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Macht
Es kam, eh die Jahre entstanden,
Zur Erschaffung der Menschen heran:
Die Zeit mit den Thränen zu Händen,
Der Gram mit dem Glase, das rann,
Die Lust mit der Hefe der Qual,
Der Sommer, der Blumen gestreut,
Erinnrung, vom Himmel ein Strahl
Und Wahn, den die Hölle uns beut;
Und es ward die Lust und das Wehe,
Und Abscheu und Liebe zugleich,
Das Leben nachher wie ehe,
Und Tod in jedem Bereich,
Seine Sprache ist Feuer, das sprüht,
Die Lippe folgt seinem Gebot,
Sein Herz ist von Wünschen durchglüht,
Und voraus sieht sein Auge den Tod.
Er webt, und ihn kleidet nur Hohn,
Er sät und erntet nur Kummer,
Sein Leben ist eine Vision,
Ein Wachen von Schlummer zu Schlummer.
Charles Algernon Swinburne,
Atalante in Calydon{1}
Die Hütte von Pfarrer Siltz war ebenso wie die anderen, unterschieden lediglich durch das Symbol von Hammer und Sichel über der groben Balkentür. Sie war klein, aber gemütlich und gut aufgeräumt. Wände und Decke waren mit groben Planken getäfelt, deren Maserung dennoch erstaunlich aussah: das Holz des örtlichen Baums des Lebens. Eine Holzleiter führte an der hinteren Wand in die Dachkammer. Es gab keine Fenster, nur Luftschlitze, um Regen oder Wasser abzuhalten. In der Mitte des Raumes stand, alles andere beherrschend, der Ofen.
„Oh, ein luftabgeschlossener Seitenzugofen“, bemerkte Bruder Paul anerkennend. „Mit Kochplatte und Backofen. Ein sehr kompaktes und leistungsfähiges Gerät.“
„Sie verstehen etwas von Öfen?“ fragte Pfarrer Siltz, plötzlich viel freundlicher.
„Ich habe eine Hand für Geräte“, antwortete Bruder Paul. „Nicht daß ich mich für einen Experten halte, aber in unserer Ordensstation heizen wir mit Holz, und es war meine Aufgabe, das Brennmaterial aus dem Wald zu holen. Ich bewundere gute Geräte, wenn ich es auch für eine Schande halte, zu vergeuden, was Gott hat wachsen lassen.“ Aber hier verbrannten die Leute das Holz des Baumes, den sie verehrten. Oh, er wurde neugierig auf die Zusammenhänge hier!
Dann kam eine Frau herbei. Sie war mittleren Alters und von angenehmem Äußeren. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, weil der Ofen seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte – was man als Zeichen für seinen gegenwärtigen verwirrten Zustand nehmen konnte. Ihr Haar war dunkelbraun und so geflochten, daß es der Rinde eines Baumes ähnelte. Nun fiel Bruder Paul wieder ein, daß er bei einigen anderen Frauen, die draußen arbeiteten, ähnliche Haartrachten gesehen hatte. Sonderbar, aber nicht unansehnlich. Noch eine Ehrerbietung gegenüber dem Lebensbaum.
„Meine Frau“, sagte Pfarrer Siltz, und sie nickte. Bruder Paul hatte noch nichts beobachten können, was auf diesem Planeten auf eine Gleichstellung der Frau mit dem Mann hindeutete, doch er hütete sich, zu diesem frühen Zeitpunkt Annahmen aufzustellen. „Mein Sohn ist bei der Arbeit; wir werden ihn heute Abend sehen.“ Noch eine sonderbare Betonung; entweder hatte der Pfarrer eine ganze Reihe sonderbarer Eigenschaften, oder Bruder Paul maß den unbedeutenden Nuancen in seiner Miene zuviel Bedeutung bei.
„Ihr Haus ist nach irdischen Maßstäben klein“, sagte Bruder Paul vorsichtig. „Ich fürchte, meine Gegenwart wird sie in Bedrängnis bringen.“
Der Pfarrer klappte eine Bank von der Wand ab. „Wir kommen schon zurecht. Ich bedaure, keine besseren Möglichkeiten zu haben. Aber wir sind eine Frontkolonie.“
„Ich wollte nicht Ihre Möglichkeiten hier kritisieren“, sagte Bruder Paul rasch. „Ich bin nicht wegen der Bequemlichkeit hergekommen, und dies hier würde ich kaum als Mangel bezeichnen. Sie haben ein bewundernswert massiv gebautes Haus.“
Die Frau stieg auf die Leiter und verschwand auf dem Boden. „Für sie ist jetzt Schlafenszeit“, erklärte Siltz. „Sie muß bei Nacht helfen, den Wald zu bewachen; daher muß sie sich nun darauf vorbereiten. Das ist der Grund, warum wir Platz genug für Sie haben.“
„Den Wald bewachen?“ fragte Bruder Paul verdutzt.
Pfarrer Siltz zog einige lange, schmale Streifen Holz hervor und begann sie zu etwas wie einer Decke zu flechten. „Bruder Paul, Holz ist bei uns von allergrößter Bedeutung. Dieses Haus ist daraus erbaut und damit isoliert; wir stellen Möbel daraus her, Waffen, heizen damit. Auf unsere Weise verehren wir so Gott, weil unser Bedarf daran so dringlich ist. Wir bekommen es aus einem entfernt gelegenen Wald und schlagen es mit unseren eigenen Händen unter Bewachung gegen die Raubtiere des Gebirges. Wir wagen es wegen der Animationen nicht, unser Dorf in der Nähe des Waldes zu errichten; zu dieser Jahreszeit suchen sie diese Gegend heim, während sie hier nur selten auftauchen. Die anderen Dörfer auf diesem Planeten befinden sich in ähnlicher Lage, damit sie fern von der Bedrohung sind. Wir treiben nur wenig Handel mit den anderen Siedlungen. Im Winter fällt der Schnee bis zu einer Höhe von acht Metern.“
„Acht Meter!“ wiederholte Bruder Paul ungläubig.
„Und isoliert uns von der minus fünfzig Grad kalten Erdoberfläche. Diejenigen, die ihren Vorrat an Brennholz vor dem Wintereinbruch verfeuern, müssen ihre Möbel und Stützbalken verbrennen oder sterben, und wenn sie soviel verbrennen, daß der Schnee ihr Haus zum Einsturz bringt, müssen sie ebenfalls sterben.“
„Kann man nicht Tunnel durch den Schnee graben, um in das nächste Haus zu gelangen und mit den Nachbarn zu teilen?“
„Wenn die Nachbarn zufällig den gleichen Glauben haben.“ Der Mann runzelte die Stirn. Bruder Paul vermutete eine weitere Komplikation dieser Gesellschaft. Familien mit verschiedener Religion würden ihre Vorräte nicht teilen, selbst wenn es darum ging, Leben zu retten? „Jene, die mehr nehmen als das ihnen zugewiesene Holz, bringen das Leben anderer in Gefahr. Auf diesem Planeten gibt es keine Todesstrafe – außer für Holzdiebstahl. Der Baum des Lebens darf nicht beleidigt werden!“ Das Gesicht des Pfarrers war rot angelaufen; er fing sich jedoch wieder und mäßigte seinen Ton. „Wir befinden uns hier in einer schwierigen Situation; es ist eine gute Welt, aber auch eine rauhe. Wir sind nicht eins im Glauben und können einander kaum vertrauen, geschweige denn, die lächerlichen religiösen Gebräuche des jeweils anderen begreifen. Das ist der Grund, warum Ihre Mission so wichtig ist. Sie sollen entscheiden, welcher Gott der wahre Gott von Tarot ist.“
Bruder Paul begann, diese Verbindung zwischen Gott und Holz zu akzeptieren. Ohne Holz würden diese Menschen nicht überleben, und das wußten sie auch. Aber das reichte nicht als Begründung für ihren offensichtlichen Fetischismus aus. Auf der Erde brauchten die Menschen zum Überleben Wasser, und frisches Wasser war selten, und dennoch wurde es nicht verehrt. „Das ist meine Mission, so anmaßend es auch klingen mag. Ich vermute, Sie schätzen sie nicht sehr.“
Beunruhigt blickte Siltz von seiner Weberei auf. „Habe ich das gesagt?“
„Nein, das ist nur mein Eindruck. Sie brauchen sich nicht mit mir darüber zu unterhalten, wenn Sie nicht wollen.“
„Ich würde mich sehr gern darüber unterhalten“, entgegnete Siltz. „Aber der Vertrag verbietet es. Wenn Ihnen meine Haltung dies vermittelt, dann bin ich kein anständiger Gastgeber und muß mich um ein anderes Quartier für Sie kümmern.“
Was sicherlich nicht sonderlich diplomatisch wäre! „Wahrscheinlich lasse ich mich von falschen Schlüssen leiten. Dafür muß ich mich entschuldigen“, sagte Bruder Paul.
