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In­tui­ti­on

 

Nur ge­le­gent­li­che Be­schäf­ti­gung und nie­mals mehr wäh­rend ei­nes gan­zen Le­bens war das, zer­fres­sen­de Krebs­ge­schwür’ im Le­ben der Kö­ni­gin­nen und Kon­ku­bi­nen ei­nes öst­li­chen Ha­rems. Un­end­li­che Lan­ge­wei­le – wenn man der einen Quel­le glaubt, und Reiz­bar­keit auf­grund von un­end­li­cher Lan­ge­wei­le, wenn man der an­de­ren Glau­ben schenkt – be­wirk­ten, daß der Ha­rem zur Wie­ge des Kar­ten­spiels wur­de.

Bei der ers­ten Le­gen­de heißt es, ‚die in­ne­re Kam­mer’ ei­nes chi­ne­si­schen Kai­ser­pa­las­tes ha­be die Ge­burt der Kar­ten ge­se­hen. Die dort ein­ge­schlos­se­nen, Ver­schlei­er­ten’ wa­ren zahl­reich, da der Kai­ser nicht nur ei­ne Frau be­saß, son­dern ein re­gel­rech­tes Schlaf­zim­mer­per­so­nal, für des­sen vor zwei­tau­send Jah­ren an­ge­mes­se­ne Aus­stat­tung fol­gen­des galt: Kai­se­rin: 1; Ge­fähr­tin­nen: 3; Mä­tres­sen: 9; Ge­spie­lin­nen oder Kon­ku­bi­nen: 27 und Hilfs­nym­phen oder Hilfs­kon­ku­bi­nen: 81. Auf die Zah­len 3 und 9 ach­te­ten ins­be­son­de­re die Astro­lo­gen.

Die ‚Her­rin­nen des Bet­tes’ hiel­ten ei­ne re­gel­mä­ßi­ge Nacht­wa­che; die 81 Zwei­ten Nym­phen oder Zwei­ten Kon­ku­bi­nen teil­ten das kö­nig­li­che La­ger zu je­weils neunt neun Näch­te lang; die 27 Kon­ku­bi­nen 3 Näch­te in Grup­pen von neun, die neun Mä­tres­sen und 3 Ge­fähr­tin­nen 1 Nacht pro Grup­pe und die Kai­se­rin le­dig­lich ei­ne Nacht.

Die­se Vor­keh­run­gen exis­tier­ten et­wa von den frü­hen Jah­ren der Tschou-Dy­nas­tie (255-112 v. Chr.) bis zum Be­ginn der Sung-Dy­nas­tie (950-1279 A. D.J, als die al­te Ord­nung zu­sam­men­brach, und zwar, ei­nem zeit­ge­nös­si­schen Schrei­ber zu­fol­ge, auf­grund des zü­gel­lo­sen und hef­ti­gen Kamp­fes der nicht we­ni­ger als 3000 Da­men im Pa­last. Selbst wenn man poe­ti­sche Über­trei­bun­gen in Rech­nung stellt, wird doch deut­lich, daß die In­sas­sen der ‚In­ne­ren Kam­mer’ zur Zeit der Sung-Dy­nas­tie so­gar noch we­ni­ger zu tun hat­ten als zu­vor, und die Ta­ge müs­sen so trüb­sin­nig ge­we­sen sein, daß – Ner­ven­zu­sam­men­brü­che an der Ta­ges­ord­nung wa­ren. Als ein Er­geb­nis des­sen, sagt die Le­gen­de, wur­de im Jah­re 1120 von ei­nem Mit­glied des chi­ne­si­schen Kaiser­ha­rems das Kar­ten­spiel er­fun­den, als ein Zeit­ver­treib, die all­ge­gen­wär­ti­ge Lan­ge­wei­le zu über­win­den.

 

Ro­ger Til­ley, Die Ge­schich­te des Kar­ten­spiels

 

Am nächs­ten Mor­gen be­glei­te­te Pfar­rer Siltz Bru­der Paul auf ei­nem Er­kun­dungs­rund­gang. „Ich glau­be, Sie sind gut zu Fuß“, be­merk­te er. „Wir ha­ben kei­ne Ma­schi­nen und kei­ne Last­tie­re hier, und das Ge­län­de ist schwie­rig.“

„Ich den­ke, ich wer­de da­mit fer­tig“, gab Bru­der Paul zu­rück. Nach dem gest­ri­gen Er­leb­nis mit den Ani­ma­tio­nen nahm er al­les, was sein Gast­ge­ber ihm sag­te, recht ernst – aber es war we­nig wahr­schein­lich, daß die Ge­gend al­lein ihn un­ter­krie­gen wür­de.

Er hat­te nicht gut ge­schla­fen. Der Dach­bo­den war recht be­quem ge­we­sen, mit ei­ner Ma­trat­ze, ge­füllt mit duf­ten­den Holz­spä­nen, und schö­ner Wand­tä­fe­lung (fast hat­te er er­war­tet, die Wur­zeln des Gra­ses vom Dach hier se­hen zu kön­nen), aber im­mer wie­der wa­ren die Er­schei­nun­gen in sei­nen Ge­dan­ken auf­ge­taucht. Hät­te er wirk­lich sel­ber ein kör­per­li­ches Bild for­men kön­nen, so­gar ei­ne mensch­li­che Ge­stalt, wenn er nicht bis zum Vor­über­zie­hen des Stur­mes ge­trö­delt hät­te? Wenn ein Mensch ein Schwert aus ei­nem in­ne­ren oder Kar­ten­bild zu for­men ver­moch­te – konn­te er es dann auch be­nut­zen, um da­mit sei­ne Be­glei­ter um­zu­brin­gen? Si­cher han­del­te es sich um Mas­sen­hyp­no­se! Aber De­kan Brown hat­te den Kelch be­lebt und nicht die vier Mün­zen!

Er schüt­tel­te den Kopf. In an­ge­mes­se­ner Zeit wür­de er die Wahr­heit schon her­aus­fin­den. Das war sein Auf­trag. Zu­erst die Wahr­heit über die Ani­ma­tio­nen, dann die­je­ni­ge über Gott. We­der In­tui­ti­on noch Ra­te­rei wür­den ihm hel­fen; er muß­te zu den har­ten Tat­sa­chen vor­drin­gen.

In der Zwi­schen­zeit kam es ihm in den Sinn, sich mit die­sem Ort und den Men­schen ver­traut zu ma­chen, denn das Ge­heim­nis lag viel­leicht hier statt in den Er­schei­nun­gen sel­ber. Trotz sei­ner nächt­li­chen Zwei­fel fühl­te er sich am Mor­gen bes­ser, fä­hi­ger, mit al­lem fer­tig zu wer­den. Wenn Gott di­rekt für die­se Ma­ni­fes­ta­tio­nen ver­ant­wort­lich war, was hat­te ein Mensch dann zu fürch­ten? Gott war gut.

Als sie aus dem Dorf auf­bra­chen, hielt sie ein klei­ner, drah­ti­ger Mann auf. Sein Kör­per war tief­ge­bräunt; viel­leicht aber hat­te er auch wie Bru­der Paul ver­schie­de­ne Ras­sen un­ter sei­nen Ah­nen. Sein Ge­sicht war tief durch­furcht, wenn er auch nicht äl­ter als fünf­zig Jah­re zu sein schi­en. „Ich kom­me we­gen ei­nes Pri­vi­legs“, sag­te er.

Pfar­rer Siltz blieb ste­hen. „Dies ist der Swa­mi von Kun­da­li­ni“, sag­te er ge­preßt zu Bru­der Paul. Und zum an­de­ren: „Bru­der Paul vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on.“

„Sie sind es, an den mich zu wen­den ich ge­zwun­gen bin“, sag­te der Swa­mi zu Bru­der Paul.

„Wir sind auf dem Weg in die Um­ge­bung“, sag­te Pfar­rer Siltz mit an­ge­streng­ter Höf­lich­keit. Of­fen­sicht­lich woll­te er die­se Ein­mi­schung nicht, und das rief Bru­der Pauls Auf­merk­sam­keit auf den Plan. Was für an­de­re Strö­mun­gen gab es hier noch? „Zum Gar­ten, zum Ama­ran­th­feld und in die Ge­gend der Ani­ma­tio­nen, wo wir auf die Be­ob­ach­ter tref­fen. Wenn Sie mit uns kom­men wol­len …“

„Ich wer­de gern mit­kom­men“, ant­wor­te­te der Swa­mi.

„Ich freue mich über je­den, der sich mit uns un­ter­hal­ten will“, sag­te Bru­der Paul. „Ich muß noch viel über die­sen Pla­ne­ten und sei­ne Be­woh­ner ler­nen.“

„Wir kön­nen nicht zwei für die­sen Gang ent­beh­ren“, be­harr­te Pfar­rer Siltz. „Der Swa­mi hat si­cher­lich wo­an­ders zu tun.“

„Das stimmt, aber es muß war­ten“, sag­te der Swa­mi.

„Nun, nur ein paar Mi­nu­ten …“ mein­te Bru­der Paul, dem die Span­nung zwi­schen die­sen bei­den Män­nern nicht ge­fiel.

„Viel­leicht ist der Swa­mi da­mit zu­frie­den, Sie statt mei­ner zu füh­ren“, sag­te Pfar­rer Siltz mit ver­zerr­tem Ge­sicht. „Ich ha­be et­was Be­stimm­tes zu tun, wenn sich die Ge­le­gen­heit bö­te.“

„Bin ich un­wis­sent­lich der Grund für Zwie­tracht?“ frag­te Bru­der Paul. „Ge­wiß möch­te ich nicht …“

„Ich wür­de mich freu­en, den Gast füh­ren zu kön­nen“, sag­te der Swa­mi. „Den Weg ken­ne ich gut.“

„Dann wer­de ich mich mit der ge­büh­ren­den Dank­bar­keit zu­rück­zie­hen“, sag­te der Pfar­rer, wo­bei sei­ne Mie­ne je­doch kei­nes­falls die­ses Ge­fühl wie­der­gab.

„Aber es ist doch nicht nö­tig“, be­gann Bru­der Paul. Aber es war um­sonst; der Pfar­rer der Zwei­ten Kom­mu­nis­ti­schen Kir­che war schon wie­der auf dem Weg zu­rück und ging steif­bei­nig, aber rasch auf die Dorf­mau­er zu.

Als Bru­der Paul ihm nach­blick­te, wun­der­te er sich: Wo­für war die­se Pa­li­sa­de gut, wenn sie Groß fuß nicht ab­hal­ten konn­te? Viel­leicht schwamm das Un­ge­heu­er ein­fach um das ei­ne En­de her­um, wo die Holzwand im See en­de­te; wäh­rend ei­nes Sturms konn­te man den Teil wohl kaum be­wa­chen.

„Es ist schon gut, Bru­der Gast“, sag­te der Swa­mi. „Wir un­ter­schei­den uns in un­se­rem Glau­ben, aber wir ver­let­zen nicht die Prin­zi­pi­en des Baums des Le­bens. Der Kom­mu­nis­ten­pfar­rer wird Ge­le­gen­heit ha­ben, sich nach dem Auf­ent­halt sei­nes streu­nen­den Soh­nes zu er­kun­di­gen, und ich wer­de Sie füh­ren und Ih­nen mei­ne Ein­wän­de ge­gen Ih­re Missi­on kund­tun.“

Aber Bru­der Paul war sich im­mer noch un­si­cher. „Ich fürch­te, der Pfar­rer ist be­lei­digt.“

„Aber nicht so sehr, wie er vor­gibt“, lä­chel­te der Swa­mi. „Er muß sich ei­ner erns­ten An­ge­le­gen­heit wid­men, aber es wä­re un­höf­lich von ihm ge­we­sen zu er­lau­ben, daß da­durch sei­ne Pflich­ten oder sei­ne Gast­freund­schaft be­ein­träch­tigt wür­den. Und ich ha­be ei­ne drin­gen­de Sa­che mit Ih­nen zu be­spre­chen. Ich bie­te Ih­nen für die Be­lei­di­gung, in­dem ich Ih­nen die­se Sa­che auf­zwin­ge, of­fe­ne Kom­pen­sa­ti­on, wo­zu im­mer ich nur im­stan­de bin. Ha­ben Sie ir­gend­ei­nen Wunsch?“

Das war nun ein we­nig zu kom­pli­ziert, um di­rekt dar­auf ein­ge­hen zu kön­nen. War die­ser Mann ein Freund, ein Feind oder ir­gend et­was da­zwi­schen? „Ich be­fin­de mich wirk­lich nicht in der Po­si­ti­on, ir­gend­wel­che Wün­sche an­zu­mel­den. Laßt uns die Ge­gend an­se­hen, und ich wer­de mir Ih­re Be­fürch­tun­gen an­hö­ren, im Ver­trau­en dar­auf, daß sie nicht den Ver­trag ver­let­zen.“

„Wir wer­den am Rand des Haupt­ge­bie­tes der per­ma­nen­ten Ani­ma­tio­nen ent­lang­ge­hen, und dort wird auch die Be­ra­ter­grup­pe sein. Der Weg ist recht ge­fähr­lich, da­her müs­sen wir vor­sich­tig vor­ge­hen. Doch die­se Ge­fahr be­deu­tet nichts, ver­gli­chen mit je­nen Ge­fah­ren, die Ih­re Missi­on, wie auf­rich­tig sie auch ge­meint ist, der Mensch­heit brin­gen wird. Und das ist mein An­lie­gen.“

Bru­der Paul hat­te et­was Ähn­li­ches ver­mu­tet. In die­sem Treib­haus schis­ma­ti­scher Re­li­gio­nen muß­te es ein­fach einen or­dent­li­chen Welt­un­ter­gangs­pro­phe­ten ge­ben, und ir­gend je­mand muß­te ein­fach ge­hö­ri­ge Ein­wän­de ge­gen­über jed­we­dem Ge­mein­schaftspro­jekt ha­ben, selbst wenn es der Ge­mein­de half, sich um des Über­le­bens wil­len zu ei­ni­gen. Bru­der Paul hat­te sei­ne Er­fah­rung mit de­mo­kra­ti­schen Re­gie­run­gen auf der Er­de ge­macht. Die ir­ren Ele­men­te hier hat­te man bis­lang von ihm fern­ge­hal­ten. Jetzt schi­en ei­nes durch­ge­bro­chen zu sein. Aber auch ein Fa­na­ti­ker konn­te ihm nütz­li­che In­for­ma­tio­nen brin­gen. „Ich möch­te si­cher, daß man mich über die Ri­si­ken in­for­miert“, sag­te Bru­der Paul, „die phy­si­schen wie auch die so­zia­len.“

„Bei­des wird man Ih­nen mit­tei­len. Zu­erst wer­de ich Ih­nen den Ge­birgs­gar­ten im Sü­den zei­gen; zwi­schen den ein­zel­nen Erup­tio­nen be­bau­en wir dort die Ter­ras­sen, denn die Asche zer­setzt sich rasch und ist un­ge­heu­er frucht­bar. Un­ser ein­zi­ger Gar­ten er­nährt wäh­rend des Som­mers das ge­sam­te Dorf und er­laubt es uns noch, Ge­mü­se für den Win­ter ein­zu­ma­chen. Das ist le­bens­wich­tig für un­ser Über­le­ben.“

Der Mann hör­te sich ganz und gar nicht wie ein Ver­rück­ter an! „Aber was ist mit den Wei­zen­fel­dern, durch die ich ges­tern ge­gan­gen bin?“

„Das ist Ama­ranth, kein Wei­zen“, kor­ri­gier­te ihn der Swa­mi. „Ama­ranth ist ein be­son­de­res Korn, das sich ei­nem frem­den Kli­ma an­paßt. Einst hat man es für Un­kraut ge­hal­ten, da un­ten auf der Er­de, bis durch das Wie­der­auf­le­ben der klei­nen Fa­mi­li­en­bau­ern­hö­fe auch der Markt für zä­hes, hand­ge­ern­te­tes Korn wie­der­ent­deckt wur­de. Rich­ti­gen Wei­zen ha­ben wir auf dem Pla­ne­ten Ta­rot bis­lang nicht an­bau­en kön­nen, aber wir ex­pe­ri­men­tie­ren mit den Va­ri­an­ten die­ses an­de­ren Korns und he­gen große Hoff­nung. Hier auf dem Süd­hü­gel ist die La­va­schicht eben­falls sehr frucht­bar, zer­setzt sich aber lang­sa­mer als die Asche und be­nö­tigt da­her lang­sa­mer wach­sen­de, aus­dau­ern­de­re Ge­wäch­se. Das Kli­ma in der Tiefebe­ne ist be­schei­de­ner, aus­ge­gli­che­ner, was lang­fris­tig ein Vor­teil ist.“

Bru­der Paul kann­te sich bei Ama­ranth und Vul­ka­nan­bau nicht son­der­lich gut aus; da­her konn­te er nichts ent­geg­nen. Doch ei­ni­ge der Be­mer­kun­gen fand er schon frag­wür­dig. Die Zer­set­zung von La­va voll­zog sich sei­nes Wis­sens nach nicht in­ner­halb von ei­nem oder zwei Jah­ren, son­dern in Jahr­hun­der­ten. Das jähr­li­che Wachs­tum der Pflan­zen hing größ­ten­teils von den oh­ne­hin in der Er­de vor­han­de­nen Ele­men­ten ab und nicht von dem lang­sa­men Auf­lö­sen des Ge­steins.

