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Intuition
Nur gelegentliche Beschäftigung und niemals mehr während eines ganzen Lebens war das, zerfressende Krebsgeschwür’ im Leben der Königinnen und Konkubinen eines östlichen Harems. Unendliche Langeweile – wenn man der einen Quelle glaubt, und Reizbarkeit aufgrund von unendlicher Langeweile, wenn man der anderen Glauben schenkt – bewirkten, daß der Harem zur Wiege des Kartenspiels wurde.
Bei der ersten Legende heißt es, ‚die innere Kammer’ eines chinesischen Kaiserpalastes habe die Geburt der Karten gesehen. Die dort eingeschlossenen, Verschleierten’ waren zahlreich, da der Kaiser nicht nur eine Frau besaß, sondern ein regelrechtes Schlafzimmerpersonal, für dessen vor zweitausend Jahren angemessene Ausstattung folgendes galt: Kaiserin: 1; Gefährtinnen: 3; Mätressen: 9; Gespielinnen oder Konkubinen: 27 und Hilfsnymphen oder Hilfskonkubinen: 81. Auf die Zahlen 3 und 9 achteten insbesondere die Astrologen.
Die ‚Herrinnen des Bettes’ hielten eine regelmäßige Nachtwache; die 81 Zweiten Nymphen oder Zweiten Konkubinen teilten das königliche Lager zu jeweils neunt neun Nächte lang; die 27 Konkubinen 3 Nächte in Gruppen von neun, die neun Mätressen und 3 Gefährtinnen 1 Nacht pro Gruppe und die Kaiserin lediglich eine Nacht.
Diese Vorkehrungen existierten etwa von den frühen Jahren der Tschou-Dynastie (255-112 v. Chr.) bis zum Beginn der Sung-Dynastie (950-1279 A. D.J, als die alte Ordnung zusammenbrach, und zwar, einem zeitgenössischen Schreiber zufolge, aufgrund des zügellosen und heftigen Kampfes der nicht weniger als 3000 Damen im Palast. Selbst wenn man poetische Übertreibungen in Rechnung stellt, wird doch deutlich, daß die Insassen der ‚Inneren Kammer’ zur Zeit der Sung-Dynastie sogar noch weniger zu tun hatten als zuvor, und die Tage müssen so trübsinnig gewesen sein, daß – Nervenzusammenbrüche an der Tagesordnung waren. Als ein Ergebnis dessen, sagt die Legende, wurde im Jahre 1120 von einem Mitglied des chinesischen Kaiserharems das Kartenspiel erfunden, als ein Zeitvertreib, die allgegenwärtige Langeweile zu überwinden.
Roger Tilley, Die Geschichte des Kartenspiels
Am nächsten Morgen begleitete Pfarrer Siltz Bruder Paul auf einem Erkundungsrundgang. „Ich glaube, Sie sind gut zu Fuß“, bemerkte er. „Wir haben keine Maschinen und keine Lasttiere hier, und das Gelände ist schwierig.“
„Ich denke, ich werde damit fertig“, gab Bruder Paul zurück. Nach dem gestrigen Erlebnis mit den Animationen nahm er alles, was sein Gastgeber ihm sagte, recht ernst – aber es war wenig wahrscheinlich, daß die Gegend allein ihn unterkriegen würde.
Er hatte nicht gut geschlafen. Der Dachboden war recht bequem gewesen, mit einer Matratze, gefüllt mit duftenden Holzspänen, und schöner Wandtäfelung (fast hatte er erwartet, die Wurzeln des Grases vom Dach hier sehen zu können), aber immer wieder waren die Erscheinungen in seinen Gedanken aufgetaucht. Hätte er wirklich selber ein körperliches Bild formen können, sogar eine menschliche Gestalt, wenn er nicht bis zum Vorüberziehen des Sturmes getrödelt hätte? Wenn ein Mensch ein Schwert aus einem inneren oder Kartenbild zu formen vermochte – konnte er es dann auch benutzen, um damit seine Begleiter umzubringen? Sicher handelte es sich um Massenhypnose! Aber Dekan Brown hatte den Kelch belebt und nicht die vier Münzen!
Er schüttelte den Kopf. In angemessener Zeit würde er die Wahrheit schon herausfinden. Das war sein Auftrag. Zuerst die Wahrheit über die Animationen, dann diejenige über Gott. Weder Intuition noch Raterei würden ihm helfen; er mußte zu den harten Tatsachen vordringen.
In der Zwischenzeit kam es ihm in den Sinn, sich mit diesem Ort und den Menschen vertraut zu machen, denn das Geheimnis lag vielleicht hier statt in den Erscheinungen selber. Trotz seiner nächtlichen Zweifel fühlte er sich am Morgen besser, fähiger, mit allem fertig zu werden. Wenn Gott direkt für diese Manifestationen verantwortlich war, was hatte ein Mensch dann zu fürchten? Gott war gut.
Als sie aus dem Dorf aufbrachen, hielt sie ein kleiner, drahtiger Mann auf. Sein Körper war tiefgebräunt; vielleicht aber hatte er auch wie Bruder Paul verschiedene Rassen unter seinen Ahnen. Sein Gesicht war tief durchfurcht, wenn er auch nicht älter als fünfzig Jahre zu sein schien. „Ich komme wegen eines Privilegs“, sagte er.
Pfarrer Siltz blieb stehen. „Dies ist der Swami von Kundalini“, sagte er gepreßt zu Bruder Paul. Und zum anderen: „Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision.“
„Sie sind es, an den mich zu wenden ich gezwungen bin“, sagte der Swami zu Bruder Paul.
„Wir sind auf dem Weg in die Umgebung“, sagte Pfarrer Siltz mit angestrengter Höflichkeit. Offensichtlich wollte er diese Einmischung nicht, und das rief Bruder Pauls Aufmerksamkeit auf den Plan. Was für andere Strömungen gab es hier noch? „Zum Garten, zum Amaranthfeld und in die Gegend der Animationen, wo wir auf die Beobachter treffen. Wenn Sie mit uns kommen wollen …“
„Ich werde gern mitkommen“, antwortete der Swami.
„Ich freue mich über jeden, der sich mit uns unterhalten will“, sagte Bruder Paul. „Ich muß noch viel über diesen Planeten und seine Bewohner lernen.“
„Wir können nicht zwei für diesen Gang entbehren“, beharrte Pfarrer Siltz. „Der Swami hat sicherlich woanders zu tun.“
„Das stimmt, aber es muß warten“, sagte der Swami.
„Nun, nur ein paar Minuten …“ meinte Bruder Paul, dem die Spannung zwischen diesen beiden Männern nicht gefiel.
„Vielleicht ist der Swami damit zufrieden, Sie statt meiner zu führen“, sagte Pfarrer Siltz mit verzerrtem Gesicht. „Ich habe etwas Bestimmtes zu tun, wenn sich die Gelegenheit böte.“
„Bin ich unwissentlich der Grund für Zwietracht?“ fragte Bruder Paul. „Gewiß möchte ich nicht …“
„Ich würde mich freuen, den Gast führen zu können“, sagte der Swami. „Den Weg kenne ich gut.“
„Dann werde ich mich mit der gebührenden Dankbarkeit zurückziehen“, sagte der Pfarrer, wobei seine Miene jedoch keinesfalls dieses Gefühl wiedergab.
„Aber es ist doch nicht nötig“, begann Bruder Paul. Aber es war umsonst; der Pfarrer der Zweiten Kommunistischen Kirche war schon wieder auf dem Weg zurück und ging steifbeinig, aber rasch auf die Dorfmauer zu.
Als Bruder Paul ihm nachblickte, wunderte er sich: Wofür war diese Palisade gut, wenn sie Groß fuß nicht abhalten konnte? Vielleicht schwamm das Ungeheuer einfach um das eine Ende herum, wo die Holzwand im See endete; während eines Sturms konnte man den Teil wohl kaum bewachen.
„Es ist schon gut, Bruder Gast“, sagte der Swami. „Wir unterscheiden uns in unserem Glauben, aber wir verletzen nicht die Prinzipien des Baums des Lebens. Der Kommunistenpfarrer wird Gelegenheit haben, sich nach dem Aufenthalt seines streunenden Sohnes zu erkundigen, und ich werde Sie führen und Ihnen meine Einwände gegen Ihre Mission kundtun.“
Aber Bruder Paul war sich immer noch unsicher. „Ich fürchte, der Pfarrer ist beleidigt.“
„Aber nicht so sehr, wie er vorgibt“, lächelte der Swami. „Er muß sich einer ernsten Angelegenheit widmen, aber es wäre unhöflich von ihm gewesen zu erlauben, daß dadurch seine Pflichten oder seine Gastfreundschaft beeinträchtigt würden. Und ich habe eine dringende Sache mit Ihnen zu besprechen. Ich biete Ihnen für die Beleidigung, indem ich Ihnen diese Sache aufzwinge, offene Kompensation, wozu immer ich nur imstande bin. Haben Sie irgendeinen Wunsch?“
Das war nun ein wenig zu kompliziert, um direkt darauf eingehen zu können. War dieser Mann ein Freund, ein Feind oder irgend etwas dazwischen? „Ich befinde mich wirklich nicht in der Position, irgendwelche Wünsche anzumelden. Laßt uns die Gegend ansehen, und ich werde mir Ihre Befürchtungen anhören, im Vertrauen darauf, daß sie nicht den Vertrag verletzen.“
„Wir werden am Rand des Hauptgebietes der permanenten Animationen entlanggehen, und dort wird auch die Beratergruppe sein. Der Weg ist recht gefährlich, daher müssen wir vorsichtig vorgehen. Doch diese Gefahr bedeutet nichts, verglichen mit jenen Gefahren, die Ihre Mission, wie aufrichtig sie auch gemeint ist, der Menschheit bringen wird. Und das ist mein Anliegen.“
Bruder Paul hatte etwas Ähnliches vermutet. In diesem Treibhaus schismatischer Religionen mußte es einfach einen ordentlichen Weltuntergangspropheten geben, und irgend jemand mußte einfach gehörige Einwände gegenüber jedwedem Gemeinschaftsprojekt haben, selbst wenn es der Gemeinde half, sich um des Überlebens willen zu einigen. Bruder Paul hatte seine Erfahrung mit demokratischen Regierungen auf der Erde gemacht. Die irren Elemente hier hatte man bislang von ihm ferngehalten. Jetzt schien eines durchgebrochen zu sein. Aber auch ein Fanatiker konnte ihm nützliche Informationen bringen. „Ich möchte sicher, daß man mich über die Risiken informiert“, sagte Bruder Paul, „die physischen wie auch die sozialen.“
„Beides wird man Ihnen mitteilen. Zuerst werde ich Ihnen den Gebirgsgarten im Süden zeigen; zwischen den einzelnen Eruptionen bebauen wir dort die Terrassen, denn die Asche zersetzt sich rasch und ist ungeheuer fruchtbar. Unser einziger Garten ernährt während des Sommers das gesamte Dorf und erlaubt es uns noch, Gemüse für den Winter einzumachen. Das ist lebenswichtig für unser Überleben.“
Der Mann hörte sich ganz und gar nicht wie ein Verrückter an! „Aber was ist mit den Weizenfeldern, durch die ich gestern gegangen bin?“
„Das ist Amaranth, kein Weizen“, korrigierte ihn der Swami. „Amaranth ist ein besonderes Korn, das sich einem fremden Klima anpaßt. Einst hat man es für Unkraut gehalten, da unten auf der Erde, bis durch das Wiederaufleben der kleinen Familienbauernhöfe auch der Markt für zähes, handgeerntetes Korn wiederentdeckt wurde. Richtigen Weizen haben wir auf dem Planeten Tarot bislang nicht anbauen können, aber wir experimentieren mit den Varianten dieses anderen Korns und hegen große Hoffnung. Hier auf dem Südhügel ist die Lavaschicht ebenfalls sehr fruchtbar, zersetzt sich aber langsamer als die Asche und benötigt daher langsamer wachsende, ausdauerndere Gewächse. Das Klima in der Tiefebene ist bescheidener, ausgeglichener, was langfristig ein Vorteil ist.“
Bruder Paul kannte sich bei Amaranth und Vulkananbau nicht sonderlich gut aus; daher konnte er nichts entgegnen. Doch einige der Bemerkungen fand er schon fragwürdig. Die Zersetzung von Lava vollzog sich seines Wissens nach nicht innerhalb von einem oder zwei Jahren, sondern in Jahrhunderten. Das jährliche Wachstum der Pflanzen hing größtenteils von den ohnehin in der Erde vorhandenen Elementen ab und nicht von dem langsamen Auflösen des Gesteins.