„Nein, Sie sind ein intelligenter und sensibler Mensch. Ich werde versuchen, diese Frage anzugehen, ohne den Vertrag zu verletzen.
Ich habe in der Tat etwas gegen Ihre Gegenwart hier, aber das hat in keiner Weise etwas mit Ihrer Person oder Integrität zu tun. Ich glaube lediglich, es ist eine Frage, die nicht auf diese Weise beantwortet werden kann. Sie werden gewiß einen Gott entdecken, der Ihren persönlichen Vorstellungen entspricht, aber dessen Übereinstimmung mit dem wirklichen Gott zufällig sein kann. Ich hielte die Angelegenheit lieber ungeklärt, um nicht einen Irrtum als Ergebnis zu erhalten. Aber ich zähle da zur Minderheit. Man hat Sie herbeigerufen, und das Los, in seiner Weisheit, hat Sie in mein Haus geführt, wo ich Ihnen die Mission auf genau die Weise erleichtern werde, als ob ich sie unterstützte. Das verlangt mein Gott von mir.“
„Ich glaube, unsere Vorstellungen von Gott können nicht allzu weit auseinander liegen“, meinte Bruder Paul. „Ich finde Ihre Haltung völlig lobenswert. Aber lassen Sie mich einen Aspekt verdeutlichen: Die Erde hat mich hergeschickt, nicht die Kolonie Tarot. Wir auf der Erde sind daran interessiert, ob der Gott von Tarot echt oder der Phantasie von irgend jemandem entspringt. Auch wir auf der Erde passen darauf auf, daß nicht eine Person, die sich einer Sache verschrieben hat, dadurch blind gegenüber der Wahrheit wird, wie immer sie auch aussieht. Ich bezweifle, ob ich dieser Mission wert bin, doch ich habe fest vor, meine persönlichen Meinungen so weit wie möglich herauszuhalten, um jene Wahrheit zu sichern, wenn sie mir auch nicht gefällt. Ich finde nicht, daß ihr Kolonisten irgendeinen Teil meines Berichts akzeptieren müßt oder euer Leben dadurch beeinflussen lassen solltet. Ich bin in der Tat unsicher bezüglich Ihrer Hinweise auf die verschiedenen Götter. Gewiß gibt es nur einen einzigen Gott.“
Pfarrer Siltz lächelte traurig. „Indem Sie mich so beruhigen, bringen Sie mich an die Grenze meiner Kompromißbereitschaft. Ich muß Sie mit den Einzelheiten der religiösen Gebräuche hier vertraut machen und Sie bitten, großzügig gegenüber dem Mangel an Objektivität zu verfahren, wenn Sie einen solchen bemerken. Wir sind eine Kolonie der Schismata, von Splittersekten. Viele von uns waren sich über den wahren Charakter von Tarot im klaren, bevor wir von der Erde hierher wanderten, und ein jeder von uns sah darin die potentielle Realisierung von Gott – unserer jeweiligen, besonderen Vorstellung von Gott, wenn man so will. Das scheint jedenfalls auf die schwächsten Sekten den stärksten Reiz ausgeübt zu haben, zumindest auf die zahlenmäßig kleinsten. Daher wohnen hier nur wenige Katholiken, Mohammedaner, Buddhisten oder Konfuzianer, hingegen viele Rosenkreuzler, Spiritualisten, Moon-Leute, Gnostiker, die vom Flammenden Schwert …“
„Flammendes Schwert? Das ist ein Tarot-Bild. Ich meine, ein Tarot-Kartentyp.“
„Nein. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich unangemessen die Umgangssprache benutze. Das ist mein Vorteil gegenüber jenen Glaubensgemeinschaften, das Sie bitte unbeachtet lassen. Das Flammende Schwert ist eine Publikation der christlich-apostolischen Kirche in Zion, deren Dogma lautet, die Erde sei flach und nicht rund.“
„Aber wie konnten sie dann auf einen anderen Planeten auswandern? Sie dürften doch gar nicht glauben, daß andere Planeten überhaupt existieren?“
„Das müssen Sie schon ein Mitglied dieses Kults fragen; vielleicht kann es Ihnen die wahrscheinlichsten Vernunftgründe dazu liefern. Ich fürchte, mir bleibt das verschlossen, aber mir ist es auch durch den Vertrag verboten, in Ihrer Gegenwart den Glauben anderer zu kritisieren. Lassen Sie uns einfach feststellen, daß im Glauben alles möglich ist. Ich bin sicher, Sie werden meine Position verstehen.“
„Das tue ich“, stimmte ihm Bruder Paul zu. Trotz seiner Griesgrämigkeit war der Pfarrer ein aufrichtiger, einsichtiger Mensch und guter Gastgeber. „Ich habe einmal die Definition eines Kindes gehört: ‚Glaube ist Vertrauen in etwas, von dem man weiß, daß es eigentlich nicht so ist.’ Das fiel mir gerade so ein.“ Er verstummte. „Hmm … ich wollte Sie damit nicht beleidigen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, auf etwas wie Ihre Kirche zustoßen. Wie lauten Ihre Vorstellungen?“
„Ich bedauere, dies nur vage beantworten zu können. Ich habe beim Baum des Lebens geschworen, nicht zu versuchen, Ihre Gedanken durch Vorurteile von meinem eigenen besonderen Glauben zu vergiften.“
Doch die Haltung des Mannes war deutlich erkennbar! „Wegen des Vertrages?“
„Genau! Ich nehme nicht für mich in Anspruch, mit dem Vertrag übereinzustimmen, doch ich bin durch ihn gebunden. Die Mehrheit meint, eure fortgesetzte Objektivität sei der kritische Punkt. Ich will nur sagen, daß die Leitlinien der Zweiten Kommunistischen Kirche essentiell humanistisch sind und wir nur symbolische Verbindung mit den atheistischen Kommunisten auf der Erde haben. Wir sind theistische Kommunisten.“
„Ach ja“, meinte Bruder Paul abwesend. Gottesfürchtige Kommunisten – und der Pfarrer war offensichtlich dabei ehrlich. Aber das war kaum abnormaler als gottesfürchtige Kapitalisten. „Ich hatte den Eindruck, der Planet Tarot sei eine englischsprachige Kolonie; sind die hier vertretenen Religionen vornehmlich westlicher Prägung?“
„Ja. Ungefähr achtzig Prozent leiten sich aus abendländischchristlichen Ursprüngen ab; der Rest stammt von überallher. In diesem Sinne glauben die meisten hier an eine Gestalt Christus, wie Sie auch; daher hatte ich gesagt, Ihr Orden sei gut für diesen Zweck, wenn ich auch diesen Zweck in Frage stelle. Sie werden wahrscheinlich einen christlichen Gott finden, aber es gibt keine örtliche Kirche, die sie befriedigen müssen. Daher können Sie relativ unabhängig arbeiten. Der Ruf Ihres Ordens ist Ihnen vorausgeeilt; man weiß von den Visionisten, daß sie sich nicht in Glaubensdinge anderer einmischen, aber dennoch ihrem Glauben treu bleiben. Ich glaube, man wird Sie hier begrüßen.“
„Ich habe mir noch nicht klargemacht, daß meine Mission von der örtlichen Zustimmung hier abhängt“, meinte Bruder Paul ein wenig ironisch. „Was wollen sie denn tun, wenn sie mich nicht mögen? Mich zurück zur Erde verfrachten?“ Es gab natürlich für die Kolonisten keine Möglichkeiten, dies zu tun.