Ih­re Dis­kus­si­on ver­sieg­te, denn der Auf­stieg wur­de stei­ler. Durch den Bo­den dran­gen glas­ar­ti­ge Bruch­stücke von Fel­sen, wie Ob­si­dian­spie­gel, die man in das Ge­stein ein­ge­las­sen hat­te. Vul­ka­nisch? Das muß­te wohl so sein. Er hät­te gern mehr dar­über ge­wußt. Die Vul­ka­ne auf dem Pla­ne­ten Ta­rot un­ter­schie­den sich viel­leicht grund­sätz­lich von de­nen auf der Er­de, wie ja auch die des un­mit­tel­ba­ren Nach­bar­pla­ne­ten Mars an­ders wa­ren.

Grund­sätz­lich an­ders. Er lä­chel­te und freu­te sich über das Wort­spiel. Ein Vul­kan war ein Ding des Grun­des, des Bo­dens, ge­formt durch die tiefs­ten Kräf­te der pla­ne­ta­ri­schen Krus­te. Ob nun al­so ähn­lich oder un­ter­schied­lich …

Er stol­per­te über einen Stein und ver­lor die­se Ge­dan­ken­ket­te. Es gab ei­ne Art Weg, der aber nicht leicht be­geh­bar war. Der Swa­mi klet­ter­te mit der Ge­schick­lich­keit ei­nes Af­fen vor­an und um­klam­mer­te mit den Hän­den kris­tal­li­ne Aus­wüch­se mit der Prä­zi­si­on lang­jäh­ri­ger Er­fah­rung. Nur un­ter Mü­he hielt Bru­der Paul mit ihm mit und imi­tier­te die Hand­grif­fe sei­nes Füh­rers. Manch­mal wur­de der Auf­stieg fast ver­ti­kal, und zu­wei­len war der Pfad grob in den Fels hin­ein­ge­hau­en. Of­fen­sicht­lich hat­te sich die La­va beim Ab­küh­len zu­sam­men­ge­zo­gen, so daß die Spal­ten un­re­gel­mä­ßig ver­lie­fen. Die tan­zen­den Son­nen­strah­len schie­nen hin­ab in die­se Ab­grün­de, spie­gel­ten sie wi­der und lie­ßen den Berg wie ei­ne Mu­schel­scha­le der Nie­der­welt der Il­lu­mi­na­tio­nen er­schei­nen … Man konn­te beim Blick in die­se ka­lei­do­sko­pi­schen Spie­gel­hal­len er­blin­den, dach­te Bru­der Paul.

Oder hyp­no­ti­siert wer­den! War das viel­leicht der Grund für die Er­schei­nun­gen?

Aber was hat­te er dann in der Spei­se­hal­le wäh­rend des Sturms ge­se­hen und ge­fühlt? Dort gab es kei­ne Schluch­ten, kein Son­nen­licht! Al­so ei­ne Theo­rie we­ni­ger.

Sprün­ge und Gas. Das leg­te ei­ne schau­er­li­che Ana­lo­gie na­he. Vom Bo­cor, dem He­xen­dok­tor Hai­tis, hieß es, er wür­de sein Pferd rück­wärts zur Hüt­te des Op­fers rei­ten, ihm durch einen Spalt in der Tür die See­le aus­sau­gen und die gas­för­mi­ge See­le in ei­ner Fla­sche auf­be­wah­ren. Spä­ter, wenn das Op­fer starb, öff­ne­te der Bo­cor das Grab, zog die Fla­sche her­vor und reich­te sie dem To­ten, da­mit die­ser ein­mal dar­an rö­che. Nur ein­mal, nicht ge­nug, um die See­le wie­der­zu­be­le­ben, son­dern nur einen Teil. Das er­weck­te den Leich­nam, und er stand auf als ein Zom­bie, ge­zwun­gen, sich dem Wil­len des He­xen­dok­tors un­ter­zu­ord­nen. Konn­te man das glei­che mit mensch­li­cher Au­ra tun, und stand dies im Zu­sam­men­hang mit den Phä­no­me­nen des Pla­ne­ten Ta­rot?

Wil­de Spe­ku­la­tio­nen; er tä­te bes­ser dar­an, sie zu ver­mei­den und sich au f die ob­jek­ti­ve Tat­sa­chen­su­che zu kon­zen­trie­ren. Dann wür­de er ei­ne fun­dier­te Mei­nung bil­den kön­nen. Im Mo­ment hat­te er oh­ne­hin ge­nug zu tun, um die­sen ge­fähr­li­chen Auf­stieg zu über­le­ben.

Schließ­lich ge­lang­ten sie auf einen schma­len Vor­sprung. Der Swa­mi führ­te ihn dort ent­lang, denn er war nur so schmal, daß sie hin­ter­ein­an­der ge­hen muß­ten. Der Aus­blick war be­un­ru­hi­gend: sie be­fan­den sich meh­re­re hun­dert Me­ter ober­halb des Dor­fes, wo­bei die obers­ten drei­ßig Me­ter lot­recht ab­fie­len. Die Pa­li­sa­de sah aus wie ei­ne Mau­er aus Zahn­sto­chern. We­he dem, der nicht schwin­del­frei war!

Der Vor­sprung er­wei­ter­te sich zu den Gär­ten. Fremd­ar­ti­ge Bü­sche und Ran­ken brei­te­ten sich dort üp­pig aus. Hier gab es kei­ne Bla­sen; of­fen­sicht­lich wa­ren die Hö­he, die Un­ge­schützt­heit und der Wind zu­viel für sie. „Wir be­bau­en die­se Stel­le in die­sem Jahr erst seit zwan­zig Ta­gen, seit hier oben der Schnee ge­schmol­zen ist“, sag­te der Swa­mi mit ge­hö­ri­gem Stolz.

„Zwan­zig Ta­ge? Sieht aus wie nach drei Mo­na­ten!“

„Ja. Ich ha­be Sie ge­warnt, daß hier al­les un­glaub­lich rasch wächst, und Sie kön­nen es glau­ben oder auch nicht. Bald be­gin­nen wir mit der ers­ten Ern­te der Sai­son. Dann gibt es bis zum Herbst kei­ne Holz­sup­pe mehr.“

„Von die­ser Er­de könn­ten wir auf un­se­rem Glo­bus et­was ge­brau­chen!“

„Zwei­felsoh­ne. Und wir könn­ten mehr Nach­schub von der Er­de ge­brau­chen – und nicht nur als Be­ste­chungs­mit­tel, wenn wir ih­nen Ein­mi­schung in re­li­gi­öse An­ge­le­gen­hei­ten er­lau­ben. Viel­leicht kön­nen wir die Er­de ge­gen an­de­re Din­ge aus­tau­schen?“

Bru­der Paul war sich nicht si­cher, wie­viel da­von Hu­mor war und wie­viel Sar­kas­mus, da­her gab er kei­ne Ant­wort. Die Kos­ten der Ma­te­rie­über­tra­gung ver­bo­ten den Trans­port von großen Quan­ti­tä­ten Hu­mus­bo­den. Was sie wirk­lich brauch­ten war die Zu­sam­men­set­zung – die che­mi­sche Ana­ly­se die­ser Er­de und ein paar Sa­men die­ser kräf­ti­gen Pflan­zen. Und das wür­de sehr schwie­rig sein, denn es war ver­bo­ten, frem­de Pflan­zen zur Er­de zu trans­por­tie­ren. Der Ex­port war nicht be­grenzt, doch Im­por­te wur­den ei­ner stren­gen Qua­ran­tä­ne un­ter­zo­gen; dar­in lag auch ei­ne be­stimm­te Lo­gik für je­ne, die sich in der Bü­ro­kra­tie aus­kann­ten. Selbst wenn er, Bru­der Paul, aus­rei­chen­de Che­mie­kennt­nis­se ge­habt hät­te, um die Zu­sam­men­set­zung zu be­stim­men, wür­de es ihm den­noch wahr­schein­lich nicht ge­lin­gen, die Be­hör­den auf der Er­de dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen. Aber er wür­de Mus­ter mit­neh­men und es ver­su­chen …

„Es ist ei­ne Ge­gend ak­ti­ver Vul­ka­ne“, mein­te Bru­der Paul und un­ter­brach sei­ne Ge­dan­ken­ket­te. Es war ei­ne Dis­zi­plin, der er sich oft un­ter­zie­hen muß­te. „Was ge­schieht, wenn vor der Ern­te ein Aus­bruch ge­schieht?“

„Das hängt von der Stär­ke der Erup­ti­on ab. Die meis­ten sind nur ge­ring­fü­gig, und der Wind trägt die Asche von die­ser Stel­le fort. Spä­ter im Jahr, wenn die vor­herr­schen­den Win­de sich dre­hen, wird es schon kom­pli­zier­ter.“

Bru­der Paul blick­te er­neut den stei­len Ab­hang hin­ab auf das Dorf. Die Land­schaft lag da wie ein meis­ter­haf­tes Ge­mäl­de, und der na­he lie­gen­de See spie­gel­te leuch­tend hell die Mor­gen­son­ne. Wun­der­schön! Aber ihm wür­de es nicht ge­fal­len, hier auf dem Vul­kan aus­ge­setzt zu sein, wenn des­sen Spit­ze ex­plo­dier­te! Of­fen­sicht­lich gab es so­wohl Asche als auch La­va.

Das er­in­ner­te ihn an einen Ge­dan­ken, den die Schwie­rig­keit des Auf­stiegs ver­trie­ben hat­te. „Gas“, sag­te er. „Ent­strömt dem Vul­kan kein Gas? Das könn­te mit …“

„Es gibt Gas und Flüs­sig­kei­ten und fes­te Teil­chen und enor­me Ener­gie ent­spre­chend den Ge­set­zen des Ta­rot“, ant­wor­te­te der Swa­mi. „Aber kei­nes von ih­nen ist hal­lu­zi­no­ge­ner Na­tur. Man kann un­ser Pro­blem nicht so ein­fach ab­tun und sa­gen, al­les lä­ge im Grun­de des Ber­ges.“ Er blieb ne­ben Bru­der Paul ste­hen und deu­te­te nach Nor­den. „Da, in fünf Ki­lo­me­ter Ent­fer­nung liegt die Tiefebe­ne, die wir das Nord­loch nen­nen. Das ist die Stel­le für die Er­schei­nun­gen in die­sem Ge­biet.“

„Viel­leicht ist dort ein un­ter­ir­di­scher Aus­gang des Vul­kans“, be­harr­te Bru­der Paul. „Da kön­nen sich son­der­ba­re Din­ge er­eig­nen. Das Ora­kel von Del­phi – das ist ein Ort un­ten auf der Er­de –, da saß über dem Spalt ei­nes …“

„Ich ken­ne es. Aber es ist son­der­bar, daß es hier am Süd­hü­gel des Vul­kans kei­ner­lei Ani­ma­tio­nen gibt. Nein, ich mei­ne, das Ge­heim­nis ist kom­pli­zier­ter und wun­der­ba­rer.“

„Aber Sie ha­ben et­was da­ge­gen, daß ich die­ses Ge­heim­nis un­ter­su­che?“

Der Swa­mi wies auf den Weg den Berg hin­ab. Nach Wes­ten ver­lief ein we­ni­ger stei­ler Pfad, so daß sie vor­sich­tig auf­recht ge­hen konn­ten und ge­le­gent­lich auf der schwar­zen Asche aus­rutsch­ten, die in un­re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den wie ein Fluß den Weg kreuz­te. „Ver­ste­hen Sie et­was von Pra­na!“

Bru­der Paul ki­cher­te. „Nein, ich ha­be Ha­t­ha-Yo­ga und Zen-Me­di­ta­ti­on pro­biert und die Ve­das ge­le­sen, doch das rich­ti­ge Be­wußt­sein für Pra­na oder Ji­va ha­be ich nie­mals ent­wi­ckelt. Ich kann nur die ober­fläch­li­chen Be­schrei­bun­gen ab­ge­ben. Pra­na ist das in­di­vi­du­el­le Le­ben­s­prin­zip und Ji­va die per­sön­li­che See­le.“

„Das ist schon ein An­fang“, mein­te der Swa­mi. „Sie sind bes­ser in­for­miert, als ich ge­dacht ha­be, und das ist ein Glücks­fall. In hün­di­schen, ve­di­schen und tan­tri­schen Tex­ten gibt es das Sym­bol der schla­fen­den Schlan­ge, die um ei­ne mensch­li­che Wir­bel­säu­le ge­schlun­gen ist. Das ist Kun­da­li­ni, die zu­sam­men­ge­roll­te la­ten­te Ener­gie von Pra­na, die un­ter vie­len an­de­ren Na­men be­kannt ist. Die Chris­ten nen­nen sie den ‚Hei­li­gen Geist’, die Grie­chen ‚Äther’; in den Kampf­küns­ten heißt sie ki.“

Nun ge­lang­te Bru­der Paul in ver­trau­te­re Ge­bie­te. „Ach ja. Beim Ju­do­trai­ning ha­be ich im­mer die Kraft ki ge­sucht, sie aber nie ge­fun­den. Oh­ne Zwei­fel wa­ren mei­ne Mo­ti­ve nicht lau­ter; ich ha­be an ei­ne Kör­per­kraft ge­dacht, nicht an ei­ne geis­ti­ge.“

„Das ist die Wur­zel des Schei­terns bei der großen Mehr­heit der Adep­ten.“ Der Swa­mi blieb ste­hen. „Wol­len Sie viel­leicht die­sen Fel­sen zer­trüm­mern?“ frag­te er und wies auf einen auf­ra­gen­den Kris­tall.

Bru­der Paul be­rühr­te ihn mit den Fin­gern und spür­te die Här­te. „Mit ei­nem Vor­schlag­ham­mer?“

„Nein. So. Mit ki.“ Und der Swa­mi hob den rech­ten Arm und ließ die Hand hart auf den Fel­sen nie­der­sau­sen.

Und der Stein zer­brach.

Bru­der Paul starr­te ihn an. „A7!“ keuch­te er. „Sie ha­ben es!“

„Ich de­mons­trie­re dies nicht, um Sie zu be­ein­dru­cken“, sag­te der Swa­mi, „son­dern eher als Be­weis, daß mein An­lie­gen erns­ter Na­tur ist. Sie ha­ben mich zwei­felnd an­ge­se­hen, und das ist Ihr gu­tes Recht, aber Sie müs­sen auch die Auf­rich­tig­keit mei­ner War­nung ak­zep­tie­ren.“

Wie­der sah Bru­der Paul auf den zer­split­ter­ten Kris­tall. Hat­te der Stein einen Sprung ge­habt? Er hat­te vor­her nichts be­merkt, und selbst wenn es so ge­we­sen wä­re, hät­te es wohl ei­nes fes­te­ren Schla­ges be­durft, als den ei­nes mensch­li­chen Ar­mes. Die Kraft ki war wohl die ein­leuch­tends­te Er­klä­rung da­für. Der Mensch, der die­se Kraft be­saß, muß­te durch­aus ernst­ge­nom­men wer­den. Nicht nur, weil sie po­ten­ti­ell tod­brin­gend war; der Swa­mi muß­te auch ein ri­go­ro­ses Trai­ning und Dis­zi­plin hin­ter sich ha­ben so­wie fun­da­men­ta­le Ein­sich­ten über das We­sen des Men­schen und des Uni­ver­sums be­sit­zen.

„Ich neh­me Sie ernst“, sag­te Bru­der Paul.

Der Swa­mi nahm den Weg wie­der auf, als sei nichts Be­son­de­res ge­sche­hen. „Nur we­ni­ge er­wei­sen der Su­che nach ih­rer Au­ra den an­ge­mes­se­nen Re­spekt …“

„Au­ra!“ rief Bru­der Paul, wie­der­um über­rascht, aus.

