer Po­si­ti­on ent­fernt. Bru­der Paul hät­te im Lauf­schritt die Stre­cke in et­wa sechs Mi­nu­ten zu­rück­le­gen kön­nen, hät­te er den Weg ge­kannt, doch er be­zwei­fel­te, daß das Mäd­chen schon hier an­ge­kom­men war, die Grup­pe auf­ge­scheucht und sie zu ihm ge­schickt ha­ben konn­te, ehe er mit dem Kno­chen­bre­cher fer­tig ge­wor­den war. Pfar­rer Siltz muß­te sich schon auf dem Weg be­fun­den ha­ben, als die Kap­sel lan­de­te. Der Pla­net Ta­rot kann­te of­fen­sicht­lich we­der elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on noch mo­to­ri­sier­ten Trans­port; da­her wa­ren hier Lauf­ver­mö­gen und Be­ob­ach­tun­gen wich­tig, eben­so wie in den bes­se­ren Ge­bie­ten der Er­de heut­zu­ta­ge.

Ei­ne mäch­ti­ge Pa­li­sa­de aus Holz­p­fäh­len um­gab das Dorf; je­der Pfahl war po­liert und sah gut aus. Bru­der Paul hat­te wäh­rend sei­ner Ar­beit im Or­den ei­ni­ges über Holz­be­ar­bei­tung ge­lernt, doch nie­mals zu­vor ähn­li­ches Holz ge­se­hen. „Das Herz vom Herz­stück der Fich­te“, mur­mel­te er.

In­ner­halb des Rin­ges be­stan­den die Häu­ser aus dem glei­chen Ma­te­ri­al; aus ge­kerb­ten Bal­ken ge­baut, die man mit Lehm ver­schmiert hat­te. Die Dä­cher be­stan­den aus di­cker Gras­nar­be, auf der zu­wei­len so­gar Blu­men wuch­sen. Hier und dort ent­deck­te er im Schat­ten wei­te­re An­häu­fun­gen je­ner Bla­sen, die er zu­erst bei dem Kom­post­hau­fen ent­deckt hat­te. So wa­ren es al­so nicht aus­schließ­lich Pro­duk­te or­ga­ni­scher Zer­set­zung.

„Was ist das?“ frag­te Bru­der Paul und bück­te sich, um ei­ne zu be­rüh­ren. Sie zer­platz­te nicht. So nahm er sie al­so vor­sich­tig in die Hand – und dann erst zer­platz­te sie. Of­fen­sicht­lich wa­ren ei­ni­ge der Bla­sen stär­ker als an­de­re.

„Ta­rot­bla­sen“, ant­wor­te­te Pfar­rer Siltz. „Sie wach­sen über­all, be­son­ders in der Nacht. Sie ha­ben kei­ner­lei Wert, et­wa wie Mehl­tau oder Un­kraut. An be­wölk­ten Ta­gen bau­en ge­schick­te Kin­der dar­aus gan­ze Schlös­ser. Wir hal­ten sie aus den Häu­sern her­aus, da­mit sie un­se­re Nah­rung nicht ver­der­ben.“

Wie rasch ei­ne hüb­sche Neu­heit zum Är­ger­nis wer­den konn­te! Aber Bru­der Paul konn­te den Wunsch der Ko­lo­nis­ten ver­ste­hen, un­er­wünsch­te Ge­wäch­se von ih­ren Nah­rungs­mit­teln fern­zu­hal­ten; die Res­te moch­ten harm­los sein, aber warum soll­te man ein Ri­si­ko ein­ge­hen. Die meis­ten Bak­te­ri­en auf der Er­de wa­ren eben­falls harm­los, doch die­je­ni­gen, die es nicht wa­ren, hat­ten oft ver­nich­ten­de Wir­kung.

