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Macht

 

Es kam, eh die Jah­re ent­stan­den,

Zur Er­schaf­fung der Men­schen her­an:

Die Zeit mit den Thrä­nen zu Hän­den,

Der Gram mit dem Gla­se, das rann,

Die Lust mit der He­fe der Qual,

Der Som­mer, der Blu­men ge­streut,

Er­inn­rung, vom Him­mel ein Strahl

Und Wahn, den die Höl­le uns beut;

 

Und es ward die Lust und das We­he,

Und Ab­scheu und Lie­be zu­gleich,

Das Le­ben nach­her wie ehe,

Und Tod in je­dem Be­reich,

 

Sei­ne Spra­che ist Feu­er, das sprüht,

Die Lip­pe folgt sei­nem Ge­bot,

Sein Herz ist von Wün­schen durch­glüht,

Und vor­aus sieht sein Au­ge den Tod.

Er webt, und ihn klei­det nur Hohn,

Er sät und ern­tet nur Kum­mer,

Sein Le­ben ist ei­ne Vi­si­on,

Ein Wa­chen von Schlum­mer zu Schlum­mer.

 

Charles Al­ger­non Swin­bur­ne,

Ata­lan­te in Ca­ly­don{1}

 

Die Hüt­te von Pfar­rer Siltz war eben­so wie die an­de­ren, un­ter­schie­den le­dig­lich durch das Sym­bol von Ham­mer und Si­chel über der gro­ben Bal­ken­tür. Sie war klein, aber ge­müt­lich und gut auf­ge­räumt. Wän­de und De­cke wa­ren mit gro­ben Plan­ken ge­tä­felt, de­ren Ma­se­rung den­noch er­staun­lich aus­sah: das Holz des ört­li­chen Baums des Le­bens. Ei­ne Holz­lei­ter führ­te an der hin­te­ren Wand in die Dach­kam­mer. Es gab kei­ne Fens­ter, nur Luft­schlit­ze, um Re­gen oder Was­ser ab­zu­hal­ten. In der Mit­te des Raum­es stand, al­les an­de­re be­herr­schend, der Ofen.

„Oh, ein luft­ab­ge­schlos­se­ner Sei­ten­zugo­fen“, be­merk­te Bru­der Paul an­er­ken­nend. „Mit Koch­plat­te und Back­ofen. Ein sehr kom­pak­tes und leis­tungs­fä­hi­ges Ge­rät.“

„Sie ver­ste­hen et­was von Öfen?“ frag­te Pfar­rer Siltz, plötz­lich viel freund­li­cher.

Ich ha­be ei­ne Hand für Ge­rä­te“, ant­wor­te­te Bru­der Paul. „Nicht daß ich mich für einen Ex­per­ten hal­te, aber in un­se­rer Or­dens­sta­ti­on hei­zen wir mit Holz, und es war mei­ne Auf­ga­be, das Brenn­ma­te­ri­al aus dem Wald zu ho­len. Ich be­wun­de­re gu­te Ge­rä­te, wenn ich es auch für ei­ne Schan­de hal­te, zu ver­geu­den, was Gott hat wach­sen las­sen.“ Aber hier ver­brann­ten die Leu­te das Holz des Bau­mes, den sie ver­ehr­ten. Oh, er wur­de neu­gie­rig auf die Zu­sam­men­hän­ge hier!

Dann kam ei­ne Frau her­bei. Sie war mitt­le­ren Al­ters und von an­ge­neh­mem Äu­ße­ren. Er hat­te sie vor­her nicht be­merkt, weil der Ofen sei­ne Auf­merk­sam­keit ge­fes­selt hat­te – was man als Zei­chen für sei­nen ge­gen­wär­ti­gen ver­wirr­ten Zu­stand neh­men konn­te. Ihr Haar war dun­kel­braun und so ge­floch­ten, daß es der Rin­de ei­nes Bau­mes äh­nel­te. Nun fiel Bru­der Paul wie­der ein, daß er bei ei­ni­gen an­de­ren Frau­en, die drau­ßen ar­bei­te­ten, ähn­li­che Haar­trach­ten ge­se­hen hat­te. Son­der­bar, aber nicht un­an­sehn­lich. Noch ei­ne Ehr­er­bie­tung ge­gen­über dem Le­bens­baum.

„Mei­ne Frau“, sag­te Pfar­rer Siltz, und sie nick­te. Bru­der Paul hat­te noch nichts be­ob­ach­ten kön­nen, was auf die­sem Pla­ne­ten auf ei­ne Gleich­stel­lung der Frau mit dem Mann hin­deu­te­te, doch er hü­te­te sich, zu die­sem frü­hen Zeit­punkt An­nah­men auf­zu­stel­len. „Mein Sohn ist bei der Ar­beit; wir wer­den ihn heu­te Abend se­hen.“ Noch ei­ne son­der­ba­re Be­to­nung; ent­we­der hat­te der Pfar­rer ei­ne gan­ze Rei­he son­der­ba­rer Ei­gen­schaf­ten, oder Bru­der Paul maß den un­be­deu­ten­den Nu­an­cen in sei­ner Mie­ne zu­viel Be­deu­tung bei.

„Ihr Haus ist nach ir­di­schen Maß­stä­ben klein“, sag­te Bru­der Paul vor­sich­tig. „Ich fürch­te, mei­ne Ge­gen­wart wird sie in Be­dräng­nis brin­gen.“

Der Pfar­rer klapp­te ei­ne Bank von der Wand ab. „Wir kom­men schon zu­recht. Ich be­dau­re, kei­ne bes­se­ren Mög­lich­kei­ten zu ha­ben. Aber wir sind ei­ne Front­ko­lo­nie.“

„Ich woll­te nicht Ih­re Mög­lich­kei­ten hier kri­ti­sie­ren“, sag­te Bru­der Paul rasch. „Ich bin nicht we­gen der Be­quem­lich­keit her­ge­kom­men, und dies hier wür­de ich kaum als Man­gel be­zeich­nen. Sie ha­ben ein be­wun­derns­wert mas­siv ge­bau­tes Haus.“

Die Frau stieg auf die Lei­ter und ver­schwand auf dem Bo­den. „Für sie ist jetzt Schla­fens­zeit“, er­klär­te Siltz. „Sie muß bei Nacht hel­fen, den Wald zu be­wa­chen; da­her muß sie sich nun dar­auf vor­be­rei­ten. Das ist der Grund, warum wir Platz ge­nug für Sie ha­ben.“

„Den Wald be­wa­chen?“ frag­te Bru­der Paul ver­dutzt.

Pfar­rer Siltz zog ei­ni­ge lan­ge, schma­le Strei­fen Holz her­vor und be­gann sie zu et­was wie ei­ner De­cke zu flech­ten. „Bru­der Paul, Holz ist bei uns von aller­größ­ter Be­deu­tung. Die­ses Haus ist dar­aus er­baut und da­mit iso­liert; wir stel­len Mö­bel dar­aus her, Waf­fen, hei­zen da­mit. Auf un­se­re Wei­se ver­eh­ren wir so Gott, weil un­ser Be­darf dar­an so dring­lich ist. Wir be­kom­men es aus ei­nem ent­fernt ge­le­ge­nen Wald und schla­gen es mit un­se­ren ei­ge­nen Hän­den un­ter Be­wa­chung ge­gen die Raub­tie­re des Ge­bir­ges. Wir wa­gen es we­gen der Ani­ma­tio­nen nicht, un­ser Dorf in der Nä­he des Wal­des zu er­rich­ten; zu die­ser Jah­res­zeit su­chen sie die­se Ge­gend heim, wäh­rend sie hier nur sel­ten auf­tau­chen. Die an­de­ren Dör­fer auf die­sem Pla­ne­ten be­fin­den sich in ähn­li­cher La­ge, da­mit sie fern von der Be­dro­hung sind. Wir trei­ben nur we­nig Han­del mit den an­de­ren Sied­lun­gen. Im Win­ter fällt der Schnee bis zu ei­ner Hö­he von acht Me­tern.“

„Acht Me­ter!“ wie­der­hol­te Bru­der Paul un­gläu­big.