Ihre Diskussion versiegte, denn der Aufstieg wurde steiler. Durch den Boden drangen glasartige Bruchstücke von Felsen, wie Obsidianspiegel, die man in das Gestein eingelassen hatte. Vulkanisch? Das mußte wohl so sein. Er hätte gern mehr darüber gewußt. Die Vulkane auf dem Planeten Tarot unterschieden sich vielleicht grundsätzlich von denen auf der Erde, wie ja auch die des unmittelbaren Nachbarplaneten Mars anders waren.
Grundsätzlich anders. Er lächelte und freute sich über das Wortspiel. Ein Vulkan war ein Ding des Grundes, des Bodens, geformt durch die tiefsten Kräfte der planetarischen Kruste. Ob nun also ähnlich oder unterschiedlich …
Er stolperte über einen Stein und verlor diese Gedankenkette. Es gab eine Art Weg, der aber nicht leicht begehbar war. Der Swami kletterte mit der Geschicklichkeit eines Affen voran und umklammerte mit den Händen kristalline Auswüchse mit der Präzision langjähriger Erfahrung. Nur unter Mühe hielt Bruder Paul mit ihm mit und imitierte die Handgriffe seines Führers. Manchmal wurde der Aufstieg fast vertikal, und zuweilen war der Pfad grob in den Fels hineingehauen. Offensichtlich hatte sich die Lava beim Abkühlen zusammengezogen, so daß die Spalten unregelmäßig verliefen. Die tanzenden Sonnenstrahlen schienen hinab in diese Abgründe, spiegelten sie wider und ließen den Berg wie eine Muschelschale der Niederwelt der Illuminationen erscheinen … Man konnte beim Blick in diese kaleidoskopischen Spiegelhallen erblinden, dachte Bruder Paul.
Oder hypnotisiert werden! War das vielleicht der Grund für die Erscheinungen?
Aber was hatte er dann in der Speisehalle während des Sturms gesehen und gefühlt? Dort gab es keine Schluchten, kein Sonnenlicht! Also eine Theorie weniger.
Sprünge und Gas. Das legte eine schauerliche Analogie nahe. Vom Bocor, dem Hexendoktor Haitis, hieß es, er würde sein Pferd rückwärts zur Hütte des Opfers reiten, ihm durch einen Spalt in der Tür die Seele aussaugen und die gasförmige Seele in einer Flasche aufbewahren. Später, wenn das Opfer starb, öffnete der Bocor das Grab, zog die Flasche hervor und reichte sie dem Toten, damit dieser einmal daran röche. Nur einmal, nicht genug, um die Seele wiederzubeleben, sondern nur einen Teil. Das erweckte den Leichnam, und er stand auf als ein Zombie, gezwungen, sich dem Willen des Hexendoktors unterzuordnen. Konnte man das gleiche mit menschlicher Aura tun, und stand dies im Zusammenhang mit den Phänomenen des Planeten Tarot?
Wilde Spekulationen; er täte besser daran, sie zu vermeiden und sich au f die objektive Tatsachensuche zu konzentrieren. Dann würde er eine fundierte Meinung bilden können. Im Moment hatte er ohnehin genug zu tun, um diesen gefährlichen Aufstieg zu überleben.
Schließlich gelangten sie auf einen schmalen Vorsprung. Der Swami führte ihn dort entlang, denn er war nur so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten. Der Ausblick war beunruhigend: sie befanden sich mehrere hundert Meter oberhalb des Dorfes, wobei die obersten dreißig Meter lotrecht abfielen. Die Palisade sah aus wie eine Mauer aus Zahnstochern. Wehe dem, der nicht schwindelfrei war!
Der Vorsprung erweiterte sich zu den Gärten. Fremdartige Büsche und Ranken breiteten sich dort üppig aus. Hier gab es keine Blasen; offensichtlich waren die Höhe, die Ungeschütztheit und der Wind zuviel für sie. „Wir bebauen diese Stelle in diesem Jahr erst seit zwanzig Tagen, seit hier oben der Schnee geschmolzen ist“, sagte der Swami mit gehörigem Stolz.
„Zwanzig Tage? Sieht aus wie nach drei Monaten!“
„Ja. Ich habe Sie gewarnt, daß hier alles unglaublich rasch wächst, und Sie können es glauben oder auch nicht. Bald beginnen wir mit der ersten Ernte der Saison. Dann gibt es bis zum Herbst keine Holzsuppe mehr.“
„Von dieser Erde könnten wir auf unserem Globus etwas gebrauchen!“
„Zweifelsohne. Und wir könnten mehr Nachschub von der Erde gebrauchen – und nicht nur als Bestechungsmittel, wenn wir ihnen Einmischung in religiöse Angelegenheiten erlauben. Vielleicht können wir die Erde gegen andere Dinge austauschen?“
Bruder Paul war sich nicht sicher, wieviel davon Humor war und wieviel Sarkasmus, daher gab er keine Antwort. Die Kosten der Materieübertragung verboten den Transport von großen Quantitäten Humusboden. Was sie wirklich brauchten war die Zusammensetzung – die chemische Analyse dieser Erde und ein paar Samen dieser kräftigen Pflanzen. Und das würde sehr schwierig sein, denn es war verboten, fremde Pflanzen zur Erde zu transportieren. Der Export war nicht begrenzt, doch Importe wurden einer strengen Quarantäne unterzogen; darin lag auch eine bestimmte Logik für jene, die sich in der Bürokratie auskannten. Selbst wenn er, Bruder Paul, ausreichende Chemiekenntnisse gehabt hätte, um die Zusammensetzung zu bestimmen, würde es ihm dennoch wahrscheinlich nicht gelingen, die Behörden auf der Erde darauf aufmerksam zu machen. Aber er würde Muster mitnehmen und es versuchen …
„Es ist eine Gegend aktiver Vulkane“, meinte Bruder Paul und unterbrach seine Gedankenkette. Es war eine Disziplin, der er sich oft unterziehen mußte. „Was geschieht, wenn vor der Ernte ein Ausbruch geschieht?“
„Das hängt von der Stärke der Eruption ab. Die meisten sind nur geringfügig, und der Wind trägt die Asche von dieser Stelle fort. Später im Jahr, wenn die vorherrschenden Winde sich drehen, wird es schon komplizierter.“
Bruder Paul blickte erneut den steilen Abhang hinab auf das Dorf. Die Landschaft lag da wie ein meisterhaftes Gemälde, und der nahe liegende See spiegelte leuchtend hell die Morgensonne. Wunderschön! Aber ihm würde es nicht gefallen, hier auf dem Vulkan ausgesetzt zu sein, wenn dessen Spitze explodierte! Offensichtlich gab es sowohl Asche als auch Lava.
Das erinnerte ihn an einen Gedanken, den die Schwierigkeit des Aufstiegs vertrieben hatte. „Gas“, sagte er. „Entströmt dem Vulkan kein Gas? Das könnte mit …“
„Es gibt Gas und Flüssigkeiten und feste Teilchen und enorme Energie entsprechend den Gesetzen des Tarot“, antwortete der Swami. „Aber keines von ihnen ist halluzinogener Natur. Man kann unser Problem nicht so einfach abtun und sagen, alles läge im Grunde des Berges.“ Er blieb neben Bruder Paul stehen und deutete nach Norden. „Da, in fünf Kilometer Entfernung liegt die Tiefebene, die wir das Nordloch nennen. Das ist die Stelle für die Erscheinungen in diesem Gebiet.“
„Vielleicht ist dort ein unterirdischer Ausgang des Vulkans“, beharrte Bruder Paul. „Da können sich sonderbare Dinge ereignen. Das Orakel von Delphi – das ist ein Ort unten auf der Erde –, da saß über dem Spalt eines …“
„Ich kenne es. Aber es ist sonderbar, daß es hier am Südhügel des Vulkans keinerlei Animationen gibt. Nein, ich meine, das Geheimnis ist komplizierter und wunderbarer.“
„Aber Sie haben etwas dagegen, daß ich dieses Geheimnis untersuche?“
Der Swami wies auf den Weg den Berg hinab. Nach Westen verlief ein weniger steiler Pfad, so daß sie vorsichtig aufrecht gehen konnten und gelegentlich auf der schwarzen Asche ausrutschten, die in unregelmäßigen Abständen wie ein Fluß den Weg kreuzte. „Verstehen Sie etwas von Prana!“
Bruder Paul kicherte. „Nein, ich habe Hatha-Yoga und Zen-Meditation probiert und die Vedas gelesen, doch das richtige Bewußtsein für Prana oder Jiva habe ich niemals entwickelt. Ich kann nur die oberflächlichen Beschreibungen abgeben. Prana ist das individuelle Lebensprinzip und Jiva die persönliche Seele.“
„Das ist schon ein Anfang“, meinte der Swami. „Sie sind besser informiert, als ich gedacht habe, und das ist ein Glücksfall. In hündischen, vedischen und tantrischen Texten gibt es das Symbol der schlafenden Schlange, die um eine menschliche Wirbelsäule geschlungen ist. Das ist Kundalini, die zusammengerollte latente Energie von Prana, die unter vielen anderen Namen bekannt ist. Die Christen nennen sie den ‚Heiligen Geist’, die Griechen ‚Äther’; in den Kampfkünsten heißt sie ki.“
Nun gelangte Bruder Paul in vertrautere Gebiete. „Ach ja. Beim Judotraining habe ich immer die Kraft ki gesucht, sie aber nie gefunden. Ohne Zweifel waren meine Motive nicht lauter; ich habe an eine Körperkraft gedacht, nicht an eine geistige.“
„Das ist die Wurzel des Scheiterns bei der großen Mehrheit der Adepten.“ Der Swami blieb stehen. „Wollen Sie vielleicht diesen Felsen zertrümmern?“ fragte er und wies auf einen aufragenden Kristall.
Bruder Paul berührte ihn mit den Fingern und spürte die Härte. „Mit einem Vorschlaghammer?“
„Nein. So. Mit ki.“ Und der Swami hob den rechten Arm und ließ die Hand hart auf den Felsen niedersausen.
Und der Stein zerbrach.
Bruder Paul starrte ihn an. „A7!“ keuchte er. „Sie haben es!“
„Ich demonstriere dies nicht, um Sie zu beeindrucken“, sagte der Swami, „sondern eher als Beweis, daß mein Anliegen ernster Natur ist. Sie haben mich zweifelnd angesehen, und das ist Ihr gutes Recht, aber Sie müssen auch die Aufrichtigkeit meiner Warnung akzeptieren.“
Wieder sah Bruder Paul auf den zersplitterten Kristall. Hatte der Stein einen Sprung gehabt? Er hatte vorher nichts bemerkt, und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte es wohl eines festeren Schlages bedurft, als den eines menschlichen Armes. Die Kraft ki war wohl die einleuchtendste Erklärung dafür. Der Mensch, der diese Kraft besaß, mußte durchaus ernstgenommen werden. Nicht nur, weil sie potentiell todbringend war; der Swami mußte auch ein rigoroses Training und Disziplin hinter sich haben sowie fundamentale Einsichten über das Wesen des Menschen und des Universums besitzen.
„Ich nehme Sie ernst“, sagte Bruder Paul.
Der Swami nahm den Weg wieder auf, als sei nichts Besonderes geschehen. „Nur wenige erweisen der Suche nach ihrer Aura den angemessenen Respekt …“
„Aura!“ rief Bruder Paul, wiederum überrascht, aus.