„Es gibt hier welche, deren Glauben lautet, Ungläubige zu vernichten“, sagte Siltz. „Wir halten unser Dorf hier für sicher, aber für andere Dörfer können wir keine Verantwortung übernehmen. Wir werden Sie natürlich in den Grenzen unserer Möglichkeiten beschützen – aber es ist besser, in dieser Angelegenheit einig zu sein.“
„Ja, das schätze ich sehr.“ Traurig schüttelte Bruder Paul den Kopf. Ungläubige vernichten? Das klang für ihn nach fanatischem Mord. In was für ein Schlangennest hatte man ihn gebracht? Davor hatte ihn niemand gewarnt; offensichtlich wußten die Zuständigen auf der Erde nur wenig über die gesellschaftlichen Phänomene auf ihren Kolonien. Er konnte es sich nicht leisten, sich auf die mageren Informationen zu verlassen. „Aber wenn die meisten Sekten hier an einen christlichen Gott glauben – der auch der jüdische und mohammedanische ist, ob man ihn nun Jahwe oder Allah nennt – warum besteht dann das Bedürfnis, ihn näher zu spezifizieren?“
„Das ist genau die Frage, die ich auch schon zu beantworten versucht habe“, entgegnete Pfarrer Siltz. „Wir sind eine ungewöhnlich eifersüchtige, zusammengewürfelte Kultur, wir auf dem Planeten Tarot. Ihre Interpretation Gottes unterscheidet sich gewiß von meiner, und unsere beiden unterscheiden sich von der der atheistischen Kirche. Wer will behaupten, welche Sekte am wahrhaftigsten Gottes Willen widerspiegelt? Es muß unter uns eine Gruppe geben, die Gott lieber hat als die anderen, wenn Er auch die anderen um dieser einen willen toleriert – und diese eine müssen wir bestimmen. Vielleicht hat Gott uns das harte Winterklima bestimmt, um uns zu zwingen, uns ihm mehr zuzuwenden, wie der Gott der Juden ihnen den Mangel bescherte, um sie vom Irrweg abzubringen. Wir alle hängen von der Großzügigkeit des Baum des Lebens ab, und so müssen wir letztendlich den Baumgott verehren, auch wenn wir diesen Gott nicht mögen und vielleicht auch nicht die Sekte, die Gott auserwählt hat. Ob wir Ihn nun den Gott nennen oder auch nur einen von vielen, spielt kaum eine Rolle; wir müssen Ihn anreden, wie Er es diktiert. Und das werden wir auch tun. Aber zunächst müssen wir objektiv feststellen, wie wir uns am angemessensten diesem Gott nähern.“
Puh! Die Kolonisten nahmen die Angelegenheit viel ernster als die Wissenschaftler auf der Erde. „Das kann ich aber nun wirklich nicht leisten“, sagte Bruder Paul vorsichtig. „Für mich ist Gott alles; Er begünstigt keine einzelne Religionsgemeinschaft. In diesem Sinne ist der Heilige Orden der Vision auch keine Sekte; wir suchen lediglich nach der Wahrheit, die Gott ist, und wir meinen, daß die Form unwichtig ist. Während wir Jesus Christus als Sohn verehren, verehren wir ebenso Buddha, Zarathustra und die anderen großen religiösen Gestalten; eigentlich sind wir doch alle Kinder Gottes. Wir wollen also lediglich herausfinden, ob sich Gott überhaupt hier manifestiert; wir wollen ihn nicht kontrollieren und nicht annehmen, daß einer religiösen Sekte etwas unterschoben wird.“
„Gut gesagt! Aber ich denke, daß Gott das letzte Wort haben wird. Er wird Seinen Willen auf Seine Weise kundtun, und Sie werden – entsprechend der Meinung der Mehrheit der Kolonie, die ich in Frage stelle – diesen Willen reflektieren. Gott ist Macht; niemand von uns kommt dagegen an, noch würden wir das wollen.“
Bruder Paul war sich nicht sicher, ob er zwischen sich und dem Pfarrer eine fest Verständigungsgrundlage gebildet hatte, doch er fand die Diskussion anregend. Doch es war auch an der Zeit, mehr in die praktischen Details zu gehen. „Ich wüßte gern mehr über die räumlichen Gegebenheiten hier“, sagte er. „Besonders, wo diese Erscheinungen vorkommen.“
„Das werden wir Ihnen morgen zeigen. Die Erscheinungen finden überall statt, kommen aber allgemein in der drei Kilometer von hier im Norden liegenden Oase vor. Wir müssen eine Begleitung für Sie auswählen.“
„Oh, das brauche ich nicht …“
„Uns liegt Ihre Sicherheit am Herzen, Bruder Paul. Wenn Sie durch eine Erscheinung sterben, wie so viele, dann würden wir um unsere Antwort gebracht und stünden auf der Erde in schlechtem Ruf.“
Ernüchternde Gedanken! Die Ehrwürdige Mutter Maria hatte ihn gewarnt, daß die religiösen Wissenschaftler entweder den Verstand verloren hatten oder bei der Erforschung des Phänomens gestorben waren; hier war die Bestätigung. Doch er protestierte weiter. „Ich möchte Sie nicht in Verruf bringen, aber …“
Er wurde durch Siltz’ kurzes, schnaubendes Lachen unterbrochen bei der Erwähnung, daß ihm der Ruf des Planeten wichtiger sei als sein Leben. „Ich hätte gedacht, daß Raubtiere die Erscheinungen meiden?“
„Das tun sie auch. Aber wer schützt Sie vor den Erscheinungen selber?“
„Wie ich es bislang verstanden habe, handelt es sich bloß um bestätigte Visionen – sichtbare Phantasie. Es gibt natürlich keine physischen …“
Nachdrücklich schüttelte Pfarrer Siltz den Kopf. „Sie sind aber körperlich! Und es wird ein körperlicher Gott sein, auf den Sie stoßen, ob er nun Gültigkeit hat oder nicht. Sie werden schon sehen.“
Körperliche Imagination? Irgend etwas war hier sehr verworren. Natürlich war das bei seiner Unterrichtung auf der Erde schon angeklungen, aber er hatte dazu geneigt, derartige Bemerkungen als Übertreibungen abzutun. „Ich fürchte, ich …“
Der Pfarrer hob eine Hand. „Das werden Sie schon rechtzeitig für sich selber herausfinden. Ich will den Geist des Vertrages nicht verletzen, wenn ich ihn dem Buchstaben nach auch schon, wie ich fürchte, kompromittiert habe. Nun müssen wir gehen, ehe der Sturm kommt.“
Als der Mann die letzten Worte aussprach, hörte Bruder Paul mächtiges Donnern. „Wohin gehen wir?“
„Zum gemeinsamen Mittagessen. Das ist praktischer, als wenn jeder zu Hause kocht, und bedeutet auch eine gerechtere Verteilung der Nahrungsmittel. Daher organisieren wir das im Sommer so.“ Natürlich mußte ein Kommunist das so empfinden! „Sturmzeit ist gute Essenszeit, da wir ohnehin nicht draußen arbeiten können.“
„Ihre Frau – kommt sie nicht mit?“
„Nein. Sie ißt bei einer anderen Schicht, wie auch mein Sohn. Während Ihres Aufenthaltes hat man mich von der Arbeit befreit; meine Arbeit besteht darin, mich um Sie zu kümmern. Nun muß ich dafür sorgen, daß Sie anständig zu essen bekommen. Kommen Sie, ich habe schon zu lange gewartet. Ich vernachlässige meine Verantwortlichkeiten. Wir müssen uns beeilen.“
Sie eilten hinaus. Draußen sah Bruder Paul die aufgetürmten drohenden Wolken vom See im Osten herantreiben, so dicht, daß sie wie Lavablasen am Himmel aussahen. Durch irgendeine Eigenart des Klimas hier kam der Wind im rechten Winkel dazu aus dem Norden, und es sah so aus, als fiele der Regen schon auf das Weizenfeld im Westen. Die Wolken waren also die einzig sichtbaren Boten des Sturms; die ersten Böen überfielen schon das Dorf. Und jetzt sah er auch bunte Blitze – Tarotblasen, die vor dem Wind hergetrieben wurden, rasch zerplatzten, aber so zahlreich waren, daß sie den Himmel schmückten. Was für eine hübsche Sache!