„Und iso­liert uns von der mi­nus fünf­zig Grad kal­ten Erd­ober­flä­che. Die­je­ni­gen, die ih­ren Vor­rat an Brenn­holz vor dem Win­ter­ein­bruch ver­feu­ern, müs­sen ih­re Mö­bel und Stütz­bal­ken ver­bren­nen oder ster­ben, und wenn sie so­viel ver­bren­nen, daß der Schnee ihr Haus zum Ein­sturz bringt, müs­sen sie eben­falls ster­ben.“

„Kann man nicht Tun­nel durch den Schnee gra­ben, um in das nächs­te Haus zu ge­lan­gen und mit den Nach­barn zu tei­len?“

„Wenn die Nach­barn zu­fäl­lig den glei­chen Glau­ben ha­ben.“ Der Mann run­zel­te die Stirn. Bru­der Paul ver­mu­te­te ei­ne wei­te­re Kom­pli­ka­ti­on die­ser Ge­sell­schaft. Fa­mi­li­en mit ver­schie­de­ner Re­li­gi­on wür­den ih­re Vor­rä­te nicht tei­len, selbst wenn es dar­um ging, Le­ben zu ret­ten? „Je­ne, die mehr neh­men als das ih­nen zu­ge­wie­se­ne Holz, brin­gen das Le­ben an­de­rer in Ge­fahr. Auf die­sem Pla­ne­ten gibt es kei­ne To­dess­tra­fe – au­ßer für Holz­dieb­stahl. Der Baum des Le­bens darf nicht be­lei­digt wer­den!“ Das Ge­sicht des Pfar­rers war rot an­ge­lau­fen; er fing sich je­doch wie­der und mä­ßig­te sei­nen Ton. „Wir be­fin­den uns hier in ei­ner schwie­ri­gen Si­tua­ti­on; es ist ei­ne gu­te Welt, aber auch ei­ne rau­he. Wir sind nicht eins im Glau­ben und kön­nen ein­an­der kaum ver­trau­en, ge­schwei­ge denn, die lä­cher­li­chen re­li­gi­ösen Ge­bräu­che des je­weils an­de­ren be­grei­fen. Das ist der Grund, warum Ih­re Missi­on so wich­tig ist. Sie sol­len ent­schei­den, wel­cher Gott der wah­re Gott von Ta­rot ist.“

Bru­der Paul be­gann, die­se Ver­bin­dung zwi­schen Gott und Holz zu ak­zep­tie­ren. Oh­ne Holz wür­den die­se Men­schen nicht über­le­ben, und das wuß­ten sie auch. Aber das reich­te nicht als Be­grün­dung für ih­ren of­fen­sicht­li­chen Fe­ti­schis­mus aus. Auf der Er­de brauch­ten die Men­schen zum Über­le­ben Was­ser, und fri­sches Was­ser war sel­ten, und den­noch wur­de es nicht ver­ehrt. „Das ist mei­ne Missi­on, so an­ma­ßend es auch klin­gen mag. Ich ver­mu­te, Sie schät­zen sie nicht sehr.“

Be­un­ru­higt blick­te Siltz von sei­ner We­be­rei auf. „Ha­be ich das ge­sagt?“

„Nein, das ist nur mein Ein­druck. Sie brau­chen sich nicht mit mir dar­über zu un­ter­hal­ten, wenn Sie nicht wol­len.“

„Ich wür­de mich sehr gern dar­über un­ter­hal­ten“, ent­geg­ne­te Siltz. „Aber der Ver­trag ver­bie­tet es. Wenn Ih­nen mei­ne Hal­tung dies ver­mit­telt, dann bin ich kein an­stän­di­ger Gast­ge­ber und muß mich um ein an­de­res Quar­tier für Sie küm­mern.“

Was si­cher­lich nicht son­der­lich di­plo­ma­tisch wä­re! „Wahr­schein­lich las­se ich mich von falschen Schlüs­sen lei­ten. Da­für muß ich mich ent­schul­di­gen“, sag­te Bru­der Paul.

„Nein, Sie sind ein in­tel­li­gen­ter und sen­si­bler Mensch. Ich wer­de ver­su­chen, die­se Fra­ge an­zu­ge­hen, oh­ne den Ver­trag zu ver­let­zen.

Ich ha­be in der Tat et­was ge­gen Ih­re Ge­gen­wart hier, aber das hat in kei­ner Wei­se et­was mit Ih­rer Per­son oder In­te­gri­tät zu tun. Ich glau­be le­dig­lich, es ist ei­ne Fra­ge, die nicht auf die­se Wei­se be­ant­wor­tet wer­den kann. Sie wer­den ge­wiß einen Gott ent­de­cken, der Ih­ren per­sön­li­chen Vor­stel­lun­gen ent­spricht, aber des­sen Über­ein­stim­mung mit dem wirk­li­chen Gott zu­fäl­lig sein kann. Ich hiel­te die An­ge­le­gen­heit lie­ber un­ge­klärt, um nicht einen Irr­tum als Er­geb­nis zu er­hal­ten. Aber ich zäh­le da zur Min­der­heit. Man hat Sie her­bei­ge­ru­fen, und das Los, in sei­ner Weis­heit, hat Sie in mein Haus ge­führt, wo ich Ih­nen die Missi­on auf ge­nau die Wei­se er­leich­tern wer­de, als ob ich sie un­ter­stütz­te. Das ver­langt mein Gott von mir.“

„Ich glau­be, un­se­re Vor­stel­lun­gen von Gott kön­nen nicht all­zu weit aus­ein­an­der lie­gen“, mein­te Bru­der Paul. „Ich fin­de Ih­re Hal­tung völ­lig lo­bens­wert. Aber las­sen Sie mich einen Aspekt ver­deut­li­chen: Die Er­de hat mich her­ge­schickt, nicht die Ko­lo­nie Ta­rot. Wir auf der Er­de sind dar­an in­ter­es­siert, ob der Gott von Ta­rot echt oder der Phan­ta­sie von ir­gend je­man­dem ent­springt. Auch wir auf der Er­de pas­sen dar­auf auf, daß nicht ei­ne Per­son, die sich ei­ner Sa­che ver­schrie­ben hat, da­durch blind ge­gen­über der Wahr­heit wird, wie im­mer sie auch aus­sieht. Ich be­zweifle, ob ich die­ser Missi­on wert bin, doch ich ha­be fest vor, mei­ne per­sön­li­chen Mei­nun­gen so weit wie mög­lich her­aus­zu­hal­ten, um je­ne Wahr­heit zu si­chern, wenn sie mir auch nicht ge­fällt. Ich fin­de nicht, daß ihr Ko­lo­nis­ten ir­gend­ei­nen Teil mei­nes Be­richts ak­zep­tie­ren müßt oder eu­er Le­ben da­durch be­ein­flus­sen las­sen soll­tet. Ich bin in der Tat un­si­cher be­züg­lich Ih­rer Hin­wei­se auf die ver­schie­de­nen Göt­ter. Ge­wiß gibt es nur einen ein­zi­gen Gott.“

Pfar­rer Siltz lä­chel­te trau­rig. „In­dem Sie mich so be­ru­hi­gen, brin­gen Sie mich an die Gren­ze mei­ner Kom­pro­miß­be­reit­schaft. Ich muß Sie mit den Ein­zel­hei­ten der re­li­gi­ösen Ge­bräu­che hier ver­traut ma­chen und Sie bit­ten, groß­zü­gig ge­gen­über dem Man­gel an Ob­jek­ti­vi­tät zu ver­fah­ren, wenn Sie einen sol­chen be­mer­ken. Wir sind ei­ne Ko­lo­nie der Schis­ma­ta, von Split­ter­sek­ten. Vie­le von uns wa­ren sich über den wah­ren Cha­rak­ter von Ta­rot im kla­ren, be­vor wir von der Er­de hier­her wan­der­ten, und ein je­der von uns sah dar­in die po­ten­ti­el­le Rea­li­sie­rung von Gott – un­se­rer je­wei­li­gen, be­son­de­ren Vor­stel­lung von Gott, wenn man so will. Das scheint je­den­falls auf die schwächs­ten Sek­ten den stärks­ten Reiz aus­ge­übt zu ha­ben, zu­min­dest auf die zah­len­mä­ßig kleins­ten. Da­her woh­nen hier nur we­ni­ge Ka­tho­li­ken, Mo­ham­me­da­ner, Bud­dhis­ten oder Kon­fu­zia­ner, hin­ge­gen vie­le Ro­sen­kreuz­ler, Spi­ri­tua­lis­ten, Moon-Leu­te, Gno­s­ti­ker, die vom Flam­men­den Schwert …“

„Flam­men­des Schwert? Das ist ein Ta­rot-Bild. Ich mei­ne, ein Ta­rot-Kar­ten­typ.“

„Nein. Bit­te ent­schul­di­gen Sie, wenn ich un­an­ge­mes­sen die Um­gangs­spra­che be­nut­ze. Das ist mein Vor­teil ge­gen­über je­nen Glau­bens­ge­mein­schaf­ten, das Sie bit­te un­be­ach­tet las­sen. Das Flam­men­de Schwert ist ei­ne Pu­bli­ka­ti­on der christ­lich-apo­sto­li­schen Kir­che in Zi­on, de­ren Dog­ma lau­tet, die Er­de sei flach und nicht rund.“

„Aber wie konn­ten sie dann auf einen an­de­ren Pla­ne­ten aus­wan­dern? Sie dürf­ten doch gar nicht glau­ben, daß an­de­re Pla­ne­ten über­haupt exis­tie­ren?“

„Das müs­sen Sie schon ein Mit­glied die­ses Kults fra­gen; viel­leicht kann es Ih­nen die wahr­schein­lichs­ten Ver­nunft­grün­de da­zu lie­fern. Ich fürch­te, mir bleibt das ver­schlos­sen, aber mir ist es auch durch den Ver­trag ver­bo­ten, in Ih­rer Ge­gen­wart den Glau­ben an­de­rer zu kri­ti­sie­ren. Las­sen Sie uns ein­fach fest­stel­len, daß im Glau­ben al­les mög­lich ist. Ich bin si­cher, Sie wer­den mei­ne Po­si­ti­on ver­ste­hen.“

