3
Aktion
Der unten stehende Satz ist
WAHR
Der oben stehende Satz ist
FALSCH
Bruder Paul blinzelte mit den Augen gegen das grelle Sonnenlicht. Er stand am Rande eines Kornfeldes, dessen Getreidesorte ihm nicht vertraut war, die aber irdischem Weizen ähnelte; die Erde exportierte hybride Züchtungen der Grundkornarten, so rasch man sie nur züchten konnte, auf der Suche nach einer idealen Kombination mit außerirdischen Bedingungen. Es gab so viele Variablen von Licht und Schwerkraft, Erde und Klima, daß der einzig vernünftige Test über die Brauchbarkeit einer Sorte die Ernte bedeutete. Dieses Feld sah gut aus; die Halme standen hoch und grün und glänzten an der Spitze golden. Es kräuselte sich unter den leichten Windstößen. Wahrscheinlich eine erfolgreiche Züchtung. Natürlich konnte das äußere Erscheinungsbild allein täuschen; vielleicht stellten sich die Körner als holzig, bitter oder sogar giftig heraus; oder die örtliche Fauna drang in das Feld ein und verzehrte die Ernte. Jedenfalls würde es ein ganz schönes Stück Arbeit bedeuten, das vorhandene Korn mit der Hand zu dreschen.
Nicht weit entfernt erhob sich ein kleiner Berg. Paul zogen die leuchtenden Farben an der Hangseite an. Er ging darauf zu, um seine Neugier zu befriedigen. Es stellte sich als ein Komposthaufen aus den Abfällen des Feldes heraus: Halme und Blätter, die zu einem runden Becher aufgetürmt waren, um den Regen aufzufangen und zu halten, da das Wasser für die Zersetzung notwendig war.
Bruder Paul lächelte. Er betrachtete diesen Haufen als lebendigen, natürlichen Prozeß, in dem der Erde die organischen Stoffe zurückgeführt wurden, die man ansonsten nicht mehr benötigte, eines der großartigen, verjüngenden Phänomene der Existenz. Was für ein besseres Symbol für wirkliche Zivilisation in Harmonie mit der Natur konnte es sonst geben als einen aktiven Komposthaufen? Grundsätzlich gesehen stellte der Kompost für das Leben das gleiche dar, was der Heilige Orden der Vision für die Menschheit zu tun versuchte: sie zu einem Idealzustand zurückführen, fruchtbare Erde für die künftige Generation bilden. Es gab für den Menschen oder eine Gesellschaft keine bessere Aufgabe!
Die bunten Farben stellten sich als kleine Ballons heraus, die sich in dem schmalen Schatten des Haufens zusammendrängten. Sie waren rot, gelb, grün und blau sowie von anderen Schattierungen. Hatte sie ein Kind hier als Opfer an die Erde liegenlassen? Das schien unwahrscheinlich, da man die Technologie für die Plastikherstellung wohl kaum anstelle wichtiger Prozesse auf diese Koloniewelt übertragen hatte. Hatte ein Kind die Ballons von der Erde mitgebracht? Aber dieses Kind würde sie wohl kaum achtlos hier liegenlassen haben. Bruder Paul streckte die Hand aus, um einen aufzuheben. Bei der Berührung zerplatzte er. Es war nichts als eine zarte Haut, kaum haltbarer als eine Seifenblase. Kein Wunder, daß sie im Schatten lagen. Das bloße Sonnenlicht würde sie vergehen lassen. Vielleicht war es ein fremdartiges Produkt des Kompostes, wobei das entstehende Gas bunte Häutchen aufblies? Hübsch, aber von begrenzter Haltbarkeit. Man mußte auf neuen Welten wohl mit neuen Dingen rechnen, mit kleinen wie auch mit bedeutenderen.