Der Swami warf ihm einen Blick von der Seite zu. „Erwecken diese Worte bei Ihnen irgendwelche besonderen Assoziationen?“
Bruder Paul überlegte, ob er dem Swami von seiner Vision des Wesens aus der Sphäre Antares erzählen sollte, das Bruder Paul über die Existenz seiner vermutlich starken Aura informiert hatte. Es bedurfte nur eines kurzen Nachdenkens, um diese Regung zu unterdrücken. Er wußte zu wenig über diesen Mann und diese Gesellschaft, um etwas so Persönliches zu diskutieren. Welche vernünftige Person würde an einen Geist in der Maschine glauben? Oder an einen fremdartigen Kontakt während der Zeitspanne der ‚sofortigen’ Materieübertragung? „Ich habe von der Kirlianphotographie gelesen.“
„Nein. Fotos sind nicht die Essenz. Aura durchdringt die Grobgewebe des Körpers und ist die Quelle aller lebensnotwendigen Aktivitäten, Bewegung, Wahrnehmung, Denken und Fühlen eingeschlossen. Das Erwachen dieser Kraft ist das größte Unternehmen und die wunderbarste Errungenschaft, derer der Mensch fähig ist. Dadurch wird es möglich, den Abgrund zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Technologie und Wahrheit zu überbrücken. Aber es birgt auch Gefahren. Ernsthafte Gefahren.“
Sie befanden sich nun unten in der Ebene und gingen nach Norden durch den Amaranth. Kein Wunder, daß der Weizen seltsam ausgesehen hatte! Bruder Paul wurde durch Gedanken an die junge Frau, die er am vorigen Tag dort getroffen hatte, sowie an seine anderen Abenteuer abgelenkt. „Wenn wir schon von Gefahr reden: Ist es sicher, ohne Waffen hierherzukommen? Gestern bin ich hier in der Nähe auf ein wildes Tier gestoßen.“
„Ja, die Nachricht darüber ist im ganzen Dorf herumgegangen. Der Knochenbrecher wird Sie nicht wieder angreifen, da Sie ihn besiegt haben. Sonst hätte ich Sie sicher nicht über diesen Weg geführt.“ Er hielt inne. „Aber wie ein einzelner Mensch eine so schreckliche Bestie besiegt haben kann, die niemand ohne einen Dreizack anzugreifen wagt …“
„Ich hatte Glück“, sagte Bruder Paul. Das war keine falsche Bescheidenheit, denn er hatte wirklich Glück gehabt. „Wenn ich mir der Gefahr bewußt gewesen wäre, hätte ich mich nicht in das Amaranthfeld gewagt.“
Der Swami blickte ihn an. „Was genau haben Sie denn gemacht, um den Knochenbrecher zu überwinden?“
„Ich habe einen Judogriff angewandt oder es zumindest versucht“, erklärte Bruder Paul. „Ippon seoi nage und einen Armschluß.“
„Ippon seoi nage richtet gegen ein solches Biest nichts aus; die Dynamik liegt falsch.“ Der Swami sah ihn mit einem neugierigen Funkeln in den Augen an. „Ich frage mich …“ Er zögerte. „Würden Sie mir genau zeigen, was Sie gemacht haben?“
„Oh, ich möchte Sie nicht gerne auf diesen Boden werfen“, weigerte sich Bruder Paul.
„Ich meinte den Armschluß … und sanft.“ Es bestand kein Zweifel, daß der Swami mit den Kampfkünsten gut vertraut war.
Bruder Paul zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen.“ Sie kamen zu Boden, und er wandte den Armschluß an, aber ohne Druck. „Das ist nichts Besonderes“, sagte Bruder Paul. „Bei dem Knochenbrecher war es eigentlich ein Beinschluß. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß es funktioniert, wegen der besonderen Anatomie der …“
„Kommen Sie runter“, sagte der Swami. „Machen Sie sich keine Gedanken. Mein Arm ist stark.“
Da hatte er recht. Bruder Paul spürte in der leichten Gestalt eine überraschend kräftige Muskelspannung. Dieser Mann war das Gegenstück zum Geist der Maschine; er schien fanatisch zu sein, weil er nicht richtig verstanden wurde, schenkte aber seine Loyalität nicht den herrschenden Kräften. Langsam verstärkte Bruder Paul den Druck bis zu dem Punkt, an dem der Knochenbrecher geschrien hatte.
„Weiter“, sagte der Swami.
„Das ist gefährlich.“
„Genau.“
Nun, der Schmerz würde den Mann bewußtlos machen, ehe der Ellenbogen brach, dachte Bruder Paul, als er den Druck weiter verstärkte.
„Ja!“ schrie der Swami.
Bruder Paul ließ beunruhigt los.
Der Swami lächelte, offensichtlich unverletzt.
„Genau das hatte ich vermutet. Sie haben ki angewandt.“
Bruder Paul schüttelte den Kopf. „Aber ich habe kein ki!“
„Sie haben eine starke Aura“, beharrte der Swami. „Ich war mir unsicher, bis Sie sie zentriert haben. Sie sind ein sanfter Mensch, daher rufen Sie sie niemals unwissentlich zu Hilfe, sonst wären Sie ein Ungeheuer. Ich bin niemals einer solchen Kraft begegnet.“
Bruder Paul setzte sich nachdenklich nieder. „Mir hat einmal jemand anders das gleiche gesagt, aber ich habe es für Phantasterei gehalten“, sagte er und dachte wieder an Antares.
„Nur diejenigen, die ihre eigene Aura beherrschen, können sie bei anderen wahrnehmen“, versicherte ihm der Swami. „Meine eigene Kontrolle ist nur unvollständig; daher ist mir Ihre Aura kaum deutlich geworden. Aber nun bin ich sicher, es war Ihr ki, die konzentrierte Anwendung Ihrer Aura, die den Knochenbrecher in die Flucht geschlagen hat. Sicher war es auch diese Aura, die den wahren Grund für Ihre Berufung zu dieser Mission abgegeben hat, wenn andere dies auch zu anderen Gründen rationalisiert haben mögen. Ich hatte gehofft, dies würde nicht der Fall sein.“
Bruder Paul schüttelte den Kopf. „Wenn das … die Aura mich gegen Gefahren beschützt, sicher …“
„Die Bedrohung, von der ich rede, ist viel größer als eine bloß körperliche. Sehen Sie mal …“
„Hallo!“
Beide Männer blickten überrascht auf. Es war das Mädchen aus dem Weizenfeld, die Tarotherrscherin. Amaranth-Feld, korrigierte sich Bruder Paul. Dieses Mal floh sie nicht vor ihm, und dafür war er dankbar. Nun konnte er feststellen, wer sie war.
Sie trug ein einteiliges Gewand, eine Tunika mit Gürtel, die mit Motiven der hiesigen Landschaft bestickt war. Bei jedem Kolonisten konnte man an seiner Kleidung erkennen, welcher Religion er angehörte, doch dies hier war anders. Man sah bunte Hügel und Täler und zwei Vulkane im Vordergrund: eine richtige plastische Karte. Bruder Paul versuchte, seinen Blick abzuwenden. Es waren ungewöhnlich hohe und wohlgeformte Vulkane.
„Wir sind nur auf dem Vorbeimarsch“, sagte der Swami.
„Und ringt auf dem Boden und walzt die Ernte platt und macht ein Geschrei?“ fragte sie. „Swami, ich habe dich immer schon für verrückt gehalten, aber …“
„Das ist meine Schuld“, unterbrach sie Bruder Paul. „Ich habe versucht, ihm klarzumachen, wie ich den Knochenbrecher besiegt habe.“
Bewundernd zog sie die schönen Augen zusammen. „Dann muß ich mit Ihnen sprechen“, sagte sie fest. Eigentlich war alles an ihr fest; sie war eine ungewöhnlich schöne junge Frau mit goldenem Haar und Augen, Haut und Gesichtszügen, die die Erzähler aus Tausendundeiner Nacht als ein ‚Wunder an Symmetrie’ beschrieben hätten. Vielleicht hatte Bruder Paul irgendwann in seinem Leben schon einmal eine schönere Frau gesehen, aber im Moment hatte er Schwierigkeiten, sich diese Möglichkeit überhaupt vor Augen zu führen.
„Es ist meine Aufgabe, diesen Mann herumzuführen“, sagte der Swami grob, während er aufstand und sich den Staub abklopfte. „Wir müssen bald zum Nordloch kommen.“
„Dann werde ich euch begleiten“, antwortete sie. „Es ist wichtig für mich, mit dem Gast von der Erde zu sprechen.“
„Du darfst deinen Posten nicht verlassen.“
„Mein Posten heißt Knochenbrecher. Und der ist heute nicht da“, sagte sie entschieden.
Bruder Paul schwieg. Es schien, daß der Swami ebenso abserviert würde, wie er selber den Pfarrer verdrängt hatte; es wäre auch von verführerischem Reiz, diese bildschöne Frau bei sich zu haben. Er hatte schon befürchtet, sie nicht wiederzusehen, aber hier stand sie und zwang ihm förmlich ihre Gesellschaft auf. Offensichtlich akzeptierte sie keine unterlegene Rolle; vielleicht waren Frauen den Männern hier doch gleichgestellt. Das wäre nett.
Der Swami zuckte die Achseln und unterdrückte offensichtlich seinen Ärger. „Diese Frau ist der Ersatz für den Knochenbrecher“, sagte er mit einer vorstellenden Geste. „Sie allein hat keine Angst vor dem Ungeheuer. Das merkt man schon an ihrem Auftreten.“
„Der Swami hat seine folgsame Tochter lieber“, entgegnete sie, „die nur eine geringe Vorstellung von Individualität hat.“
Schlag und Gegenhieb. „Wie heißen Sie, Knochenbrecherlady?“ fragte Bruder Paul. „Warum sind Sie vor mir geflüchtet, wenn Sie so wenig Furcht haben?“
„Ich habe Sie für eine Erscheinung gehalten“, antwortete sie. „Die einzig mögliche Handlungsweise gegenüber einer Erscheinung ist, so schnell wie möglich fortzulaufen.“
Hmm. Eine klare, freundliche Antwort, die viel von seiner vorherigen Vorstellung von ihr als einer Herrscherin entkräftete. „Und Ihr Name?“
„Nennen Sie sie wie Sie wollen“, sagte der Swami. „Bei den Groben ist Höflichkeit fehl am Platze.“
Das Mädchen lächelte nur, durch die Unfreundlichkeit des Swami in keiner Weise peinlich berührt. Wenn sie allerdings vorgehabt haben sollte, ihren Namen zu nennen, dann war dieser Plan nun verschwunden. Irgendwie mußte Bruder Paul diese kleine gesellschaftliche Krise überwinden, weil er mit beiden auskommen wollte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
„Dann werde ich Sie zu Ehren dieses wunderschönen Feldes, in dem wir uns zuerst trafen, Amaranth nennen“, beschloß Bruder Paul, denn körperliche Komplimente konnten kaum falsch sein, wenn sie sich auf Frauen bezogen.
„Oh, das gefällt mir!“ rief sie und schmolz dahin. „Amaranth! Darf ich ihn behalten?“
„Er gehört Ihnen“, sagte Bruder Paul großmütig. Er mochte ihre Spiele, und er mochte sie. „Sie haben gedacht, ich sei eine Animation des Teufels, und ich hielt Sie für die Animation der Herrscherin. Kein Zweifel, daß wir beide recht hatten.“
Sie lachte und ließ die Vulkane gefährlich zittern. „Und ich dachte, Mitglieder des Ordens der Vision hätten keinen Humor!“
„Haben einige auch nicht“, gab Bruder Paul zu. „Lassen Sie mich nun den Swami zu Ende anhören, dann bin ich frei, mich mit Ihnen zu unterhalten.“ Köstliche Vorstellung!
„Meine Warnung kann bis zu einer besseren Gelegenheit warten“, sagte der Swami säuerlich. „Sie betrifft das Nordloch.“
„Das ist ein sonderbarer Name“, bemerkte Bruder Paul in der Hoffnung, die Spannung abzubauen.
„Wir haben nur eine simple Art der Namensgebung“, sagte Amaranth. „Das ist der Südhügel, von dem ihr gekommen seid; dies ist das Westfeld; die Erscheinungssenke ist das Nordloch, und das Wasser östlich vom Dorf ist …“
„… der Ostsee“, beendete Bruder Paul den Satz für sie. „Ja, das klingt vernünftig. Was wollten Sie mich fragen?“
„Nichts“, entgegnete sie.
„Vielleicht habe ich Sie mißverstanden. Hatten Sie nicht gesagt …?“
„Nehmen Sie es niemals so wichtig, was eine Frau alles sagt“, meinte der Swami.