„Das tue ich“, stimm­te ihm Bru­der Paul zu. Trotz sei­ner Gries­grä­mig­keit war der Pfar­rer ein auf­rich­ti­ger, ein­sich­ti­ger Mensch und gu­ter Gast­ge­ber. „Ich ha­be ein­mal die De­fi­ni­ti­on ei­nes Kin­des ge­hört: ‚Glau­be ist Ver­trau­en in et­was, von dem man weiß, daß es ei­gent­lich nicht so ist.’ Das fiel mir ge­ra­de so ein.“ Er ver­stumm­te. „Hmm … ich woll­te Sie da­mit nicht be­lei­di­gen, aber ich hat­te nicht da­mit ge­rech­net, auf et­was wie Ih­re Kir­che zu­sto­ßen. Wie lau­ten Ih­re Vor­stel­lun­gen?“

„Ich be­daue­re, dies nur va­ge be­ant­wor­ten zu kön­nen. Ich ha­be beim Baum des Le­bens ge­schwo­ren, nicht zu ver­su­chen, Ih­re Ge­dan­ken durch Vor­ur­tei­le von mei­nem ei­ge­nen be­son­de­ren Glau­ben zu ver­gif­ten.“

Doch die Hal­tung des Man­nes war deut­lich er­kenn­bar! „We­gen des Ver­tra­ges?“

„Ge­nau! Ich neh­me nicht für mich in An­spruch, mit dem Ver­trag über­ein­zu­stim­men, doch ich bin durch ihn ge­bun­den. Die Mehr­heit meint, eu­re fort­ge­setz­te Ob­jek­ti­vi­tät sei der kri­ti­sche Punkt. Ich will nur sa­gen, daß die Leit­li­ni­en der Zwei­ten Kom­mu­nis­ti­schen Kir­che es­sen­ti­ell hu­ma­nis­tisch sind und wir nur sym­bo­li­sche Ver­bin­dung mit den atheis­ti­schen Kom­mu­nis­ten auf der Er­de ha­ben. Wir sind theis­ti­sche Kom­mu­nis­ten.“

„Ach ja“, mein­te Bru­der Paul ab­we­send. Got­tes­fürch­ti­ge Kom­mu­nis­ten – und der Pfar­rer war of­fen­sicht­lich da­bei ehr­lich. Aber das war kaum ab­nor­ma­ler als got­tes­fürch­ti­ge Ka­pi­ta­lis­ten. „Ich hat­te den Ein­druck, der Pla­net Ta­rot sei ei­ne eng­lisch­spra­chi­ge Ko­lo­nie; sind die hier ver­tre­te­nen Re­li­gio­nen vor­nehm­lich west­li­cher Prä­gung?“

„Ja. Un­ge­fähr acht­zig Pro­zent lei­ten sich aus abend­län­disch­christ­li­chen Ur­sprün­gen ab; der Rest stammt von über­all­her. In die­sem Sin­ne glau­ben die meis­ten hier an ei­ne Ge­stalt Chris­tus, wie Sie auch; da­her hat­te ich ge­sagt, Ihr Or­den sei gut für die­sen Zweck, wenn ich auch die­sen Zweck in Fra­ge stel­le. Sie wer­den wahr­schein­lich einen christ­li­chen Gott fin­den, aber es gibt kei­ne ört­li­che Kir­che, die sie be­frie­di­gen müs­sen. Da­her kön­nen Sie re­la­tiv un­ab­hän­gig ar­bei­ten. Der Ruf Ih­res Or­dens ist Ih­nen vor­aus­ge­eilt; man weiß von den Vi­sio­nis­ten, daß sie sich nicht in Glau­bens­din­ge an­de­rer ein­mi­schen, aber den­noch ih­rem Glau­ben treu blei­ben. Ich glau­be, man wird Sie hier be­grü­ßen.“

„Ich ha­be mir noch nicht klar­ge­macht, daß mei­ne Missi­on von der ört­li­chen Zu­stim­mung hier ab­hängt“, mein­te Bru­der Paul ein we­nig iro­nisch. „Was wol­len sie denn tun, wenn sie mich nicht mö­gen? Mich zu­rück zur Er­de ver­frach­ten?“ Es gab na­tür­lich für die Ko­lo­nis­ten kei­ne Mög­lich­kei­ten, dies zu tun.

„Es gibt hier wel­che, de­ren Glau­ben lau­tet, Un­gläu­bi­ge zu ver­nich­ten“, sag­te Siltz. „Wir hal­ten un­ser Dorf hier für si­cher, aber für an­de­re Dör­fer kön­nen wir kei­ne Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Wir wer­den Sie na­tür­lich in den Gren­zen un­se­rer Mög­lich­kei­ten be­schüt­zen – aber es ist bes­ser, in die­ser An­ge­le­gen­heit ei­nig zu sein.“

„Ja, das schät­ze ich sehr.“ Trau­rig schüt­tel­te Bru­der Paul den Kopf. Un­gläu­bi­ge ver­nich­ten? Das klang für ihn nach fa­na­ti­schem Mord. In was für ein Schlan­gen­nest hat­te man ihn ge­bracht? Da­vor hat­te ihn nie­mand ge­warnt; of­fen­sicht­lich wuß­ten die Zu­stän­di­gen auf der Er­de nur we­nig über die ge­sell­schaft­li­chen Phä­no­me­ne auf ih­ren Ko­lo­ni­en. Er konn­te es sich nicht leis­ten, sich auf die ma­ge­ren In­for­ma­tio­nen zu ver­las­sen. „Aber wenn die meis­ten Sek­ten hier an einen christ­li­chen Gott glau­ben – der auch der jü­di­sche und mo­ham­me­da­ni­sche ist, ob man ihn nun Jahwe oder Al­lah nennt – warum be­steht dann das Be­dürf­nis, ihn nä­her zu spe­zi­fi­zie­ren?“

„Das ist ge­nau die Fra­ge, die ich auch schon zu be­ant­wor­ten ver­sucht ha­be“, ent­geg­ne­te Pfar­rer Siltz. „Wir sind ei­ne un­ge­wöhn­lich ei­fer­süch­ti­ge, zu­sam­men­ge­wür­fel­te Kul­tur, wir auf dem Pla­ne­ten Ta­rot. Ih­re In­ter­pre­ta­ti­on Got­tes un­ter­schei­det sich ge­wiß von mei­ner, und un­se­re bei­den un­ter­schei­den sich von der der atheis­ti­schen Kir­che. Wer will be­haup­ten, wel­che Sek­te am wahr­haf­tigs­ten Got­tes Wil­len wi­der­spie­gelt? Es muß un­ter uns ei­ne Grup­pe ge­ben, die Gott lie­ber hat als die an­de­ren, wenn Er auch die an­de­ren um die­ser einen wil­len to­le­riert – und die­se ei­ne müs­sen wir be­stim­men. Viel­leicht hat Gott uns das har­te Win­ter­kli­ma be­stimmt, um uns zu zwin­gen, uns ihm mehr zu­zu­wen­den, wie der Gott der Ju­den ih­nen den Man­gel be­scher­te, um sie vom Irr­weg ab­zu­brin­gen. Wir al­le hän­gen von der Groß­zü­gig­keit des Baum des Le­bens ab, und so müs­sen wir letzt­end­lich den Baum­gott ver­eh­ren, auch wenn wir die­sen Gott nicht mö­gen und viel­leicht auch nicht die Sek­te, die Gott aus­er­wählt hat. Ob wir Ihn nun den Gott nen­nen oder auch nur einen von vie­len, spielt kaum ei­ne Rol­le; wir müs­sen Ihn an­re­den, wie Er es dik­tiert. Und das wer­den wir auch tun. Aber zu­nächst müs­sen wir ob­jek­tiv fest­stel­len, wie wir uns am an­ge­mes­sens­ten die­sem Gott nä­hern.“

Puh! Die Ko­lo­nis­ten nah­men die An­ge­le­gen­heit viel erns­ter als die Wis­sen­schaft­ler auf der Er­de. „Das kann ich aber nun wirk­lich nicht leis­ten“, sag­te Bru­der Paul vor­sich­tig. „Für mich ist Gott al­les; Er be­güns­tigt kei­ne ein­zel­ne Re­li­gi­ons­ge­mein­schaft. In die­sem Sin­ne ist der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on auch kei­ne Sek­te; wir su­chen le­dig­lich nach der Wahr­heit, die Gott ist, und wir mei­nen, daß die Form un­wich­tig ist. Wäh­rend wir Je­sus Chris­tus als Sohn ver­eh­ren, ver­eh­ren wir eben­so Bud­dha, Za­ra­thustra und die an­de­ren großen re­li­gi­ösen Ge­stal­ten; ei­gent­lich sind wir doch al­le Kin­der Got­tes. Wir wol­len al­so le­dig­lich her­aus­fin­den, ob sich Gott über­haupt hier ma­ni­fes­tiert; wir wol­len ihn nicht kon­trol­lie­ren und nicht an­neh­men, daß ei­ner re­li­gi­ösen Sek­te et­was un­ter­scho­ben wird.“

„Gut ge­sagt! Aber ich den­ke, daß Gott das letz­te Wort ha­ben wird. Er wird Sei­nen Wil­len auf Sei­ne Wei­se kund­tun, und Sie wer­den – ent­spre­chend der Mei­nung der Mehr­heit der Ko­lo­nie, die ich in Fra­ge stel­le – die­sen Wil­len re­flek­tie­ren. Gott ist Macht; nie­mand von uns kommt da­ge­gen an, noch wür­den wir das wol­len.“