Die Zeit verstrich. Gab es kein Empfangskomitee? Er konnte niemanden erblicken. War ihnen die Landung egal? Wußten sie überhaupt davon? Offensichtlich geschahen diese Übertragungen recht unregelmäßig, wie es dem dichtgedrängten Zeitplan des MÜ-Programms gerade entsprach. Bei tausend Kolonieplaneten und vielleicht fünf größeren Siedlungen pro Welt, die man beobachtete – nun, das machte über fünf Milliarden Menschen, über die Hälfte der Erdbevölkerung vor dem Exodus. Der Planet Tarot hatte Glück, überhaupt Nachfolger zu bekommen! Daher hatte die Landung die Kolonisten wohl überrascht. Normalerweise hätte sie ein Schiff wohl aufgestört, und man wäre herbeigeeilt, ehe es zurück zur Erde flog.
Sollte er ihnen zuvorkommen, indem er einiges von der Ausrüstung selbst auspackte? Die Tatsache, daß er sich hier auf einer Spezialmission befand, sollte ihn nicht davon abhalten, sich nützlich zu machen, und die Bewegung würde ihm guttun.
Er drehte sich um – und erblickte etwas hinter dem Ankunftsplatz der Kapsel. Dort stand ein Stein, ein Block nein, ein Thron, dort, mitten im Weizen! Darauf saß ein Mädchen, ein wunderschönes blondes Geschöpf, eine richtige Prinzessin. Was tat sie dort?
Er ging auf sie zu. Doch da erhob sich die Frau und flüchtete durch das Feld. Ihre königliche Robe flatterte hinter ihr her. „Warte!“ rief er. „Ich komme von der Erde!“ Aber sie rannte weiter und war überraschend schnell. Offensichtlich ein gesundes Mädchen.
Bruder Paul gab die Jagd auf. Sie hatte Angst, und es würde ihm nichts nützen, wenn er sie weiter verfolgte, obwohl er sie mit einiger Mühe sicherlich gefangen hätte. Diese Situation schien ihm nach seiner Begegnung mit dem außerirdischen Geist noch sonderbarer zu sein:
Er blieb stehen. „Arkan Drei!“ rief er. Die Frau auf dem Thron im Weizenfeld – diese Karte bezeichnete das dritte Große Arkan im Tarotspiel mit Namen ‚Herrscherin’.
Dies war der Planet Tarot, wo Karten lebendig wurden. Aber so rasch hatte er das nicht erwartet – und nicht so wörtlich!
War dies eine weitere geisterhafte Manifestation? Spielte sich alles nur in seinem Kopf ab? Wenn dies der Fall war, dann mußte er seinen Urteilen über diese Reise mißtrauen. Was würde der Aufzeichner verraten? Er hätte ihn sich gern angesehen, hatte aber natürlich keinen Projektor und begriff die Wirkungsweise des Armbands ohnehin nicht. Nichtsdestoweniger war ihm die Frau real und trotz (oder wegen?) ihrer Furchtsamkeit höchst attraktiv erschienen.
Ein Planet, wo Tarotbilder zum Leben erwachten, Bruder Paul blieb stehen und dachte darüber nach, angeregt durch den plötzlichen Beweis für diese Behauptung. Er hatte als Teil seiner Pflichten für den Orden Tannenholz gesägt, und manchmal waren seine Gedanken während der schweren Arbeit abgeschweift, und er hatte eine Parallele zwischen dem Holz und dem Tarot herbeibeschworen. Das Holz war außen weich und weiß, leicht zu sägen und zu verarbeiten, leicht zu verbrennen, aber ohne allzuviel Substanz. Das Herz der Fichte hingegen war steinhart und dicht, gesättigt mit organgefarbenem Saft. Es überdauerte Dekaden ohne Zerfall, und die Termiten, deren Lieblingsholz weiche Tanne war, wagten sich nicht an die Herzstücke. Es brannte so gut, daß es Metallgitter und Ziegelkamine zerstörte. Die Königin der Kaminhölzer. Das Tarot erschien ihm ähnlich: es war oberflächlich gesehen interessant; leicht waren die Bilder von Amateuren zu interpretieren. Doch wenn man sich tief genug hineinversenkte, stieß man auf das Herz des Tarot – und das war tief, dicht und schwierig und zwang die Gedanken durch die vierte und fünfte Dimension von Denken und Zeit. Nur wenige Menschen konnten damit umgehen, doch jene, die hartnäckig dabeiblieben, erhielten große und dauerhafte Belohnung dafür. Bruder Paul sah sich selber am Rand zwischen weißem Holz und dem orangefarbenen Herzstück, ein Novize, der vor dem Portal der wahren Bedeutung zittert und kaum weiß, was für Entdeckungen vor ihm liegen. Würde er hier, auf dem Planeten Tarot, weiterkommen?