„Zu spät!“ sagte Pfarrer Siltz. „Aber ich gelte als nachlässig, wenn ich Sie nicht zu den anderen bringe. Wir werden die Becher benützen müssen.“
„Ich kann ein bißchen Regen gut aushalten“, sagte Bruder Paul.
Er hatte sogar eine Vorliebe für heftige Stürme; sie verdeutlichten ihm die Kraft der Natur.
Aber der Mann war schon zurück ins Haus gegangen. „Es ist nicht nur Wasser“, rief er von innen. „Großfuß lauert in Regen und Schnee!“
Großfuß? Paul kannte Legenden von der Erde über den Yeti, Sasquatch, den entsetzlichen Schneemenschen, den Skunkaffen und Bugbear; man konnte ihn sogar einen Fan von Großfuß nennen. Mit der kulturellen und technologischen Rezession auf der Erde, verursacht durch die Entvölkerung, waren diese Geschichten an Anzahl und Eindringlichkeit gewachsen. Er glaubte, daß die meisten Berichte über riesige, menschenartige Monster lediglich übertriebene Wahrnehmungen abgerissener, vielleicht schlechter Menschen waren. Ein zerzauster, zerlumpter, schmutziger und verzweifelter Mensch konnte jedermann in Schrecken versetzen, besonders wenn man ihn in der Dämmerung auf seiner Suche nach Nahrung erblickte. Ob nonhumane Monster existierten – wer konnte das schon sagen? Aber Bruder Paul hoffte darauf, denn es würde die Erde gewiß noch interessanter machen.
Pfarrer Siltz tauchte mit einem Armvoll Brettern wieder auf. Rasch baute er zwei Hälften aus Holz zusammen, eine jede von einem Meter Durchmesser und von bösartig wirkenden Spitzen umgeben. Sonderbare Becher! Hatte dies auf symbolische Weise mit dem Sturm zu tun? Wasser, die Kelche des Tarot?
„Man setzt sich den Rahmen auf die Schultern und schnallt ihn unter den Armen fest“, erklärte Siltz. „Wenn der Sturm eine Pause macht, bewegen Sie sich damit und werden geschützt sein. Lassen Sie nicht den Feind hinein; er könnte sie forttragen. Wenn Großfuß kommt, vertreiben Sie ihn … es … mit den Spitzen.“ Siltz mußte sich offensichtlich bewußt klarmachen, daß das Monster nichtmenschlich war. „Und denken Sie daran, ich werde bei Ihnen sein.“ Und dann legte der Pfarrer seinen eigenen Schutzmantel an.
Der schirmartige Becher senkte sich um Bruder Pauls Schultern. Er konnte kaum noch etwas sehen. Er wollte bei seinem Gastgeber bleiben, doch das war lächerlich.
Pfarrer Siltz geleitete ihn über den weichen Boden an dem nun verlassenen Holzstoß vorbei (nur zwei Wachen mit Dreizacks standen dort) auf ein größeres Gebäude oben auf einem kleinen Hügel zu. Trotz der behindernden Umhüllungen kamen sie rasch voran.
Es donnerte nur noch wenige Male, überflüssige Erinnerungen an die Heftigkeit des Sturmes. Die Wasserwand befand sich nun einen Kilometer weit entfernt und peitschte die Oberfläche des Sees mit solcher Gewalt, daß dort augenscheinlich kein Horizont mehr zu sehen war, nur noch Gischt. Wegen der Behinderung durch den Holzbecher konnte Bruder Paul ohnehin nicht viel sehen. So blickte er also auf seine Füße und die seines Begleiters und ging weiter in dem Gefühl, eine Tonne auf Beinen zu sein, während seine Gedanken sich mit Großfuß beschäftigten. Konnte es hier auf dem Planeten Tarot ein ähnliches Wesen geben? Oder war das nur Aberglauben der Pioniere? Bei all diesen bruchstückhaften religiösen Kulten wäre es keine Überraschung, einen starken Glauben an das Übernatürliche vorzufinden. Aber wenn es wirklich …
Ein plötzlicher, letzter Donnerschlag riß ihn fast um. Noch niemals hatte er einen derartigen Schock verspürt. Er war taub und benommen und starrte zu Boden, spürte, wie sich sein Haar sträubte, und nahm ein sonderbares Kitzeln am ganzen Körper wahr. Das Haar war elektrisch aufgeladen und er selber auch! Sicher würden noch mehr Blitze kommen, und das gefiel ihm nicht. Es hatte genau gestimmt, was man über die rauhen Bedingungen auf diesem Planeten gesagt hatte. Keine hölzernen Schilde konnten einen davor schützen!
Pfarrer Siltz machte unter seiner Tonne heftige Armbewegungen, die ihn weiterdrängten. Ja, Bruder Paul sehnte sich in der Tat danach, unter ein ordentliches Dach zu gelangen.
Regen prasselte herab. Es war wie eine Lawine, die die Holztonne fast eindrückte. Regen? Das waren Hagelkörner, Eisbälle von fast einem Zentimeter Durchmesser. Sie pochten fordernd auf den Schild, klein, aber hart. Nein, ohne Kopfbedeckung wäre er nicht gern durch diesen Eisregen gegangen!
Eine Windbö trieb ihm etwas zwischen die Beine und zerrte an dem Holzschild. Rasch orientierte sich Bruder Paul, um den Stoß aufzufangen. Dieser Sturm hatte wirklich Kraft!
Dann wurde der Hagel dünner, zu Schloßen, dann zu Wasser. Nun war er sicher: Er trug in der Tat einen Kelch bei sich, um sich vor dem Ansturm des Wassers zu schützen. Ob die Kolonisten sich wissentlich oder unwissentlich durch den Tarot-Symbolismus schützten, das konnte er nicht sagen, doch sie machten es sich zunutze.
Das Feld war nun ein Fluß von einem Zentimeter Tiefe. Bunte Tarotblasen tanzten auf der Oberfläche und schienen beim bloßen Anblick zu zerplatzen. Wahrscheinlich aber ging es andersherum: Sein Blick fiel im Moment des Platzens erst auf sie. Die anderen verliehen der Szenerie einen surrealistischen Aspekt.
Pfarrer Siltz trat dicht zu ihm. „Aus dem Kanal heraus. Folgen Sie der Böschung.“ Bruder Paul erkannte, daß sie in einer kleinen Vertiefung gingen. Kein Wunder, daß seine Füße pitschnaß waren. Er ging zur Seite und fand einen besseren Weg.
„Großfuß kommt!“ schrie Siltz. „Mehr schnell!“ Und er begann zu laufen.