Sie ignorierte ihn auf elegante Weise. „Ich sagte, ich wollte mit Ihnen reden. Das tue ich jetzt.“
Bruder Paul lächelte verdutzt. „Gewiß. Aber …“
„Sie haben meinen Knochenbrecher mit bloßen Händen besiegt, ohne ihn oder sich zu verletzen. Ich muß Sie untersuchen, wie ich auch den Brecher untersuche. Das ist meine Arbeit – das Wesen meines Untersuchungsobjektes vollständig zu verstehen.“
„Ah. Sie müssen also den Typ verstehen, der das Tier schlägt, unter was für Umständen oder Zufällen auch immer“, sagte Bruder Paul. Er hatte den Eindruck gehabt, daß sie persönlich an ihm interessiert sei, aber das war nun realistischer. Was für ein wirkliches Interesse konnte ein Mädchen von ihrer Anziehungskraft an einem ruhigen Fremden schon haben? „Aber ich bin verwirrt“, fuhr er fort.
„Das ist schon in Ordnung“, sagte sie strahlend.
Der Swami ließ sich soweit herab, eine Erklärung abzugeben. „Das Überleben ist hier manchmal schwer“, sagte er. „Wir müssen fleißig arbeiten, um das Holz für den harten Winter zusammenzubringen, und alles, was dieser Herbeischaffung von Brennmaterial entgegensteht, ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Der Knochenbrecher stört uns und zwingt uns, uns in bewaffneten Gruppen zu bewegen – eine ruinös verschwenderische Verschwendung von Menschenkraft. Daher studieren wir den Knochenbrecher in der Hoffnung, ihn neutralisieren zu können.“
„Wäre es nicht einfacher, ihn zu töten?“ fragte Bruder Paul.
„Töten?“ fragte der Swami höchst verdutzt.
Nun war es an der Reihe des Mädchens, eine Erklärung abzugeben. „Viele unserer Sekten haben Einwände, natürliche Lebewesen zu töten. Es ist eine moralische Frage und ebenso eine praktische. Es ist unmöglich zu wissen, wie die Folgen einer nicht notwendigen Tötung aussehen würden. Wenn wir diesen Knochenbrecher hier töten, könnte vielleicht ein anderer an seine Stelle treten. Ein klügerer oder ein grausamerer. Wenn wir sie alle umbrächten, könnten wir eine ökologische Krise heraufbeschwören, die uns vielleicht alle tötet. Da unten auf der Erde wurde die Umwelt durch einen gedankenlosen Krieg gegen Heimsuchungen zerstört, und diesen Fehler wollen wir hier nicht begehen. Auch brauchen wir ein Lasttier, und der Knochenbrecher könnte sich gezähmt ausgezeichnet dafür eignen. Daher schützen wir uns mit den Dreizacks und versuchen, weder den Knochenbrecher noch andere Raubtiere zu töten. Wir studieren unsere Probleme, ehe wir eingreifen.“
„Genau das soll ich hier mit dem Problem der Animationen machen“, versetzte Bruder Paul.
„Daher müssen wir Sie zuerst über die Gefahren informieren“, sagte der Swami. „Der Knochenbrecher ist eine geringere Bedrohung; Animation ist eine größere.“
„Ich bin gern bereit zuzuhören“, erinnerte ihn Bruder Paul.
Der Swami schwieg; daher redete Bruder Paul Amaranth an. „Wie kommt es, daß Sie diesen gefährlichen Beobachtungsposten haben? Sie tragen nicht einmal einen Dreizack.“
„Keinen sichtbaren“, murmelte der Swami. „Sie hat genug Spitzen.“
„Er sieht in allen jungen Frauen seine ehemalige Frau“, sagte Amaranth zu Bruder Paul. „Sie hatte eine scharfe Zunge. Aber was mich angeht, so fiel das Los auf mich. Niemand hat sich freiwillig gemeldet; daher haben wir Tarotkarten gezogen, und ich hatte die niedrigste. Es war übrigens die Herrscherin, die Arkane Drei, darin hattest du recht. Sie haben mir also eine Schutzkiste gebaut wie einen Thron und haben sie entsprechend bezeichnet – wir versöhnen den Gott von Tarot, wo wir nur können –, und ich habe mich darangemacht, den Knochenbrecher zu studieren. Und das Amaranthfeld zu bewachen, da der Brecher häufig in dieser Gegend ist. Er hält natürlich die Kornfresser aus dem Feld! Ich zeichne die Temperaturunterschiede auf, die Regenmenge und so weiter und messe das Wachstum der Pflanzen. Und wenn eine MÜ-Ladung ankommt, benachrichtige ich das Dorf, wenn auch das Geräusch das in der Regel überflüssig macht. Tut mir leid, daß ich gestern den Kopf verloren habe; ich hatte vergessen, daß diesmal ein Mann dabei sein sollte.“
„Aber die Gefahr … nur ein Mädchen.“
Der Swami schnaubte. „Der Knochenbrecher muß sich in acht nehmen!“
„Ich hatte auch ein wenig Sorge“, gab sie zu und ignorierte wiederum erfolgreich den Spott. „Ich wollte meinen künstlerischen Neigungen nachgehen, Pseudo-Ikonen und Totems vom Holz des Baum des Lebens und aus Eruptivgestein schnitzen. Aber der Platz wurde von einer anderen eingenommen, und ich mußte woanders eine Stelle annehmen. Als mich das Los zu dieser gefährlichen und unpassenden Situation bestimmte, habe ich protestiert.“
„Darin ist sie sehr gut“, sagte der Swami.
„Was ein Grund dafür ist, daß ich unverheiratet blieb“, fuhr sie fort. „Ich hatte einen Antrag, doch er wies mich dann wegen meines Mangels an Gemeinschaftsgeist zurück. Natürlich mußte er nicht dem Knochenbrecher gegenübertreten! Schließlich habe ich mich damit abgefunden, weil man auf diesem Planeten entweder mitarbeitet oder nichts zu essen hat; das ist eine der Tatsachen, auf die sich unsere unterschiedlichen Kulturen geeinigt haben.“
„Eine exzellente Politik“, meinte der Swami.
„Aber wissen Sie“, fuhr sie, ohne auch nur einen giftigen Blick auf ihn zu werfen, fort, „ich habe entdeckt, daß es eine ganze Menge mehr über den Amaranth zu erfahren gab, als ich dachte, was übrigens auch auf den Knochenbrecher zutrifft. Jede Pflanze ist ein Individuum und geht nach ihrer eigenen Weise vor bis zur Ernte, braucht spezielle Zuwendung. Manchmal bringe ich heimlich ein wenig Vulkanasche zu einer kranken Pflanze, wenn ich das eigentlich auch nicht darf. Unter den Pflanzen gibt es noch andere Wesen, Insekten und sogar Schlangen, die durch den niedrigen Gras-Baldachin geschützt werden. Das gibt mir ein richtiges Heimatgefühl.“
„Die meisten Mädchen auf der Erde mögen keine Schlangen, so nützlich diese Reptile auch sein mögen“, meinte Bruder Paul.
„Die meisten Mädchen auf der Erde verehren auch nicht Abraxas, den schlangenfüßigen Gott“, erwiderte sie. „Die Furcht vor Schlangen ist übrigens relativ jung, historisch gesehen. In der Bibel galt die Schlange als Symbol der Weisheit, die …“
„Vorsichtig“, erinnerte sie der Swami. „Denk an den Vertrag.“
„Tut mir leid“, sagte sie. „Wir dürfen uns nicht über unseren jeweiligen Glauben verbreiten, im Interesse Ihrer Objektivität. Das ist ärgerlich. Jedenfalls habe ich hier im Gebirge unübertreffliche Kunstwerke gefunden in den Sonnenuntergängen und Stürmen dieses unverdorbenen Planeten. Haben Sie schon einmal gesehen, wie der Wind die Tarotblasen vor sich hertreibt? Ich glaube, in diesem Teil der Galaxis haben wir die schönsten Stürme! Ich habe diese Schönheit in die Weberei zu übertragen versucht, die ich in der Freizeit betreibe.“
„Weben tun Sie auch?“ fragte Bruder Paul.
„Oh ja. Wir alle weben mit den Fasern vom Baum des Lebens, denn wir brauchen Kleider und Decken gegen die Kälte. Sie haben noch keinen richtigen Winter erlebt, bis Sie hier einen überstanden haben. Aber selbst im Sommer muß ich längere Zeit allein hier sitzen, und Weben und Sticken helfen mir dabei. Dieses Kleid habe ich selber entworfen und hergestellt“, sagte sie stolz und holte so tief Luft, daß sie die beiden Vulkane fast zum Ausbruch brachte. „Es ist eine genau Umrißkarte der Region, gesehen von meiner Station aus.“ Sie zuckte die Achseln und verursachte ein weiteres Erdbeben um die Berge herum. „Natürlich müßte es auch im richtigen Winkel dargestellt sein. Genau genommen müßte ich mit den Füßen nach Norden liegen …“
„Schamlos!“ zischte der Swami.
„Oh, komm schon, Swami“, sagte sie. „Verbindet Kundalini nicht ebenso Prana mit der Sexualkraft, wie es mein Gott Abraxas auch tut? Es ist doch nicht schamlos, wenn man die Frau mit der Natur in Verbindung bringt.“
„Ich wußte nicht, daß es zwei Vulkane sind“, sagte Bruder Paul in dem Bestreben, diese Debatte am besten abzubrechen. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß die Religion eine so große Rolle im täglichen Leben der Menschen spielen konnte, aber ihm erwuchsen auch Zweifel. Bei jeder persönlichen Zusammenkunft hier auf dem Planeten Tarot wurden die Feindseligkeiten der religiösen Unduldsamkeit kaum verschleiert.
„Oh ja“, sagte sie. „Es ist ein Vulkan mit zwei Gipfeln. Normalerweise brechen sie zugleich aus. Vom Dorf aus gesehen verdeckt der eine den anderen, und manchmal verschleiert der Morgendunst beide, aber von hier aus …“ Sie wandte sich um und schritt rasch zurück, um nicht ihren Weg zum Nordloch zu behindern. „Ja, jetzt kann man beide sehen. Linker Südberg und Rechter Südberg.“ Sie deutete auf die entsprechenden Stellen auf der Karte und hinterließ einen momentanen Eindruck in den weichen Hügeln.
Bruder Paul mühte seinen Blick von den Eindrücken fort und sah zurück. Deutlich waren nun die zwei Kegel zu sehen, und sie ähnelten denen der Umrißkarte: Voll und rund und nicht sehr kegelförmig. „Wo ist der Gebirgsgarten?“ fragte er.
„Hier in der Schlucht“, sagte sie und deutete auf eine Stelle auf der Karte zwischen den Kegeln. „Der Weg vom Dorf aus führt über den Osthang. Hier.“ Sie fuhr mit dem Finger an der rechten Seite entlang. „Er ist steil, aber der kürzeste.“ Das war er sicher! „Jetzt sind wir ungefähr hier …“ Sie deutete auf die Nabelregion. „In Richtung auf …“
„Genug!“ schrie der Swami.
„… das Nordloch zu“, endete sie. „Die Grube der Leidenschaft.“
„Du bist eine verfluchte Schlampe!“ rief der Swami. Sein Gesicht war rot angelaufen. Die Kontrolle, die er über seine intellektuellen und körperlichen Kräfte auszuüben in der Lage war, erstreckte sich nicht auf seine Gefühle. Das war ein zutiefst zerrissener Mensch mit erkennbaren ungelösten Konflikten.
„Ich leide an nichts, was ein guter Mann nicht heilen kann“, meinte Amaranth fröhlich. Nun, der Swami hatte den Streit begonnen; sie beendete ihn nun.
„Sie haben noch nichts über den Knochenbrecher erzählt“, erinnerte sie Bruder Paul.
„Ach ja. Als ich den Brecher studierte, merkte ich bald, daß dies das interessanteste Phänomen überhaupt war. Zuerst hatte ich vor ihm Angst und habe meinen Thron wie eine Festung verbarrikadiert, doch nach einer Weile habe ich mich daran gewöhnt. Allmählich habe ich seinen Respekt gewonnen, habe ihn gezähmt, und nun würde er mich nicht mehr angreifen, weil er mich kennt. Er kennt mich. Ich stelle mir den Knochenbrecher als einen Mann vor.“
„Natürlich“, murmelte der Swami.