Bru­der Paul war sich nicht si­cher, ob er zwi­schen sich und dem Pfar­rer ei­ne fest Ver­stän­di­gungs­grund­la­ge ge­bil­det hat­te, doch er fand die Dis­kus­si­on an­re­gend. Doch es war auch an der Zeit, mehr in die prak­ti­schen De­tails zu ge­hen. „Ich wüß­te gern mehr über die räum­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten hier“, sag­te er. „Be­son­ders, wo die­se Er­schei­nun­gen vor­kom­men.“

„Das wer­den wir Ih­nen mor­gen zei­gen. Die Er­schei­nun­gen fin­den über­all statt, kom­men aber all­ge­mein in der drei Ki­lo­me­ter von hier im Nor­den lie­gen­den Oa­se vor. Wir müs­sen ei­ne Be­glei­tung für Sie aus­wäh­len.“

„Oh, das brau­che ich nicht …“

„Uns liegt Ih­re Si­cher­heit am Her­zen, Bru­der Paul. Wenn Sie durch ei­ne Er­schei­nung ster­ben, wie so vie­le, dann wür­den wir um un­se­re Ant­wort ge­bracht und stün­den auf der Er­de in schlech­tem Ruf.“

Er­nüch­tern­de Ge­dan­ken! Die Ehr­wür­di­ge Mut­ter Ma­ria hat­te ihn ge­warnt, daß die re­li­gi­ösen Wis­sen­schaft­ler ent­we­der den Ver­stand ver­lo­ren hat­ten oder bei der Er­for­schung des Phä­no­mens ge­stor­ben wa­ren; hier war die Be­stä­ti­gung. Doch er pro­tes­tier­te wei­ter. „Ich möch­te Sie nicht in Ver­ruf brin­gen, aber …“

Er wur­de durch Siltz’ kur­z­es, schnau­ben­des La­chen un­ter­bro­chen bei der Er­wäh­nung, daß ihm der Ruf des Pla­ne­ten wich­ti­ger sei als sein Le­ben. „Ich hät­te ge­dacht, daß Raub­tie­re die Er­schei­nun­gen mei­den?“

„Das tun sie auch. Aber wer schützt Sie vor den Er­schei­nun­gen sel­ber?“

„Wie ich es bis­lang ver­stan­den ha­be, han­delt es sich bloß um be­stä­tig­te Vi­sio­nen – sicht­ba­re Phan­ta­sie. Es gibt na­tür­lich kei­ne phy­si­schen …“

Nach­drück­lich schüt­tel­te Pfar­rer Siltz den Kopf. „Sie sind aber kör­per­lich! Und es wird ein kör­per­li­cher Gott sein, auf den Sie sto­ßen, ob er nun Gül­tig­keit hat oder nicht. Sie wer­den schon se­hen.“

Kör­per­li­che Ima­gi­na­ti­on? Ir­gend et­was war hier sehr ver­wor­ren. Na­tür­lich war das bei sei­ner Un­ter­rich­tung auf der Er­de schon an­ge­klun­gen, aber er hat­te da­zu ge­neigt, der­ar­ti­ge Be­mer­kun­gen als Über­trei­bun­gen ab­zu­tun. „Ich fürch­te, ich …“

Der Pfar­rer hob ei­ne Hand. „Das wer­den Sie schon recht­zei­tig für sich sel­ber her­aus­fin­den. Ich will den Geist des Ver­tra­ges nicht ver­let­zen, wenn ich ihn dem Buch­sta­ben nach auch schon, wie ich fürch­te, kom­pro­mit­tiert ha­be. Nun müs­sen wir ge­hen, ehe der Sturm kommt.“

Als der Mann die letz­ten Wor­te aus­sprach, hör­te Bru­der Paul mäch­ti­ges Don­nern. „Wo­hin ge­hen wir?“

„Zum ge­mein­sa­men Mit­tages­sen. Das ist prak­ti­scher, als wenn je­der zu Hau­se kocht, und be­deu­tet auch ei­ne ge­rech­te­re Ver­tei­lung der Nah­rungs­mit­tel. Da­her or­ga­ni­sie­ren wir das im Som­mer so.“ Na­tür­lich muß­te ein Kom­mu­nist das so emp­fin­den! „Sturm­zeit ist gu­te Es­sens­zeit, da wir oh­ne­hin nicht drau­ßen ar­bei­ten kön­nen.“

„Ih­re Frau – kommt sie nicht mit?“

„Nein. Sie ißt bei ei­ner an­de­ren Schicht, wie auch mein Sohn. Wäh­rend Ih­res Auf­ent­hal­tes hat man mich von der Ar­beit be­freit; mei­ne Ar­beit be­steht dar­in, mich um Sie zu küm­mern. Nun muß ich da­für sor­gen, daß Sie an­stän­dig zu es­sen be­kom­men. Kom­men Sie, ich ha­be schon zu lan­ge ge­war­tet. Ich ver­nach­läs­si­ge mei­ne Ver­ant­wort­lich­kei­ten. Wir müs­sen uns be­ei­len.“

Sie eil­ten hin­aus. Drau­ßen sah Bru­der Paul die auf­ge­türm­ten dro­hen­den Wol­ken vom See im Os­ten her­an­trei­ben, so dicht, daß sie wie La­va­b­la­sen am Him­mel aus­sa­hen. Durch ir­gend­ei­ne Ei­gen­art des Kli­mas hier kam der Wind im rech­ten Win­kel da­zu aus dem Nor­den, und es sah so aus, als fie­le der Re­gen schon auf das Wei­zen­feld im Wes­ten. Die Wol­ken wa­ren al­so die ein­zig sicht­ba­ren Bo­ten des Sturms; die ers­ten Böen über­fie­len schon das Dorf. Und jetzt sah er auch bun­te Blit­ze – Ta­rot­bla­sen, die vor dem Wind her­ge­trie­ben wur­den, rasch zer­platz­ten, aber so zahl­reich wa­ren, daß sie den Him­mel schmück­ten. Was für ei­ne hüb­sche Sa­che!

„Zu spät!“ sag­te Pfar­rer Siltz. „Aber ich gel­te als nach­läs­sig, wenn ich Sie nicht zu den an­de­ren brin­ge. Wir wer­den die Be­cher be­nüt­zen müs­sen.“

„Ich kann ein biß­chen Re­gen gut aus­hal­ten“, sag­te Bru­der Paul.

Er hat­te so­gar ei­ne Vor­lie­be für hef­ti­ge Stür­me; sie ver­deut­lich­ten ihm die Kraft der Na­tur.

Aber der Mann war schon zu­rück ins Haus ge­gan­gen. „Es ist nicht nur Was­ser“, rief er von in­nen. „Groß­fuß lau­ert in Re­gen und Schnee!“

Groß­fuß? Paul kann­te Le­gen­den von der Er­de über den Ye­ti, Sas­quatch, den ent­setz­li­chen Schnee­men­schen, den Skun­kaf­fen und Bug­be­ar; man konn­te ihn so­gar einen Fan von Groß­fuß nen­nen. Mit der kul­tu­rel­len und tech­no­lo­gi­schen Re­zes­si­on auf der Er­de, ver­ur­sacht durch die Ent­völ­ke­rung, wa­ren die­se Ge­schich­ten an An­zahl und Ein­dring­lich­keit ge­wach­sen. Er glaub­te, daß die meis­ten Be­rich­te über rie­si­ge, men­schen­ar­ti­ge Mons­ter le­dig­lich über­trie­be­ne Wahr­neh­mun­gen ab­ge­ris­se­ner, viel­leicht schlech­ter Men­schen wa­ren. Ein zer­zaus­ter, zer­lump­ter, schmut­zi­ger und ver­zwei­fel­ter Mensch konn­te je­der­mann in Schre­cken ver­set­zen, be­son­ders wenn man ihn in der Däm­me­rung auf sei­ner Su­che nach Nah­rung er­blick­te. Ob non­hu­ma­ne Mons­ter exis­tier­ten – wer konn­te das schon sa­gen? Aber Bru­der Paul hoff­te dar­auf, denn es wür­de die Er­de ge­wiß noch in­ter­essan­ter ma­chen.

Pfar­rer Siltz tauch­te mit ei­nem Arm­voll Bret­tern wie­der auf. Rasch bau­te er zwei Hälf­ten aus Holz zu­sam­men, ei­ne je­de von ei­nem Me­ter Durch­mes­ser und von bös­ar­tig wir­ken­den Spit­zen um­ge­ben. Son­der­ba­re Be­cher! Hat­te dies auf sym­bo­li­sche Wei­se mit dem Sturm zu tun? Was­ser, die Kel­che des Ta­rot?

„Man setzt sich den Rah­men auf die Schul­tern und schnallt ihn un­ter den Ar­men fest“, er­klär­te Siltz. „Wenn der Sturm ei­ne Pau­se macht, be­we­gen Sie sich da­mit und wer­den ge­schützt sein. Las­sen Sie nicht den Feind hin­ein; er könn­te sie fort­tra­gen. Wenn Groß­fuß kommt, ver­trei­ben Sie ihn … es … mit den Spit­zen.“ Siltz muß­te sich of­fen­sicht­lich be­wußt klar­ma­chen, daß das Mons­ter nicht­mensch­lich war. „Und den­ken Sie dar­an, ich wer­de bei Ih­nen sein.“ Und dann leg­te der Pfar­rer sei­nen ei­ge­nen Schutz­man­tel an.