Der Swa­mi warf ihm einen Blick von der Sei­te zu. „Er­we­cken die­se Wor­te bei Ih­nen ir­gend­wel­che be­son­de­ren As­so­zia­tio­nen?“

Bru­der Paul über­leg­te, ob er dem Swa­mi von sei­ner Vi­si­on des We­sens aus der Sphä­re An­ta­res er­zäh­len soll­te, das Bru­der Paul über die Exis­tenz sei­ner ver­mut­lich star­ken Au­ra in­for­miert hat­te. Es be­durf­te nur ei­nes kur­z­en Nach­den­kens, um die­se Re­gung zu un­ter­drücken. Er wuß­te zu we­nig über die­sen Mann und die­se Ge­sell­schaft, um et­was so Per­sön­li­ches zu dis­ku­tie­ren. Wel­che ver­nünf­ti­ge Per­son wür­de an einen Geist in der Ma­schi­ne glau­ben? Oder an einen fremd­ar­ti­gen Kon­takt wäh­rend der Zeit­span­ne der ‚so­for­ti­gen’ Ma­te­rie­über­tra­gung? „Ich ha­be von der Kir­lian­pho­to­gra­phie ge­le­sen.“

„Nein. Fo­tos sind nicht die Es­senz. Au­ra durch­dringt die Grob­ge­we­be des Kör­pers und ist die Quel­le al­ler le­bens­not­wen­di­gen Ak­ti­vi­tä­ten, Be­we­gung, Wahr­neh­mung, Den­ken und Füh­len ein­ge­schlos­sen. Das Er­wa­chen die­ser Kraft ist das größ­te Un­ter­neh­men und die wun­der­bars­te Er­run­gen­schaft, de­rer der Mensch fä­hig ist. Da­durch wird es mög­lich, den Ab­grund zwi­schen Wis­sen­schaft und Re­li­gi­on, zwi­schen Tech­no­lo­gie und Wahr­heit zu über­brücken. Aber es birgt auch Ge­fah­ren. Ernst­haf­te Ge­fah­ren.“

Sie be­fan­den sich nun un­ten in der Ebe­ne und gin­gen nach Nor­den durch den Ama­ranth. Kein Wun­der, daß der Wei­zen selt­sam aus­ge­se­hen hat­te! Bru­der Paul wur­de durch Ge­dan­ken an die jun­ge Frau, die er am vo­ri­gen Tag dort ge­trof­fen hat­te, so­wie an sei­ne an­de­ren Aben­teu­er ab­ge­lenkt. „Wenn wir schon von Ge­fahr re­den: Ist es si­cher, oh­ne Waf­fen hier­her­zu­kom­men? Ges­tern bin ich hier in der Nä­he auf ein wil­des Tier ge­sto­ßen.“

„Ja, die Nach­richt dar­über ist im gan­zen Dorf her­um­ge­gan­gen. Der Kno­chen­bre­cher wird Sie nicht wie­der an­grei­fen, da Sie ihn be­siegt ha­ben. Sonst hät­te ich Sie si­cher nicht über die­sen Weg ge­führt.“ Er hielt in­ne. „Aber wie ein ein­zel­ner Mensch ei­ne so schreck­li­che Bes­tie be­siegt ha­ben kann, die nie­mand oh­ne einen Drei­zack an­zu­grei­fen wagt …“

„Ich hat­te Glück“, sag­te Bru­der Paul. Das war kei­ne falsche Be­schei­den­heit, denn er hat­te wirk­lich Glück ge­habt. „Wenn ich mir der Ge­fahr be­wußt ge­we­sen wä­re, hät­te ich mich nicht in das Ama­ran­th­feld ge­wagt.“

Der Swa­mi blick­te ihn an. „Was ge­nau ha­ben Sie denn ge­macht, um den Kno­chen­bre­cher zu über­win­den?“

„Ich ha­be einen Ju­do­griff an­ge­wandt oder es zu­min­dest ver­sucht“, er­klär­te Bru­der Paul. „Ip­pon seoi na­ge und einen Arm­schluß.“

„Ip­pon seoi na­ge rich­tet ge­gen ein sol­ches Biest nichts aus; die Dy­na­mik liegt falsch.“ Der Swa­mi sah ihn mit ei­nem neugie­ri­gen Fun­keln in den Au­gen an. „Ich fra­ge mich …“ Er zö­ger­te. „Wür­den Sie mir ge­nau zei­gen, was Sie ge­macht ha­ben?“

„Oh, ich möch­te Sie nicht ger­ne auf die­sen Bo­den wer­fen“, wei­ger­te sich Bru­der Paul.

„Ich mein­te den Arm­schluß … und sanft.“ Es be­stand kein Zwei­fel, daß der Swa­mi mit den Kampf­küns­ten gut ver­traut war.

Bru­der Paul zuck­te die Ach­seln. „Wie Sie wol­len.“ Sie ka­men zu Bo­den, und er wand­te den Arm­schluß an, aber oh­ne Druck. „Das ist nichts Be­son­de­res“, sag­te Bru­der Paul. „Bei dem Kno­chen­bre­cher war es ei­gent­lich ein Bein­schluß. Ich hat­te nicht da­mit ge­rech­net, daß es funk­tio­niert, we­gen der be­son­de­ren Ana­to­mie der …“

„Kom­men Sie run­ter“, sag­te der Swa­mi. „Ma­chen Sie sich kei­ne Ge­dan­ken. Mein Arm ist stark.“

Da hat­te er recht. Bru­der Paul spür­te in der leich­ten Ge­stalt ei­ne über­ra­schend kräf­ti­ge Mus­kel­span­nung. Die­ser Mann war das Ge­gen­stück zum Geist der Ma­schi­ne; er schi­en fa­na­tisch zu sein, weil er nicht rich­tig ver­stan­den wur­de, schenk­te aber sei­ne Loya­li­tät nicht den herr­schen­den Kräf­ten. Lang­sam ver­stärk­te Bru­der Paul den Druck bis zu dem Punkt, an dem der Kno­chen­bre­cher ge­schri­en hat­te.

„Wei­ter“, sag­te der Swa­mi.

„Das ist ge­fähr­lich.“

„Ge­nau.“

Nun, der Schmerz wür­de den Mann be­wußt­los ma­chen, ehe der El­len­bo­gen brach, dach­te Bru­der Paul, als er den Druck wei­ter ver­stärk­te.

„Ja!“ schrie der Swa­mi.

Bru­der Paul ließ be­un­ru­higt los.

Der Swa­mi lä­chel­te, of­fen­sicht­lich un­ver­letzt.

„Ge­nau das hat­te ich ver­mu­tet. Sie ha­ben ki an­ge­wandt.“

Bru­der Paul schüt­tel­te den Kopf. „Aber ich ha­be kein ki!“

„Sie ha­ben ei­ne star­ke Au­ra“, be­harr­te der Swa­mi. „Ich war mir un­si­cher, bis Sie sie zen­triert ha­ben. Sie sind ein sanf­ter Mensch, da­her ru­fen Sie sie nie­mals un­wis­sent­lich zu Hil­fe, sonst wä­ren Sie ein Un­ge­heu­er. Ich bin nie­mals ei­ner sol­chen Kraft be­geg­net.“

Bru­der Paul setz­te sich nach­denk­lich nie­der. „Mir hat ein­mal je­mand an­ders das glei­che ge­sagt, aber ich ha­be es für Phan­tas­te­rei ge­hal­ten“, sag­te er und dach­te wie­der an An­ta­res.

„Nur die­je­ni­gen, die ih­re ei­ge­ne Au­ra be­herr­schen, kön­nen sie bei an­de­ren wahr­neh­men“, ver­si­cher­te ihm der Swa­mi. „Mei­ne ei­ge­ne Kon­trol­le ist nur un­voll­stän­dig; da­her ist mir Ih­re Au­ra kaum deut­lich ge­wor­den. Aber nun bin ich si­cher, es war Ihr ki, die kon­zen­trier­te An­wen­dung Ih­rer Au­ra, die den Kno­chen­bre­cher in die Flucht ge­schla­gen hat. Si­cher war es auch die­se Au­ra, die den wah­ren Grund für Ih­re Be­ru­fung zu die­ser Missi­on ab­ge­ge­ben hat, wenn an­de­re dies auch zu an­de­ren Grün­den ra­tio­na­li­siert ha­ben mö­gen. Ich hat­te ge­hofft, dies wür­de nicht der Fall sein.“

Bru­der Paul schüt­tel­te den Kopf. „Wenn das … die Au­ra mich ge­gen Ge­fah­ren be­schützt, si­cher …“

„Die Be­dro­hung, von der ich re­de, ist viel grö­ßer als ei­ne bloß kör­per­li­che. Se­hen Sie mal …“

„Hal­lo!“

Bei­de Män­ner blick­ten über­rascht auf. Es war das Mäd­chen aus dem Wei­zen­feld, die Ta­ro­therr­sche­rin. Ama­ranth-Feld, kor­ri­gier­te sich Bru­der Paul. Die­ses Mal floh sie nicht vor ihm, und da­für war er dank­bar. Nun konn­te er fest­stel­len, wer sie war.

Sie trug ein ein­tei­li­ges Ge­wand, ei­ne Tu­ni­ka mit Gür­tel, die mit Mo­ti­ven der hie­si­gen Land­schaft be­stickt war. Bei je­dem Ko­lo­nis­ten konn­te man an sei­ner Klei­dung er­ken­nen, wel­cher Re­li­gi­on er an­ge­hör­te, doch dies hier war an­ders. Man sah bun­te Hü­gel und Tä­ler und zwei Vul­ka­ne im Vor­der­grund: ei­ne rich­ti­ge plas­ti­sche Kar­te. Bru­der Paul ver­such­te, sei­nen Blick ab­zu­wen­den. Es wa­ren un­ge­wöhn­lich ho­he und wohl­ge­form­te Vul­ka­ne.

„Wir sind nur auf dem Vor­bei­marsch“, sag­te der Swa­mi.

„Und ringt auf dem Bo­den und walzt die Ern­te platt und macht ein Ge­schrei?“ frag­te sie. „Swa­mi, ich ha­be dich im­mer schon für ver­rückt ge­hal­ten, aber …“

„Das ist mei­ne Schuld“, un­ter­brach sie Bru­der Paul. „Ich ha­be ver­sucht, ihm klarzu­ma­chen, wie ich den Kno­chen­bre­cher be­siegt ha­be.“

Be­wun­dernd zog sie die schö­nen Au­gen zu­sam­men. „Dann muß ich mit Ih­nen spre­chen“, sag­te sie fest. Ei­gent­lich war al­les an ihr fest; sie war ei­ne un­ge­wöhn­lich schö­ne jun­ge Frau mit gol­de­nem Haar und Au­gen, Haut und Ge­sichts­zü­gen, die die Er­zäh­ler aus Tau­send­und­ei­ner Nacht als ein ‚Wun­der an Sym­me­trie’ be­schrie­ben hät­ten. Viel­leicht hat­te Bru­der Paul ir­gend­wann in sei­nem Le­ben schon ein­mal ei­ne schö­ne­re Frau ge­se­hen, aber im Mo­ment hat­te er Schwie­rig­kei­ten, sich die­se Mög­lich­keit über­haupt vor Au­gen zu füh­ren.

„Es ist mei­ne Auf­ga­be, die­sen Mann her­um­zu­füh­ren“, sag­te der Swa­mi grob, wäh­rend er auf­stand und sich den Staub ab­klopf­te. „Wir müs­sen bald zum Nord­loch kom­men.“

„Dann wer­de ich euch be­glei­ten“, ant­wor­te­te sie. „Es ist wich­tig für mich, mit dem Gast von der Er­de zu spre­chen.“

„Du darfst dei­nen Pos­ten nicht ver­las­sen.“

„Mein Pos­ten heißt Kno­chen­bre­cher. Und der ist heu­te nicht da“, sag­te sie ent­schie­den.

Bru­der Paul schwieg. Es schi­en, daß der Swa­mi eben­so ab­ser­viert wür­de, wie er sel­ber den Pfar­rer ver­drängt hat­te; es wä­re auch von ver­füh­re­ri­schem Reiz, die­se bild­schö­ne Frau bei sich zu ha­ben. Er hat­te schon be­fürch­tet, sie nicht wie­der­zu­se­hen, aber hier stand sie und zwang ihm förm­lich ih­re Ge­sell­schaft auf. Of­fen­sicht­lich ak­zep­tier­te sie kei­ne un­ter­le­ge­ne Rol­le; viel­leicht wa­ren Frau­en den Män­nern hier doch gleich­ge­stellt. Das wä­re nett.

Der Swa­mi zuck­te die Ach­seln und un­ter­drück­te of­fen­sicht­lich sei­nen Är­ger. „Die­se Frau ist der Er­satz für den Kno­chen­bre­cher“, sag­te er mit ei­ner vor­stel­len­den Ges­te. „Sie al­lein hat kei­ne Angst vor dem Un­ge­heu­er. Das merkt man schon an ih­rem Auf­tre­ten.“

„Der Swa­mi hat sei­ne folg­sa­me Toch­ter lie­ber“, ent­geg­ne­te sie, „die nur ei­ne ge­rin­ge Vor­stel­lung von In­di­vi­dua­li­tät hat.“

Schlag und Ge­gen­hieb. „Wie hei­ßen Sie, Kno­chen­bre­cher­la­dy?“ frag­te Bru­der Paul. „Warum sind Sie vor mir ge­flüch­tet, wenn Sie so we­nig Furcht ha­ben?“

„Ich ha­be Sie für ei­ne Er­schei­nung ge­hal­ten“, ant­wor­te­te sie. „Die ein­zig mög­li­che Hand­lungs­wei­se ge­gen­über ei­ner Er­schei­nung ist, so schnell wie mög­lich fort­zu­lau­fen.“

Hmm. Ei­ne kla­re, freund­li­che Ant­wort, die viel von sei­ner vor­he­ri­gen Vor­stel­lung von ihr als ei­ner Herr­sche­rin ent­kräf­te­te. „Und Ihr Na­me?“

„Nen­nen Sie sie wie Sie wol­len“, sag­te der Swa­mi. „Bei den Gro­ben ist Höf­lich­keit fehl am Plat­ze.“

Das Mäd­chen lä­chel­te nur, durch die Un­freund­lich­keit des Swa­mi in kei­ner Wei­se pein­lich be­rührt. Wenn sie al­ler­dings vor­ge­habt ha­ben soll­te, ih­ren Na­men zu nen­nen, dann war die­ser Plan nun ver­schwun­den. Ir­gend­wie muß­te Bru­der Paul die­se klei­ne ge­sell­schaft­li­che Kri­se über­win­den, weil er mit bei­den aus­kom­men woll­te, wenn auch aus un­ter­schied­li­chen Grün­den.

„Dann wer­de ich Sie zu Eh­ren die­ses wun­der­schö­nen Fel­des, in dem wir uns zu­erst tra­fen, Ama­ranth nen­nen“, be­schloß Bru­der Paul, denn kör­per­li­che Kom­pli­men­te konn­ten kaum falsch sein, wenn sie sich auf Frau­en be­zo­gen.

„Oh, das ge­fällt mir!“ rief sie und schmolz da­hin. „Ama­ranth! Darf ich ihn be­hal­ten?“

„Er ge­hört Ih­nen“, sag­te Bru­der Paul groß­mü­tig. Er moch­te ih­re Spie­le, und er moch­te sie. „Sie ha­ben ge­dacht, ich sei ei­ne Ani­ma­ti­on des Teu­fels, und ich hielt Sie für die Ani­ma­ti­on der Herr­sche­rin. Kein Zwei­fel, daß wir bei­de recht hat­ten.“

Sie lach­te und ließ die Vul­ka­ne ge­fähr­lich zit­tern. „Und ich dach­te, Mit­glie­der des Or­dens der Vi­si­on hät­ten kei­nen Hu­mor!“

„Ha­ben ei­ni­ge auch nicht“, gab Bru­der Paul zu. „Las­sen Sie mich nun den Swa­mi zu En­de an­hö­ren, dann bin ich frei, mich mit Ih­nen zu un­ter­hal­ten.“ Köst­li­che Vor­stel­lung!

„Mei­ne War­nung kann bis zu ei­ner bes­se­ren Ge­le­gen­heit war­ten“, sag­te der Swa­mi säu­er­lich. „Sie be­trifft das Nord­loch.“

„Das ist ein son­der­ba­rer Na­me“, be­merk­te Bru­der Paul in der Hoff­nung, die Span­nung ab­zu­bau­en.

„Wir ha­ben nur ei­ne sim­ple Art der Na­mens­ge­bung“, sag­te Ama­ranth. „Das ist der Süd­hü­gel, von dem ihr ge­kom­men seid; dies ist das West­feld; die Er­schei­nungs­sen­ke ist das Nord­loch, und das Was­ser öst­lich vom Dorf ist …“

„… der Ost­see“, be­en­de­te Bru­der Paul den Satz für sie. „Ja, das klingt ver­nünf­tig. Was woll­ten Sie mich fra­gen?“

„Nichts“, ent­geg­ne­te sie.

„Viel­leicht ha­be ich Sie miß­ver­stan­den. Hat­ten Sie nicht ge­sagt …?“

„Neh­men Sie es nie­mals so wich­tig, was ei­ne Frau al­les sagt“, mein­te der Swa­mi.