Mehr schnell! Sprache bildete sich also unter Streß zurück. Das war kein Scherz, denn der Mann war höchst aufgeregt. Bruder Paul folgte ihm und fragte sich, wieso der Pfarrer die richtige Richtung erkennen konnte. Der Regen verhüllte alles, und es gab kein Anzeichen für ein Nachlassen. Nun zuckten die Blitze in den See, verbreiterten sich dort und überdeckten das normale Ufer; alles wurde zu Wasser. Die Hagelkörner am Boden schmolzen. Aber diese Sache mit Großfuß …
Dann sah er den Fußabdruck.
Er war wie der eines Mannes, doch einen halben Meter lang. Das Wesen, welches diesen Abdruck hinterlassen hatte, mußte dreimal so groß wie ein Mensch sein, wenn die anderen Maße proportional waren. Zweihundertfünfundzwanzig Kilogramm!
Bruder Paul spürte die Aufregung über diese Entdeckung – und Verständnis. Das war eine frische Spur, vielleicht Sekunden alt; er verschwand bereits wieder. Es gab hier also wirklich einen Großfuß … und das in einer Nähe von zwei oder drei Metern!
Pfarrer Siltz umklammerte seinen Arm unter dem Becher. „Weiter!“ schrie er; seine Stimme klang furchtsam.
Bruder Pauls Neugier auf das Monster rang mit seinem Menschenverstand. Der letztere gewann die Oberhand. Er stolperte weiter. Das war kaum die Gelegenheit, sich mit einem Zweihundert-Kilo-Berserker einzulassen.
Das Wasser peitschte sie, versuchte, die Becher umzuwerfen.
Doch der Boden blieb fest, und nach einiger Zeit schlüpften sie unter das Dach der Gemeinschaftsküche. Ihre Beine waren naß, doch das schien keine Rolle zu spielen.
„Du hast den Gast dem Großfuß ausgesetzt?“ murmelte die Wache am Eingang zu Pfarrer Siltz, die den Dreizack gegen den Sturm gewandt hielt.
Der Kommunist gab keine Antwort, sondern drängte hinein. Bruder Paul folgte ihm. „Ich würde gern einmal Großfuß sehen“, sagte er zu dem Wachmann. „Nur vor den Blitzen hatte ich Angst.“ Doch der Mann lächelte nicht.
In dem Gebäude befanden sich noch andere Menschen, die ihren jeweiligen Geschäften nachgingen, doch es gab keine herzlichen Begrüßungen. Pfarrer Siltz ignorierte alle außer jene mit dem Hammer-und-Sichel-Emblem seiner Kirche. Dennoch geleitete er Bruder Paul an einen Tisch, an dem mehrere Männer offensichtlich verschiedenen Glaubens saßen. Das nahm Bruder Paul zumindest an, weil die Symbole an ihrer Kleidung unterschiedlich waren.
„Es ist notwendig, daß Sie diesen Leuten versichern, ich habe keinen Versuch unternommen, Ihre Objektivität zu untergraben“, knurrte der Pfarrer. „Ich hole die Suppe.“
Bruder Paul setzte sich und sah sich um. „Ich versichere Ihnen“, sagte er mit einem Lächeln. „Ich habe ihn mit einer Reihe von Fragen in Verlegenheit gebracht, die ihn zwingen sollten, den Vertrag zu vergessen, doch er hat dem Angriff widerstanden. Ich bin naß, aber unbeeinflußt.“
Der Mann gegenüber von Bruder Paul lächelte freundlich. Er war von mittlerem Alter und kahl, mit Lachfalten anstelle von Pfarrer Siltz’ Grollfalten und hellblauen Augen. „Ich bin Dekan Brown von der Kirche von Lemuria. Wir sind sicher, Sie werden objektiv bleiben. Sie müssen die Schweigsamkeit Ihres Gastgebers entschuldigen; aber er durchsteht gerade eine schwierige familiäre Situation.“
„Ich kann mich nicht beklagen“, sagte Bruder Paul vorsichtig. „Ich bin nicht sicher, ob ich das gleiche über Ihren Vertrag sagen kann, aber Pfarrer Siltz hat mich sehr herzlich behandelt. Ich fürchte nur, ich beschäftigte ihn derart mit den Antworten auf meine Routinefragen, daß wir sein Haus zu spät verließen und so vom Sturm überrascht wurden. Ich neige dazu, zuviel zu reden.“
Das sollte den Pfarrer in diesem Punkt entlasten. Bruder Paul fühlte sich versucht, Fragen über diese Gesellschaft mit den vielen Sekten zu stellen, beschloß aber abzuwarten. Er wußte bereits, daß ihn die Kolonisten nicht freiwillig über diese Sache aufklären würden, da man sie sonst des Bekehrungsversuches anklagen würde. Diese Männer hatten seine Hinweise auf sein Unbehagen deutlich ignoriert.
„Sehen Sie, sein Sohn möchte sich mit einer jungen Frau aus der Scientology-Kirche verbinden“, fuhr Dekan Brown fort. „Die beiden jungen Leute haben bei der Baumernte zusammen gearbeitet, und der Kelch ist übergelaufen.“
Kein Zweifel über die Verbindung zum Tarot! Kelche waren nicht nur für Wasser geeignet; sie deuteten auch auf Religion – und Liebe hin. Wie es schien, war das hier ein schwieriger Gegensatz. „Heirat zwischen den Kirchen ist nicht gestattet?“
„Doch, einige Sekten gestatten es, andere hingegen verbieten es. Sie müssen das verstehen, Bruder Paul, daß wir eine eifersüchtige Gemeinde sind.“ Pfarrer Siltz hatte einen ähnlichen Ausdruck gebraucht; ohne Zweifel traf er zu. „Wir kamen als individuelle Sekten hierher, um Reinheit und Freiheit unserer jeweiligen religiösen Art und Weise zu erhalten, und es gefällt uns nicht und ist uns unangenehm, daß wir hier so eng mit Ungläubigen zusammenarbeiten und leben müssen. Wir haben Schwierigkeiten, uns auf etwas anderes zu einigen, es sei denn, aus reinem Überlebensdrang – und auch das nicht immer.“
Genau! „Aber gewiß steht Religion nicht dem gesunden Menschenverstand gegenüber. Ich bezweifle, daß jede Sekte genügend Mitglieder hat, um eine Fortpflanzung der Kirchen zu gewährleisten. Es muß doch einen vernünftigen Kompromiß geben.“
„Es gibt einige“, stimmte Dekan Brown zu. „Aber nicht genug. Wir begreifen die Haltung von Pfarrer Siltz; keiner von uns hätte es gern, wenn eines seiner Kinder einen Scientologen oder Baha’i oder anderen heidnischen Nachwuchs heiratete. Meine Tochter verkehrt nicht mit dem Sohn von Minister Malcolm hier, der islamischen Glaubens ist.“ Der neben ihm sitzende Mann lächelte zustimmend. Lebhaft strahlten seine weißen Zähne im Gegensatz zu der dunklen Haut. „Doch der Kelch ist mächtig, und es wird ernsthafte Probleme geben, es sei denn, wir finden bald die wahre Natur des Gottes im Baum heraus.“
„Das hat man mir geraten.“ Bruder Paul war sich nun des Grundes der scharfen Spannungen zwischen den Individuen bewußt, doch ihm erschien es als eine dumme und verfahrene Situation. Mit den wilden Stürmen und Großfuß und ähnlichen Pionierproblemen brauchten sie nicht auch noch eine unfruchtbare religiöse Diskussion. Es war sicher auch für sehr unterschiedliche religiöse Sekten möglich, miteinander auszukommen, wie es die Erfahrung des Heiligen Ordens der Vision gezeigt hatte. Für Bruder Paul war eine einer anderen Religion gegenüber intolerante Kirche schon durch eigene Definition unzulänglich. Jesus Christus hatte Toleranz gegenüber allen Menschen gepredigt. Nun, vielleicht nicht gegenüber den Geldwechslern im Tempel und ähnlichen, aber immerhin …
Pfarrer Siltz kehrte mit zwei randvollen Holzschüsseln zurück. Eine stellte er vor Bruder Paul ab und setzte sich dann selber auf die Holzbank. In jeder Schüssel stak ein hölzerner Löffel, der grob geschnitzt, aber praktisch war. Das Kunsthandwerk, das diese Dinge herstellte, mußte hier stark vertreten sein. Dies stimmte in jedem Fall mit den Prinzipien des Ordens überein; hölzerne Tischgeräte waren nützlich.