Nun, der Thron der Herrscherin blieb stehen. Das konnte er rasch überprüfen. Er ging darauf zu und blickte sich dabei um. Es war eine wunderschöne Gegend mit einem augenscheinlichen Vulkan direkt hinter dem Feld und daneben einer Kette aus buntem Felsgestein. Die Luft war warm und die Schwerkraft ähnlich wie auf der Erde, so daß er sich wohlfühlte. Niemals hätte er diesen Ort für einen von Geistern heimgesuchten Planeten gehalten!
Doch darüber gab es keinen Zweifel. Das war der echte Herrscherinnenthron aus dem Tarot. Oder etwas sehr Ähnliches. Er bestand aus dichtem, poliertem Holz und nicht aus Stein; Paul machte sich klar, daß es hier vielleicht nicht den passenden Stein gab. Auf einer Seite war das sechseckige Schild mit dem zweiköpfigen Adler eingeschnitzt. Ein solches Symbol konnte man wohl kaum für Zufall halten, doch er war sich auch nicht völlig sicher, ob es nicht doch einer war. Immer noch Zweifel also. Aber den gab es immer.
Mächtige Holzsäulen stützten einen Baldachin, der den Thron beschattete. Eine notwendige Einrichtung, denn selbst die schönste Herrscherin würde vergehen, wenn sie den ganzen Tag unter dieser Sonne sitzen müßte. Aber …
Ein entsetzenerregendes Knurren ließ ihn zusammenzucken. Er sprang in Richtung des Lautes auf und sah ein riesiges katzenartiges Wesen auf sich zuschleichen. Das Wesen schien fünf Beine zu haben. Vielleicht war der Schwanz umgebildet.
Von der Frau zum Tiger! Bruder Paul duckte sich hinter den Thron. Das Wesen schlich hinter ihm her. Katzenartig, aber keine Katze; die Beinbewegungen waren auf merkwürdige, aber eindrucksvolle Weise fremdartig. Nicht, weil die Beine sich an den Gelenken nach hinten bogen; die Beugung schien irgendwie anders zu sein …
Keine Zeit, das jetzt genau zu studieren! Das Ding mußte an die hundertfünfzig Kilogramm wiegen – doppelt soviel wie Bruder Paul –, und über seine Absicht gab es keinen Zweifel. Es betrachtete ihn entweder als Feind oder als Beutetier.
Es hätte schon geholfen, wenn man ihn vorher über diese Einzelheiten der Ökologie dieses Planeten informiert hätte. Aber vielleicht hatte man es nicht gewußt. Er hätte in der Kapsel bleiben sollen, bis jemand von den Kolonisten gekommen wäre; diese Schwierigkeit hatte er sich nun selber zuzuschreiben.
Bruder Paul duckte sich wieder hinter den Thron, doch das Tigerwesen hatte es vorausgesehen. Es sprang auf der anderen Seite herum, wobei es sich mit gespenstischer Leichtigkeit herumdrehte, und stand unvermittelt mit ausgestreckten Vorderbeinen vor ihm.
Bruder Paul erlebte einen jener Geistesblitze, die einige Menschen vor dem Tod erleben. Die Extremitäten der Kreatur waren weder Klauen noch Hufe, sondern ähnelten ledernen Handschuhen oder Fäustlingen. Sie waren geteilt, wobei sich der größere Teil wie eine halbgeschlossene Hand zu einem Halbkreis bog, wobei allerdings die Finger fehlten. Der kleinere Teil war wie ein entgegengesetzter Daumen. Die Geschicklichkeit dieser ‚Hand’ kam der menschlichen in keiner Weise nahe, und die schwieligen Stellen an den Außenrändern deuteten darauf hin, daß sie eher zum Laufen als anderen Funktionen diente. Doch ein Huf oder eine Tatze wäre zum Laufen besser geeignet gewesen. Was war das für ein verzerrtes Wesen?