Sie igno­rier­te ihn auf ele­gan­te Wei­se. „Ich sag­te, ich woll­te mit Ih­nen re­den. Das tue ich jetzt.“

Bru­der Paul lä­chel­te ver­dutzt. „Ge­wiß. Aber …“

„Sie ha­ben mei­nen Kno­chen­bre­cher mit blo­ßen Hän­den be­siegt, oh­ne ihn oder sich zu ver­let­zen. Ich muß Sie un­ter­su­chen, wie ich auch den Bre­cher un­ter­su­che. Das ist mei­ne Ar­beit – das We­sen mei­nes Un­ter­su­chungs­ob­jek­tes voll­stän­dig zu ver­ste­hen.“

„Ah. Sie müs­sen al­so den Typ ver­ste­hen, der das Tier schlägt, un­ter was für Um­stän­den oder Zu­fäl­len auch im­mer“, sag­te Bru­der Paul. Er hat­te den Ein­druck ge­habt, daß sie per­sön­lich an ihm in­ter­es­siert sei, aber das war nun rea­lis­ti­scher. Was für ein wirk­li­ches In­ter­es­se konn­te ein Mäd­chen von ih­rer An­zie­hungs­kraft an ei­nem ru­hi­gen Frem­den schon ha­ben? „Aber ich bin ver­wirrt“, fuhr er fort.

„Das ist schon in Ord­nung“, sag­te sie strah­lend.

Der Swa­mi ließ sich so­weit her­ab, ei­ne Er­klä­rung ab­zu­ge­ben. „Das Über­le­ben ist hier manch­mal schwer“, sag­te er. „Wir müs­sen flei­ßig ar­bei­ten, um das Holz für den har­ten Win­ter zu­sam­men­zu­brin­gen, und al­les, was die­ser Her­bei­schaf­fung von Brenn­ma­te­ri­al ent­ge­gen­steht, ist ei­ne Ge­mein­schafts­auf­ga­be. Der Kno­chen­bre­cher stört uns und zwingt uns, uns in be­waff­ne­ten Grup­pen zu be­we­gen – ei­ne rui­nös ver­schwen­de­ri­sche Ver­schwen­dung von Men­schen­kraft. Da­her stu­die­ren wir den Kno­chen­bre­cher in der Hoff­nung, ihn neu­tra­li­sie­ren zu kön­nen.“

„Wä­re es nicht ein­fa­cher, ihn zu tö­ten?“ frag­te Bru­der Paul.

„Tö­ten?“ frag­te der Swa­mi höchst ver­dutzt.

Nun war es an der Rei­he des Mäd­chens, ei­ne Er­klä­rung ab­zu­ge­ben. „Vie­le un­se­rer Sek­ten ha­ben Ein­wän­de, na­tür­li­che Le­be­we­sen zu tö­ten. Es ist ei­ne mo­ra­li­sche Fra­ge und eben­so ei­ne prak­ti­sche. Es ist un­mög­lich zu wis­sen, wie die Fol­gen ei­ner nicht not­wen­di­gen Tö­tung aus­se­hen wür­den. Wenn wir die­sen Kno­chen­bre­cher hier tö­ten, könn­te viel­leicht ein an­de­rer an sei­ne Stel­le tre­ten. Ein klü­ge­rer oder ein grau­sa­me­rer. Wenn wir sie al­le um­bräch­ten, könn­ten wir ei­ne öko­lo­gi­sche Kri­se her­auf­be­schwö­ren, die uns viel­leicht al­le tö­tet. Da un­ten auf der Er­de wur­de die Um­welt durch einen ge­dan­ken­lo­sen Krieg ge­gen Heim­su­chun­gen zer­stört, und die­sen Feh­ler wol­len wir hier nicht be­ge­hen. Auch brau­chen wir ein Last­tier, und der Kno­chen­bre­cher könn­te sich ge­zähmt aus­ge­zeich­net da­für eig­nen. Da­her schüt­zen wir uns mit den Drei­zacks und ver­su­chen, we­der den Kno­chen­bre­cher noch an­de­re Raub­tie­re zu tö­ten. Wir stu­die­ren un­se­re Pro­ble­me, ehe wir ein­grei­fen.“

„Ge­nau das soll ich hier mit dem Pro­blem der Ani­ma­tio­nen ma­chen“, ver­setz­te Bru­der Paul.

„Da­her müs­sen wir Sie zu­erst über die Ge­fah­ren in­for­mie­ren“, sag­te der Swa­mi. „Der Kno­chen­bre­cher ist ei­ne ge­rin­ge­re Be­dro­hung; Ani­ma­ti­on ist ei­ne grö­ße­re.“

„Ich bin gern be­reit zu­zu­hö­ren“, er­in­ner­te ihn Bru­der Paul.

Der Swa­mi schwieg; da­her re­de­te Bru­der Paul Ama­ranth an. „Wie kommt es, daß Sie die­sen ge­fähr­li­chen Be­ob­ach­tungs­pos­ten ha­ben? Sie tra­gen nicht ein­mal einen Drei­zack.“

„Kei­nen sicht­ba­ren“, mur­mel­te der Swa­mi. „Sie hat ge­nug Spit­zen.“

„Er sieht in al­len jun­gen Frau­en sei­ne ehe­ma­li­ge Frau“, sag­te Ama­ranth zu Bru­der Paul. „Sie hat­te ei­ne schar­fe Zun­ge. Aber was mich an­geht, so fiel das Los auf mich. Nie­mand hat sich frei­wil­lig ge­mel­det; da­her ha­ben wir Ta­rot­kar­ten ge­zo­gen, und ich hat­te die nied­rigs­te. Es war üb­ri­gens die Herr­sche­rin, die Ar­ka­ne Drei, dar­in hat­test du recht. Sie ha­ben mir al­so ei­ne Schutz­kis­te ge­baut wie einen Thron und ha­ben sie ent­spre­chend be­zeich­net – wir ver­söh­nen den Gott von Ta­rot, wo wir nur kön­nen –, und ich ha­be mich dar­an­ge­macht, den Kno­chen­bre­cher zu stu­die­ren. Und das Ama­ran­th­feld zu be­wa­chen, da der Bre­cher häu­fig in die­ser Ge­gend ist. Er hält na­tür­lich die Korn­fres­ser aus dem Feld! Ich zeich­ne die Tem­pe­ra­tur­un­ter­schie­de auf, die Re­gen­men­ge und so wei­ter und mes­se das Wachs­tum der Pflan­zen. Und wenn ei­ne MÜ-La­dung an­kommt, be­nach­rich­ti­ge ich das Dorf, wenn auch das Ge­räusch das in der Re­gel über­flüs­sig macht. Tut mir leid, daß ich ges­tern den Kopf ver­lo­ren ha­be; ich hat­te ver­ges­sen, daß dies­mal ein Mann da­bei sein soll­te.“

„Aber die Ge­fahr … nur ein Mäd­chen.“

Der Swa­mi schnaub­te. „Der Kno­chen­bre­cher muß sich in acht neh­men!“

„Ich hat­te auch ein we­nig Sor­ge“, gab sie zu und igno­rier­te wie­der­um er­folg­reich den Spott. „Ich woll­te mei­nen künst­le­ri­schen Nei­gun­gen nach­ge­hen, Pseu­do-Iko­nen und To­tems vom Holz des Baum des Le­bens und aus Erup­tiv­ge­stein schnit­zen. Aber der Platz wur­de von ei­ner an­de­ren ein­ge­nom­men, und ich muß­te wo­an­ders ei­ne Stel­le an­neh­men. Als mich das Los zu die­ser ge­fähr­li­chen und un­pas­sen­den Si­tua­ti­on be­stimm­te, ha­be ich pro­tes­tiert.“

„Dar­in ist sie sehr gut“, sag­te der Swa­mi.

„Was ein Grund da­für ist, daß ich un­ver­hei­ra­tet blieb“, fuhr sie fort. „Ich hat­te einen An­trag, doch er wies mich dann we­gen mei­nes Man­gels an Ge­mein­schafts­geist zu­rück. Na­tür­lich muß­te er nicht dem Kno­chen­bre­cher ge­gen­über­tre­ten! Schließ­lich ha­be ich mich da­mit ab­ge­fun­den, weil man auf die­sem Pla­ne­ten ent­we­der mit­ar­bei­tet oder nichts zu es­sen hat; das ist ei­ne der Tat­sa­chen, auf die sich un­se­re un­ter­schied­li­chen Kul­tu­ren ge­ei­nigt ha­ben.“

„Ei­ne ex­zel­len­te Po­li­tik“, mein­te der Swa­mi.

„Aber wis­sen Sie“, fuhr sie, oh­ne auch nur einen gif­ti­gen Blick auf ihn zu wer­fen, fort, „ich ha­be ent­deckt, daß es ei­ne gan­ze Men­ge mehr über den Ama­ranth zu er­fah­ren gab, als ich dach­te, was üb­ri­gens auch auf den Kno­chen­bre­cher zu­trifft. Je­de Pflan­ze ist ein In­di­vi­du­um und geht nach ih­rer ei­ge­nen Wei­se vor bis zur Ern­te, braucht spe­zi­el­le Zu­wen­dung. Manch­mal brin­ge ich heim­lich ein we­nig Vul­ka­na­sche zu ei­ner kran­ken Pflan­ze, wenn ich das ei­gent­lich auch nicht darf. Un­ter den Pflan­zen gibt es noch an­de­re We­sen, In­sek­ten und so­gar Schlan­gen, die durch den nied­ri­gen Gras-Bal­da­chin ge­schützt wer­den. Das gibt mir ein rich­ti­ges Hei­mat­ge­fühl.“

„Die meis­ten Mäd­chen auf der Er­de mö­gen kei­ne Schlan­gen, so nütz­lich die­se Rep­ti­le auch sein mö­gen“, mein­te Bru­der Paul.

„Die meis­ten Mäd­chen auf der Er­de ver­eh­ren auch nicht Ab­ra­xas, den schlan­gen­fü­ßi­gen Gott“, er­wi­der­te sie. „Die Furcht vor Schlan­gen ist üb­ri­gens re­la­tiv jung, his­to­risch ge­se­hen. In der Bi­bel galt die Schlan­ge als Sym­bol der Weis­heit, die …“

„Vor­sich­tig“, er­in­ner­te sie der Swa­mi. „Denk an den Ver­trag.“

„Tut mir leid“, sag­te sie. „Wir  dür­fen uns nicht über un­se­ren je­wei­li­gen Glau­ben ver­brei­ten, im In­ter­es­se Ih­rer Ob­jek­ti­vi­tät. Das ist är­ger­lich. Je­den­falls ha­be ich hier im Ge­bir­ge un­über­treff­li­che Kunst­wer­ke ge­fun­den in den Son­nen­un­ter­gän­gen und Stür­men die­ses un­ver­dor­be­nen Pla­ne­ten. Ha­ben Sie schon ein­mal ge­se­hen, wie der Wind die Ta­rot­bla­sen vor sich her­treibt? Ich glau­be, in die­sem Teil der Ga­la­xis ha­ben wir die schöns­ten Stür­me! Ich ha­be die­se Schön­heit in die We­be­rei zu über­tra­gen ver­sucht, die ich in der Frei­zeit be­trei­be.“

„We­ben tun Sie auch?“ frag­te Bru­der Paul.

„Oh ja. Wir al­le we­ben mit den Fa­sern vom Baum des Le­bens, denn wir brau­chen Klei­der und De­cken ge­gen die Käl­te. Sie ha­ben noch kei­nen rich­ti­gen Win­ter er­lebt, bis Sie hier einen über­stan­den ha­ben. Aber selbst im Som­mer muß ich län­ge­re Zeit al­lein hier sit­zen, und We­ben und Sti­cken hel­fen mir da­bei. Die­ses Kleid ha­be ich sel­ber ent­wor­fen und her­ge­stellt“, sag­te sie stolz und hol­te so tief Luft, daß sie die bei­den Vul­ka­ne fast zum Aus­bruch brach­te. „Es ist ei­ne ge­nau Um­riß­kar­te der Re­gi­on, ge­se­hen von mei­ner Sta­ti­on aus.“ Sie zuck­te die Ach­seln und ver­ur­sach­te ein wei­te­res Erd­be­ben um die Ber­ge her­um. „Na­tür­lich müß­te es auch im rich­ti­gen Win­kel dar­ge­stellt sein. Ge­nau ge­nom­men müß­te ich mit den Fü­ßen nach Nor­den lie­gen …“

„Scham­los!“ zisch­te der Swa­mi.

„Oh, komm schon, Swa­mi“, sag­te sie. „Ver­bin­det Kun­da­li­ni nicht eben­so Pra­na mit der Se­xu­al­kraft, wie es mein Gott Ab­ra­xas auch tut? Es ist doch nicht scham­los, wenn man die Frau mit der Na­tur in Ver­bin­dung bringt.“

„Ich wuß­te nicht, daß es zwei Vul­ka­ne sind“, sag­te Bru­der Paul in dem Be­stre­ben, die­se De­bat­te am bes­ten ab­zu­bre­chen. Er hät­te es nie für mög­lich ge­hal­ten, daß die Re­li­gi­on ei­ne so große Rol­le im täg­li­chen Le­ben der Men­schen spie­len konn­te, aber ihm er­wuch­sen auch Zwei­fel. Bei je­der per­sön­li­chen Zu­sam­men­kunft hier auf dem Pla­ne­ten Ta­rot wur­den die Feind­se­lig­kei­ten der re­li­gi­ösen Un­duld­sam­keit kaum ver­schlei­ert.

„Oh ja“, sag­te sie. „Es ist ein Vul­kan mit zwei Gip­feln. Nor­ma­ler­wei­se bre­chen sie zu­gleich aus. Vom Dorf aus ge­se­hen ver­deckt der ei­ne den an­de­ren, und manch­mal ver­schlei­ert der Mor­gen­dunst bei­de, aber von hier aus …“ Sie wand­te sich um und schritt rasch zu­rück, um nicht ih­ren Weg zum Nord­loch zu be­hin­dern. „Ja, jetzt kann man bei­de se­hen. Lin­ker Süd­berg und Rech­ter Süd­berg.“ Sie deu­te­te auf die ent­spre­chen­den Stel­len auf der Kar­te und hin­ter­ließ einen mo­men­ta­nen Ein­druck in den wei­chen Hü­geln.

Bru­der Paul müh­te sei­nen Blick von den Ein­drücken fort und sah zu­rück. Deut­lich wa­ren nun die zwei Ke­gel zu se­hen, und sie äh­nel­ten de­nen der Um­riß­kar­te: Voll und rund und nicht sehr ke­gel­för­mig. „Wo ist der Ge­birgs­gar­ten?“ frag­te er.

„Hier in der Schlucht“, sag­te sie und deu­te­te auf ei­ne Stel­le auf der Kar­te zwi­schen den Ke­geln. „Der Weg vom Dorf aus führt über den Ost­hang. Hier.“ Sie fuhr mit dem Fin­ger an der rech­ten Sei­te ent­lang. „Er ist steil, aber der kür­zes­te.“ Das war er si­cher! „Jetzt sind wir un­ge­fähr hier …“ Sie deu­te­te auf die Na­bel­re­gi­on. „In Rich­tung auf …“

„Ge­nug!“ schrie der Swa­mi.

„… das Nord­loch zu“, en­de­te sie. „Die Gru­be der Lei­den­schaft.“

„Du bist ei­ne ver­fluch­te Schlam­pe!“ rief der Swa­mi. Sein Ge­sicht war rot an­ge­lau­fen. Die Kon­trol­le, die er über sei­ne in­tel­lek­tu­el­len und kör­per­li­chen Kräf­te aus­zuü­ben in der La­ge war, er­streck­te sich nicht auf sei­ne Ge­füh­le. Das war ein zu­tiefst zer­ris­se­ner Mensch mit er­kenn­ba­ren un­ge­lös­ten Kon­flik­ten.

„Ich lei­de an nichts, was ein gu­ter Mann nicht hei­len kann“, mein­te Ama­ranth fröh­lich. Nun, der Swa­mi hat­te den Streit be­gon­nen; sie be­en­de­te ihn nun.

„Sie ha­ben noch nichts über den Kno­chen­bre­cher er­zählt“, er­in­ner­te sie Bru­der Paul.

„Ach ja. Als ich den Bre­cher stu­dier­te, merk­te ich bald, daß dies das in­ter­essan­tes­te Phä­no­men über­haupt war. Zu­erst hat­te ich vor ihm Angst und ha­be mei­nen Thron wie ei­ne Fes­tung ver­bar­ri­ka­diert, doch nach ei­ner Wei­le ha­be ich mich dar­an ge­wöhnt. All­mäh­lich ha­be ich sei­nen Re­spekt ge­won­nen, ha­be ihn ge­zähmt, und nun wür­de er mich nicht mehr an­grei­fen, weil er mich kennt. Er kennt mich. Ich stel­le mir den Kno­chen­bre­cher als einen Mann vor.“

„Na­tür­lich“, mur­mel­te der Swa­mi.

„Wir sind Freun­de, auf un­se­re Wei­se“, fuhr sie fort. „Ich bin dem Er­folg nä­her als an­de­re glau­ben. Der Kno­chen­bre­cher kommt auf mein Pfei­fen hin, und ich kann ihn be­rüh­ren. Ich den­ke, er wür­de so­gar für mich kämp­fen, wenn ich be­droht wür­de. Viel­leicht ist er des­halb hin­ter Ih­nen her­ge­jagt, weil er dach­te, Sie setz­ten mir nach.“

„Das tat ich auch“, mein­te Bru­der Paul.