Der schir­mar­ti­ge Be­cher senk­te sich um Bru­der Pauls Schul­tern. Er konn­te kaum noch et­was se­hen. Er woll­te bei sei­nem Gast­ge­ber blei­ben, doch das war lä­cher­lich.

Pfar­rer Siltz ge­lei­te­te ihn über den wei­chen Bo­den an dem nun ver­las­se­nen Holz­stoß vor­bei (nur zwei Wa­chen mit Drei­zacks stan­den dort) auf ein grö­ße­res Ge­bäu­de oben auf ei­nem klei­nen Hü­gel zu. Trotz der be­hin­dern­den Um­hül­lun­gen ka­men sie rasch vor­an.

Es don­ner­te nur noch we­ni­ge Ma­le, über­flüs­si­ge Er­in­ne­run­gen an die Hef­tig­keit des Stur­mes. Die Was­ser­wand be­fand sich nun einen Ki­lo­me­ter weit ent­fernt und peitsch­te die Ober­flä­che des Sees mit sol­cher Ge­walt, daß dort au­gen­schein­lich kein Ho­ri­zont mehr zu se­hen war, nur noch Gischt. We­gen der Be­hin­de­rung durch den Holz­be­cher konn­te Bru­der Paul oh­ne­hin nicht viel se­hen. So blick­te er al­so auf sei­ne Fü­ße und die sei­nes Be­glei­ters und ging wei­ter in dem Ge­fühl, ei­ne Ton­ne auf Bei­nen zu sein, wäh­rend sei­ne Ge­dan­ken sich mit Groß­fuß be­schäf­tig­ten. Konn­te es hier auf dem Pla­ne­ten Ta­rot ein ähn­li­ches We­sen ge­ben? Oder war das nur Aber­glau­ben der Pio­nie­re? Bei all die­sen bruch­stück­haf­ten re­li­gi­ösen Kul­ten wä­re es kei­ne Über­ra­schung, einen star­ken Glau­ben an das Über­na­tür­li­che vor­zu­fin­den. Aber wenn es wirk­lich …

Ein plötz­li­cher, letz­ter Don­ner­schlag riß ihn fast um. Noch nie­mals hat­te er einen der­ar­ti­gen Schock ver­spürt. Er war taub und be­nom­men und starr­te zu Bo­den, spür­te, wie sich sein Haar sträub­te, und nahm ein son­der­ba­res Kit­zeln am gan­zen Kör­per wahr. Das Haar war elek­trisch auf­ge­la­den und er sel­ber auch! Si­cher wür­den noch mehr Blit­ze kom­men, und das ge­fiel ihm nicht. Es hat­te ge­nau ge­stimmt, was man über die rau­hen Be­din­gun­gen auf die­sem Pla­ne­ten ge­sagt hat­te. Kei­ne höl­zer­nen Schil­de konn­ten einen da­vor schüt­zen!

Pfar­rer Siltz mach­te un­ter sei­ner Ton­ne hef­ti­ge Arm­be­we­gun­gen, die ihn wei­ter­dräng­ten. Ja, Bru­der Paul sehn­te sich in der Tat da­nach, un­ter ein or­dent­li­ches Dach zu ge­lan­gen.

Re­gen pras­sel­te her­ab. Es war wie ei­ne La­wi­ne, die die Holz­ton­ne fast ein­drück­te. Re­gen? Das wa­ren Ha­gel­kör­ner, Eis­bäl­le von fast ei­nem Zen­ti­me­ter Durch­mes­ser. Sie poch­ten for­dernd auf den Schild, klein, aber hart. Nein, oh­ne Kopf­be­de­ckung wä­re er nicht gern durch die­sen Eis­re­gen ge­gan­gen!

Ei­ne Wind­bö trieb ihm et­was zwi­schen die Bei­ne und zerr­te an dem Holz­schild. Rasch ori­en­tier­te sich Bru­der Paul, um den Stoß auf­zu­fan­gen. Die­ser Sturm hat­te wirk­lich Kraft!

Dann wur­de der Ha­gel dün­ner, zu Schlo­ßen, dann zu Was­ser. Nun war er si­cher: Er trug in der Tat einen Kelch bei sich, um sich vor dem An­sturm des Was­sers zu schüt­zen. Ob die Ko­lo­nis­ten sich wis­sent­lich oder un­wis­sent­lich durch den Ta­rot-Sym­bo­lis­mus schütz­ten, das konn­te er nicht sa­gen, doch sie mach­ten es sich zu­nut­ze.

Das Feld war nun ein Fluß von ei­nem Zen­ti­me­ter Tie­fe. Bun­te Ta­rot­bla­sen tanz­ten auf der Ober­flä­che und schie­nen beim blo­ßen An­blick zu zer­plat­zen. Wahr­schein­lich aber ging es an­ders­her­um: Sein Blick fiel im Mo­ment des Plat­zens erst auf sie. Die an­de­ren ver­lie­hen der Sze­ne­rie einen sur­rea­lis­ti­schen Aspekt.

Pfar­rer Siltz trat dicht zu ihm. „Aus dem Ka­nal her­aus. Fol­gen Sie der Bö­schung.“ Bru­der Paul er­kann­te, daß sie in ei­ner klei­nen Ver­tie­fung gin­gen. Kein Wun­der, daß sei­ne Fü­ße pitsch­naß wa­ren. Er ging zur Sei­te und fand einen bes­se­ren Weg.

„Groß­fuß kommt!“ schrie Siltz. „Mehr schnell!“ Und er be­gann zu lau­fen.

Mehr schnell! Spra­che bil­de­te sich al­so un­ter Streß zu­rück. Das war kein Scherz, denn der Mann war höchst auf­ge­regt. Bru­der Paul folg­te ihm und frag­te sich, wie­so der Pfar­rer die rich­ti­ge Rich­tung er­ken­nen konn­te. Der Re­gen ver­hüll­te al­les, und es gab kein An­zei­chen für ein Nach­las­sen. Nun zuck­ten die Blit­ze in den See, ver­brei­ter­ten sich dort und über­deck­ten das nor­ma­le Ufer; al­les wur­de zu Was­ser. Die Ha­gel­kör­ner am Bo­den schmol­zen. Aber die­se Sa­che mit Groß­fuß …

Dann sah er den Fuß­ab­druck.

Er war wie der ei­nes Man­nes, doch einen hal­b­en Me­ter lang. Das We­sen, wel­ches die­sen Ab­druck hin­ter­las­sen hat­te, muß­te drei­mal so groß wie ein Mensch sein, wenn die an­de­ren Ma­ße pro­por­tio­nal wa­ren. Zwei­hun­dert­fünf­und­zwan­zig Ki­lo­gramm!

Bru­der Paul spür­te die Auf­re­gung über die­se Ent­de­ckung – und Ver­ständ­nis. Das war ei­ne fri­sche Spur, viel­leicht Se­kun­den alt; er ver­schwand be­reits wie­der. Es gab hier al­so wirk­lich einen Groß­fuß … und das in ei­ner Nä­he von zwei oder drei Me­tern!

Pfar­rer Siltz um­klam­mer­te sei­nen Arm un­ter dem Be­cher. „Wei­ter!“ schrie er; sei­ne Stim­me klang furcht­sam.

Bru­der Pauls Neu­gier auf das Mons­ter rang mit sei­nem Men­schen­ver­stand. Der letz­te­re ge­wann die Ober­hand. Er stol­per­te wei­ter. Das war kaum die Ge­le­gen­heit, sich mit ei­nem Zwei­hun­dert-Ki­lo-Ber­ser­ker ein­zu­las­sen.

Das Was­ser peitsch­te sie, ver­such­te, die Be­cher um­zu­wer­fen.

Doch der Bo­den blieb fest, und nach ei­ni­ger Zeit schlüpf­ten sie un­ter das Dach der Ge­mein­schafts­kü­che. Ih­re Bei­ne wa­ren naß, doch das schi­en kei­ne Rol­le zu spie­len.

„Du hast den Gast dem Groß­fuß aus­ge­setzt?“ mur­mel­te die Wa­che am Ein­gang zu Pfar­rer Siltz, die den Drei­zack ge­gen den Sturm ge­wandt hielt.

Der Kom­mu­nist gab kei­ne Ant­wort, son­dern dräng­te hin­ein. Bru­der Paul folg­te ihm. „Ich wür­de gern ein­mal Groß­fuß se­hen“, sag­te er zu dem Wach­mann. „Nur vor den Blit­zen hat­te ich Angst.“ Doch der Mann lä­chel­te nicht.

In dem Ge­bäu­de be­fan­den sich noch an­de­re Men­schen, die ih­ren je­wei­li­gen Ge­schäf­ten nach­gin­gen, doch es gab kei­ne herz­li­chen Be­grü­ßun­gen. Pfar­rer Siltz igno­rier­te al­le au­ßer je­ne mit dem Ham­mer-und-Si­chel-Em­blem sei­ner Kir­che. Den­noch ge­lei­te­te er Bru­der Paul an einen Tisch, an dem meh­re­re Män­ner of­fen­sicht­lich ver­schie­de­nen Glau­bens sa­ßen. Das nahm Bru­der Paul zu­min­dest an, weil die Sym­bo­le an ih­rer Klei­dung un­ter­schied­lich wa­ren.