„Wir sind Freunde, auf unsere Weise“, fuhr sie fort. „Ich bin dem Erfolg näher als andere glauben. Der Knochenbrecher kommt auf mein Pfeifen hin, und ich kann ihn berühren. Ich denke, er würde sogar für mich kämpfen, wenn ich bedroht würde. Vielleicht ist er deshalb hinter Ihnen hergejagt, weil er dachte, Sie setzten mir nach.“
„Das tat ich auch“, meinte Bruder Paul.
„Ich möchte bestimmt nicht, daß er getötet wird. Ich glaube, in einiger Zeit werde ich seine Kräfte für unsere Zwecke einsetzen können. Es ist ein ungeheures Projekt, und ich bin mittlerweile froh, daß das Los auf mich fiel. Schade, daß Sie den Knochenbrecher vertrieben haben.“
„Ich wußte es nicht …“
„Oh, Ihnen kommt keine Schuld zu! Sie mußten sich verteidigen und haben das getan, ohne den Brecher zu verletzen. In ein paar Tagen wird er zurückkehren. Übrigens könnten Sie mir zeigen, wie Sie es angestellt haben.“
„Ich habe die Prinzipien des Judo angewendet“, begann Bruder Paul, bemerkte aber den warnenden Blick von dem Swami. Vielleicht war es besser, so etwas wie Aura oder ki noch nicht zu erwähnen. „Sieroku zenyo, maximale Kraft.“
Sie unterbrach ihn. „Tun Sie mal so, als sei ich der Knochenbrecher und würde Sie angreifen. Wie reagieren Sie?“
Déjà vu. „Es bedeutet körperlichen Kontakt, wenn ich das zeige, und ich habe es bereits mit dem Swami durchexerziert. Ich bin nicht sicher …“
„Dieser Vamp will Sie verführen“, sagte der Swami.
Bruder Paul war sich ganz und gar nicht sicher, ob dies nur eine leere Warnung war. Eine kecke Frau, die frei über Schlangen und Sexualität sprach und ihre Brüste so offensichtlich darstellte … „Vielleicht ein anderes Mal“, sagte er. „Ich habe den Eindruck, daß Sie Ihre Aufgabe hier nicht als einen Fehler betrachten.“ Das hatte sie bereits gesagt, war aber einen Moment lang um eine passende Antwort verlegen.
„Es war eine Offenbarung“, sagte sie ehrlich und nahm wieder ihre kecke Haltung ein. Sie paßte sich verschiedenen Umständen leicht an, ob diese nun körperlicher Natur oder eine Frage der Konversation waren. Eine aufregende Frau! „Das Los hat meine Berufslaufbahn besser ausgesucht, als ich das gekonnt hätte. Ich glaube, es war der Wille Abraxas’.“
„Ein heidnischer Dämon“, murmelte der Swami.
„Sehen Sie sich diesen impertinenten Yogi an“, sagte sie. „Andere aus Indien stammende Religionen sind extrem tolerant, doch er …“
„Vielleicht hat der Gott von Tarot das Los bestimmt“, sagte Paul. „Was für ein Gott er auch immer sein mag.“ Dann meinte er noch, ehe die Feindseligkeit wieder aufflackern konnte: „Ich sehe dort Leute. Swami, es ist wohl an der Zeit, mich über die Gefahren zu informieren, ehe wir unterbrochen werden.“
Zu seiner Überraschung gab der Swami nach. „Die Gefahr besteht darin: Der Effekt der Belebung ist eine Manifestation der fundamentalen Kraft von Kundalini – eine spirituelle Kraft. Ohne angemessenes Verständnis oder Kontrolle herbeigerufen, ist es das gleiche, wie den Satan herbeizuzaubern, als gäbe man einem Kind spaltbares Material als Spielzeug.“
„Ach puh!“ rief Amaranth. „Seit Tausenden von Jahren kennt man derartige Zauberei, praktiziert sie und verehrt sie. Die einzige Frage ist doch, wessen Gott ist dafür verantwortlich? Du hast einfach Angst davor, es könnte sich herausstellen, daß es deiner nicht ist.“
„Das stimmt“, entgegnete der Swami. „Ich verehre keinen Gott; ich suche nur nach dem letztendlichen Wissen. Diese Erscheinungen sind keine Gotteskraft, sondern eine Manifestation von unkontrolliertem Kundalini. Im Verlauf der menschlichen Geschichte war umherstreunender Kundalini der Grund für böse Genies wie Attila und Adolf Hitler. Wenn Sie, Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision, ihn nun herbeirufen – und ich fürchte, Sie besitzen in der Tat die Fähigkeit dazu, nämlich die Fähigkeit, den Geist aus der Flasche zu entlassen und nicht nur einzelne Fragmente, die wir bislang gesehen haben –, dann geben Sie einer Machtkonzentration Gestalt, die uns alle zerstören wird, die gesamte Kolonie des Planeten Tarot.“
„Eine Phantasiebestie!“ spottete Amaranth.
Aber Bruder Paul war nicht so skeptisch. Der Swami hatte ihm einige Gründe für seine Sorge genannt, und sie hatten ihn beeindruckt. Was konnte die Kraft ki anstellen, wenn er begann, Amok zu laufen? Wenn es wirklich mit den Erscheinungen zu tun hatte … „Ich habe einige Animationen gesehen, sogar einige berührt“, sagte er. „Hier gibt es etwas, was über unser gegenwärtiges Verständnis hinausgeht. Ich weiß, daß andere bei der Erforschung dieses Geheimnisses gestorben sind. Aber ich bin dennoch hier, es zu ergründen, wenn ich es kann. Ich denke, der beste Weg besteht darin, daß ich die Animationen nicht meide, sondern sie mit extremer Vorsicht und so vielen Sicherheitsmaßnahmen wie möglich untersuche. Wissen ist die beste Waffe, besonders gegen das Unbekannte.“
„Ich habe diese Antwort erwartet und respektiere sie“, sagte der Swami. „Mein Anliegen ist lediglich, daß Sie die mögliche Kraft der Bedrohung erkennen und akzeptieren. Mehr kann ich nicht tun. Und angesichts des Vertrages würde ich es auch nicht.“
Bruder Paul hatte eine weniger zurückhaltende Antwort erwartet. Der Swami reagierte ohne vorherige Warnung zwischen frecher Intoleranz und absoluter Vernunft. „Ich glaube, es gibt während meiner Untersuchungen bestimmte Beobachter. Vielleicht sollten Sie zu ihnen gehören, um mich, falls notwendig, zu warnen.“
„Ich bin bereits vertreten“, sagte der Swami. „Aber die Beobachter sind nichts gegenüber der Größe dieser Kraft.“
Sie waren zu zwei wartenden Gestalten getreten. „Bruder Paul“, sagte der eine. Er war ein alter Mann mit weißem Haar, aber ungebeugt. „Ich bin Pastor Runford von den Zeugen Jehovas. Das ist Mrs. Eilend von den christlichen Szientisten.“
„Freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte Bruder Paul. Zu der Frau gewandt fügte er hinzu: „Sind Sie Angehörige der Christian Science?“
Die Frau nickte. Sie wirkte noch älter als der Pastor, aber auch rüstiger, wie es zu ihrer Berufung paßte. Christliche Szientisten verweigerten im allgemeinen medizinische Versorgung, weil sie glaubten, jede Krankheit sei illusionär.
„Man hat uns beide dazu bestimmt, Ihre Experimente zu beobachten, aber dabei neutral zu bleiben“, sagte Pastor Runford. „Hier ist der Rand des Nordlochs, wo die häufigsten Erscheinungen vorkommen.“
„Wenn ich mir eine Frage erlauben darf“, sagte Bruder Paul, „mir scheint, daß diese Effekte sich, abgesehen von den gelegentlichen Stürmen, auf bestimmte Gebiete konzentrieren. Wäre es nicht einfacher, diese Gebiete abzugrenzen und sich von dort fernzuhalten?“
„Das würden wir schon tun, wenn es ginge“, entgegnete Pastor Runford. „Meine Dame, wenn ich Ihre Karte benutzen darf …“
Amaranth trat lächelnd auf ihn zu. Der Pastor benutzte einen entrindeten Zweig, um auf die verschiedenen Punkte ihrer Karte zu deuten. „Der einzige Weg zum Großen Wald im Norden, einige Meilen von hier entfernt, führt am Nordberg vorbei. Hier.“ Er deutete auf den rechten Schenkel, der auch entsprechend nach vorn geschoben wurde. „Und er muß nahe am Nordloch vorbei. Hier.“ Er machte eine vorsichtige Geste auf die offensichtliche Stelle zu, die als breite, flache Tiefebene gekennzeichnet war. „Manchmal breiten sich die Erscheinungen über den Weg hinweg aus und stören uns beim Schleppen. Wenn wir nicht genügend Holz für den Winter herabbringen …“
„Das verstehe ich“, warf Bruder Paul ein. Neben dem Bedürfnis der Kolonisten, sich um einen einzigen Gott zu vereinigen, gab es also einen praktischen, geographischen Grund, diese Erscheinungen zu eliminieren.
„Wir möchten auf keinen Fall in Ihre Untersuchungen oder Anschauungen eingreifen“, sagte Mrs. Eilend. Ihre Stimme klang sonderbar sanft, doch wohltönend: Sie besaß die ruhige Autorität einer Großmuttergestalt. „Aber diese Sache ist für uns sehr wichtig. Daher wollen wir mit Ihnen zusammenarbeiten und Ihnen auf unaufdringliche Weise die Arbeit erleichtern. Während wir uns als Gemeinschaft nicht in Übereinstimmung befinden, hat uns doch das allgemeine Bedürfnis dazu getrieben, diesen Kompromiß einzugehen.“ Sie blickte den Swami an. „Stimmst du nicht mit uns überein, Kundalini?“
Der Swami zog eine Grimasse, nickte aber bestätigend.
Pastor Runfords Blick wanderte über die verhangene Senke nach Norden. „Wir hatten Ihr Vorgehen vorausgesehen und Beobachter sowohl innerhalb als auch außerhalb der Animationsregion postiert. Mrs. Eilend und ich befinden uns außerhalb; drei Ihnen unbekannte Kolonisten innerhalb. Alle sind sich des Vertrages bewußt und informiert, Sie nach eigenem Gutdünken vorgehen zu lassen, außer wenn Sie sich in akuter Gefahr befinden oder auf andere Weise Hilfe brauchen. Wir möchten Sie bitten, sich nahe dem Rande aufzuhalten, wo die Wirkungen nicht so stark sind, und sich sogleich zurückzuziehen, falls ein Sturm aufzieht. Da wir uns außerhalb befinden, können wir ein solches Wetter früher feststellen und Ihnen ein Signal geben oder einen Kurier schicken. Sind Sie damit einverstanden?“
Bruder Paul dachte darüber nach. „Wenn ich es richtig verstehe, dann verwischt die Linie zwischen Realität und Vorstellung innerhalb dieses Animationsgebietes. So kann ich eventuell einen Sturm sehen, wo keiner ist, oder einen richtigen übersehen. Ich muß zu meinem Erstaunen angesichts der Manifestationen, die Dekan Brown gestern abend herbeirief, zugeben, daß meine Objektivität offensichtlich kein ausreichender Wall gegenüber diesen Dingen ist. Daher danke ich Ihnen für Ihre Bemühungen. Ich halte sie für wohlbegründet, und die Warnung des Swami werde ich rechtzeitig berücksichtigen. Heute werde ich mich am Rande aufhalten und sogleich auf Ihre Signale und Boten reagieren.“
„Wir schätzen Ihre Haltung sehr“, sagte Mrs. Eilend mit einem Lächeln, das ihn wärmte. Was für eine angenehme Dame! „Wenn Sie Ihre anfänglichen Untersuchungen auf eine Stunde beschränken würden, würde dies eine weitere Sicherheitsmaßnahme bedeuten.“
„Eine Stunde.“ Bruder Paul stellte seinen Zeitmesser entsprechend ein. „Ich würde noch eine Maßnahme ergreifen. Da wir es hier ja mit objektiver Realität zu tun haben, hat man mich mit elektronischen Geräten ausgestattet, damit ich mit Personen außerhalb des Animationsgebietes kommunizieren kann. Ich schlage vor, den Transmitter bei Ihnen zu lassen, damit wir in Kontakt bleiben.“ Er zog einen Stab aus der Tasche. „Er wird durch Druck aktiviert; drücken Sie einfach zwischen Daumen und Zeigefinger, um zu senden, und geben Sie nach, wenn Sie empfangen wollen.“
„Ich kenne diesen Typus“, sagte Pastor Runford und nahm das Gerät entgegen. „Auf der Erde haben wir es benutzt, um unsere Fischzüge zu organisieren.“
Fischzüge? Ach ja, die Zeugen Jehovas waren die hartnäckigsten Bekehrer, die ihre Botschaft und entsprechende Literatur in jeden Haushalt trugen. Sie glaubten, das Ende der Welt sei nahe, und der Einsatz der Materieübertragung hatte diesen Glauben verstärkt. Bruder Paul hatte keine Lust, dies zu diskutieren. „Man hat mich auch gewarnt, die Aktivierung der Großen Arkanen zu versuchen, aber mit den Tarotsymbolen wie Stab, Schwert und Kelch kann ich nicht viel mehr anfangen, als ich bislang schon gesehen habe. Ich würde gerne komplexere Bilder animieren, die durch existierende Regeln umschrieben sind. Mir scheint, die Bildersymbolik der Kleineren Arkanen im sogenannten Waite-Spiel …“
„Sie sind ein kluger Mann“, sagte Mrs. Eilend. „Bitte nehmen Sie zu diesem Zweck meine Karten. Es ist das Standard-Rider-Waite-Tarotspiel.“ Sie hielt es ihm entgegen.