„Ich möch­te be­stimmt nicht, daß er ge­tö­tet wird. Ich glau­be, in ei­ni­ger Zeit wer­de ich sei­ne Kräf­te für un­se­re Zwe­cke ein­set­zen kön­nen. Es ist ein un­ge­heu­res Pro­jekt, und ich bin mitt­ler­wei­le froh, daß das Los auf mich fiel. Scha­de, daß Sie den Kno­chen­bre­cher ver­trie­ben ha­ben.“

„Ich wuß­te es nicht …“

„Oh, Ih­nen kommt kei­ne Schuld zu! Sie muß­ten sich ver­tei­di­gen und ha­ben das ge­tan, oh­ne den Bre­cher zu ver­let­zen. In ein paar Ta­gen wird er zu­rück­keh­ren. Üb­ri­gens könn­ten Sie mir zei­gen, wie Sie es an­ge­stellt ha­ben.“

„Ich ha­be die Prin­zi­pi­en des Ju­do an­ge­wen­det“, be­gann Bru­der Paul, be­merk­te aber den war­nen­den Blick von dem Swa­mi. Viel­leicht war es bes­ser, so et­was wie Au­ra oder ki noch nicht zu er­wäh­nen. „Siero­ku ze­nyo, ma­xi­ma­le Kraft.“

Sie un­ter­brach ihn. „Tun Sie mal so, als sei ich der Kno­chen­bre­cher und wür­de Sie an­grei­fen. Wie rea­gie­ren Sie?“

Déjà vu. „Es be­deu­tet kör­per­li­chen Kon­takt, wenn ich das zei­ge, und ich ha­be es be­reits mit dem Swa­mi durch­ex­er­ziert. Ich bin nicht si­cher …“

„Die­ser Vamp will Sie ver­füh­ren“, sag­te der Swa­mi.

Bru­der Paul war sich ganz und gar nicht si­cher, ob dies nur ei­ne lee­re War­nung war. Ei­ne ke­cke Frau, die frei über Schlan­gen und Se­xua­li­tät sprach und ih­re Brüs­te so of­fen­sicht­lich dar­stell­te … „Viel­leicht ein an­de­res Mal“, sag­te er. „Ich ha­be den Ein­druck, daß Sie Ih­re Auf­ga­be hier nicht als einen Feh­ler be­trach­ten.“ Das hat­te sie be­reits ge­sagt, war aber einen Mo­ment lang um ei­ne pas­sen­de Ant­wort ver­le­gen.

„Es war ei­ne Of­fen­ba­rung“, sag­te sie ehr­lich und nahm wie­der ih­re ke­cke Hal­tung ein. Sie paß­te sich ver­schie­de­nen Um­stän­den leicht an, ob die­se nun kör­per­li­cher Na­tur oder ei­ne Fra­ge der Kon­ver­sa­ti­on wa­ren. Ei­ne auf­re­gen­de Frau! „Das Los hat mei­ne Be­rufs­lauf­bahn bes­ser aus­ge­sucht, als ich das ge­konnt hät­te. Ich glau­be, es war der Wil­le Ab­ra­xas’.“

„Ein heid­nischer Dä­mon“, mur­mel­te der Swa­mi.

„Se­hen Sie sich die­sen im­per­ti­nen­ten Yo­gi an“, sag­te sie. „An­de­re aus In­di­en stam­men­de Re­li­gio­nen sind ex­trem to­le­rant, doch er …“

„Viel­leicht hat der Gott von Ta­rot das Los be­stimmt“, sag­te Paul. „Was für ein Gott er auch im­mer sein mag.“ Dann mein­te er noch, ehe die Feind­se­lig­keit wie­der auf­fla­ckern konn­te: „Ich se­he dort Leu­te. Swa­mi, es ist wohl an der Zeit, mich über die Ge­fah­ren zu in­for­mie­ren, ehe wir un­ter­bro­chen wer­den.“

Zu sei­ner Über­ra­schung gab der Swa­mi nach. „Die Ge­fahr be­steht dar­in: Der Ef­fekt der Be­le­bung ist ei­ne Ma­ni­fes­ta­ti­on der fun­da­men­ta­len Kraft von Kun­da­li­ni – ei­ne spi­ri­tu­el­le Kraft. Oh­ne an­ge­mes­se­nes Ver­ständ­nis oder Kon­trol­le her­bei­ge­ru­fen, ist es das glei­che, wie den Sa­tan her­bei­zu­zau­bern, als gä­be man ei­nem Kind spalt­ba­res Ma­te­ri­al als Spiel­zeug.“

„Ach puh!“ rief Ama­ranth. „Seit Tau­sen­den von Jah­ren kennt man der­ar­ti­ge Zau­be­rei, prak­ti­ziert sie und ver­ehrt sie. Die ein­zi­ge Fra­ge ist doch, wes­sen Gott ist da­für ver­ant­wort­lich? Du hast ein­fach Angst da­vor, es könn­te sich her­aus­stel­len, daß es dei­ner nicht ist.“

„Das stimmt“, ent­geg­ne­te der Swa­mi. „Ich ver­eh­re kei­nen Gott; ich su­che nur nach dem letzt­end­li­chen Wis­sen. Die­se Er­schei­nun­gen sind kei­ne Got­tes­kraft, son­dern ei­ne Ma­ni­fes­ta­ti­on von un­kon­trol­lier­tem Kun­da­li­ni. Im Ver­lauf der mensch­li­chen Ge­schich­te war um­her­streu­nen­der Kun­da­li­ni der Grund für bö­se Ge­nies wie At­ti­la und Adolf Hit­ler. Wenn Sie, Bru­der Paul vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on, ihn nun her­bei­ru­fen – und ich fürch­te, Sie be­sit­zen in der Tat die Fä­hig­keit da­zu, näm­lich die Fä­hig­keit, den Geist aus der Fla­sche zu ent­las­sen und nicht nur ein­zel­ne Frag­men­te, die wir bis­lang ge­se­hen ha­ben –, dann ge­ben Sie ei­ner Macht­kon­zen­tra­ti­on Ge­stalt, die uns al­le zer­stö­ren wird, die ge­sam­te Ko­lo­nie des Pla­ne­ten Ta­rot.“

„Ei­ne Phan­ta­sie­bes­tie!“ spot­te­te Ama­ranth.

Aber Bru­der Paul war nicht so skep­tisch. Der Swa­mi hat­te ihm ei­ni­ge Grün­de für sei­ne Sor­ge ge­nannt, und sie hat­ten ihn be­ein­druckt. Was konn­te die Kraft ki an­stel­len, wenn er be­gann, Amok zu lau­fen? Wenn es wirk­lich mit den Er­schei­nun­gen zu tun hat­te … „Ich ha­be ei­ni­ge Ani­ma­tio­nen ge­se­hen, so­gar ei­ni­ge be­rührt“, sag­te er. „Hier gibt es et­was, was über un­ser ge­gen­wär­ti­ges Ver­ständ­nis hin­aus­geht. Ich weiß, daß an­de­re bei der Er­for­schung die­ses Ge­heim­nis­ses ge­stor­ben sind. Aber ich bin den­noch hier, es zu er­grün­den, wenn ich es kann. Ich den­ke, der bes­te Weg be­steht dar­in, daß ich die Ani­ma­tio­nen nicht mei­de, son­dern sie mit ex­tre­mer Vor­sicht und so vie­len Si­cher­heits­maß­nah­men wie mög­lich un­ter­su­che. Wis­sen ist die bes­te Waf­fe, be­son­ders ge­gen das Un­be­kann­te.“

„Ich ha­be die­se Ant­wort er­war­tet und re­spek­tie­re sie“, sag­te der Swa­mi. „Mein An­lie­gen ist le­dig­lich, daß Sie die mög­li­che Kraft der Be­dro­hung er­ken­nen und ak­zep­tie­ren. Mehr kann ich nicht tun. Und an­ge­sichts des Ver­tra­ges wür­de ich es auch nicht.“

Bru­der Paul hat­te ei­ne we­ni­ger zu­rück­hal­ten­de Ant­wort er­war­tet. Der Swa­mi rea­gier­te oh­ne vor­he­ri­ge War­nung zwi­schen fre­cher In­to­le­ranz und ab­so­lu­ter Ver­nunft. „Ich glau­be, es gibt wäh­rend mei­ner Un­ter­su­chun­gen be­stimm­te Be­ob­ach­ter. Viel­leicht soll­ten Sie zu ih­nen ge­hö­ren, um mich, falls not­wen­dig, zu war­nen.“

„Ich bin be­reits ver­tre­ten“, sag­te der Swa­mi. „Aber die Be­ob­ach­ter sind nichts ge­gen­über der Grö­ße die­ser Kraft.“

Sie wa­ren zu zwei war­ten­den Ge­stal­ten ge­tre­ten. „Bru­der Paul“, sag­te der ei­ne. Er war ein al­ter Mann mit weißem Haar, aber un­ge­beugt. „Ich bin Pas­tor Run­ford von den Zeu­gen Je­ho­vas. Das ist Mrs. Ei­lend von den christ­li­chen Szi­en­tis­ten.“

„Freue mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen“, er­wi­der­te Bru­der Paul. Zu der Frau ge­wandt füg­te er hin­zu: „Sind Sie An­ge­hö­ri­ge der Chris­ti­an Science?“

Die Frau nick­te. Sie wirk­te noch äl­ter als der Pas­tor, aber auch rüs­ti­ger, wie es zu ih­rer Be­ru­fung paß­te. Christ­li­che Szi­en­tis­ten ver­wei­ger­ten im all­ge­mei­nen me­di­zi­ni­sche Ver­sor­gung, weil sie glaub­ten, je­de Krank­heit sei il­lu­sio­när.

„Man hat uns bei­de da­zu be­stimmt, Ih­re Ex­pe­ri­men­te zu be­ob­ach­ten, aber da­bei neu­tral zu blei­ben“, sag­te Pas­tor Run­ford. „Hier ist der Rand des Nord­lochs, wo die häu­figs­ten Er­schei­nun­gen vor­kom­men.“

„Wenn ich mir ei­ne Fra­ge er­lau­ben darf“, sag­te Bru­der Paul, „mir scheint, daß die­se Ef­fek­te sich, ab­ge­se­hen von den ge­le­gent­li­chen Stür­men, auf be­stimm­te Ge­bie­te kon­zen­trie­ren. Wä­re es nicht ein­fa­cher, die­se Ge­bie­te ab­zu­gren­zen und sich von dort fern­zu­hal­ten?“

„Das wür­den wir schon tun, wenn es gin­ge“, ent­geg­ne­te Pas­tor Run­ford. „Mei­ne Da­me, wenn ich Ih­re Kar­te be­nut­zen darf …“

Ama­ranth trat lä­chelnd auf ihn zu. Der Pas­tor be­nutz­te einen ent­rin­de­ten Zweig, um auf die ver­schie­de­nen Punk­te ih­rer Kar­te zu deu­ten. „Der ein­zi­ge Weg zum Großen Wald im Nor­den, ei­ni­ge Mei­len von hier ent­fernt, führt am Nord­berg vor­bei. Hier.“ Er deu­te­te auf den rech­ten Schen­kel, der auch ent­spre­chend nach vorn ge­scho­ben wur­de. „Und er muß na­he am Nord­loch vor­bei. Hier.“ Er mach­te ei­ne vor­sich­ti­ge Ges­te auf die of­fen­sicht­li­che Stel­le zu, die als brei­te, fla­che Tiefebe­ne ge­kenn­zeich­net war. „Manch­mal brei­ten sich die Er­schei­nun­gen über den Weg hin­weg aus und stö­ren uns beim Schlep­pen. Wenn wir nicht ge­nü­gend Holz für den Win­ter her­ab­brin­gen …“

„Das ver­ste­he ich“, warf Bru­der Paul ein. Ne­ben dem Be­dürf­nis der Ko­lo­nis­ten, sich um einen ein­zi­gen Gott zu ver­ei­ni­gen, gab es al­so einen prak­ti­schen, geo­gra­phi­schen Grund, die­se Er­schei­nun­gen zu eli­mi­nie­ren.

„Wir möch­ten auf kei­nen Fall in Ih­re Un­ter­su­chun­gen oder An­schau­un­gen ein­grei­fen“, sag­te Mrs. Ei­lend. Ih­re Stim­me klang son­der­bar sanft, doch wohl­tö­nend: Sie be­saß die ru­hi­ge Au­to­ri­tät ei­ner Groß­mut­ter­ge­stalt. „Aber die­se Sa­che ist für uns sehr wich­tig. Da­her wol­len wir mit Ih­nen zu­sam­men­ar­bei­ten und Ih­nen auf un­auf­dring­li­che Wei­se die Ar­beit er­leich­tern. Wäh­rend wir uns als Ge­mein­schaft nicht in Über­ein­stim­mung be­fin­den, hat uns doch das all­ge­mei­ne Be­dürf­nis da­zu ge­trie­ben, die­sen Kom­pro­miß ein­zu­ge­hen.“ Sie blick­te den Swa­mi an. „Stimmst du nicht mit uns über­ein, Kun­da­li­ni?“

Der Swa­mi zog ei­ne Gri­mas­se, nick­te aber be­stä­ti­gend.

Pas­tor Run­fords Blick wan­der­te über die ver­han­ge­ne Sen­ke nach Nor­den. „Wir hat­ten Ihr Vor­ge­hen vor­aus­ge­se­hen und Be­ob­ach­ter so­wohl in­ner­halb als auch au­ßer­halb der Ani­ma­ti­ons­re­gi­on pos­tiert. Mrs. Ei­lend und ich be­fin­den uns au­ßer­halb; drei Ih­nen un­be­kann­te Ko­lo­nis­ten in­ner­halb. Al­le sind sich des Ver­tra­ges be­wußt und in­for­miert, Sie nach ei­ge­nem Gut­dün­ken vor­ge­hen zu las­sen, au­ßer wenn Sie sich in aku­ter Ge­fahr be­fin­den oder auf an­de­re Wei­se Hil­fe brau­chen. Wir möch­ten Sie bit­ten, sich na­he dem Ran­de auf­zu­hal­ten, wo die Wir­kun­gen nicht so stark sind, und sich so­gleich zu­rück­zu­zie­hen, falls ein Sturm auf­zieht. Da wir uns au­ßer­halb be­fin­den, kön­nen wir ein sol­ches Wet­ter frü­her fest­stel­len und Ih­nen ein Si­gnal ge­ben oder einen Ku­ri­er schi­cken. Sind Sie da­mit ein­ver­stan­den?“

Bru­der Paul dach­te dar­über nach. „Wenn ich es rich­tig ver­ste­he, dann ver­wischt die Li­nie zwi­schen Rea­li­tät und Vor­stel­lung in­ner­halb die­ses Ani­ma­ti­ons­ge­bie­tes. So kann ich even­tu­ell einen Sturm se­hen, wo kei­ner ist, oder einen rich­ti­gen über­se­hen. Ich muß zu mei­nem Er­stau­nen an­ge­sichts der Ma­ni­fes­ta­tio­nen, die De­kan Brown ges­tern abend her­bei­rief, zu­ge­ben, daß mei­ne Ob­jek­ti­vi­tät of­fen­sicht­lich kein aus­rei­chen­der Wall ge­gen­über die­sen Din­gen ist. Da­her dan­ke ich Ih­nen für Ih­re Be­mü­hun­gen. Ich hal­te sie für wohl­be­grün­det, und die War­nung des Swa­mi wer­de ich recht­zei­tig be­rück­sich­ti­gen. Heu­te wer­de ich mich am Ran­de auf­hal­ten und so­gleich auf Ih­re Si­gna­le und Bo­ten rea­gie­ren.“

„Wir schät­zen Ih­re Hal­tung sehr“, sag­te Mrs. Ei­lend mit ei­nem Lä­cheln, das ihn wärm­te. Was für ei­ne an­ge­neh­me Da­me! „Wenn Sie Ih­re an­fäng­li­chen Un­ter­su­chun­gen auf ei­ne Stun­de be­schrän­ken wür­den, wür­de dies ei­ne wei­te­re Si­cher­heits­maß­nah­me be­deu­ten.“

„Ei­ne Stun­de.“ Bru­der Paul stell­te sei­nen Zeit­mes­ser ent­spre­chend ein. „Ich wür­de noch ei­ne Maß­nah­me er­grei­fen. Da wir es hier ja mit ob­jek­ti­ver Rea­li­tät zu tun ha­ben, hat man mich mit elek­tro­ni­schen Ge­rä­ten aus­ge­stat­tet, da­mit ich mit Per­so­nen au­ßer­halb des Ani­ma­ti­ons­ge­bie­tes kom­mu­ni­zie­ren kann. Ich schla­ge vor, den Trans­mit­ter bei Ih­nen zu las­sen, da­mit wir in Kon­takt blei­ben.“ Er zog einen Stab aus der Ta­sche. „Er wird durch Druck ak­ti­viert; drücken Sie ein­fach zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger, um zu sen­den, und ge­ben Sie nach, wenn Sie emp­fan­gen wol­len.“

„Ich ken­ne die­sen Ty­pus“, sag­te Pas­tor Run­ford und nahm das Ge­rät ent­ge­gen. „Auf der Er­de ha­ben wir es be­nutzt, um un­se­re Fisch­zü­ge zu or­ga­ni­sie­ren.“

Fisch­zü­ge? Ach ja, die Zeu­gen Je­ho­vas wa­ren die hart­nä­ckigs­ten Be­keh­rer, die ih­re Bot­schaft und ent­spre­chen­de Li­te­ra­tur in je­den Haus­halt tru­gen. Sie glaub­ten, das En­de der Welt sei na­he, und der Ein­satz der Ma­te­rie­über­tra­gung hat­te die­sen Glau­ben ver­stärkt. Bru­der Paul hat­te kei­ne Lust, dies zu dis­ku­tie­ren. „Man hat mich auch ge­warnt, die Ak­ti­vie­rung der Großen Ar­ka­nen zu ver­su­chen, aber mit den Ta­rot­sym­bo­len wie Stab, Schwert und Kelch kann ich nicht viel mehr an­fan­gen, als ich bis­lang schon ge­se­hen ha­be. Ich wür­de ger­ne kom­ple­xe­re Bil­der ani­mie­ren, die durch exis­tie­ren­de Re­geln um­schrie­ben sind. Mir scheint, die Bil­der­sym­bo­lik der Klei­ne­ren Ar­ka­nen im so­ge­nann­ten Wai­te-Spiel …“

„Sie sind ein klu­ger Mann“, sag­te Mrs. Ei­lend. „Bit­te neh­men Sie zu die­sem Zweck mei­ne Kar­ten. Es ist das Stan­dard-Ri­der-Wai­te-Ta­rot­spiel.“ Sie hielt es ihm ent­ge­gen.