Der Tiger sprang auf ihn zu, die sonderbaren Füße ausgestreckt, als wolle er mit ihm boxen, wobei allerdings nicht Bruder Pauls Rumpf das Angriffsziel bildete. Bruder Paul sprang hoch und zur Seite, so daß das Wesen ihn verfehlte. Die Vorderbeine des Tieres zuckten zurück, während die keulenartigen Hinterbeine nach vorn schossen. Es landete auf den Hinterbeinen und kippte nach hinten über.
Wäre Bruder Paul an der gleichen Stelle stehengeblieben, hätten sich diese Vorderpfoten um seine Knöchel gehakt, während ihn die Hinterbeine mit solcher Gewalt getroffen hätten, daß seine Beine gebrochen wären. Derart verletzt wäre er eine leichte Beute gewesen. Das war keine auf der Erde bekannte Angriffsart, doch gewiß ebenso brutal und wirksam wie Zähne oder Reißzähne oder Klauen.
Der Tiger wirbelte herum und nahm die ursprüngliche Stellung wieder ein, wobei er den vielseitigen Schwanz zu Hilfe nahm, und sprang erneut nach vorn. Dieses Mal setzte er höher an, denn er schien mit entmutigender Schnelligkeit zu lernen. Doch Bruder Paul blieb stehen. Er wirbelte herum, um aus seiner Reichweite zu gelangen, fiel gleichzeitig auf die Knie und umfing mit der rechten Armbeuge die linke Vorderpfote. Dann rollte er sich nach vorn und zerrte an dem Bein. Das war ippon seoi nage, der einarmige Schulterwurf – der erste Judogriff, den er bei einem Tier ausprobierte, ob es nun terrestrisch oder außerirdisch war. Und immerhin mit Erfolg!
Die Hinterbeine des Tigers schossen mit dem knochenbrechenden Reflex nach vorn. Sie schoben sich schmerzhaft über Bruder Pauls Rücken und rechte Schulter, und einer streifte seinen Kopf. Diese Hinterbeine waren wie Schmiedehämmer; Paul sah Sterne, als der Schlag auf das Sehzentrum seines Hirns auftraf.
Er hatte den falschen Griff angewendet. Da sich der Tiger normalerweise der Gliedmaßen seiner Beute bemächtigte und sie brach, hatte Paul sich nun lediglich bereitgesetzt, um den Hieb des umklammerten Tieres zu empfangen. Einen Menschen hätte es über Bruder Pauls Rücken geschleudert, doch das Drehmoment und Gleichgewicht des Tigers waren anders. Er hatte Glück, daß er nicht niedergeschlagen worden war, doch wenn er einen weiteren Fehler beging, würde dieses Glück nicht andauern.
Doch er hielt das Vorderbein fest, schleuderte sich darüber und versuchte weiterzurollen. Dieses Mal rollte das Wesen mit ihm, denn die Wucht des Falls war nun aufgefangen, und es war ihm nicht gelungen, wieder auf die Füße zu kommen. Es flog auf den Rücken, und Bruder Paul wollte einen Haltegriff anwenden – doch dann würde er der Gnade der wuchtigen Hinterbeine ausgeliefert sein.
Statt dessen drehte er sich rasch herum und griff nach dem nächstliegenden Hinterbein. Dann beugte er sich zurück, streckte beide Beine aus und umklammerte mit den Knien dieses Glied. Das war eine Beinsperre, die im Judo nicht zulässig gewesen wäre, doch was bedeuteten schon menschliche Regeln in einem Kampf auf Leben und Tod mit einem außerirdischen Wesen? Das war nicht ganz die Situation, die er sich ausgemalt hatte, als er in den Orden eintrat! Bruder Paul bog den Rücken durch, schob die Hüften nach vorn und zerrte an dem umklammerten Hinterbein, indem er seinen Druck auf das Gelenk verlagerte. Er hatte keine Ahnung, ob diese Technik bei einem solchen Wesen funktionieren würde, vermeinte jedoch, es sei einen Versuch wert. Ein Mensch hätte dabei vor Schmerz geschrien …
Der Tiger schrie vor Schmerz. Durch diesen unerwarteten Erfolg verdutzt, ließ Bruder Paul ihn los, wie er es bei einem menschlichen Gegner getan hätte, der ihm bedeutete, er gäbe sich geschlagen. Zu spät fiel ihm ein, daß er es nicht mit einem menschlichen Gegner zu tun hatte, sondern mit einem Wesen, daß ihm die Knochen zerbrechen wollte. Jetzt war er an der Reihe!