Bruder Paul und Pfarrer Siltz begannen zu essen. Es gab weder ein Gebet noch einen Segen für das Essen; wahrscheinlich hatten sich die verschiedenen Sekten nicht auf eine Formel einigen können und dann aufgrund ihres Vertrages beschlossen, alles fortzulassen. Die Suppe schmeckte fremdartig, aber gut. Sie hatte einen kräftigen Geschmack wie Kartoffelsuppe, aber ein unirdisches Aroma. „Wenn ich fragen darf …“ begann er.
„Holzsuppe“, sagte Dekan Brown sogleich. „Der Baum des Lebens ernährt uns alle, doch seine Substanz gibt er reichlicher ab, wenn man ihn kocht. Wir essen auch die Früchte, aber in dieser Jahreszeit sind sie noch nicht reif.“
Holzsuppe. Nun, warum nicht? Diese zweite Verehrung des Baumes war verständlicher. Vielleicht wäre es das beste, der Gott von Tarot stellte sich tatsächlich als der gewaltige örtliche Lebensbaum heraus. Wenn es nur eine Sache der Interpretation wäre … aber er würde abwarten müssen und durfte nicht jetzt schon zu Vorurteilen kommen.
Bruder Paul leerte seine Schüssel. Die Suppe war recht sättigend gewesen. Sogleich nahm sie Pfarrer Siltz fort. Offensichtlich wollte der Pfarrer sichergehen, daß die anderen mit seiner Zurückhaltung dem Gast gegenüber zufrieden waren; daher ließ er ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit allein. Noch ein Hinweis auf die angespannten Beziehungen hier.
„Wenn ich, ohne beleidigend zu sein, fragen darf“, begann Bruder Paul, sich der Tatsache bewußt, daß eine Beleidigung hier wahrscheinlich unumgänglich war, wenn er mit seiner Mission begann.
„Sie gehören nicht zu unserer Kolonie“, antwortete Dekan Brown. „Sie kennen auch unsere Konventionen nicht. Ich werde sie Ihnen nach und nach mitteilen: Sprechen Sie nicht über Religion. In allen anderen Dingen können Sie frei reden; wir werden großzügig verfahren.“
Hmm. Es würde ihm nicht gelingen, dies immer zu beachten, da seine Aufgabe hier ausschließlich religiöser Natur war. Aber alles zu seiner Zeit. „Danke. Mir fällt auf, daß man hier offensichtlich einen Symbolismus benutzt, der dem des Tarotspiels ähnelt. Der Kelch zum Beispiel. Das Tarot-Äquivalent zur Kartenfarbe Herz. Geschieht das bewußt?“
Jeder am Tisch lächelte. „Natürlich“, stimmte der Dekan zu. „Jede Sekte hier hat ihre eigenen Tarot-Karten oder zumindest eine Variante. Das ist Teil unseres gemeinsamen Respektes vor dem Baum des Lebens. Wir sind nicht der Meinung, daß dies mit unserem jeweiligen Glauben in Konflikt gerät; es verstärkt ihn sogar und bietet uns allen eines der wenigen gemeinsamen Bande, die uns zur Verfügung stehen.“
Bruder Paul nickte. „Es scheint, die Tarot-Symbolik war immer schon mit diesem Planeten verbunden, mit Visionen aus den Karten …“
„Keine Visionen“, korrigierte ihn der Dekan, „sondern Erscheinungen. Sie sind berührbar, manchmal gefährliche Manifestationen.“
„Aber keine physischen“, sagte Bruder Paul in der Erwartung, die Behauptungen von Pfarrer Siltz abklären zu können.
„Aber sicher physische! Daher verlangen wir ja auch Ihren Schutz bei der Untersuchung. Hat der Kommunist Sie nicht informiert?“
„Doch, ich blieb aber skeptisch. Ich sehe wirklich nicht, wie …“
Der Dekan zog ein Kartenspiel heraus. „Erlauben Sie mir, es zu demonstrieren, wenn meine Begleiter von den anderen Glaubensrichtungen nichts dagegen einzuwenden haben.“ Er blickte sie reihum an, doch keiner widersprach. „Wir befinden uns im Moment in einem Sturm. Es kann möglich sein, daß …“ Er nahm eine Karte heraus und konzentrierte sich.
Zweifelnd beobachtete ihn Bruder Paul. Wenn der Mann irgend etwas Physisches aus der Luft gestalten wollte …
Auf dem Tisch erschien eine Gestalt, bildete sich wie aus einer Wolke, verschwommen, doch klarer werdend. Es war ein Stift oder ein Eßstäbchen …
„Stab-As!“ rief Bruder Paul aus.
Dekan Brown gab keine Antwort. Er konzentrierte sich auf seine Erscheinung. Still war Pfarrer Siltz zurückgekehrt und nahm die Bemerkung auf. „Nun glauben Sie doch sicher, der Lemure habe ohne Substanz eine Form gebildet, ein Spiegelbild aus der Karte, die er vor sich hat. Aber Sie werden sehen.“
Siltz streckte die Hand aus und nahm den kleinen Stab zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine Hand fuhr nicht hindurch, wie es bei einem bloßen Bild der Fall gewesen wäre; der Stab bewegte sich genauso wie es ein realer getan hätte. „Nun berühre ich Sie damit“, sagte Siltz. Er stieß das eine Ende in Bruder Pauls Handrücken.
Er warfest. Bruder Paul spürte den Druck und dann ein brennendes Gefühl. Er zog ruckartig die Hand beiseite. „Er ist heiß!“ Bei diesen Worten flammte der Stab an dem Ende auf wie ein gezündetes Streichholz. Siltz ließ ihn auf den Tisch fallen, wo er weiterbrannte. „Feuer – die Realität hinter dem Symbol, die Kraft der Natur“, sagte er. „Bitte etwas Wasser …“
Der Repräsentant des Islam zog aus seinem Spiel eine Karte. Er konzentrierte sich. Es bildeten sich zwei verzierte Goldkelche. Dekan Brown griff nach einem und goß den Inhalt über den brennenden Stab. Ein Zischen, und eine Dampfwolke stob auf.
Wollten sie ihn mit Zaubertricks verdummen? Bruder Paul kannte sich bei Taschenspielertricks aus; seine Finger waren ebenfalls ungewöhnlich geschickt. „Darf ich?“ fragte er und griff nach dem anderen Kelch.
Zu seiner Überraschung hatte niemand etwas dagegen. Er berührte den Kelch und hielt ihn ebenfalls für echt. Er hob ihn hoch, und er war schwer. Ungewöhnlich schwer; nur reines Gold konnte dieses Gewicht haben. Er tauchte einen Finger in die Flüssigkeit und schmeckte: Wasser. Er sprengte ein paar Tropfen auf seine Verbrennung, und es schien zu helfen. Dies war ein fester, berührbarer, echter Kelch und es war physikalisch gesehen auch echtes Wasser. Wasser, die Realität hinter dem Symbol, wieder das weibliche Pendant zum männlichen Feuer. Tarot erstand wortwörtlich!
„Massenhypnose?“ fragte Bruder Paul nachdenklich. „Sehen und fühlen Sie alle diese Gegenstände?“
„Wir alle“, versicherte ihm Pfarrer Siltz.