„Dan­ke.“ Bru­der Paul nahm die Kar­ten, wand­te sich nach Nor­den und be­gann los­zu­ge­hen. Die vier Ko­lo­nis­ten blie­ben ste­hen und be­ob­ach­te­ten ihn stumm.

Ei­gent­lich fühl­te er sich ein we­nig schul­dig, weil er sie nicht über die Be­deu­tung des Arm­ban­des in­for­miert hat­te. Aber es schi­en ihm im­mer noch am bes­ten, den stum­men Auf­zeich­ner ar­bei­ten zu las­sen und ihn an­sons­ten zu igno­rie­ren. Er wür­de den letzt­end­li­chen Be­weis lie­fern, wenn er wie­der auf der Er­de war, ob sei­ne Er­geb­nis­se der Wahr­heit ent­spra­chen. Hier auf dem Pla­ne­ten Ta­rot konn­te er ihn nicht ab­spie­len las­sen; da­her war es auch ei­gent­lich un­wich­tig.

Er frag­te sich, wo die an­de­ren drei Be­ob­ach­ter wa­ren – die­je­ni­gen in­ner­halb des Ge­bie­tes. Ver­steck­ten sie sich? Er hät­te wirk­lich nichts da­ge­gen, sie bei sich zu ha­ben; ein ob­jek­ti­ves Ex­pe­ri­ment soll­te oh­ne Rück­sicht auf die Teil­neh­mer Gül­tig­keit be­sit­zen, und die Er­schei­nun­gen schie­nen nicht pu­bli­kums­scheu zu sein. Viel­leicht war­te­ten sie dort un­ter dem Baum in drei­ßig Me­tern Ent­fer­nung …

Es war ein wun­der­ba­rer Baum, viel­leicht fünf­und­sieb­zig Me­ter hoch und so­mit grö­ßer als die meis­ten auf der Er­de ver­blie­be­nen. Die Blät­ter bil­de­ten einen so dich­ten Schirm, daß der Schat­ten dun­kel wie die Nacht war. Un­ter dem nächt­li­chen Schutz­dach ball­ten sich die hüb­schen Ta­rot­bla­sen, die hier au­ßer­ge­wöhn­lich groß wa­ren. Ei­ni­ge hat­ten einen Durch­mes­ser von zehn Zen­ti­me­tern. Den äu­ße­ren Rand des obe­ren Baum­teils be­deck­te ein Schaum aus Blü­ten, und ihr Duft weh­te süß zu ihm her­ab. War das viel­leicht die Quel­le der Er­schei­nun­gen, die­ser Duft? Nein, et­was so Of­fen­sicht­li­ches wä­re ge­wiß schon vor lan­ger Zeit von den Ko­lo­nis­ten ent­deckt wor­den. Blu­men blüh­ten nur zu be­stimm­ten Jah­res­zei­ten; da­her wür­de sich nur im Früh­jahr et­was ab­spie­len, und nach al­lem, was er ge­hört hat­te, fan­den zu al­len Jah­res­zei­ten und an al­len Or­ten Ani­ma­tio­nen statt, wenn auch am häu­figs­ten im Nord­loch und wäh­rend ei­nes Sturms. Wenn die Er­schei­nun­gen dar­über hin­aus vom Baum des Le­bens ver­ur­sacht wür­den (an­ge­nom­men, die­ses Ex­em­plar ge­hört zu die­ser Spe­zi­es) und mit Holz zu­sam­men­hin­gen, wür­den sie am stärks­ten in­ner­halb der Häu­ser auf­tre­ten. Da es dort je­doch am schwächs­ten war und sich auch nicht ent­wi­ckel­te, wenn im Win­ter Holz ver­brannt wur­de, war es un­wahr­schein­lich, daß der Baum die Ur­sa­che bil­de­te.

An dem Baum wa­ren kei­ne Be­ob­ach­ter. Bru­der Paul blieb ste­hen, kör­per­lich und geis­tig, und dach­te nach. „Dies scheint den­noch ein gu­ter Aus­gangs­punkt für mich zu sein“, mur­mel­te er. Wenn dies ein ein­zel­ner Baum des Le­bens war, der hier ste­hen blei­ben durf­te, weil er sich in­ner­halb des Ani­ma­ti­ons­ge­bie­tes be­fand, paß­te dies gut zu sei­nem Ex­pe­ri­ment. Wenn es einen gan­zen Wald die­ser Gi­gan­ten im Nor­den gab, wie wun­der­bar wür­de er wohl aus­se­hen! Viel­leicht wür­de er ihn ir­gend­wann auf­su­chen. Er hoff­te dar­auf.

Bru­der Paul nahm das Kar­ten­spiel her­vor und misch­te es mit flin­ken Fin­gern. Er ließ die Großen Ar­ka­nen au­ßer acht und hielt beim Stab-As in­ne. Bei die­ser Va­ri­an­te war ein Bild zu se­hen, nicht nur das ein­fa­che Sym­bol. Aus die­sem Grun­de hat­te er die Wai­te-Ver­si­on auch aus­ge­sucht. „Nun, warum nicht?“ frag­te er sich.

Er hielt die Kar­te vor sich hin und kon­zen­trier­te sich. Wür­de es ihm ganz al­lein ge­lin­gen? Er war sich nicht si­cher, ob er schon weit ge­nug ins Ge­biet vor­ge­drun­gen war; da­her wür­de ein Schei­tern nicht not­wen­di­ger­wei­se be­deu­ten …

Er blick­te auf. Und rang nach Atem. Da war es: ein klei­nes Ku­mu­lus­wölk­chen, grau und flo­ckig hing es am Him­mel, und die Aus­läu­fer er­streck­ten sich et­wa einen Ki­lo­me­ter über dem Bo­den in ver­ti­ka­ler Rich­tung. Als er zu­sah, schob sich zur Lin­ken ei­ne wei­ße Hand her­aus, die auf­glüh­te, und die­se geis­ter­haf­te Hand um­klam­mer­te ei­ne Holz­keu­le mit klei­nen grü­nen Blät­tern dar­an. Das ge­sam­te Bild war von er­ha­be­ner Grö­ße, aber ir­gend­wie ver­schwom­men und schlecht pro­por­tio­niert, of­fen­sicht­lich je­doch sei­ner Kar­te nach­ge­bil­det. Es war nicht ein­fach ei­ne Vi­si­on am Him­mel; ei­ni­ge Ki­lo­me­ter da­hin­ter be­fan­den sich ein Hü­gel auf dem an­de­ren Ufer ei­nes klei­nen Flus­ses so­wie ei­ne Art Schloß auf dem Hü­gel, und Bru­der Paul war sich si­cher, we­der Fluß noch Hü­gel noch Schloß je zu­vor ge­se­hen zu ha­ben, als er be­gann, sich auf die Kar­te zu kon­zen­trie­ren. Das be­deu­te­te, die ge­sam­te Land­schaft war ent­spre­chend der Kar­te um­ge­formt wor­den. Die­ser Er­folg ging weit über sei­ne Er­war­tun­gen hin­aus; er hat­te ein Schei­tern er­war­tet, höchs­tens aber ei­ne Mi­nia­tur­sze­ne.

Beim Be­trach­ten ver­schwamm die Sze­ne und wur­de blas­ser. Das Schloß war nicht mehr deut­lich zu se­hen, und die Wol­ke – war nur noch ei­ne Wol­ke. Er konn­te sich nicht mehr si­cher sein, was er zu se­hen ge­glaubt hat­te.

Bru­der Paul hielt sich nicht da­mit auf, über die Be­deu­tung nach­zu­den­ken. Statt des­sen such­te er vier Zwei­er aus, leg­te die an­de­ren Kar­ten bei­sei­te und misch­te die vier, bis sie un­sor­tiert bei­ein­an­der la­gen. Dann hob er die obers­te ab: Schwert-Zwei. Das Bild zeig­te ei­ne jun­ge Frau in weißem Kleid und mit ver­bun­de­nen Au­gen, die vor ei­nem in­sel­über­sä­ten See hock­te. In den Hän­den hielt sie zwei lan­ge Schwer­ter. Die Ar­me wa­ren vor der Brust ge­kreuzt, so daß die Schwert­spit­zen die Form ei­nes V bil­de­ten. Er hat­te die Kar­te ver­kehrt her­um, das un­ters­te zu­oberst, auf­ge­deckt.

Ehe er ver­such­te, sie zu be­le­ben, ging er wei­te­re fünf­zig Schrit­te nach Nor­den, in der Hoff­nung, die Wir­kung wür­de dort stär­ker und dau­er­haf­ter wer­den. Er woll­te nicht noch ein­mal ein schwan­ken­des, ver­zerr­tes Bild, das sei­ne Si­cher­heit er­schüt­ter­te. Er kon­zen­trier­te sich auf die Kar­te, so wie sie war, und blick­te auf.

Da saß auch die Da­me mit den ver­bun­de­nen Au­gen, und je­des De­tail stimm­te. Da wa­ren der See, die In­seln und der Halb­mond zwi­schen dem Schwer­ter-V. Und die ge­sam­te Sze­ne war um­ge­dreht wie die Kar­te. Der See be­fand sich oben, der Mond un­ten; es war, als wür­de sie durch die Schwer­ter ge­hal­ten.

Ei­ne Um­keh­rung konn­te beim Ta­rot große Be­deu­tung ha­ben. Bei der Weis­sa­gung – das war der höf­li­che Aus­druck für die Wahr­sa­ge­rei – be­deu­te­te es, die Bot­schaft der Kar­te war ent­we­der in der Wir­kung ab­ge­schwächt oder ver­än­dert. Bru­der Paul wuß­te, daß nach dem Au­tor die­ser Kar­ten, Ar­thur Wai­te, die um­ge­dreh­te Schwert-Zwei ein Omen für Schwin­del, Falsch­heit oder Il­loya­li­tät be­deu­te­te. Ein schlech­tes Zei­chen?

Nein, hier han­del­te es sich nicht um Weis­sa­ge­rei! Es war le­dig­lich ein Ex­pe­ri­ment, der Test ei­ner be­stimm­ten Wir­kung. Au­ßer­dem glaub­te er nicht an Vor­zei­chen. Für sei­ne Zwe­cke hat­te die Um­keh­rung kei­ne Be­deu­tung, weil so et­was na­tür­lich nicht ge­sche­hen wür­de. Er hat­te es her­bei­ge­ru­fen! Nach der Ve­ri­fi­ka­ti­on ließ er das Bild wie­der schwin­den.

Bru­der Paul sor­tier­te und misch­te die vier Drei­en und deck­te ei­ne auf. Kelch, um­ge­dreht. Er kon­zen­trier­te sich, und da er­schie­nen die drei Mäd­chen tan­zend in ei­nem Gar­ten mit hoch­er­ho­be­nen Kel­chen, die sie ein­an­der an­bo­ten. Um­ge­dreht.

Wenn er an Weis­sa­gung glaub­te, ge­rie­te er nun in ge­hö­ri­ge Zwei­fel. Die Kelch-Drei deu­te­te den glück­li­chen Aus­gang ei­ner Sa­che an; um­ge­dreht wür­de sie be­deu­ten …

Stirn­run­zelnd leg­te er die Kar­te fort und sah, wie die Vi­si­on ver­schwand. Er nahm die Vie­ren. Beim Mi­schen ging er noch wei­ter nach Nor­den. Der Ani­ma­ti­ons­ef­fekt schi­en trotz der Um­keh­run­gen stär­ker zu wer­den; dies konn­te an dem kräf­ti­ger wer­den­den Feld lie­gen oder an dem, was den Ef­fekt her­vor­rief – was im­mer es sein moch­te. Viel­leicht auch an sei­ner zu­neh­men­den Er­fah­rung. Die­ses Mal wür­de er es wirk­lich auf die Pro­be stel­len, in­dem er et­was Be­rühr­ba­res her­bei­zau­bern wür­de.

Er dreh­te die Pen­ta­gramm-Vier um. Das war Wai­tes Na­me für die Schei­ben oder Mün­zen. Doch auch die­se Kar­te lag ver­kehrt her­um. Und das Bild form­te sich vor sei­nen Au­gen, oh­ne daß er es recht woll­te. Um­ge­kehrt. Es war ein jun­ger Mann mit ei­ner Gold­schei­be auf dem Kopf, und auf der Schei­be war ein fünf­za­cki­ger Stern ein­ge­ritzt; ei­ne wei­te­re der­ar­ti­ge Schei­be hielt er vor sich, und zwei wei­te­re la­gen un­ter sei­nen Fü­ßen. Über sei­nen Fü­ßen in die­ser Po­si­ti­on.

„Ver­dammt!“ fluch­te Bru­der Paul in höchst un­hei­li­ger Wei­se. Er war der Um­keh­run­gen über­drüs­sig, eben­so ih­rer theo­re­ti­schen War­nun­gen vor Pro­ble­men, an die er nicht glaub­te. Er ging wei­ter und mach­te ei­ne Arm­be­we­gung, als wol­le er die Vi­si­on bei­sei­te fe­gen. Fast si­cher, daß er auf nichts sto­ßen wür­de, fi­xier­te sein Blick die schö­ne Stadt in der Fer­ne, die wie in ei­nem Spie­gel­bild eben­falls auf dem Kopf stand.

Die Hand schlug ge­gen die vor­ders­te Schei­be. Sie flog weit fort und er­in­ner­te ihn kurz an Ten­ny­sons La­dy of Sha­lott, de­ren Spin­del weit ge­flo­gen war und den Spie­gel zer­sprun­gen hat­te. Leb­te er, eben­so wie die La­dy, in der Phan­ta­sie? Die Schei­be tanz­te und pol­ter­te über den Bo­den. Der Mann fiel her­ab, und sei­ne Fü­ße be­rühr­ten eben­falls den Bo­den. Er sah über­rascht aus. Er öff­ne­te den Mund, als wol­le er schrei­en – und ver­schwand.

Zit­ternd blick­te Bru­der Paul auf die Stel­le, an der die Münz-Vier ge­we­sen war. Die Er­schei­nung war greif­bar ge­we­sen! Ge­nau wie ges­tern die Sym­bo­le im Spei­se­saal. Es gab kei­nen Zwei­fel mehr: Der Glau­be an ein Bild ließ es re­al wer­den. Glau­be war der Schlüs­sel.

Bru­der Paul steck­te die Kar­ten ein. Es war klar, daß er das auf den Kar­ten Er­blick­te zum Le­ben er­we­cken konn­te, und die­se Kon­struk­te schie­nen ihn nicht kör­per­lich zu be­dro­hen. Aber gab es wirk­lich ei­ne dar­über hin­aus­ge­hen­de Be­deu­tung? Wenn dies ein­fach ein Kunst­werk war – drei­di­men­sio­na­le Bil­der re­pro­du­zie­ren, aus Bil­dern Skulp­tu­ren pro­du­zie­ren –, dann war ge­wiß kein be­son­de­rer Gott im Spiel.

„Bru­der Paul“, mur­mel­te ei­ne lei­se Stim­me.