Doch der Tiger hatte genug. Er rollte sich auf die Beine, brachte sich mit Hilfe des Schwanzes ins Gleichgewicht und sprang ebenso rasch, wie er gekommen war, von dannen. Bruder Paul stand auf und beobachtete erleichtert, wie er durch das wogende Weizenmeer sprang. Er hatte ihn nicht verletzen wollen, doch gedacht, er habe keine andere Wahl. Er selber hatte Abschürfungen, war zerzaust und ein wenig schwindlig, doch ansonsten intakt. Es hätte schlimmer ausgehen können, viel schlimmer!
Eine Bewegung fiel ihm ins Auge. Es näherten sich Menschen, etwa ein halbes Dutzend Männer. Sie waren bewaffnet, trugen lange Speere – nein, es waren Dreizacke, elegant geformten Mistgabeln vergleichbar, exzellent dazu geeignet, ein Tier abzustechen, während man es in sicherer Distanz hielt. Auch gegenüber Menschen sehr effektiv.
Paul erwartete mit leichter Nervosität die Ankunft der Gruppe. Auch dies war nicht ganz das, was er eigentlich erwartet hatte.
Als die Männer näher kamen, erkannte er jedoch, daß sie eher vorsichtig als aggressiv wirkten. Sie sahen sich um und hielten die Waffen bereit, als hätten sie Angst, es spränge etwas Gefährliches herbei.
„Hallo“, rief Bruder Paul. „Ich komme von der Erde mit einem Sonderauftrag.“
Die Männer blickten sich bedeutsam an. „Was ist dein Glaube?“ fragte einer.
„Ich bin Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision. Ich bin nicht gekommen, um bei euch zu bleiben. Ich soll …“ Aber da brach er ab, weil er sich über ihre Reaktion nicht im klaren war.
Wieder tauschten sie Blicke aus. „Vision“, sagte der erste Sprecher bewundernd. Er war ein untersetzter, dunkelhaariger Mann mit tiefen Falten um den Mund, die man sogar beim Lächeln, wie eben gerade jetzt, sah. „Eine gute Wahl. Aber ich wußte nicht, daß es ein kriegerischer Kult ist.“
Kriegerischer Kult? „Der Heilige Orden der Vision ist eine pazifistische Vereinigung, die immer den Weg des geringsten …“
„Aber du hast den Knochenbrecher besiegt!“
Den Knochenbrecher. Ein passender Name. „Mich hat der Selbsterhaltungstrieb in Versuchung geführt. Ich glaube aber nicht, daß ich dem Tier etwas zuleide getan habe.“
Wieder ein Blickaustausch. „Die Frage ist, wie kommt es, daß der Knochenbrecher dir nichts zuleide getan hat! Wir bewegen uns immer in bewaffneten Gruppen, um seiner Wildheit während dieser Tageszeit, wenn er umherschweift, begegnen zu können.“
Offensichtlich kannten sie die Gewohnheiten des Knochenbrechers, und jetzt war gerade seine Jagdzeit. Das würde auch erklären, warum sie nicht sogleich zu seiner Begrüßung herbeigeeilt waren; sie mußten zuerst ihr Trüppchen organisieren und mit der notwendigen Vorsicht vorgehen. „Vermutlich habe ich Glück gehabt“, meinte Bruder Paul. „Mir ist es gelungen, ihn zu vertreiben, als ich mich schon verloren wähnte.“
„Genau“, sagte der Sprecher mit zweifelndem Gesichtsausdruck – sein Gesicht war für säuerliche Mienen gut geeignet –, „dein Gott paßt offensichtlich gut auf dich auf.“
„Mein Gott ist der gleiche wie der eure“, entgegnete Bruder Paul bescheiden – und war erstaunt über die Reaktion darauf. Offensichtlich hatte er einen Fehler begangen.