„Darf ich ein Experiment wagen? Ich gebe zu, ich bin beeindruckt, aber zugleich bin ich ein unverbesserlicher Skeptiker.“
„Bitte“, antwortete Dekan Brown. „Wir schätzen ihre Skepsis. Wir brauchen keinen weiteren ausgesprochenen Kultanhänger.“ Die anderen murmelten zustimmend, wenn Bruder Paul auch den Eindruck hatte, das Gemurmel habe einen traurigen Nachhall. Immerhin waren diese Kultanhänger ihrer Situation gegenüber nicht übersensibel. Wahrscheinlich hatte man sie für den Umgang mit ihm ausgewählt, weil sie in ihren jeweiligen Sekten als am wenigsten fanatisch galten.
„Darf ich dann um ein Tarotspiel bitten …“ Man reichte es ihm. Wenn er auch normalerweise ein genauer Beobachter war, blieb es ihm aufgrund seiner Faszination von den Vorgängen verborgen, wer es ihm überreichte; hinterher konnte sich Bruder Paul nicht mehr erinnern, wessen Spiel er sich geliehen hatte. Er mischte die Karten fachmännisch und lockerte seine Finger. Es hatte eine Zeit gegeben, als … aber diese Zeit vergaß er am besten schnell wieder.
Das war eine der bekannten mittelalterlichen Versionen mit Bauern und geflügelten Wesen und Kindern – keine von den sehr intellektuellen moderneren Versionen. Unter den gegebenen Bedingungen war er froh, diesen Typus vor sich zu haben; ein surrealistisches Spiel hätte eine ohnehin schon unglaubwürdige Erfahrung weiter verkompliziert.
„Ich werde eine Karte auswählen“, sagte Bruder Paul vorsichtig. „Ich werde sie allen außer einem zeigen. Und dann soll sie derjenige bekommen und für uns zum Leben erwecken, ohne die übrigen anzusehen. Darf ich um einen Freiwilligen bitten?“
„Ich werde es tun“, sagte Dekan Brown. „Wir von Lemuria sind immer froh, wenn wir die Realität Ihres …“ Jemand hustete, und er brach ab. „Tut mir leid. Ich wollte niemanden bekehren.“
Der Dekan wandte sich ab. Sein kahler Schädel glänzte in dem schwachen Licht von einem nahe liegenden Fenster. Der Sturm hatte dämmriges Licht über die Landschaft geworfen, doch es wurde allmählich wieder heller. Bruder Paul wählte Schwert-Drei aus. Es war eine hübsche Karte mit einem geraden roten Schwert in der Mitte, umgeben von zwei verzierten Krummschwertern vor einem Hintergrund bunten Laubes. Stumm zeigte er sie den anderen und reichte sie dann dem Dekan weiter.
Innerhalb eines Augenblicks wurde das Bild recht genau wiedergegeben. In der Luft hingen drei Schwerter und einige Blätter. Bruder Paul streckte die Hand aus und berührte einen der Krummsäbel – woraufhin alle drei Klingen unter erstaunlichem Klirren zu Boden fielen.
In dem Raum herrschte Stille. Alle Augen von den anderen Tischen ruhten nun auf ihnen. „Tut mir leid“, sagte Bruder Paul. „Ich fürchte, meine unwissende Berührung ist daran schuld. Erlauben Sie mir, es noch einmal zu probieren.“ Innerlich fragte er sich: Wenn er fähig gewesen war, während der Materieübertragung Antares’ Gegenwart zu akzeptieren, warum hatte er dann solche Mühe, diese einfachen Objekte anzuerkennen? Und er wußte auch die Antwort: weil es hier Zeugen gab. Antares hätte seiner Phantasie entsprungen sein können; diese Phänomene hingegen gingen über seine Vorstellungskraft hinaus.
Bruder Paul sah sich um. Wo waren der Stab, die Kelche, die Schwerter? Er konnte nichts mehr entdecken. Waren sie in dem Tumult dorthin verschwunden, woher sie gekommen waren? Oder hatten sie niemals wirklich existiert? Nun, wenn ihm jemand einen Streich spielte, würde er in wenigen Augenblicken den Beweis dafür erbringen.
Wieder wählte er eine Karte aus: Münz-Vier, mit vier blumenartigen Scheiben, eine jede hatte ein vierblättriges Kleeblatt in der Mitte und ein verziertes Schild mit den Zeichen IM. Nachdem er sie herumgezeigt hatte, reichte er sie dem Dekan. Doch ohne Wissen seiner Zuschauer tauschte er sie aus. Nun hielt dieser das Kelch-As in Händen.
Wenn sich nun die vier Münzen bildeten, würde er wissen, es handelte sich um eine Massenhypnose, denn dies mußte durch den Glauben der anderen hervorgerufen worden sein. Aber wenn sich der Kelch bildete …
Es zeigte sich der Kelch, riesig und bunt, mit blauem Rand und einem Kreuz auf der Seite.
„Ich glaube, unser Gast erlaubt sich einen kleine Scherz mit uns“, bemerkte Pfarrer Siltz ohne Humor.
„Ich verifiziere lediglich den Ursprung der Animationen“, entgegnete Bruder Paul erschüttert. „Sehen Sie alle die Münze?“
„Den Kelch, keine Münze“, antwortete Pfarrer Siltz. „Es wird durch den kontrolliert, der es hervorruft; unsere Erwartungshaltung ist dabei unwichtig.“
Das stimmte wohl! Und der Kelch war so groß, daß man ihn nicht wie bei einem Taschenspielertrick an der Person des Dekans hätte verstecken können, selbst wenn der Mann clever genug gewesen wäre, einen solchen Trick unter den erfahrenen Augen Bruder Pauls auszuführen. Dies hier bedeutete eine größere Herausforderung als er vorausgesehen hatte. Konkrete, körperliche Erscheinungen, durch Willenskraft bewußt herbeigerufen!
„Eindrucksvoll“, gab Bruder Paul zu. „Aber Ihr scheint die Situation gut zu beherrschen. Ich dachte, Ihr seid wegen der Erscheinungen beunruhigt …“
Pfarrer Siltz lächelte grimmig. „Das waren wir zuerst in der Tat. Aber während des letzten Jahres haben wir mehr darüber gelernt. Wir haben uns der Natur dieser Erscheinungen zu versichern versucht, sind aber, weiß Gott, noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen.“
Der Dekan wandte sich um, und der Kelch verschwand. „Jeder von uns kann Gott in seiner eigenen Vorstellung beleben, aber das wäre lediglich eine Meinung, nicht die Wahrheit. Es ist lebenswichtig für uns, die Wahrheit zu erfahren.“
„Aber würde nicht auch ich Gott nach meiner Vorstellung beleben?“ fragte Bruder Paul besorgt. Das genau war der Punkt, den Pfarrer Siltz in ihrer privaten Diskussion aufgeworfen hatte.
„Wir müssen uns auf Ihre Objektivität verlassen – und wir werden Ihnen Beobachter beistellen, die Sie unterstützen“, antwortete Pfarrer Siltz. Er verriet nun nichts mehr von seiner eigentlichen Haltung. „Sie werden Sie auch vor unverhofften Manifestationen schützen.“
Und jene Manifestationen, das war deutlich geworden, konnten einen tödlichen Ausgang nehmen! „Kann ich das selber ausprobieren? Hier? Jetzt?“ fragte Bruder Paul und verspürte einen leichten Schauder, wie Lampenfieber.
„Schnell, denn der Sturm zieht schon vorüber“, meinte Dekan Brown. „Diese Dinge sind schwankender Natur – diese Runde war außergewöhnlich gut. Normalerweise erweist es sich als notwendig, zum Nordloch zu gehen, um derart deutliche Animationen zu bekommen. Und das ist gefährlich.“
Bruder Paul nahm einen der Großen Arkanen: Null, der Narr!