„Es ist not­wen­dig, daß Sie die­sen Leu­ten ver­si­chern, ich ha­be kei­nen Ver­such un­ter­nom­men, Ih­re Ob­jek­ti­vi­tät zu un­ter­gra­ben“, knurr­te der Pfar­rer. „Ich ho­le die Sup­pe.“

Bru­der Paul setz­te sich und sah sich um. „Ich ver­si­che­re Ih­nen“, sag­te er mit ei­nem Lä­cheln. „Ich ha­be ihn mit ei­ner Rei­he von Fra­gen in Ver­le­gen­heit ge­bracht, die ihn zwin­gen soll­ten, den Ver­trag zu ver­ges­sen, doch er hat dem An­griff wi­der­stan­den. Ich bin naß, aber un­be­ein­flußt.“

Der Mann ge­gen­über von Bru­der Paul lä­chel­te freund­lich. Er war von mitt­le­rem Al­ter und kahl, mit Lach­fal­ten an­stel­le von Pfar­rer Siltz’ Groll­fal­ten und hell­blau­en Au­gen. „Ich bin De­kan Brown von der Kir­che von Le­mu­ria. Wir sind si­cher, Sie wer­den ob­jek­tiv blei­ben. Sie müs­sen die Schweig­sam­keit Ih­res Gast­ge­bers ent­schul­di­gen; aber er durch­steht ge­ra­de ei­ne schwie­ri­ge fa­mi­li­äre Si­tua­ti­on.“

„Ich kann mich nicht be­kla­gen“, sag­te Bru­der Paul vor­sich­tig. „Ich bin nicht si­cher, ob ich das glei­che über Ih­ren Ver­trag sa­gen kann, aber Pfar­rer Siltz hat mich sehr herz­lich be­han­delt. Ich fürch­te nur, ich be­schäf­tig­te ihn der­art mit den Ant­wor­ten auf mei­ne Rou­ti­ne­fra­gen, daß wir sein Haus zu spät ver­lie­ßen und so vom Sturm über­rascht wur­den. Ich nei­ge da­zu, zu­viel zu re­den.“

Das soll­te den Pfar­rer in die­sem Punkt ent­las­ten. Bru­der Paul fühl­te sich ver­sucht, Fra­gen über die­se Ge­sell­schaft mit den vie­len Sek­ten zu stel­len, be­schloß aber ab­zu­war­ten. Er wuß­te be­reits, daß ihn die Ko­lo­nis­ten nicht frei­wil­lig über die­se Sa­che auf­klä­ren wür­den, da man sie sonst des Be­keh­rungs­ver­su­ches an­kla­gen wür­de. Die­se Män­ner hat­ten sei­ne Hin­wei­se auf sein Un­be­ha­gen deut­lich igno­riert.

„Se­hen Sie, sein Sohn möch­te sich mit ei­ner jun­gen Frau aus der Scien­to­lo­gy-Kir­che ver­bin­den“, fuhr De­kan Brown fort. „Die bei­den jun­gen Leu­te ha­ben bei der Bau­mern­te zu­sam­men ge­ar­bei­tet, und der Kelch ist über­ge­lau­fen.“

Kein Zwei­fel über die Ver­bin­dung zum Ta­rot! Kel­che wa­ren nicht nur für Was­ser ge­eig­net; sie deu­te­ten auch auf Re­li­gi­on – und Lie­be hin. Wie es schi­en, war das hier ein schwie­ri­ger Ge­gen­satz. „Hei­rat zwi­schen den Kir­chen ist nicht ge­stat­tet?“

„Doch, ei­ni­ge Sek­ten ge­stat­ten es, an­de­re hin­ge­gen ver­bie­ten es. Sie müs­sen das ver­ste­hen, Bru­der Paul, daß wir ei­ne ei­fer­süch­ti­ge Ge­mein­de sind.“ Pfar­rer Siltz hat­te einen ähn­li­chen Aus­druck ge­braucht; oh­ne Zwei­fel traf er zu. „Wir ka­men als in­di­vi­du­el­le Sek­ten hier­her, um Rein­heit und Frei­heit un­se­rer je­wei­li­gen re­li­gi­ösen Art und Wei­se zu er­hal­ten, und es ge­fällt uns nicht und ist uns un­an­ge­nehm, daß wir hier so eng mit Un­gläu­bi­gen zu­sam­men­ar­bei­ten und le­ben müs­sen. Wir ha­ben Schwie­rig­kei­ten, uns auf et­was an­de­res zu ei­ni­gen, es sei denn, aus rei­nem Über­le­bens­drang – und auch das nicht im­mer.“

Ge­nau! „Aber ge­wiß steht Re­li­gi­on nicht dem ge­sun­den Men­schen­ver­stand ge­gen­über. Ich be­zweifle, daß je­de Sek­te ge­nü­gend Mit­glie­der hat, um ei­ne Fort­pflan­zung der Kir­chen zu ge­währ­leis­ten. Es muß doch einen ver­nünf­ti­gen Kom­pro­miß ge­ben.“

„Es gibt ei­ni­ge“, stimm­te De­kan Brown zu. „Aber nicht ge­nug. Wir be­grei­fen die Hal­tung von Pfar­rer Siltz; kei­ner von uns hät­te es gern, wenn ei­nes sei­ner Kin­der einen Scien­to­lo­gen oder Ba­ha’i oder an­de­ren heid­nischen Nach­wuchs hei­ra­te­te. Mei­ne Toch­ter ver­kehrt nicht mit dem Sohn von Mi­nis­ter Mal­colm hier, der is­la­mi­schen Glau­bens ist.“ Der ne­ben ihm sit­zen­de Mann lä­chel­te zu­stim­mend. Leb­haft strahl­ten sei­ne wei­ßen Zäh­ne im Ge­gen­satz zu der dunklen Haut. „Doch der Kelch ist mäch­tig, und es wird ernst­haf­te Pro­ble­me ge­ben, es sei denn, wir fin­den bald die wah­re Na­tur des Got­tes im Baum her­aus.“

„Das hat man mir ge­ra­ten.“ Bru­der Paul war sich nun des Grun­des der schar­fen Span­nun­gen zwi­schen den In­di­vi­du­en be­wußt, doch ihm er­schi­en es als ei­ne dum­me und ver­fah­re­ne Si­tua­ti­on. Mit den wil­den Stür­men und Groß­fuß und ähn­li­chen Pio­nier­pro­ble­men brauch­ten sie nicht auch noch ei­ne un­frucht­ba­re re­li­gi­öse Dis­kus­si­on. Es war si­cher auch für sehr un­ter­schied­li­che re­li­gi­öse Sek­ten mög­lich, mit­ein­an­der aus­zu­kom­men, wie es die Er­fah­rung des Hei­li­gen Or­dens der Vi­si­on ge­zeigt hat­te. Für Bru­der Paul war ei­ne ei­ner an­de­ren Re­li­gi­on ge­gen­über in­to­le­ran­te Kir­che schon durch ei­ge­ne De­fi­ni­ti­on un­zu­läng­lich. Je­sus Chris­tus hat­te To­le­ranz ge­gen­über al­len Men­schen ge­pre­digt. Nun, viel­leicht nicht ge­gen­über den Geld­wechs­lern im Tem­pel und ähn­li­chen, aber im­mer­hin …

Pfar­rer Siltz kehr­te mit zwei rand­vol­len Holz­schüs­seln zu­rück. Ei­ne stell­te er vor Bru­der Paul ab und setz­te sich dann sel­ber auf die Holz­bank. In je­der Schüs­sel stak ein höl­zer­ner Löf­fel, der grob ge­schnitzt, aber prak­tisch war. Das Kunst­hand­werk, das die­se Din­ge her­stell­te, muß­te hier stark ver­tre­ten sein. Dies stimm­te in je­dem Fall mit den Prin­zi­pi­en des Or­dens über­ein; höl­zer­ne Tisch­ge­rä­te wa­ren nütz­lich.

Bru­der Paul und Pfar­rer Siltz be­gan­nen zu es­sen. Es gab we­der ein Ge­bet noch einen Se­gen für das Es­sen; wahr­schein­lich hat­ten sich die ver­schie­de­nen Sek­ten nicht auf ei­ne For­mel ei­ni­gen kön­nen und dann auf­grund ih­res Ver­tra­ges be­schlos­sen, al­les fort­zu­las­sen. Die Sup­pe schmeck­te fremd­ar­tig, aber gut. Sie hat­te einen kräf­ti­gen Ge­schmack wie Kar­tof­fel­sup­pe, aber ein un­ir­di­sches Aro­ma. „Wenn ich fra­gen darf …“ be­gann er.

„Holz­sup­pe“, sag­te De­kan Brown so­gleich. „Der Baum des Le­bens er­nährt uns al­le, doch sei­ne Sub­stanz gibt er reich­li­cher ab, wenn man ihn kocht. Wir es­sen auch die Früch­te, aber in die­ser Jah­res­zeit sind sie noch nicht reif.“

Holz­sup­pe. Nun, warum nicht? Die­se zwei­te Ver­eh­rung des Bau­mes war ver­ständ­li­cher. Viel­leicht wä­re es das bes­te, der Gott von Ta­rot stell­te sich tat­säch­lich als der ge­wal­ti­ge ört­li­che Le­bens­baum her­aus. Wenn es nur ei­ne Sa­che der In­ter­pre­ta­ti­on wä­re … aber er wür­de ab­war­ten müs­sen und durf­te nicht jetzt schon zu Vor­ur­tei­len kom­men.