Wenn es kein Gott war – zu­min­dest kei­ner, der die Ani­ma­tio­nen di­rekt kon­trol­lier­te –, dann war sei­ne Auf­ga­be ei­ne ein­fa­che. Er konn­te das Pro­blem für ge­löst er­klä­ren und heim­ge­hen. Aber si­cher hät­ten sich die Ko­lo­nis­ten nicht vor den Ani­ma­tio­nen al­lein so ge­fürch­tet, wenn es nur ei­ne Kunst­form wä­re, je­den­falls nicht mehr, als sie sich vor den Vul­ka­nen oder Ta­rot­bla­sen fürch­te­ten. Und was war der ge­naue Grund für die­se Er­schei­nun­gen? Sein Wil­le kon­trol­lier­te ein be­stimm­tes Bild, aber ir­gend et­was an­de­res muß­te es hier mög­lich ma­chen, wäh­rend es an­ders­wo un­mög­lich blieb.

„Bru­der Paul“, wie­der­hol­te die lei­se Stim­me. „Kannst du mich er­ken­nen?“

Er wuß­te, er muß­te sehr vor­sich­tig vor­ge­hen. Er glaub­te an Gott, und das war der mäch­tigs­te und über­zeu­gends­te Glau­be, die Er­kennt­nis des­sen, was sein Le­ben vor acht Jah­ren ver­än­dert hat­te. Aber er hat­te nie­mals so ge­tan, als kön­ne er die­sen Gott all­zu ge­nau de­fi­nie­ren. Es war wich­tig, daß sei­ne Ge­dan­ken ob­jek­tiv blie­ben und er nicht ir­gend­ei­ne Gott­heit nach sei­nem ei­ge­nem Bil­de schuf. Das war Pfar­rer Siltz’ Sor­ge ge­we­sen, und sie war be­rech­tigt. Bei die­ser Missi­on wie auch im Le­ben hieß sein Gott Wahr­heit: die ge­naues­te, ob­jek­tivs­te und er­klär­bars­te Wahr­heit, die er über­haupt wahr­neh­men konn­te.

Wenn sich Gott selbst durch das Me­di­um der Ani­ma­ti­on ma­ni­fes­tie­ren soll­te, wür­de Er sich ge­wiß auf Sei­ne Wei­se zu er­ken­nen ge­ben. Un­zwei­fel­haft aber auf Sei­ne Wei­se, wie ihm be­reits je­mand na­he­ge­legt hat­te. Bru­der Paul muß­te sich le­dig­lich be­reit hal­ten für die­se tran­szen­den­te Ent­hül­lung, je­ne obers­te Ein­ge­bung.

„Herr“, mur­mel­te er, „laß mich auf der Su­che nach Dir nicht selbst zum Nar­ren wer­den.“ Aber er muß­te sich schon vor­wer­fen: Das war ein selbst­süch­ti­ges Ge­bet. Wenn es not­wen­dig sein soll­te, zum Nar­ren zu wer­den, um Gott zu ent­de­cken, dann wä­re es das schon wert. War dies üb­ri­gens nicht der Cha­rak­ter des Nar­ren beim Ta­rot?

Sei­ne Stun­de lief ab. Wenn er über den gest­ri­gen Punkt hin­aus­ge­hen woll­te, muß­te er bald an­fan­gen. Er zog die Kar­ten wie­der her­vor und misch­te sie, wo­bei er auf ei­ne In­spi­ra­ti­on war­te­te. Die Klei­nen Ar­ka­nen reich­ten nicht aus. Soll­te er ei­ne Bild­kar­te be­le­ben? Viel­leicht einen Kö­nig oder ei­ne Kö­ni­gin?

Ei­ne Ge­stalt er­schi­en. Weib­lich. Kam auf ihn zu. Aber er hat­te kei­ne wei­te­re Ani­ma­ti­on ver­sucht! Es sei denn …

Das war es. Er war die Fol­ge der Schwer­ter durch­ge­gan­gen, und da war die Acht: Ei­ne ge­beug­te und ver­hüll­te Frau in ei­nem Wald star­ren­der Schwer­ter. Das be­deu­te­te ei­ne schlech­te Nach­richt, ei­ne Kri­se, Zwi­schen­fäl­le. Er hat­te sie un­be­wußt her­bei­ge­ru­fen. Jetzt muß­te er auf­pas­sen; er be­fand sich nun tief in der Ani­ma­ti­ons­re­gi­on und er­warb durch die Pra­xis ei­ne sol­che Fä­hig­keit, daß je­de Kar­te, auf die er auch nur einen Blick warf, zum Le­ben er­weckt wer­den konn­te, so­gar oh­ne sei­nen be­wuß­ten Wil­len.

Nun, Zeit für ei­ne Große Ar­ka­ne: Er woll­te se­hen, ob er das Ta­rot­spiel selbst auf sei­ne Fra­gen ant­wor­ten las­sen konn­te. Wie­der­um zog Bru­der Paul die Kar­ten her­vor, sor­tier­te die Großen Ar­ka­nen her­aus und wähl­te den Ho­he­pries­ter. Das war die Ar­ka­ne Fünf sei­nes Spiels. Der große Leh­rer und Re­li­gi­ons­va­ter, in an­de­ren Kar­ten als Hie­rophant oder Papst be­kannt, Ge­gen­stück zur Ho­he­pries­te­rin. Es hing al­les von der Re­li­gi­on und dem Ziel der Per­son ab, der die je­wei­li­ge Va­ri­an­te ent­wi­ckelt hat­te. Der Ti­tel der Kar­te spiel­te oh­ne­hin kei­ne Rol­le; ei­ni­ge Spie­le kann­ten gar kei­ne Ti­tel. Die Bil­der tru­gen die Sym­bo­le. Si­cher wür­de die­se wür­di­ge Ge­stalt in der Ar­ka­ne Fünf die Be­deu­tung der Ani­ma­tio­nen wis­sen, wenn es über­haupt ei­ne gab.

Bru­der Paul kon­zen­trier­te sich, und die Ge­stalt ma­te­ria­li­sier­te sich. Sie saß auf ei­nem Thron, bei­de Hän­de er­ho­ben, die rech­te Hand­flä­che nach oben ge­hal­ten, zwei Fin­ger zum Se­gen ge­streckt. Die lin­ke Hand hielt ein Zep­ter, auf dem ein drei­fa­ches Kreuz stand. Der Mann trug ei­ne wei­te ro­te Ro­be und einen gol­de­nen Kopf­putz. Vor ihm knie­ten zwei Mön­che mit Ton­sur; hin­ter ihm er­ho­ben sich zwei ver­zier­te Säu­len.

Bru­der Paul merk­te, daß er zit­ter­te. Er hat­te die Leit­fi­gur der rö­misch-ka­tho­li­schen Kir­che her­bei­ge­zau­bert, was für einen Na­men ihm ein pro­tes­tan­ti­sches Kar­ten­spiel auch im­mer zu­er­kannt hat­te. Hat­te er das Recht da­zu?

Ja, fand er. Das war nicht der rich­ti­ge Papst, son­dern ein Re­prä­sen­tant von ei­ner Kar­te. Wahr­schein­lich ein hirn­lo­ses Ding, ei­ne blo­ße Sta­tue. Aber die­se See­len­lo­sig­keit muß­te er her­aus­fin­den, da­mit Bru­der Paul si­cher­ge­hen konn­te, daß sich hin­ter den Er­schei­nun­gen kei­ne In­tel­li­genz ver­barg.

„Emi­nenz“, mur­mel­te er und beug­te den Kopf mit dem glei­chen Re­spekt, den er Wür­den­trä­gern an­de­rer Glau­bens­rich­tun­gen er­wies. Man brauch­te nicht die Phi­lo­so­phie ei­ner Per­son zu tei­len, um de­ren Ein­tre­ten da­für zu re­spek­tie­ren. „Darf ich um ei­ne Au­di­enz bit­ten?“

Der Kopf der Fi­gur neig­te sich. Der lin­ke Arm senk­te sich. Der Blick fiel auf Bru­der Paul. Die Lip­pen be­weg­ten sich. „Du darfst“, sag­te der Ho­he­pries­ter.

Er hat­te ge­spro­chen!

Nun, die­ses Auf­zeich­ner-Arm­band wür­de spä­ter nach­wei­sen, ob dies nun zu­traf oder nicht. Die Stim­men­ana­ly­se wür­de zei­gen, daß Bru­der Paul mit sich sel­ber sprach. Das spiel­te kei­ne Rol­le; es war sein Auf­trag, die­se Be­ob­ach­tun­gen zu un­ter­neh­men und al­le Er­schei­nun­gen her­bei­zu­ru­fen, die er her­bei­ru­fen konn­te, da­mit die Auf­zeich­nun­gen voll­stän­dig wür­den. Er konn­te es sich nicht leis­ten, zu­rück­hal­tend zu sein, weil er viel­leicht per­sön­lich nicht moch­te, was sich ma­ni­fes­tier­te. Es tat ihm be­reits leid, den Hie­rophan­ten be­lebt zu ha­ben; nun muß­te er mit der Er­schei­nung spre­chen, und das schi­en ihn in­tel­lek­tu­ell ge­se­hen zu kom­pro­mit­tie­ren, in­dem er ein We­sen le­gi­ti­mier­te, das er ei­gent­lich für il­le­gi­tim hielt. Nun, wei­ter.

„Ich bin auf der Su­che nach In­for­ma­tio­nen“, sag­te er kläg­lich.

Der hei­li­ge Kopf neig­te sich. „Fra­ge, und sie wer­den dir ge­ge­ben.“

Bru­der Paul dach­te dar­an, ob er fra­gen sol­le, ob Gott hin­ter der Er­schei­nung ste­he, und wenn dies der Fall sei, wie es um sei­ne wah­re Na­tur be­stellt sei. Aber da dach­te er an ein Er­eig­nis sei­ner Stu­di­en­zeit, als ein Freund ein drei­jäh­ri­ges Kind ei­nes an­de­ren Stu­den­ten mit der Fra­ge gen­eckt hat­te: „Klei­nes Mäd­chen, was ist das We­sen der letzt­end­li­chen Rea­li­tät?“ Das Kind hat­te prompt geant­wor­tet: „Lol­li­pops.“ Ta­ge­lang war die­se Ant­wort Cam­pus­ge­spräch ge­we­sen; die all­ge­mei­ne Mei­nung hielt da­für, daß die­se Ant­wort kor­rekt ge­we­sen sei. Doch Bru­der Paul such­te nicht nach ei­ner sol­chen Ant­wort. Zu­erst muß­te er die Art der Ge­stalt sel­ber er­grün­den. Da­her stell­te er ei­ne her­aus­for­dern­de, aber nicht wirk­lich kri­ti­sche Fra­ge, ei­ne Test­fra­ge: „Was ist der Sinn der Re­li­gi­on?“

„Der Sinn der Re­li­gi­on liegt dar­in, die See­len der Men­schen zu be­frie­den und sie ge­sell­schaft­lich und po­li­tisch folg­sam zu ma­chen“, ant­wor­te­te der Hie­rophant.

Das über­rasch­te Bru­der Paul. Es spie­gel­te mit Si­cher­heit nicht sei­ne ei­ge­ne Mei­nung über Re­li­gi­on wi­der! Be­deu­te­te das, daß die Ge­stalt einen ei­ge­nen Ver­stand be­saß? „Aber was ist mit dem Fort­schritt des mensch­li­chen Geis­tes?“ frag­te er. „Was ge­schieht mit ihm, wenn er die­se Welt ver­läßt?“

„Geist? An­de­re Welt? Aber­glau­be, der von den po­li­ti­schen Mäch­ten ge­pflegt wird“, ant­wor­te­te der Hie­rophant. „Nie­mand bei Ver­stand wür­de sich mit der Kor­rup­t­heit und Grau­sam­keit der­je­ni­gen ab­fin­den, die an der Macht sind, wenn er glau­ben wür­de, dies sei die ein­zi­ge Welt. Da­her ver­spre­chen sie ihm für spä­ter ein my­thi­sches Le­ben, wo die Nach­tei­le die­ses Le­bens kom­pen­siert wer­den. Nur ein Narr wür­de das glau­ben, was aber zeigt, wie vie­le Nar­ren es gibt. Bar­num hat­te nicht recht: Es wird nicht je­de Mi­nu­te ein Narr ge­bo­ren. Je­de Se­kun­de stimmt eher.“

„Herr, ha­be Gna­de mit ei­nem Nar­ren“, mur­mel­te Bru­der Paul.

„Ich hat­te le­dig­lich ge­dacht, Re­li­gi­on sei mehr als nur dies“, er­klär­te Bru­der Paul. „Ein Mensch braucht ei­ni­gen Trost an­ge­sichts des un­ver­meid­li­chen To­des des Kör­pers.“

„Oh­ne Tod gä­be es kei­ne Re­li­gi­on“, ver­si­cher­te der Ho­he­pries­ter und we­del­te nach­drück­lich mit dem Zep­ter. Es schlug fast auf dem kah­len Schä­del ei­nes Mön­ches auf. Der Hie­rophant run­zel­te ver­är­gert die Stirn, und bei­de Mön­che ver­schwan­den. „Die Re­li­gi­on be­gann mit den Na­tur­geis­tern – dem Wald­brand, Flu­ten, Don­ner, Erd­be­ben und so wei­ter. Pri­mi­ti­ve Stäm­me ver­such­ten sich in der Ma­gie, um die Dä­mo­nen der Um­welt zu be­frie­den, und voll­zo­gen für die Ele­men­te Feu­er, Was­ser, Luft und Er­de Blu­top­fer, in der Hoff­nung, die­se wil­den Kräf­te zu wohl­tä­ti­ge­rem Ver­hal­ten um­stim­men zu kön­nen. Lies das Buch vom Ta­rot, und du fin­dest die­sen Spuk im­mer noch um­her­wan­dern in Ge­stalt der vier Far­ben. For­mel­le Re­li­gio­nen sind le­dig­lich ei­ne Ver­stär­kung die­ser Vor­stel­lun­gen.“

Bru­der Pauls Er­stau­nen mach­te Zorn Platz. „Das ist ei­ne idio­ti­sche Be­ur­tei­lung der Re­li­gi­on“, sag­te er. „Ihr könnt doch nicht et­wa …“

„Man hat dich ei­ner Ge­hirn­wä­sche un­ter­zo­gen mit in­tel­lek­tu­el­lem Non­sens, um dich kon­form zu ma­chen“, sag­te der Papst mit vä­ter­li­chem Be­dau­ern. „Man hat dei­ne ge­sam­te Exis­tenz in re­li­gi­öse Pro­ga­gan­da ge­bet­tet. In dein Ge­dächt­nis ist das Bild Cä­sars ein­ge­gra­ben und da­zu die Bot­schaft: ‚Wir ver­trau­en auf Gott’. Dein Be­stre­ben nach Ei­nig­keit un­ter dei­ner To­tem­flag­ge be­sagt: ‚Ei­ne un­teil­ba­re Na­ti­on un­ter Gott’. Warum sagst du nicht ‚Im Ver­trau­en auf Sa­tan’, denn der Sa­tan ist viel kon­stan­ter als Gott. Oder ‚Ei­ne Na­ti­on, die ei­nem al­ber­nen, ok­kul­ten Spuk auf­sitzt, der un­sicht­bar bleibt au­ßer im Macht­hun­ger …’“

„Stop!“ rief Bru­der Paul. „Die­ses Sa­kri­leg kann ich nicht an­hö­ren!“

Wis­send nick­te der Ho­he­pries­ter. „Du gibst al­so zu, das Op­fer ei­ner welt­wei­ten re­li­gi­ösen Kon­spi­ra­ti­on zu sein. Dei­ne Ob­jek­ti­vi­tät exis­tiert ge­ra­de so lan­ge, wie die Wahr­heit nicht in Kon­flikt mit den Dog­men dei­nes Kults ge­rät.“

Bru­der Paul war wü­tend, aber nicht so wü­tend, daß er nicht den wah­ren Kern in die­sen Blas­phe­mi­en er­ken­nen konn­te. Die­se Kar­ten­ge­stalt lock­te ihn, stieß ihn her­um, zwang ihn, so zu rea­gie­ren, wie sie es woll­te. Die Er­schei­nung war un­ter Kon­trol­le, er sel­ber aber nicht. Er muß­te sei­ne Ob­jek­ti­vi­tät wie­der er­lan­gen und eher be­ob­ach­ten als be­keh­ren, an­dern­falls stand sei­ne Missi­on un­ter ei­nem schlech­ten Stern.

Bru­der Paul be­ru­hig­te sich mit großer Wil­lens­an­stren­gung, die aber ge­rin­ger wur­de, als er merk­te, was ge­sch­ah. „Ich bit­te um Ent­schul­di­gung, Hie­rophant“, sag­te er, au­gen­schein­lich ru­hig. „Viel­leicht hat man mich falsch in­for­miert. Ich möch­te Euch an­hö­ren.“ Im­mer­hin hat­te je­der das Recht der Mei­nungs­frei­heit, selbst wenn man nur ein Papp­hirn hat­te.