„Wir wollen uns vorstellen“, sagte der Mann und besänftigte auf unvermittelte Art die unbehagliche Stille. „Ich bin Pfarrer Siltz von der Zweiten Kommunistischen Kirche, durch Beschluß dieser Gruppe ihr Sprecher.“
Bruder Pauls Miene zuckte nicht einmal. Nach Antares, dem gelatinösen Fremden, einer lebendigen Tarotherrscherin und dem Knochenbrecher war eine Kommunistische Kirche doch nur eine geringe Anomalität. „Freue mich, Sie kennenzulernen, Pfarrer Siltz“, sagte er. Der Mann bot ihm nicht die Hand an, daher nickte Bruder Paul beim Reden nur zustimmend mit dem Kopf.
Der Mann zur Rechten des Pfarrers ergriff das Wort: „Janson, Adventist.“ Und die anderen der Reihe nach: „Bonly, Freimaurer.“
„Appermet, Yoga.“
„Smith, Swedenborgianer.“
„Miller, weganischer Vegetarier.“
„Wir hatten Sie schon erwartet“, sagte Pfarrer Siltz brummig. „Über Ihre exakte Ankunftszeit waren wir nicht informiert, doch die Sache liegt uns am Herzen.“ Hier unterdrückte einer der anderen ein kurzes Schnauben und erinnerte den Bruder wiederum an die verwickelten Strömungen, die unterhalb dieses heimgesuchten Planeten flossen. Wo war er da hineingeraten?
Pfarrer Siltz runzelte die Stirn, fuhr jedoch fort: „Durch Los war es der Kommunistischen Kirche zugefallen, Sie in Übereinstimmung mit dem Vertrag zu begrüßen und Ihnen für die Dauer Ihres Aufenthaltes unsere Gastfreundschaft anzubieten. Dies bedeutet kein Urteil über den Wert Ihrer Mission oder unsere Meinung darüber. Sie sind natürlich frei, eine andere Unterbringung zu wählen. Der Orden der Vision unterhält hier keine Station.“
In der Tat Strömungen! War das Los auf einen Feind gefallen, ihn zu beherbergen, oder war dies einfach übertriebene Höflichkeit? Er mußte sein leichtes Boot vorsichtig steuern, bis er mehr über die Besonderheit der Situation wußte. „Ich freue mich, Ihr Angebot annehmen zu dürfen, Pfarrer, in der Hoffnung, daß meine Gegenwart Ihnen keine Unannehmlichkeiten oder Verlegenheiten verursacht.“
Nun lächelte Siltz aufrichtig. „Wir wissen von Ihrem Orden. Sie zu beherbergen wird uns eine vornehme Aufgabe sein.“
Die Annahme war also die richtige Entscheidung gewesen. Vielleicht war man in Furcht vor einer Zurückweisung so muffig gewesen, um nicht das Gesicht zu verlieren, wenn Bruder Paul das Erwartete tat. Aber es konnte auch einen anderen Grund haben, wie etwa diese offensichtliche Individualität von Göttern, als habe jede Religion ihre eigene Gottheit. Bruder Paul betete insgeheim, daß er hier nicht allzu viele falsche Entscheidungen traf. Wie gut, daß sich der Ruf seines Ordens auch auf einem so fernen Planeten verbreitet hatte. Natürlich konnte diese Kolonie wie alle anderen in der menschlichen Sphäre kaum älter als vier, fünf Jahre sein. So konnten die Kolonisten ihre Kenntnis über religiöse Sekten von der Erde mit hierhergetragen haben. Es war also kein Wunder.