Bru­der Paul leer­te sei­ne Schüs­sel. Die Sup­pe war recht sät­ti­gend ge­we­sen. So­gleich nahm sie Pfar­rer Siltz fort. Of­fen­sicht­lich woll­te der Pfar­rer si­cher­ge­hen, daß die an­de­ren mit sei­ner Zu­rück­hal­tung dem Gast ge­gen­über zu­frie­den wa­ren; da­her ließ er ihn bei je­der sich bie­ten­den Ge­le­gen­heit al­lein. Noch ein Hin­weis auf die an­ge­spann­ten Be­zie­hun­gen hier.

„Wenn ich, oh­ne be­lei­di­gend zu sein, fra­gen darf“, be­gann Bru­der Paul, sich der Tat­sa­che be­wußt, daß ei­ne Be­lei­di­gung hier wahr­schein­lich un­um­gäng­lich war, wenn er mit sei­ner Missi­on be­gann.

„Sie ge­hö­ren nicht zu un­se­rer Ko­lo­nie“, ant­wor­te­te De­kan Brown. „Sie ken­nen auch un­se­re Kon­ven­tio­nen nicht. Ich wer­de sie Ih­nen nach und nach mit­tei­len: Spre­chen Sie nicht über Re­li­gi­on. In al­len an­de­ren Din­gen kön­nen Sie frei re­den; wir wer­den groß­zü­gig ver­fah­ren.“

Hmm. Es wür­de ihm nicht ge­lin­gen, dies im­mer zu be­ach­ten, da sei­ne Auf­ga­be hier aus­schließ­lich re­li­gi­öser Na­tur war. Aber al­les zu sei­ner Zeit. „Dan­ke. Mir fällt auf, daß man hier of­fen­sicht­lich einen Sym­bo­lis­mus be­nutzt, der dem des Ta­rot­spiels äh­nelt. Der Kelch zum Bei­spiel. Das Ta­rot-Äqui­va­lent zur Kar­ten­far­be Herz. Ge­schieht das be­wußt?“

Je­der am Tisch lä­chel­te. „Na­tür­lich“, stimm­te der De­kan zu. „Je­de Sek­te hier hat ih­re ei­ge­nen Ta­rot-Kar­ten oder zu­min­dest ei­ne Va­ri­an­te. Das ist Teil un­se­res ge­mein­sa­men Re­spek­tes vor dem Baum des Le­bens. Wir sind nicht der Mei­nung, daß dies mit un­se­rem je­wei­li­gen Glau­ben in Kon­flikt ge­rät; es ver­stärkt ihn so­gar und bie­tet uns al­len ei­nes der we­ni­gen ge­mein­sa­men Ban­de, die uns zur Ver­fü­gung ste­hen.“

Bru­der Paul nick­te. „Es scheint, die Ta­rot-Sym­bo­lik war im­mer schon mit die­sem Pla­ne­ten ver­bun­den, mit Vi­sio­nen aus den Kar­ten …“

„Kei­ne Vi­sio­nen“, kor­ri­gier­te ihn der De­kan, „son­dern Er­schei­nun­gen. Sie sind be­rühr­bar, manch­mal ge­fähr­li­che Ma­ni­fes­ta­tio­nen.“

„Aber kei­ne phy­si­schen“, sag­te Bru­der Paul in der Er­war­tung, die Be­haup­tun­gen von Pfar­rer Siltz ab­klä­ren zu kön­nen.

„Aber si­cher phy­si­sche! Da­her ver­lan­gen wir ja auch Ih­ren Schutz bei der Un­ter­su­chung. Hat der Kom­mu­nist Sie nicht in­for­miert?“

„Doch, ich blieb aber skep­tisch. Ich se­he wirk­lich nicht, wie …“

Der De­kan zog ein Kar­ten­spiel her­aus. „Er­lau­ben Sie mir, es zu de­mons­trie­ren, wenn mei­ne Be­glei­ter von den an­de­ren Glau­bens­rich­tun­gen nichts da­ge­gen ein­zu­wen­den ha­ben.“ Er blick­te sie reihum an, doch kei­ner wi­der­sprach. „Wir be­fin­den uns im Mo­ment in ei­nem Sturm. Es kann mög­lich sein, daß …“ Er nahm ei­ne Kar­te her­aus und kon­zen­trier­te sich.

Zwei­felnd be­ob­ach­te­te ihn Bru­der Paul. Wenn der Mann ir­gend et­was Phy­si­sches aus der Luft ge­stal­ten woll­te …

Auf dem Tisch er­schi­en ei­ne Ge­stalt, bil­de­te sich wie aus ei­ner Wol­ke, ver­schwom­men, doch kla­rer wer­dend. Es war ein Stift oder ein Eß­stäb­chen …

„Stab-As!“ rief Bru­der Paul aus.

De­kan Brown gab kei­ne Ant­wort. Er kon­zen­trier­te sich auf sei­ne Er­schei­nung. Still war Pfar­rer Siltz zu­rück­ge­kehrt und nahm die Be­mer­kung auf. „Nun glau­ben Sie doch si­cher, der Le­mu­re ha­be oh­ne Sub­stanz ei­ne Form ge­bil­det, ein Spie­gel­bild aus der Kar­te, die er vor sich hat. Aber Sie wer­den se­hen.“

Siltz streck­te die Hand aus und nahm den klei­nen Stab zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger. Sei­ne Hand fuhr nicht hin­durch, wie es bei ei­nem blo­ßen Bild der Fall ge­we­sen wä­re; der Stab be­weg­te sich ge­nau­so wie es ein rea­ler ge­tan hät­te. „Nun be­rüh­re ich Sie da­mit“, sag­te Siltz. Er stieß das ei­ne En­de in Bru­der Pauls Handrücken.

Er war­fest. Bru­der Paul spür­te den Druck und dann ein bren­nen­des Ge­fühl. Er zog ruck­ar­tig die Hand bei­sei­te. „Er ist heiß!“ Bei die­sen Wor­ten flamm­te der Stab an dem En­de auf wie ein ge­zün­de­tes Streich­holz. Siltz ließ ihn auf den Tisch fal­len, wo er wei­ter­brann­te. „Feu­er – die Rea­li­tät hin­ter dem Sym­bol, die Kraft der Na­tur“, sag­te er. „Bit­te et­was Was­ser …“

Der Re­prä­sen­tant des Is­lam zog aus sei­nem Spiel ei­ne Kar­te. Er kon­zen­trier­te sich. Es bil­de­ten sich zwei ver­zier­te Gold­kel­che. De­kan Brown griff nach ei­nem und goß den In­halt über den bren­nen­den Stab. Ein Zi­schen, und ei­ne Dampf­wol­ke stob auf.

Woll­ten sie ihn mit Zau­ber­tricks ver­dum­men? Bru­der Paul kann­te sich bei Ta­schen­spie­ler­tricks aus; sei­ne Fin­ger wa­ren eben­falls un­ge­wöhn­lich ge­schickt. „Darf ich?“ frag­te er und griff nach dem an­de­ren Kelch.

Zu sei­ner Über­ra­schung hat­te nie­mand et­was da­ge­gen. Er be­rühr­te den Kelch und hielt ihn eben­falls für echt. Er hob ihn hoch, und er war schwer. Un­ge­wöhn­lich schwer; nur rei­nes Gold konn­te die­ses Ge­wicht ha­ben. Er tauch­te einen Fin­ger in die Flüs­sig­keit und schmeck­te: Was­ser. Er spreng­te ein paar Trop­fen auf sei­ne Ver­bren­nung, und es schi­en zu hel­fen. Dies war ein fes­ter, be­rühr­ba­rer, ech­ter Kelch und es war phy­si­ka­lisch ge­se­hen auch ech­tes Was­ser. Was­ser, die Rea­li­tät hin­ter dem Sym­bol, wie­der das weib­li­che Pen­dant zum männ­li­chen Feu­er. Ta­rot er­stand wort­wört­lich!

„Mas­sen­hyp­no­se?“ frag­te Bru­der Paul nach­denk­lich. „Se­hen und füh­len Sie al­le die­se Ge­gen­stän­de?“

„Wir al­le“, ver­si­cher­te ihm Pfar­rer Siltz.

„Darf ich ein Ex­pe­ri­ment wa­gen? Ich ge­be zu, ich bin be­ein­druckt, aber zu­gleich bin ich ein un­ver­bes­ser­li­cher Skep­ti­ker.“

„Bit­te“, ant­wor­te­te De­kan Brown. „Wir schät­zen ih­re Skep­sis. Wir brau­chen kei­nen wei­te­ren aus­ge­spro­che­nen Kul­tan­hän­ger.“ Die an­de­ren mur­mel­ten zu­stim­mend, wenn Bru­der Paul auch den Ein­druck hat­te, das Ge­mur­mel ha­be einen trau­ri­gen Nach­hall. Im­mer­hin wa­ren die­se Kul­tan­hän­ger ih­rer Si­tua­ti­on ge­gen­über nicht über­sen­si­bel. Wahr­schein­lich hat­te man sie für den Um­gang mit ihm aus­ge­wählt, weil sie in ih­ren je­wei­li­gen Sek­ten als am we­nigs­ten fa­na­tisch gal­ten.