„Danke.“ Bruder Paul nahm die Karten, wandte sich nach Norden und begann loszugehen. Die vier Kolonisten blieben stehen und beobachteten ihn stumm.
Eigentlich fühlte er sich ein wenig schuldig, weil er sie nicht über die Bedeutung des Armbandes informiert hatte. Aber es schien ihm immer noch am besten, den stummen Aufzeichner arbeiten zu lassen und ihn ansonsten zu ignorieren. Er würde den letztendlichen Beweis liefern, wenn er wieder auf der Erde war, ob seine Ergebnisse der Wahrheit entsprachen. Hier auf dem Planeten Tarot konnte er ihn nicht abspielen lassen; daher war es auch eigentlich unwichtig.
Er fragte sich, wo die anderen drei Beobachter waren – diejenigen innerhalb des Gebietes. Versteckten sie sich? Er hätte wirklich nichts dagegen, sie bei sich zu haben; ein objektives Experiment sollte ohne Rücksicht auf die Teilnehmer Gültigkeit besitzen, und die Erscheinungen schienen nicht publikumsscheu zu sein. Vielleicht warteten sie dort unter dem Baum in dreißig Metern Entfernung …
Es war ein wunderbarer Baum, vielleicht fünfundsiebzig Meter hoch und somit größer als die meisten auf der Erde verbliebenen. Die Blätter bildeten einen so dichten Schirm, daß der Schatten dunkel wie die Nacht war. Unter dem nächtlichen Schutzdach ballten sich die hübschen Tarotblasen, die hier außergewöhnlich groß waren. Einige hatten einen Durchmesser von zehn Zentimetern. Den äußeren Rand des oberen Baumteils bedeckte ein Schaum aus Blüten, und ihr Duft wehte süß zu ihm herab. War das vielleicht die Quelle der Erscheinungen, dieser Duft? Nein, etwas so Offensichtliches wäre gewiß schon vor langer Zeit von den Kolonisten entdeckt worden. Blumen blühten nur zu bestimmten Jahreszeiten; daher würde sich nur im Frühjahr etwas abspielen, und nach allem, was er gehört hatte, fanden zu allen Jahreszeiten und an allen Orten Animationen statt, wenn auch am häufigsten im Nordloch und während eines Sturms. Wenn die Erscheinungen darüber hinaus vom Baum des Lebens verursacht würden (angenommen, dieses Exemplar gehört zu dieser Spezies) und mit Holz zusammenhingen, würden sie am stärksten innerhalb der Häuser auftreten. Da es dort jedoch am schwächsten war und sich auch nicht entwickelte, wenn im Winter Holz verbrannt wurde, war es unwahrscheinlich, daß der Baum die Ursache bildete.
An dem Baum waren keine Beobachter. Bruder Paul blieb stehen, körperlich und geistig, und dachte nach. „Dies scheint dennoch ein guter Ausgangspunkt für mich zu sein“, murmelte er. Wenn dies ein einzelner Baum des Lebens war, der hier stehen bleiben durfte, weil er sich innerhalb des Animationsgebietes befand, paßte dies gut zu seinem Experiment. Wenn es einen ganzen Wald dieser Giganten im Norden gab, wie wunderbar würde er wohl aussehen! Vielleicht würde er ihn irgendwann aufsuchen. Er hoffte darauf.
Bruder Paul nahm das Kartenspiel hervor und mischte es mit flinken Fingern. Er ließ die Großen Arkanen außer acht und hielt beim Stab-As inne. Bei dieser Variante war ein Bild zu sehen, nicht nur das einfache Symbol. Aus diesem Grunde hatte er die Waite-Version auch ausgesucht. „Nun, warum nicht?“ fragte er sich.
Er hielt die Karte vor sich hin und konzentrierte sich. Würde es ihm ganz allein gelingen? Er war sich nicht sicher, ob er schon weit genug ins Gebiet vorgedrungen war; daher würde ein Scheitern nicht notwendigerweise bedeuten …
Er blickte auf. Und rang nach Atem. Da war es: ein kleines Kumuluswölkchen, grau und flockig hing es am Himmel, und die Ausläufer erstreckten sich etwa einen Kilometer über dem Boden in vertikaler Richtung. Als er zusah, schob sich zur Linken eine weiße Hand heraus, die aufglühte, und diese geisterhafte Hand umklammerte eine Holzkeule mit kleinen grünen Blättern daran. Das gesamte Bild war von erhabener Größe, aber irgendwie verschwommen und schlecht proportioniert, offensichtlich jedoch seiner Karte nachgebildet. Es war nicht einfach eine Vision am Himmel; einige Kilometer dahinter befanden sich ein Hügel auf dem anderen Ufer eines kleinen Flusses sowie eine Art Schloß auf dem Hügel, und Bruder Paul war sich sicher, weder Fluß noch Hügel noch Schloß je zuvor gesehen zu haben, als er begann, sich auf die Karte zu konzentrieren. Das bedeutete, die gesamte Landschaft war entsprechend der Karte umgeformt worden. Dieser Erfolg ging weit über seine Erwartungen hinaus; er hatte ein Scheitern erwartet, höchstens aber eine Miniaturszene.
Beim Betrachten verschwamm die Szene und wurde blasser. Das Schloß war nicht mehr deutlich zu sehen, und die Wolke – war nur noch eine Wolke. Er konnte sich nicht mehr sicher sein, was er zu sehen geglaubt hatte.
Bruder Paul hielt sich nicht damit auf, über die Bedeutung nachzudenken. Statt dessen suchte er vier Zweier aus, legte die anderen Karten beiseite und mischte die vier, bis sie unsortiert beieinander lagen. Dann hob er die oberste ab: Schwert-Zwei. Das Bild zeigte eine junge Frau in weißem Kleid und mit verbundenen Augen, die vor einem inselübersäten See hockte. In den Händen hielt sie zwei lange Schwerter. Die Arme waren vor der Brust gekreuzt, so daß die Schwertspitzen die Form eines V bildeten. Er hatte die Karte verkehrt herum, das unterste zuoberst, aufgedeckt.
Ehe er versuchte, sie zu beleben, ging er weitere fünfzig Schritte nach Norden, in der Hoffnung, die Wirkung würde dort stärker und dauerhafter werden. Er wollte nicht noch einmal ein schwankendes, verzerrtes Bild, das seine Sicherheit erschütterte. Er konzentrierte sich auf die Karte, so wie sie war, und blickte auf.
Da saß auch die Dame mit den verbundenen Augen, und jedes Detail stimmte. Da waren der See, die Inseln und der Halbmond zwischen dem Schwerter-V. Und die gesamte Szene war umgedreht wie die Karte. Der See befand sich oben, der Mond unten; es war, als würde sie durch die Schwerter gehalten.
Eine Umkehrung konnte beim Tarot große Bedeutung haben. Bei der Weissagung – das war der höfliche Ausdruck für die Wahrsagerei – bedeutete es, die Botschaft der Karte war entweder in der Wirkung abgeschwächt oder verändert. Bruder Paul wußte, daß nach dem Autor dieser Karten, Arthur Waite, die umgedrehte Schwert-Zwei ein Omen für Schwindel, Falschheit oder Illoyalität bedeutete. Ein schlechtes Zeichen?
Nein, hier handelte es sich nicht um Weissagerei! Es war lediglich ein Experiment, der Test einer bestimmten Wirkung. Außerdem glaubte er nicht an Vorzeichen. Für seine Zwecke hatte die Umkehrung keine Bedeutung, weil so etwas natürlich nicht geschehen würde. Er hatte es herbeigerufen! Nach der Verifikation ließ er das Bild wieder schwinden.
Bruder Paul sortierte und mischte die vier Dreien und deckte eine auf. Kelch, umgedreht. Er konzentrierte sich, und da erschienen die drei Mädchen tanzend in einem Garten mit hocherhobenen Kelchen, die sie einander anboten. Umgedreht.
Wenn er an Weissagung glaubte, geriete er nun in gehörige Zweifel. Die Kelch-Drei deutete den glücklichen Ausgang einer Sache an; umgedreht würde sie bedeuten …
Stirnrunzelnd legte er die Karte fort und sah, wie die Vision verschwand. Er nahm die Vieren. Beim Mischen ging er noch weiter nach Norden. Der Animationseffekt schien trotz der Umkehrungen stärker zu werden; dies konnte an dem kräftiger werdenden Feld liegen oder an dem, was den Effekt hervorrief – was immer es sein mochte. Vielleicht auch an seiner zunehmenden Erfahrung. Dieses Mal würde er es wirklich auf die Probe stellen, indem er etwas Berührbares herbeizaubern würde.
Er drehte die Pentagramm-Vier um. Das war Waites Name für die Scheiben oder Münzen. Doch auch diese Karte lag verkehrt herum. Und das Bild formte sich vor seinen Augen, ohne daß er es recht wollte. Umgekehrt. Es war ein junger Mann mit einer Goldscheibe auf dem Kopf, und auf der Scheibe war ein fünfzackiger Stern eingeritzt; eine weitere derartige Scheibe hielt er vor sich, und zwei weitere lagen unter seinen Füßen. Über seinen Füßen in dieser Position.
„Verdammt!“ fluchte Bruder Paul in höchst unheiliger Weise. Er war der Umkehrungen überdrüssig, ebenso ihrer theoretischen Warnungen vor Problemen, an die er nicht glaubte. Er ging weiter und machte eine Armbewegung, als wolle er die Vision beiseite fegen. Fast sicher, daß er auf nichts stoßen würde, fixierte sein Blick die schöne Stadt in der Ferne, die wie in einem Spiegelbild ebenfalls auf dem Kopf stand.
Die Hand schlug gegen die vorderste Scheibe. Sie flog weit fort und erinnerte ihn kurz an Tennysons Lady of Shalott, deren Spindel weit geflogen war und den Spiegel zersprungen hatte. Lebte er, ebenso wie die Lady, in der Phantasie? Die Scheibe tanzte und polterte über den Boden. Der Mann fiel herab, und seine Füße berührten ebenfalls den Boden. Er sah überrascht aus. Er öffnete den Mund, als wolle er schreien – und verschwand.
Zitternd blickte Bruder Paul auf die Stelle, an der die Münz-Vier gewesen war. Die Erscheinung war greifbar gewesen! Genau wie gestern die Symbole im Speisesaal. Es gab keinen Zweifel mehr: Der Glaube an ein Bild ließ es real werden. Glaube war der Schlüssel.