Pfarrer Siltz drehte sich rasch herum, um zu dem Kapselempfangsgebäude herüberzusehen. Seine Bewegung und Haltung dabei erinnerten Bruder Paul entfernt an den Knochenbrecher. „Nun müssen wir ausladen, ehe sie wieder rückübertragen wird. Ist es eine gute Ladung?“
„Nähmaschinen, Spinnräder, Öfen“, zählte Bruder Paul auf, während sie auf das Gebäude zugingen. „Schleifgerät, Äxte …“
„Gut, gut“, meinte Pfarrer Siltz. „Man hat Sie gut ausgestattet.“ Man hörte ein für Bruder Paul überraschendes Gemurmel der Zustimmung. Ihm kam ein zweischichtiger Gedanke in den Sinn: Zunächst fühlte er sich darin bestätigt, daß er hier nicht recht willkommen war – also hatte man ihn ‚ausgestattet’, als sei er eine häßliche Braut, die man mit einem Geldgeschenk versieht, um ihn und seinen Auftrag schmackhaft zu machen. Zweitens gab ihm die Reaktion auf die Ladung zu denken. Natürlich waren solche Gegenstände nützlich, doch spürten diese Kolonisten kein Verlangen nach entwickelteren, zivilisierteren Produkten?
Die nächsten zwei Stunden lang luden sie aus. Es war eine schwere Arbeit, doch niemand drückte sich; alle Männer waren kräftig, und Pfarrer Siltz erwies sich als ebenso tatkräftig wie alle anderen. Doch die ganze Zeit über war sich Bruder Paul einer bestimmten Vorsicht bewußt, die sich nicht gegen ihn richtete, sondern zwischen den Kolonisten selber vibrierte, als traue niemand dem anderen in vollem Umfang. Was war das für ein Problem hier?
Schließlich war alles erledigt. „Gut, gut!“ sagte Pfarrer Siltz zufrieden, als er sich die Geräte ansah, die man unordentlich am Rande des Weizenfeldes aufgestapelt hatte. „Morgen kommen die Waggons.“ Sie bedeckten die Gerätschaften mit leichten Plastikfolien, die Teil der Ladung gewesen waren, und begannen den Rückmarsch.
Als sie an dem Thron vorbeikamen, wollte Bruder Paul nach dem Mädchen fragen, das er dort gesehen hatte, zögerte jedoch, weil es sein konnte, daß weiblichen Kolonisten der Kontakt mit fremden Männern vielleicht nicht gestattet war. Das würde ihre Flucht erklären und jede Frage über ihr unangemessenes Erscheinen unmöglich machen. In einer so kultbeherrschten Gesellschaft, wie es diese hier zu sein schien, war der Status von Frauen sehr fraglich.
Hinter dem Hügelrücken lag ein Dorf, nicht weiter als zwei Kilometer von ihrer Position entfernt. Bruder Paul hätte im Laufschritt die Strecke in etwa sechs Minuten zurücklegen können, hätte er den Weg gekannt, doch er bezweifelte, daß das Mädchen schon hier angekommen war, die Gruppe aufgescheucht und sie zu ihm geschickt haben konnte, ehe er mit dem Knochenbrecher fertig geworden war. Pfarrer Siltz mußte sich schon auf dem Weg befunden haben, als die Kapsel landete. Der Planet Tarot kannte offensichtlich weder elektronische Kommunikation noch motorisierten Transport; daher waren hier Laufvermögen und Beobachtungen wichtig, ebenso wie in den besseren Gebieten der Erde heutzutage.
Eine mächtige Palisade aus Holzpfählen umgab das Dorf; jeder Pfahl war poliert und sah gut aus. Bruder Paul hatte während seiner Arbeit im Orden einiges über Holzbearbeitung gelernt, doch niemals zuvor ähnliches Holz gesehen. „Das Herz vom Herzstück der Fichte“, murmelte er.
Innerhalb des Ringes bestanden die Häuser aus dem gleichen Material; aus gekerbten Balken gebaut, die man mit Lehm verschmiert hatte. Die Dächer bestanden aus dicker Grasnarbe, auf der zuweilen sogar Blumen wuchsen. Hier und dort entdeckte er im Schatten weitere Anhäufungen jener Blasen, die er zuerst bei dem Komposthaufen entdeckt hatte. So waren es also nicht ausschließlich Produkte organischer Zersetzung.