„Nein!“ riefen mehrere Stimmen zugleich.
„Versuchen Sie nicht, einen lebendigen Menschen herbeizurufen“, sagte Pfarrer Siltz, sichtlich erregt, und die anderen schienen seine Gefühle zu teilen. „Das könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben.“
Bruder Paul nickte. Sie standen also doch nicht so sehr über diesen Phänomenen! Wenn sie es überhaupt jemals versucht hatten, einen Menschen herbeizurufen, dann hatten sie noch nicht viel damit experimentiert. Er wußte, wo er beginnen mußte. „Aber wenn ich diese Phänomene ordentlich untersuchen soll, muß man mir gestatten, alles zu beleben, was in meiner Macht steht – und ich würde es vorziehen, hier damit zu beginnen, unter Ihren erfahrenen Augen.“
Die anderen tauschten mißbilligende Blicke aus. Sie mochten zu verschiedenen Religionsgemeinschaften gehören, doch hier stellten sie eine gewisse Einheit dar. „Ihre Logik siegt“, sagte Pfarrer Siltz schwerfällig. „Wenn Sie es tun müssen, dann besser hier. Wir werden dabeisein.“
Bruder Paul suchte in dem Kartenspiel herum. Hier war der Name des Narren Le Mal, und er war als Hofnarr gekleidet. Gänzlich abweichend von Waites Interpretation, nach der der Narr ein edler, unschuldiger Jüngling war, der im Begriff ist, einen Felsen herabzutreten; symbolisch gesehen das ungeheure Potential des Menschen für Streben und Irrtum. Andere Versionen kannten einen hinterhältigen kleinen Hund, der den Hosenboden des Narren zerfetzte, so daß man dessen nacktes Hinterteil sah: der Gipfel der Lächerlichkeit. Eine Variante hatte er gesehen, in der der Narr sich zu entleeren schien. Wahrscheinlich war es doch das beste, diese Karte zu übergehen; ein Versuch könnte in der Tat eine Narretei bedeuten.
Die Arkane Eins war der Magier oder Gaukler, der seine billigen Tricks unter einem abgedeckten Tisch vollführte. In der Ordensstation war Bruder Paul manchmal geneckt worden – sehr sanft natürlich, denn kein Bruder würde einen anderen bewußt verletzen – wegen seiner vermuteten Neigung zu den Karten. Sie kannten seine Vergangenheit als Kartenkönig und hatten seine Geschicklichkeit mit allen mechanischen Dingen sehr wohl beobachtet. Bruder Paul nahm derartige Anspielungen gutmütig hin, dankbar für die Kameradschaft, die er nach seinem vorherigen Leben im Orden gefunden hatte. Er dachte von sich selbst gern als von jemand, der auf der Suche nach den letztendlichen Begründungen für das Leben war, wie es durch die Objekte auf dem Tisch aus den Tarotkarten symbolisiert war: Stab, Kelch, Schwert und Münze, die Feuer, Wasser, Luft und Erde, beziehungsweise den allgegenwärtigen Symbolismus der Formen bedeuteten. Auch in dieser Version hier schwebte die kosmische Schleifenlinie oder liegende Acht, das Symbol der Unendlichkeit, wie ein Heiligenschein über dem Kopf des Magier, und um seine Taille schlang sich eine sich in den eigenen Schwanz beißende Schlange: der Wurm Ouroborus, Symbol für die Ewigkeit. Alle Dinge in Raum und Zeit – das war die Großartigkeit des Konzeptes, nach dem dieser moderne Magier strebte. Aber hier, in diesem Kartenspiel, war er nur ein heruntergekommener Trickkünstler. Nein, auch die ließ er aus.
Arkane Zwei, hier Juno benannt. In der römischen Mythologie war Juno die Frau Jupiters und Königin der Götter, Gegenstück der griechischen Hera. Sie galt als die Beschützerin der Ehe und der Frauen. Ihr Vogel war der Pfau, der auch in diesem Spiel vorhanden war. Hier war sie eine hübsche Frau in hellrotem Kleid, mit vollem Busen und nackten Beinen. Aber eine derartige Amazonengestalt würde vielleicht von der männlich dominierten Gesellschaft nicht gern gesehen. Bedauernd legte er sie fort; selbst in ihrem bekannteren Gewände als Hohepriesterin (und berüchtigte Päpstin) war sie wohl eine fragwürdige Wahl.
Arkane Drei, die Herrscherin – eine reifere und mächtigere Frau als die vorangegangene. In vielen Kartenspielen war die Priesterin eine Jungfrau, während die Herrscherin die Mutterfigur bedeutete. Hier saß sie auf ihrem Thron; in anderen Spielen stand der Thron in einem Weizenfeld. War es wirklich sie gewesen, die er gesehen hatte, als er aus der Kapsel stieg – nur vor wenigen Stunden? Wenn dem so war, dann wollte er sie nicht hier in aller Öffentlichkeit herbeirufen. Er würde sie lieber allein treffen, denn sie hatte etwas für ihn sehr Anziehendes. Leg sie ab, zumindest für den Augenblick.
Arkane Vier, der Herrscher, Gegenstück zur Herrscherin, Symbol weltlicher Macht, saß auf seinem viereckigen Thron, die Beine zur Zahl Vier gekreuzt, in der rechten Hand ein Zepter in Form eines ägyptischen Ankh oder Lebenskreuzes, in der Linken den Reichsapfel. Er repräsentierte die Herrschaft von Verstand über Gefühl, des Bewußtseins über das Unbewußte. Ja, das war ein gutes Symbol für diese Situation! Die Karte der Macht.
Wenn er auch die mittelalterliche Karte in Händen hielt, stellte er sich dennoch die Version des Ordens vor. Der vor ihm liegende Herrscher, den er beleben wollte, war ein mittelalterlicher Monarch mit einem großen, gewölbten Schild, das ein wenig Ähnlichkeit mit dem hölzernen Becher hatte, mit dem man sich hier gegen den Sturm schützte, sowie ein Szepter, dem nur drei Spitzen fehlten, um zum Dreizack zu werden. Pfarrer Siltz hätte für ihn gut Modell stehen können!
Bruder Paul konzentrierte sich. Er fühlte sich unbehaglich; vielleicht hatte er so lange zu einer Entscheidung gebraucht, weil er wußte, daß seine Klugheit auf dem Spiel stand. Es mußte einen Trick geben, den die Kolonisten kannten und der die Belebungen so real erscheinen ließ; offensichtlich war er dazu nicht in der Lage.
Wie vorhersehbar geschah nichts. Was immer eine Erscheinung auch sein mochte, es funktionierte nicht bei jedem. Was bedeutete, es war in der Tat ein Trick. „Es scheint nicht zu funktionieren“, sagte er mit einer gewissen Erleichterung.
„Erlauben Sie mir einen Versuch; vielleicht brauchen Sie nur die Anleitung“, sagte Pfarrer Siltz. Er nahm die Karte und konzentrierte sich.
Nichts geschah.
„Der Sturm hat nachgelassen“, sagte Dekan Brown. „Die Animationswirkung ist vorbei.“
Also war die Kraft hinter den Belebungen zufällig verschwunden. Nichts konnte mehr bewiesen werden, ob auf die eine oder die andere Weise. Bruder Paul sagte sich, daß er damit hätte rechnen müssen.
Und doch war er enttäuscht. Es wäre zu wunderbar gewesen, um wahr zu sein, und hier stand er, vielleicht um die Blase zum Platzen zu bringen – aber was für eine unglaubliche Macht die Animationen bedeuten würden, wenn sie nur echt wären! Körperliche Objekte, die – aus der Vorstellungskraft entstehen!
Nun gut. Er war hier, um die Realität zu prüfen. Es war nicht seine Sache, nur zu hoffen oder zu phantasieren.