Die Ge­stalt lä­chel­te. „Aus­ge­zeich­net. Fra­ge al­les, was du willst.“

Das war schwie­ri­ger als vor­her. An­stel­le ei­ner Fra­ge be­schloß Bru­der Paul ei­ne Mei­nung ab­zu­ge­ben. Viel­leicht konn­te er die In­itia­ti­ve er­grei­fen und statt sei­ner die Er­schei­nung rea­gie­ren las­sen; das wä­re be­stimmt pro­duk­ti­ver. Of­fen­sicht­lich saß ir­gend­ein Geist hin­ter der Fassa­de; die Fra­ge war nur, was für ein Geist?

„Ihr sagt, ich kann nur die Wahr­heit aus­hal­ten, die nicht in Kon­flikt mit den Dog­men mei­ner per­sön­li­chen Re­li­gi­on ge­rät“, be­gann er vor­sich­tig. „Ich bin si­cher, das trifft zu. Aber mei­ne Re­li­gi­on er­ach­te ich als Wahr­heit, und ich tue mein Bes­tes, in je­der Si­tua­ti­on die Wahr­heit zu er­ken­nen. Ich un­ter­stüt­ze die Mei­nungs­frei­heit ei­ner je­den Per­son, auch de­rer, die mit mir nicht ei­ner Mei­nung sind, und ich ach­te das Recht ei­nes je­den Men­schen auf Le­ben, Frei­heit und Glück. Das ist ein Teil des­sen, was ich mei­ne, wenn ich die Fah­ne mei­nes Lan­des grü­ße und in all­täg­li­chen Din­gen den Na­men Got­tes an­ru­fe.“

„Nur we­ni­ge Na­tio­nen un­ter­stüt­zen dies“, ant­wor­te­te der Hie­rophant. „Si­cher nicht die mo­no­li­thi­schen Kir­chen. Ein Hä­re­ti­ker hat we­der das Recht auf Le­ben noch auf Frei­heit, und nie­mand hat einen Glücks­an­spruch.“

„Aber Glück ist das na­tür­li­che Ziel der Men­schen“, wand­te Bru­der Paul ein, in­ner­lich auf­ge­regt. Nun hat­te er die Ge­stalt am Wi­ckel. Für ihn war das Glück nur ein Teil der na­tür­li­chen Zie­le des Men­schen. Er sel­ber be­fand sich nicht in selbst­süch­ti­ger Su­che nach dem Glück. Das hat­te er viel­leicht ein­mal ge­tan, aber er war rei­fer ge­wor­den. Das hoff­te er zu­min­dest.

„Die Er­ret­tung sei­ner un­s­terb­li­chen See­le ist der rich­ti­ge Le­bens­sinn für den Men­schen“, sag­te der Hie­rophant fest. „Glück hat da­mit nichts zu tun.“

„Aber Ihr habt be­haup­tet, die un­s­terb­li­che See­le des Men­schen sei ein Aber­glau­be, ei­ne blo­ße Er­fin­dung, die die po­li­ti­schen Mäch­te …“

„Ge­nau“, sag­te die Ge­stalt lä­chelnd.

„Aber dann ist al­les um­sonst. Al­le Ta­ten des Men­schen, sein Leid, sei­ne Freu­de.“

„Du bist ein gu­ter Schü­ler.“

Bru­der Paul schüt­tel­te den Kopf, um sei­ne Ge­dan­ken zu klä­ren. Die­ses Ding wür­de ihn nicht ein­fan­gen! „Die Be­stim­mung des Men­schen ist al­so …“

„Der Mensch soll der Freu­de ent­sa­gen zu­guns­ten ewi­ger De­mü­ti­gung.“

„Aber al­le Grund­in­stink­te des Men­schen sind an Ver­gnü­gen ge­bun­den. Die Be­frie­di­gung, wenn der Hun­ger ver­schwin­det, die Trös­tung der Ru­he nach schwe­rer Ar­beit, die un­ge­heu­re Freu­de der ge­schlecht­li­chen Ver­ei­ni­gung …“

„Das sind Ver­su­chun­gen durch den Sa­tan! Der ein­zig mög­li­che Weg ist der as­ke­ti­sche. Der Weg des ge­rings­ten Ver­gnü­gens. Ein Mann soll­te sich von Was­ser und Brot er­näh­ren, auf ei­ner har­ten Prit­sche schla­fen und mit dem nie­de­ren Ge­schlecht nur in­so­weit Kon­takt hal­ten, als es der Auf­recht­er­hal­tung der Spe­zi­es dient.“

„Ach, kommt!“ pro­tes­tier­te Bru­der Paul la­chend. „Man hat den Se­xual­trieb als bi­funk­tio­na­len Trieb er­kannt. Er sorgt nicht al­lein für die Re­pro­duk­ti­on, son­dern ver­grö­ßert auch das Ver­gnü­gen an ei­ner fort­ge­setz­ten in­ter­per­so­nel­len Part­ner­schaft, die die Grund­la­ge für ei­ne Fa­mi­lie bil­det.“

„Aber ab­so­lut nicht!“ be­harr­te der Hie­rophant. „Die Lust der Un­zucht ist das Mach­werk des Sa­tans, und die Emp­fäng­nis ei­nes Kin­des Got­tes Stra­fe für die­se Sün­de, ei­ne le­bens­läng­li­che Stra­fe.“

„Stra­fe?“ rief Bru­der Paul un­gläu­big aus. „Wenn ich ein Kind hät­te, wür­de ich es im­mer lieb­ha­ben.“ Aber er frag­te sich, ob dies rei­ne Rhe­to­rik war. Er hat­te kei­ner­lei Er­fah­rung mit Kin­dern.

Der Hie­rophant run­zel­te die Stirn. „Du be­fin­dest dich auf dem di­rek­ten Weg in die ewi­ge Ver­damm­nis.“

„Aber Ihr habt ge­sagt, es gä­be kein Le­ben nach dem To­de! Wie kann es dann ewi­ge Ver­damm­nis ge­ben?“

„Reue! Quä­le dich sel­ber, un­ter­wirf dich der lie­be­vol­len Gna­de des Herrn in der Hoff­nung, daß Er dich nicht all­zu­lan­ge fol­tert. Viel­leicht wird dei­ne See­le nach ei­ner pas­sen­den, furcht­ba­ren Stra­fe von ih­rer ent­setz­li­chen, ab­grund­tie­fen Schuld ge­rei­nigt.“

Bru­der Paul schüt­tel­te den Kopf. „Ich ver­su­che ernst­haft, of­fen und ob­jek­tiv zu sein, aber ich mer­ke, ganz ernst kann ich Euch nicht neh­men. Al­so ver­schwen­det Ihr mei­ne Zeit. Fort!“ Er wand­te sich um in der Über­zeu­gung, die Er­schei­nung wür­de sich auf­lö­sen. Viel­leicht hat­te er bei die­sem Zu­sam­men­tref­fen ver­lo­ren, weil er es ab­brach, doch er be­reu­te es auch nicht.

Die­se Ani­ma­tio­nen wa­ren fas­zi­nie­rend. Es gab ein un­ge­heu­res Po­ten­ti­al für einen phy­si­ka­li­schen, in­tel­lek­tu­el­len und geis­ti­gen Gott, wenn man ihn nur rich­tig be­griff. Das war ihm bis­lang nicht ge­lun­gen. Die Hie­rophant-Er­schei­nung hat­te le­dig­lich Pseu­do-Phi­lo­so­phie von sich ge­ge­ben, so platt, wie es ei­ner Kar­ten­ge­stalt ge­bühr­te. Wenn er ei­ne schö­ne Frau her­bei­ge­ru­fen hät­te – wä­re sie wohl eben­so schlimm ge­we­sen?

Ei­ne schö­ne Frau. Das reiz­te ihn auf ei­ner an­de­ren Ebe­ne. Man­che Män­ner hiel­ten In­tel­lekt bei ei­ner Frau für über­flüs­sig, und in der Tat hat­ten ei­ni­ge un­ge­wöhn­lich dum­me Frau­en ei­ne aus­ge­zeich­ne­te Kar­rie­re ge­schafft, in­dem sie Bei­ne ge­öff­net und den Mund ge­schlos­sen hiel­ten. Das war nicht das, was Bru­der Paul sich vor­stell­te, doch In­ter­es­se war schon vor­han­den. Wä­re ei­ne her­bei­ge­zau­ber­te Frau be­rühr­bar, ver­führ­bar? Konn­te man sie küs­sen? – Ein Kon­strukt aus Luft, wie ein Dä­mon, ein Nacht­mahr?

Er lös­te sich von die­ser Spe­ku­la­ti­on. Es war zu reiz­voll; viel­leicht be­fand er sich wirk­lich schon seit lan­gem auf dem Weg zur Ver­damm­nis. Ein Phä­no­men wie die Ani­ma­tio­nen da­zu be­nut­zen, ei­ne flüch­ti­ge Lust zu be­frie­di­gen? Si­cher, Lust sel­ber war nichts Falsches; es war Got­tes Art und Wei­se, den Men­schen dar­an zu er­in­nern, daß sei­ne Spe­zi­es fort­ge­pflanzt wer­den muß­te, und es stat­te­te Frau­en mit ge­rin­ge­rer Kör­per­kraft mit ei­nem Mit­tel aus, auf an­de­re Wei­se nicht lenk­ba­re Män­ner zu zäh­men. Aber auf ein Luft­ge­bil­de ge­rich­te­te Lust konn­te kaum die­sen Zwe­cken die­nen. „He­be dich hin­weg von mir, Sa­tan“, mur­mel­te er. Aber auch das Ge­bet nütz­te nichts, denn Sa­tan war auch der Herr der Un­zucht: nicht der Typ Mann, den man gern in sei­nem Rücken ste­hen hat.

Bru­der Paul blick­te auf die Uhr. Sei­ne Zeit war ab­ge­lau­fen, er war so­gar schon zu spät dran. Warum hat­ten die Be­ob­ach­ter ihn nicht ver­stän­digt? Er muß­te in das neu­tra­le Ge­biet zu­rück­keh­ren.

Aber wo­hin muß­te er sich wen­den? Dich­te Wol­ken wir­bel­ten um ihn her; ein Sturm zog nä­her. Warum hat­te er sein Kom­men nicht be­merkt? Auch das hät­ten die Be­ob­ach­ter zum An­laß neh­men sol­len …

Plötz­lich fiel es ihm wie­der ein. Sie hat­ten ihn ja ge­ru­fen! Und er war zu be­schäf­tigt ge­we­sen, um es be­wußt auf­zu­neh­men. Der Pas­tor muß­te an­ge­nom­men ha­ben, daß das Zei­chen nicht durch­ge­drun­gen war. Aber er hät­te doch je­man­den …

Das ver­hüll­te Mäd­chen, das die Schwert-Acht dar­stell­te! War Ama­ranth her­ein­ge­kom­men, ihn zu war­nen, nach­dem der Trans­mit­ter ver­sagt hat­te, und war zu je­nem stum­men Bild­nis ge­wor­den? Es gab ei­ni­ge Hin­wei­se, daß Er­schei­nun­gen ganz ge­wöhn­li­che, nur wahr­neh­mungs­mä­ßig trans­for­mier­te Din­ge wa­ren; viel­leicht war al­so ei­ne Er­schei­nung zu­gleich ei­ne rea­le Per­son, die ei­ne Rol­le spiel­te. Aber auch das er­gab kei­nen Sinn; warum soll­te ir­gend­ei­ne Per­son ei­ne sol­che Rol­le spie­len? Nie­mand be­haup­te­te, die Er­schei­nun­gen be­rühr­ten die in­ne­ren Funk­tio­nen des Ver­stan­des; sie ver­än­der­ten le­dig­lich die Wahr­neh­mung äu­ße­rer Din­ge.

Viel­leicht war Ama­ranth her­ein­ge­kom­men, war durch die ver­schie­de­nen von ihm her­bei­ge­zau­ber­ten Ge­stal­ten ge­täuscht wor­den und hat­te sich ver­irrt. Und nun wa­ren sie und er – und wahr­schein­lich die ver­schie­de­nen ver­bor­ge­nen Be­ob­ach­ter – im Ani­ma­ti­ons­ge­biet ei­nem Sturm aus­ge­setzt, es sei denn, er ge­rie­te rasch hin­aus und bräch­te sie mit sich.

Was soll­te er tun? Er muß­te na­tür­lich ru­fen! Mit de­nen drau­ßen einen Kon­takt her­stel­len, sich ori­en­tie­ren. „Pas­tor Run­ford!“ sag­te er in den Trans­mit­ter.

Es gab Ge­räusche, doch kei­ne Ant­wort. Das über­rasch­te ihn nicht; die Reich­wei­te des klei­nen Sta­bes war nur be­grenzt, und das Ge­biet so­wie das Wet­ter ver­ur­sach­ten Stö­run­gen. Wahr­schein­lich hat­ten sich die Be­ob­ach­ter ge­zwun­gen ge­se­hen, sich vor dem Sturm zu­rück­zu­zie­hen, um nicht in dem aus­ge­dehn­ten Ge­biet ge­fan­gen zu wer­den.

Sei­ne miß­li­che La­ge war sei­ne ei­ge­ne Schuld. Er war un­vor­sich­tig ge­we­sen, wo er hät­te auf­pas­sen sol­len. Es tat ihm nun leid, daß er an­de­re hin­ein­ge­zo­gen hat­te, und er nahm an, sie hat­ten nicht heil her­aus­ge­fun­den. Was nun?

Nun, das Ta­rot­spiel hat­te ihn hier hin­ein­ge­zo­gen, zu ei­nem ge­wis­sen Ma­ße zu­min­dest. Viel­leicht konn­te es ihn auch wie­der her­aus­brin­gen. Er zog die Kar­ten her­vor und sah sie durch.

Viel­leicht ei­ne der Fün­fen …

Die ers­te Fünf, die er fand, war die Kelch-Fünf, ge­bil­det aus drei um­ge­kipp­ten und zwei auf­recht ste­hen­den Kel­chen. Sym­bo­le des Ver­lus­tes, der Ent­täu­schung und des mü­ßi­gen Be­dau­erns.

Ge­nau.

Er stu­dier­te die Kar­te und war sich nicht si­cher, was er nun tun konn­te. Und vor ihm ent­stand das Bild. Dort stand ein Mann in schwar­zem Um­hang, den Kopf in Rich­tung der um­ge­kipp­ten Ge­fäße ge­neigt, und igno­rier­te die ste­hen­ge­blie­be­nen. Im Hin­ter­grund floß ein Fluß vor­bei – der Strom des Un­be­wuß­ten, sym­bo­lisch ge­se­hen –, und auf der an­de­ren Sei­te, ver­bun­den mit ei­ner Brücke, lag ein Schloß. Konn­te dies das glei­che Schloß sein, das er beim Stab-As ge­se­hen hat­te? Wenn dies der Fall war, konn­te er es als Ori­en­tie­rungs­punkt nut­zen. Es war wahr­schein­lich bloß der Hin­ter­grund, wie ei­ne Ku­lis­se, die le­dig­lich die Ori­en­tie­rung des Bil­des dar­stell­te. Doch wenn er sich an die Sze­ne er­in­ner­te und die Rea­li­tät auf­recht­er­hielt, konn­ten sich die an­de­ren, die in die­sem Ge­biet ge­fan­gen wa­ren, dar­an ori­en­tie­ren, und dann konn­ten sie al­le ih­ren Weg hin­aus fin­den. Die Ko­lo­nis­ten wür­den die Ge­gend bes­ser ken­nen als er.

War das ver­rückt? Wahr­schein­lich ja, aber es war einen Ver­such wert. Wenn er auf das fer­ne Schloß zu­ge­hen konn­te, dann konn­ten sie es auch. Viel­leicht kann­ten sie den Aus­gang und ver­such­ten, ihn zu fin­den, um auch ihn hin­aus­zu­füh­ren, und das Schloß konn­te als Treff­punkt die­nen. Im­mer­hin konn­te er die­se Hy­po­the­se über­prü­fen.

Zu­erst wür­de er die schwarzum­hüll­te Ge­stalt un­ter­su­chen. Viel­leicht war es nur der Hie­rophant in ei­ner neu­en Rol­le. Auf der an­de­ren Sei­te konn­te es ei­ner der Be­ob­ach­ter sein, den man in die­se Rol­le ge­zwängt hat­te, wenn das mög­lich war.

Bru­der Paul tat einen Schritt nach vorn. Und plötz­lich be­fand er sich in­ner­halb des Bil­des und ging auf die Brücke zu. Die ver­hüll­te Ge­stalt hör­te ihn und be­gann sich um­zu­dre­hen. Das Ge­sicht wur­de deut­lich sicht­bar. Aber es war kein Ge­sicht, nur ei­ne glat­te Haut­flä­che, wie das Ge­sicht ei­ner un­fer­ti­gen Schau­fens­ter­grup­pe.