Bruder Paul steckte die Karten ein. Es war klar, daß er das auf den Karten Erblickte zum Leben erwecken konnte, und diese Konstrukte schienen ihn nicht körperlich zu bedrohen. Aber gab es wirklich eine darüber hinausgehende Bedeutung? Wenn dies einfach ein Kunstwerk war – dreidimensionale Bilder reproduzieren, aus Bildern Skulpturen produzieren –, dann war gewiß kein besonderer Gott im Spiel.
„Bruder Paul“, murmelte eine leise Stimme.
Wenn es kein Gott war – zumindest keiner, der die Animationen direkt kontrollierte –, dann war seine Aufgabe eine einfache. Er konnte das Problem für gelöst erklären und heimgehen. Aber sicher hätten sich die Kolonisten nicht vor den Animationen allein so gefürchtet, wenn es nur eine Kunstform wäre, jedenfalls nicht mehr, als sie sich vor den Vulkanen oder Tarotblasen fürchteten. Und was war der genaue Grund für diese Erscheinungen? Sein Wille kontrollierte ein bestimmtes Bild, aber irgend etwas anderes mußte es hier möglich machen, während es anderswo unmöglich blieb.
„Bruder Paul“, wiederholte die leise Stimme. „Kannst du mich erkennen?“
Er wußte, er mußte sehr vorsichtig vorgehen. Er glaubte an Gott, und das war der mächtigste und überzeugendste Glaube, die Erkenntnis dessen, was sein Leben vor acht Jahren verändert hatte. Aber er hatte niemals so getan, als könne er diesen Gott allzu genau definieren. Es war wichtig, daß seine Gedanken objektiv blieben und er nicht irgendeine Gottheit nach seinem eigenem Bilde schuf. Das war Pfarrer Siltz’ Sorge gewesen, und sie war berechtigt. Bei dieser Mission wie auch im Leben hieß sein Gott Wahrheit: die genaueste, objektivste und erklärbarste Wahrheit, die er überhaupt wahrnehmen konnte.
Wenn sich Gott selbst durch das Medium der Animation manifestieren sollte, würde Er sich gewiß auf Seine Weise zu erkennen geben. Unzweifelhaft aber auf Seine Weise, wie ihm bereits jemand nahegelegt hatte. Bruder Paul mußte sich lediglich bereit halten für diese transzendente Enthüllung, jene oberste Eingebung.
„Herr“, murmelte er, „laß mich auf der Suche nach Dir nicht selbst zum Narren werden.“ Aber er mußte sich schon vorwerfen: Das war ein selbstsüchtiges Gebet. Wenn es notwendig sein sollte, zum Narren zu werden, um Gott zu entdecken, dann wäre es das schon wert. War dies übrigens nicht der Charakter des Narren beim Tarot?
Seine Stunde lief ab. Wenn er über den gestrigen Punkt hinausgehen wollte, mußte er bald anfangen. Er zog die Karten wieder hervor und mischte sie, wobei er auf eine Inspiration wartete. Die Kleinen Arkanen reichten nicht aus. Sollte er eine Bildkarte beleben? Vielleicht einen König oder eine Königin?
Eine Gestalt erschien. Weiblich. Kam auf ihn zu. Aber er hatte keine weitere Animation versucht! Es sei denn …
Das war es. Er war die Folge der Schwerter durchgegangen, und da war die Acht: Eine gebeugte und verhüllte Frau in einem Wald starrender Schwerter. Das bedeutete eine schlechte Nachricht, eine Krise, Zwischenfälle. Er hatte sie unbewußt herbeigerufen. Jetzt mußte er aufpassen; er befand sich nun tief in der Animationsregion und erwarb durch die Praxis eine solche Fähigkeit, daß jede Karte, auf die er auch nur einen Blick warf, zum Leben erweckt werden konnte, sogar ohne seinen bewußten Willen.
Nun, Zeit für eine Große Arkane: Er wollte sehen, ob er das Tarotspiel selbst auf seine Fragen antworten lassen konnte. Wiederum zog Bruder Paul die Karten hervor, sortierte die Großen Arkanen heraus und wählte den Hohepriester. Das war die Arkane Fünf seines Spiels. Der große Lehrer und Religionsvater, in anderen Karten als Hierophant oder Papst bekannt, Gegenstück zur Hohepriesterin. Es hing alles von der Religion und dem Ziel der Person ab, der die jeweilige Variante entwickelt hatte. Der Titel der Karte spielte ohnehin keine Rolle; einige Spiele kannten gar keine Titel. Die Bilder trugen die Symbole. Sicher würde diese würdige Gestalt in der Arkane Fünf die Bedeutung der Animationen wissen, wenn es überhaupt eine gab.
Bruder Paul konzentrierte sich, und die Gestalt materialisierte sich. Sie saß auf einem Thron, beide Hände erhoben, die rechte Handfläche nach oben gehalten, zwei Finger zum Segen gestreckt. Die linke Hand hielt ein Zepter, auf dem ein dreifaches Kreuz stand. Der Mann trug eine weite rote Robe und einen goldenen Kopfputz. Vor ihm knieten zwei Mönche mit Tonsur; hinter ihm erhoben sich zwei verzierte Säulen.
Bruder Paul merkte, daß er zitterte. Er hatte die Leitfigur der römisch-katholischen Kirche herbeigezaubert, was für einen Namen ihm ein protestantisches Kartenspiel auch immer zuerkannt hatte. Hatte er das Recht dazu?
Ja, fand er. Das war nicht der richtige Papst, sondern ein Repräsentant von einer Karte. Wahrscheinlich ein hirnloses Ding, eine bloße Statue. Aber diese Seelenlosigkeit mußte er herausfinden, damit Bruder Paul sichergehen konnte, daß sich hinter den Erscheinungen keine Intelligenz verbarg.
„Eminenz“, murmelte er und beugte den Kopf mit dem gleichen Respekt, den er Würdenträgern anderer Glaubensrichtungen erwies. Man brauchte nicht die Philosophie einer Person zu teilen, um deren Eintreten dafür zu respektieren. „Darf ich um eine Audienz bitten?“
Der Kopf der Figur neigte sich. Der linke Arm senkte sich. Der Blick fiel auf Bruder Paul. Die Lippen bewegten sich. „Du darfst“, sagte der Hohepriester.
Er hatte gesprochen!
Nun, dieses Aufzeichner-Armband würde später nachweisen, ob dies nun zutraf oder nicht. Die Stimmenanalyse würde zeigen, daß Bruder Paul mit sich selber sprach. Das spielte keine Rolle; es war sein Auftrag, diese Beobachtungen zu unternehmen und alle Erscheinungen herbeizurufen, die er herbeirufen konnte, damit die Aufzeichnungen vollständig würden. Er konnte es sich nicht leisten, zurückhaltend zu sein, weil er vielleicht persönlich nicht mochte, was sich manifestierte. Es tat ihm bereits leid, den Hierophanten belebt zu haben; nun mußte er mit der Erscheinung sprechen, und das schien ihn intellektuell gesehen zu kompromittieren, indem er ein Wesen legitimierte, das er eigentlich für illegitim hielt. Nun, weiter.
„Ich bin auf der Suche nach Informationen“, sagte er kläglich.
Der heilige Kopf neigte sich. „Frage, und sie werden dir gegeben.“
Bruder Paul dachte daran, ob er fragen solle, ob Gott hinter der Erscheinung stehe, und wenn dies der Fall sei, wie es um seine wahre Natur bestellt sei. Aber da dachte er an ein Ereignis seiner Studienzeit, als ein Freund ein dreijähriges Kind eines anderen Studenten mit der Frage geneckt hatte: „Kleines Mädchen, was ist das Wesen der letztendlichen Realität?“ Das Kind hatte prompt geantwortet: „Lollipops.“ Tagelang war diese Antwort Campusgespräch gewesen; die allgemeine Meinung hielt dafür, daß diese Antwort korrekt gewesen sei. Doch Bruder Paul suchte nicht nach einer solchen Antwort. Zuerst mußte er die Art der Gestalt selber ergründen. Daher stellte er eine herausfordernde, aber nicht wirklich kritische Frage, eine Testfrage: „Was ist der Sinn der Religion?“
„Der Sinn der Religion liegt darin, die Seelen der Menschen zu befrieden und sie gesellschaftlich und politisch folgsam zu machen“, antwortete der Hierophant.
Das überraschte Bruder Paul. Es spiegelte mit Sicherheit nicht seine eigene Meinung über Religion wider! Bedeutete das, daß die Gestalt einen eigenen Verstand besaß? „Aber was ist mit dem Fortschritt des menschlichen Geistes?“ fragte er. „Was geschieht mit ihm, wenn er diese Welt verläßt?“
„Geist? Andere Welt? Aberglaube, der von den politischen Mächten gepflegt wird“, antwortete der Hierophant. „Niemand bei Verstand würde sich mit der Korruptheit und Grausamkeit derjenigen abfinden, die an der Macht sind, wenn er glauben würde, dies sei die einzige Welt. Daher versprechen sie ihm für später ein mythisches Leben, wo die Nachteile dieses Lebens kompensiert werden. Nur ein Narr würde das glauben, was aber zeigt, wie viele Narren es gibt. Barnum hatte nicht recht: Es wird nicht jede Minute ein Narr geboren. Jede Sekunde stimmt eher.“
„Herr, habe Gnade mit einem Narren“, murmelte Bruder Paul.
„Ich hatte lediglich gedacht, Religion sei mehr als nur dies“, erklärte Bruder Paul. „Ein Mensch braucht einigen Trost angesichts des unvermeidlichen Todes des Körpers.“
„Ohne Tod gäbe es keine Religion“, versicherte der Hohepriester und wedelte nachdrücklich mit dem Zepter. Es schlug fast auf dem kahlen Schädel eines Mönches auf. Der Hierophant runzelte verärgert die Stirn, und beide Mönche verschwanden. „Die Religion begann mit den Naturgeistern – dem Waldbrand, Fluten, Donner, Erdbeben und so weiter. Primitive Stämme versuchten sich in der Magie, um die Dämonen der Umwelt zu befrieden, und vollzogen für die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde Blutopfer, in der Hoffnung, diese wilden Kräfte zu wohltätigerem Verhalten umstimmen zu können. Lies das Buch vom Tarot, und du findest diesen Spuk immer noch umherwandern in Gestalt der vier Farben. Formelle Religionen sind lediglich eine Verstärkung dieser Vorstellungen.“
Bruder Pauls Erstaunen machte Zorn Platz. „Das ist eine idiotische Beurteilung der Religion“, sagte er. „Ihr könnt doch nicht etwa …“
„Man hat dich einer Gehirnwäsche unterzogen mit intellektuellem Nonsens, um dich konform zu machen“, sagte der Papst mit väterlichem Bedauern. „Man hat deine gesamte Existenz in religiöse Progaganda gebettet. In dein Gedächtnis ist das Bild Cäsars eingegraben und dazu die Botschaft: ‚Wir vertrauen auf Gott’. Dein Bestreben nach Einigkeit unter deiner Totemflagge besagt: ‚Eine unteilbare Nation unter Gott’. Warum sagst du nicht ‚Im Vertrauen auf Satan’, denn der Satan ist viel konstanter als Gott. Oder ‚Eine Nation, die einem albernen, okkulten Spuk aufsitzt, der unsichtbar bleibt außer im Machthunger …’“
„Stop!“ rief Bruder Paul. „Dieses Sakrileg kann ich nicht anhören!“
Wissend nickte der Hohepriester. „Du gibst also zu, das Opfer einer weltweiten religiösen Konspiration zu sein. Deine Objektivität existiert gerade so lange, wie die Wahrheit nicht in Konflikt mit den Dogmen deines Kults gerät.“
Bruder Paul war wütend, aber nicht so wütend, daß er nicht den wahren Kern in diesen Blasphemien erkennen konnte. Diese Kartengestalt lockte ihn, stieß ihn herum, zwang ihn, so zu reagieren, wie sie es wollte. Die Erscheinung war unter Kontrolle, er selber aber nicht. Er mußte seine Objektivität wieder erlangen und eher beobachten als bekehren, andernfalls stand seine Mission unter einem schlechten Stern.
Bruder Paul beruhigte sich mit großer Willensanstrengung, die aber geringer wurde, als er merkte, was geschah. „Ich bitte um Entschuldigung, Hierophant“, sagte er, augenscheinlich ruhig. „Vielleicht hat man mich falsch informiert. Ich möchte Euch anhören.“ Immerhin hatte jeder das Recht der Meinungsfreiheit, selbst wenn man nur ein Papphirn hatte.