Im Zen­trum des Dor­fes stand ein Holz­stoß. Um ihn her­um ar­bei­te­ten al­ler­lei Men­schen. Män­ner säg­ten Bret­ter zu­recht – oder viel­mehr, sie ho­bel­ten sie und hin­ter­lie­ßen Hü­gel mit sich zu Spi­ra­len rol­len­den Ab­fäl­len. Die Kin­der sam­mel­ten die­se Holz­lo­cken und leg­ten sie ne­ben den sit­zen­den Frau­en zu Mus­tern zu­recht. Die Frau­en schie­nen die Schnit­te zu glät­ten und ent­fern­ten die Fa­sern, so daß es Tuch äh­nel­te. Das war ein Holz!

Pfar­rer Siltz blieb ste­hen, und die an­de­ren Mit­glie­der der Grup­pe folg­ten sei­nem Bei­spiel. In stil­ler Ehr­furcht beug­ten sie die Köp­fe. „Baum des Le­bens, Gott von Ta­rot, wir dan­ken dir“, sag­te Siltz förm­lich und ver­beug­te sich vor dem Holz­stoß.

Baum des Le­bens? Gott von Ta­rot? Bru­der Paul kann­te den Baum des Le­bens als Dia­gramm von Be­deu­tun­gen im Zu­sam­men­hang mit der Kab­ba­la, dem al­ten he­bräi­schen Sys­tem der Zah­len-Al­chi­mie. Und den Gott von Ta­rot, den er ja such­te, hat­te er sich ge­wiß nicht als Holz­stoß vor­ge­stellt. Was hat­te dies zu be­deu­ten?

Pfar­rer Siltz dreh­te sich zu ihm um, wäh­rend die an­de­ren Män­ner wei­ter­gin­gen. „Wir ha­ben hier vie­le Glau­bens­rich­tun­gen in der Ta­rot-Ko­lo­nie. Doch in ei­nem sind wir uns ei­nig: Der Baum ist die Quel­le un­se­res Wohl­er­ge­hens. Wir ha­ben das Ge­fühl, un­se­re je­wei­li­gen Göt­ter ha­ben nichts ge­gen den Re­spekt, den wir ihm zol­len.“

„Hat er Ähn­lich­keit mit dem Großen Wel­ten­baum der nor­di­schen Sa­ge, dem Yggdra­sil?“ frag­te Bru­der Paul. „Sei­ne Wur­zeln er­stre­cken sich in drei Be­rei­che …“

„Es gibt hier nor­di­sche Sek­ten, die viel­leicht die­se Ana­lo­gie her­stel­len“, stimm­te Siltz zu. „Aber die Mehr­heit von uns be­trach­tet ihn als rein pla­ne­ta­ri­schen Aus­druck und Ge­schenk Got­tes. In der Tat ver­su­chen wir her­aus­zu­fin­den, wel­cher Gott der Baum ei­gent­lich ist.“

„Sie se­hen Gott als … phy­si­ka­li­sches Ob­jekt? Als einen Baum? Holz?“

„Nicht ganz. Wir müs­sen hier zu­sam­men­hal­ten, um zu über­le­ben. Und nur durch den Baum kön­nen wir das er­rei­chen. So ist der Le­bens­baum der Gott von Ta­rot.“ Er ver­such­te ei­nes sei­ner sel­te­nen Lä­cheln. „Ich se­he, Sie sind ver­wirrt. Kom­men Sie, es­sen Sie und ru­hen sich in mei­nem Heim aus, und dann ver­su­che ich, es ent­spre­chend dem Ver­trag so ge­nau wie mög­lich zu er­klä­ren.“

Bru­der Paul nick­te, wag­te aber nicht et­was zu sa­gen, um in sei­nem Un­wis­sen nicht noch mehr Feh­ler zu be­ge­hen. Die­se ein­ge­bo­re­ne pla­ne­ta­ri­sche Kul­tur war viel son­der­ba­rer, als er sie sich vor­ge­stellt hat­te.