„Was ist das?“ fragte Bruder Paul und bückte sich, um eine zu berühren. Sie zerplatzte nicht. So nahm er sie also vorsichtig in die Hand – und dann erst zerplatzte sie. Offensichtlich waren einige der Blasen stärker als andere.
„Tarotblasen“, antwortete Pfarrer Siltz. „Sie wachsen überall, besonders in der Nacht. Sie haben keinerlei Wert, etwa wie Mehltau oder Unkraut. An bewölkten Tagen bauen geschickte Kinder daraus ganze Schlösser. Wir halten sie aus den Häusern heraus, damit sie unsere Nahrung nicht verderben.“
Wie rasch eine hübsche Neuheit zum Ärgernis werden konnte! Aber Bruder Paul konnte den Wunsch der Kolonisten verstehen, unerwünschte Gewächse von ihren Nahrungsmitteln fernzuhalten; die Reste mochten harmlos sein, aber warum sollte man ein Risiko eingehen. Die meisten Bakterien auf der Erde waren ebenfalls harmlos, doch diejenigen, die es nicht waren, hatten oft vernichtende Wirkung.
Im Zentrum des Dorfes stand ein Holzstoß. Um ihn herum arbeiteten allerlei Menschen. Männer sägten Bretter zurecht – oder vielmehr, sie hobelten sie und hinterließen Hügel mit sich zu Spiralen rollenden Abfällen. Die Kinder sammelten diese Holzlocken und legten sie neben den sitzenden Frauen zu Mustern zurecht. Die Frauen schienen die Schnitte zu glätten und entfernten die Fasern, so daß es Tuch ähnelte. Das war ein Holz!
Pfarrer Siltz blieb stehen, und die anderen Mitglieder der Gruppe folgten seinem Beispiel. In stiller Ehrfurcht beugten sie die Köpfe. „Baum des Lebens, Gott von Tarot, wir danken dir“, sagte Siltz förmlich und verbeugte sich vor dem Holzstoß.
Baum des Lebens? Gott von Tarot? Bruder Paul kannte den Baum des Lebens als Diagramm von Bedeutungen im Zusammenhang mit der Kabbala, dem alten hebräischen System der Zahlen-Alchimie. Und den Gott von Tarot, den er ja suchte, hatte er sich gewiß nicht als Holzstoß vorgestellt. Was hatte dies zu bedeuten?
Pfarrer Siltz drehte sich zu ihm um, während die anderen Männer weitergingen. „Wir haben hier viele Glaubensrichtungen in der Tarot-Kolonie. Doch in einem sind wir uns einig: Der Baum ist die Quelle unseres Wohlergehens. Wir haben das Gefühl, unsere jeweiligen Götter haben nichts gegen den Respekt, den wir ihm zollen.“
„Hat er Ähnlichkeit mit dem Großen Weltenbaum der nordischen Sage, dem Yggdrasil?“ fragte Bruder Paul. „Seine Wurzeln erstrecken sich in drei Bereiche …“
„Es gibt hier nordische Sekten, die vielleicht diese Analogie herstellen“, stimmte Siltz zu. „Aber die Mehrheit von uns betrachtet ihn als rein planetarischen Ausdruck und Geschenk Gottes. In der Tat versuchen wir herauszufinden, welcher Gott der Baum eigentlich ist.“
„Sie sehen Gott als … physikalisches Objekt? Als einen Baum? Holz?“
„Nicht ganz. Wir müssen hier zusammenhalten, um zu überleben. Und nur durch den Baum können wir das erreichen. So ist der Lebensbaum der Gott von Tarot.“ Er versuchte eines seiner seltenen Lächeln. „Ich sehe, Sie sind verwirrt. Kommen Sie, essen Sie und ruhen sich in meinem Heim aus, und dann versuche ich, es entsprechend dem Vertrag so genau wie möglich zu erklären.“
Bruder Paul nickte, wagte aber nicht etwas zu sagen, um in seinem Unwissen nicht noch mehr Fehler zu begehen. Diese eingeborene planetarische Kultur war viel sonderbarer, als er sie sich vorgestellt hatte.