Die Gestalt lächelte. „Ausgezeichnet. Frage alles, was du willst.“
Das war schwieriger als vorher. Anstelle einer Frage beschloß Bruder Paul eine Meinung abzugeben. Vielleicht konnte er die Initiative ergreifen und statt seiner die Erscheinung reagieren lassen; das wäre bestimmt produktiver. Offensichtlich saß irgendein Geist hinter der Fassade; die Frage war nur, was für ein Geist?
„Ihr sagt, ich kann nur die Wahrheit aushalten, die nicht in Konflikt mit den Dogmen meiner persönlichen Religion gerät“, begann er vorsichtig. „Ich bin sicher, das trifft zu. Aber meine Religion erachte ich als Wahrheit, und ich tue mein Bestes, in jeder Situation die Wahrheit zu erkennen. Ich unterstütze die Meinungsfreiheit einer jeden Person, auch derer, die mit mir nicht einer Meinung sind, und ich achte das Recht eines jeden Menschen auf Leben, Freiheit und Glück. Das ist ein Teil dessen, was ich meine, wenn ich die Fahne meines Landes grüße und in alltäglichen Dingen den Namen Gottes anrufe.“
„Nur wenige Nationen unterstützen dies“, antwortete der Hierophant. „Sicher nicht die monolithischen Kirchen. Ein Häretiker hat weder das Recht auf Leben noch auf Freiheit, und niemand hat einen Glücksanspruch.“
„Aber Glück ist das natürliche Ziel der Menschen“, wandte Bruder Paul ein, innerlich aufgeregt. Nun hatte er die Gestalt am Wickel. Für ihn war das Glück nur ein Teil der natürlichen Ziele des Menschen. Er selber befand sich nicht in selbstsüchtiger Suche nach dem Glück. Das hatte er vielleicht einmal getan, aber er war reifer geworden. Das hoffte er zumindest.
„Die Errettung seiner unsterblichen Seele ist der richtige Lebenssinn für den Menschen“, sagte der Hierophant fest. „Glück hat damit nichts zu tun.“
„Aber Ihr habt behauptet, die unsterbliche Seele des Menschen sei ein Aberglaube, eine bloße Erfindung, die die politischen Mächte …“
„Genau“, sagte die Gestalt lächelnd.
„Aber dann ist alles umsonst. Alle Taten des Menschen, sein Leid, seine Freude.“
„Du bist ein guter Schüler.“
Bruder Paul schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären. Dieses Ding würde ihn nicht einfangen! „Die Bestimmung des Menschen ist also …“
„Der Mensch soll der Freude entsagen zugunsten ewiger Demütigung.“
„Aber alle Grundinstinkte des Menschen sind an Vergnügen gebunden. Die Befriedigung, wenn der Hunger verschwindet, die Tröstung der Ruhe nach schwerer Arbeit, die ungeheure Freude der geschlechtlichen Vereinigung …“
„Das sind Versuchungen durch den Satan! Der einzig mögliche Weg ist der asketische. Der Weg des geringsten Vergnügens. Ein Mann sollte sich von Wasser und Brot ernähren, auf einer harten Pritsche schlafen und mit dem niederen Geschlecht nur insoweit Kontakt halten, als es der Aufrechterhaltung der Spezies dient.“
„Ach, kommt!“ protestierte Bruder Paul lachend. „Man hat den Sexualtrieb als bifunktionalen Trieb erkannt. Er sorgt nicht allein für die Reproduktion, sondern vergrößert auch das Vergnügen an einer fortgesetzten interpersonellen Partnerschaft, die die Grundlage für eine Familie bildet.“
„Aber absolut nicht!“ beharrte der Hierophant. „Die Lust der Unzucht ist das Machwerk des Satans, und die Empfängnis eines Kindes Gottes Strafe für diese Sünde, eine lebenslängliche Strafe.“
„Strafe?“ rief Bruder Paul ungläubig aus. „Wenn ich ein Kind hätte, würde ich es immer liebhaben.“ Aber er fragte sich, ob dies reine Rhetorik war. Er hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern.
Der Hierophant runzelte die Stirn. „Du befindest dich auf dem direkten Weg in die ewige Verdammnis.“
„Aber Ihr habt gesagt, es gäbe kein Leben nach dem Tode! Wie kann es dann ewige Verdammnis geben?“
„Reue! Quäle dich selber, unterwirf dich der liebevollen Gnade des Herrn in der Hoffnung, daß Er dich nicht allzulange foltert. Vielleicht wird deine Seele nach einer passenden, furchtbaren Strafe von ihrer entsetzlichen, abgrundtiefen Schuld gereinigt.“
Bruder Paul schüttelte den Kopf. „Ich versuche ernsthaft, offen und objektiv zu sein, aber ich merke, ganz ernst kann ich Euch nicht nehmen. Also verschwendet Ihr meine Zeit. Fort!“ Er wandte sich um in der Überzeugung, die Erscheinung würde sich auflösen. Vielleicht hatte er bei diesem Zusammentreffen verloren, weil er es abbrach, doch er bereute es auch nicht.
Diese Animationen waren faszinierend. Es gab ein ungeheures Potential für einen physikalischen, intellektuellen und geistigen Gott, wenn man ihn nur richtig begriff. Das war ihm bislang nicht gelungen. Die Hierophant-Erscheinung hatte lediglich Pseudo-Philosophie von sich gegeben, so platt, wie es einer Kartengestalt gebührte. Wenn er eine schöne Frau herbeigerufen hätte – wäre sie wohl ebenso schlimm gewesen?
Eine schöne Frau. Das reizte ihn auf einer anderen Ebene. Manche Männer hielten Intellekt bei einer Frau für überflüssig, und in der Tat hatten einige ungewöhnlich dumme Frauen eine ausgezeichnete Karriere geschafft, indem sie Beine geöffnet und den Mund geschlossen hielten. Das war nicht das, was Bruder Paul sich vorstellte, doch Interesse war schon vorhanden. Wäre eine herbeigezauberte Frau berührbar, verführbar? Konnte man sie küssen? – Ein Konstrukt aus Luft, wie ein Dämon, ein Nachtmahr?
Er löste sich von dieser Spekulation. Es war zu reizvoll; vielleicht befand er sich wirklich schon seit langem auf dem Weg zur Verdammnis. Ein Phänomen wie die Animationen dazu benutzen, eine flüchtige Lust zu befriedigen? Sicher, Lust selber war nichts Falsches; es war Gottes Art und Weise, den Menschen daran zu erinnern, daß seine Spezies fortgepflanzt werden mußte, und es stattete Frauen mit geringerer Körperkraft mit einem Mittel aus, auf andere Weise nicht lenkbare Männer zu zähmen. Aber auf ein Luftgebilde gerichtete Lust konnte kaum diesen Zwecken dienen. „Hebe dich hinweg von mir, Satan“, murmelte er. Aber auch das Gebet nützte nichts, denn Satan war auch der Herr der Unzucht: nicht der Typ Mann, den man gern in seinem Rücken stehen hat.
Bruder Paul blickte auf die Uhr. Seine Zeit war abgelaufen, er war sogar schon zu spät dran. Warum hatten die Beobachter ihn nicht verständigt? Er mußte in das neutrale Gebiet zurückkehren.
Aber wohin mußte er sich wenden? Dichte Wolken wirbelten um ihn her; ein Sturm zog näher. Warum hatte er sein Kommen nicht bemerkt? Auch das hätten die Beobachter zum Anlaß nehmen sollen …
Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Sie hatten ihn ja gerufen! Und er war zu beschäftigt gewesen, um es bewußt aufzunehmen. Der Pastor mußte angenommen haben, daß das Zeichen nicht durchgedrungen war. Aber er hätte doch jemanden …
Das verhüllte Mädchen, das die Schwert-Acht darstellte! War Amaranth hereingekommen, ihn zu warnen, nachdem der Transmitter versagt hatte, und war zu jenem stummen Bildnis geworden? Es gab einige Hinweise, daß Erscheinungen ganz gewöhnliche, nur wahrnehmungsmäßig transformierte Dinge waren; vielleicht war also eine Erscheinung zugleich eine reale Person, die eine Rolle spielte. Aber auch das ergab keinen Sinn; warum sollte irgendeine Person eine solche Rolle spielen? Niemand behauptete, die Erscheinungen berührten die inneren Funktionen des Verstandes; sie veränderten lediglich die Wahrnehmung äußerer Dinge.
Vielleicht war Amaranth hereingekommen, war durch die verschiedenen von ihm herbeigezauberten Gestalten getäuscht worden und hatte sich verirrt. Und nun waren sie und er – und wahrscheinlich die verschiedenen verborgenen Beobachter – im Animationsgebiet einem Sturm ausgesetzt, es sei denn, er geriete rasch hinaus und brächte sie mit sich.
Was sollte er tun? Er mußte natürlich rufen! Mit denen draußen einen Kontakt herstellen, sich orientieren. „Pastor Runford!“ sagte er in den Transmitter.
Es gab Geräusche, doch keine Antwort. Das überraschte ihn nicht; die Reichweite des kleinen Stabes war nur begrenzt, und das Gebiet sowie das Wetter verursachten Störungen. Wahrscheinlich hatten sich die Beobachter gezwungen gesehen, sich vor dem Sturm zurückzuziehen, um nicht in dem ausgedehnten Gebiet gefangen zu werden.
Seine mißliche Lage war seine eigene Schuld. Er war unvorsichtig gewesen, wo er hätte aufpassen sollen. Es tat ihm nun leid, daß er andere hineingezogen hatte, und er nahm an, sie hatten nicht heil herausgefunden. Was nun?
Nun, das Tarotspiel hatte ihn hier hineingezogen, zu einem gewissen Maße zumindest. Vielleicht konnte es ihn auch wieder herausbringen. Er zog die Karten hervor und sah sie durch.
Vielleicht eine der Fünfen …
Die erste Fünf, die er fand, war die Kelch-Fünf, gebildet aus drei umgekippten und zwei aufrecht stehenden Kelchen. Symbole des Verlustes, der Enttäuschung und des müßigen Bedauerns.
Genau.
Er studierte die Karte und war sich nicht sicher, was er nun tun konnte. Und vor ihm entstand das Bild. Dort stand ein Mann in schwarzem Umhang, den Kopf in Richtung der umgekippten Gefäße geneigt, und ignorierte die stehengebliebenen. Im Hintergrund floß ein Fluß vorbei – der Strom des Unbewußten, symbolisch gesehen –, und auf der anderen Seite, verbunden mit einer Brücke, lag ein Schloß. Konnte dies das gleiche Schloß sein, das er beim Stab-As gesehen hatte? Wenn dies der Fall war, konnte er es als Orientierungspunkt nutzen. Es war wahrscheinlich bloß der Hintergrund, wie eine Kulisse, die lediglich die Orientierung des Bildes darstellte. Doch wenn er sich an die Szene erinnerte und die Realität aufrechterhielt, konnten sich die anderen, die in diesem Gebiet gefangen waren, daran orientieren, und dann konnten sie alle ihren Weg hinaus finden. Die Kolonisten würden die Gegend besser kennen als er.
War das verrückt? Wahrscheinlich ja, aber es war einen Versuch wert. Wenn er auf das ferne Schloß zugehen konnte, dann konnten sie es auch. Vielleicht kannten sie den Ausgang und versuchten, ihn zu finden, um auch ihn hinauszuführen, und das Schloß konnte als Treffpunkt dienen. Immerhin konnte er diese Hypothese überprüfen.
Zuerst würde er die schwarzumhüllte Gestalt untersuchen. Vielleicht war es nur der Hierophant in einer neuen Rolle. Auf der anderen Seite konnte es einer der Beobachter sein, den man in diese Rolle gezwängt hatte, wenn das möglich war.
Bruder Paul tat einen Schritt nach vorn. Und plötzlich befand er sich innerhalb des Bildes und ging auf die Brücke zu. Die verhüllte Gestalt hörte ihn und begann sich umzudrehen. Das Gesicht wurde deutlich sichtbar. Aber es war kein Gesicht, nur eine glatte Hautfläche, wie das Gesicht einer unfertigen Schaufenstergruppe.