„Darf ich dann um ein Ta­rot­spiel bit­ten …“ Man reich­te es ihm. Wenn er auch nor­ma­ler­wei­se ein ge­nau­er Be­ob­ach­ter war, blieb es ihm auf­grund sei­ner Fas­zi­na­ti­on von den Vor­gän­gen ver­bor­gen, wer es ihm über­reich­te; hin­ter­her konn­te sich Bru­der Paul nicht mehr er­in­nern, wes­sen Spiel er sich ge­lie­hen hat­te. Er misch­te die Kar­ten fach­män­nisch und lo­cker­te sei­ne Fin­ger. Es hat­te ei­ne Zeit ge­ge­ben, als … aber die­se Zeit ver­gaß er am bes­ten schnell wie­der.

Das war ei­ne der be­kann­ten mit­tel­al­ter­li­chen Ver­sio­nen mit Bau­ern und ge­flü­gel­ten We­sen und Kin­dern – kei­ne von den sehr in­tel­lek­tu­el­len mo­der­ne­ren Ver­sio­nen. Un­ter den ge­ge­be­nen Be­din­gun­gen war er froh, die­sen Ty­pus vor sich zu ha­ben; ein sur­rea­lis­ti­sches Spiel hät­te ei­ne oh­ne­hin schon un­glaub­wür­di­ge Er­fah­rung wei­ter ver­kom­pli­ziert.

„Ich wer­de ei­ne Kar­te aus­wäh­len“, sag­te Bru­der Paul vor­sich­tig. „Ich wer­de sie al­len au­ßer ei­nem zei­gen. Und dann soll sie der­je­ni­ge be­kom­men und für uns zum Le­ben er­we­cken, oh­ne die üb­ri­gen an­zu­se­hen. Darf ich um einen Frei­wil­li­gen bit­ten?“

„Ich wer­de es tun“, sag­te De­kan Brown. „Wir von Le­mu­ria sind im­mer froh, wenn wir die Rea­li­tät Ih­res …“ Je­mand hus­te­te, und er brach ab. „Tut mir leid. Ich woll­te nie­man­den be­keh­ren.“

Der De­kan wand­te sich ab. Sein kah­ler Schä­del glänz­te in dem schwa­chen Licht von ei­nem na­he lie­gen­den Fens­ter. Der Sturm hat­te dämm­ri­ges Licht über die Land­schaft ge­wor­fen, doch es wur­de all­mäh­lich wie­der hel­ler. Bru­der Paul wähl­te Schwert-Drei aus. Es war ei­ne hüb­sche Kar­te mit ei­nem ge­ra­den ro­ten Schwert in der Mit­te, um­ge­ben von zwei ver­zier­ten Krumm­schwer­tern vor ei­nem Hin­ter­grund bun­ten Lau­bes. Stumm zeig­te er sie den an­de­ren und reich­te sie dann dem De­kan wei­ter.

In­ner­halb ei­nes Au­gen­blicks wur­de das Bild recht ge­nau wie­der­ge­ge­ben. In der Luft hin­gen drei Schwer­ter und ei­ni­ge Blät­ter. Bru­der Paul streck­te die Hand aus und be­rühr­te einen der Krumm­sä­bel – wor­auf­hin al­le drei Klin­gen un­ter er­staun­li­chem Klir­ren zu Bo­den fie­len.

In dem Raum herrsch­te Stil­le. Al­le Au­gen von den an­de­ren Ti­schen ruh­ten nun auf ih­nen. „Tut mir leid“, sag­te Bru­der Paul. „Ich fürch­te, mei­ne un­wis­sen­de Be­rüh­rung ist dar­an schuld. Er­lau­ben Sie mir, es noch ein­mal zu pro­bie­ren.“ In­ner­lich frag­te er sich: Wenn er fä­hig ge­we­sen war, wäh­rend der Ma­te­rie­über­tra­gung An­ta­res’ Ge­gen­wart zu ak­zep­tie­ren, warum hat­te er dann sol­che Mü­he, die­se ein­fa­chen Ob­jek­te an­zu­er­ken­nen? Und er wuß­te auch die Ant­wort: weil es hier Zeu­gen gab. An­ta­res hät­te sei­ner Phan­ta­sie ent­sprun­gen sein kön­nen; die­se Phä­no­me­ne hin­ge­gen gin­gen über sei­ne Vor­stel­lungs­kraft hin­aus.

Bru­der Paul sah sich um. Wo wa­ren der Stab, die Kel­che, die Schwer­ter? Er konn­te nichts mehr ent­de­cken. Wa­ren sie in dem Tu­mult dort­hin ver­schwun­den, wo­her sie ge­kom­men wa­ren? Oder hat­ten sie nie­mals wirk­lich exis­tiert? Nun, wenn ihm je­mand einen Streich spiel­te, wür­de er in we­ni­gen Au­gen­bli­cken den Be­weis da­für er­brin­gen.

Wie­der wähl­te er ei­ne Kar­te aus: Münz-Vier, mit vier blu­men­ar­ti­gen Schei­ben, ei­ne je­de hat­te ein vier­blätt­ri­ges Klee­blatt in der Mit­te und ein ver­zier­tes Schild mit den Zei­chen IM. Nach­dem er sie her­um­ge­zeigt hat­te, reich­te er sie dem De­kan. Doch oh­ne Wis­sen sei­ner Zu­schau­er tausch­te er sie aus. Nun hielt die­ser das Kelch-As in Hän­den.

Wenn sich nun die vier Mün­zen bil­de­ten, wür­de er wis­sen, es han­del­te sich um ei­ne Mas­sen­hyp­no­se, denn dies muß­te durch den Glau­ben der an­de­ren her­vor­ge­ru­fen wor­den sein. Aber wenn sich der Kelch bil­de­te …

Es zeig­te sich der Kelch, rie­sig und bunt, mit blau­em Rand und ei­nem Kreuz auf der Sei­te.

„Ich glau­be, un­ser Gast er­laubt sich einen klei­ne Scherz mit uns“, be­merk­te Pfar­rer Siltz oh­ne Hu­mor.

„Ich ve­ri­fi­zie­re le­dig­lich den Ur­sprung der Ani­ma­tio­nen“, ent­geg­ne­te Bru­der Paul er­schüt­tert. „Se­hen Sie al­le die Mün­ze?“

„Den Kelch, kei­ne Mün­ze“, ant­wor­te­te Pfar­rer Siltz. „Es wird durch den kon­trol­liert, der es her­vor­ruft; un­se­re Er­war­tungs­hal­tung ist da­bei un­wich­tig.“

Das stimm­te wohl! Und der Kelch war so groß, daß man ihn nicht wie bei ei­nem Ta­schen­spie­ler­trick an der Per­son des De­kans hät­te ver­ste­cken kön­nen, selbst wenn der Mann cle­ver ge­nug ge­we­sen wä­re, einen sol­chen Trick un­ter den er­fah­re­nen Au­gen Bru­der Pauls aus­zu­füh­ren. Dies hier be­deu­te­te ei­ne grö­ße­re Her­aus­for­de­rung als er vor­aus­ge­se­hen hat­te. Kon­kre­te, kör­per­li­che Er­schei­nun­gen, durch Wil­lens­kraft be­wußt her­bei­ge­ru­fen!

„Ein­drucks­voll“, gab Bru­der Paul zu. „Aber Ihr scheint die Si­tua­ti­on gut zu be­herr­schen. Ich dach­te, Ihr seid we­gen der Er­schei­nun­gen be­un­ru­higt …“

Pfar­rer Siltz lä­chel­te grim­mig. „Das wa­ren wir zu­erst in der Tat. Aber wäh­rend des letz­ten Jah­res ha­ben wir mehr dar­über ge­lernt. Wir ha­ben uns der Na­tur die­ser Er­schei­nun­gen zu ver­si­chern ver­sucht, sind aber, weiß Gott, noch nicht zu ei­nem ab­schlie­ßen­den Er­geb­nis ge­kom­men.“

Der De­kan wand­te sich um, und der Kelch ver­schwand. „Je­der von uns kann Gott in sei­ner ei­ge­nen Vor­stel­lung be­le­ben, aber das wä­re le­dig­lich ei­ne Mei­nung, nicht die Wahr­heit. Es ist le­bens­wich­tig für uns, die Wahr­heit zu er­fah­ren.“

„Aber wür­de nicht auch ich Gott nach mei­ner Vor­stel­lung be­le­ben?“ frag­te Bru­der Paul be­sorgt. Das ge­nau war der Punkt, den Pfar­rer Siltz in ih­rer pri­va­ten Dis­kus­si­on auf­ge­wor­fen hat­te.

„Wir müs­sen uns auf Ih­re Ob­jek­ti­vi­tät ver­las­sen – und wir wer­den Ih­nen Be­ob­ach­ter bei­stel­len, die Sie un­ter­stüt­zen“, ant­wor­te­te Pfar­rer Siltz. Er ver­riet nun nichts mehr von sei­ner ei­gent­li­chen Hal­tung. „Sie wer­den Sie auch vor un­ver­hoff­ten Ma­ni­fes­ta­tio­nen schüt­zen.“

Und je­ne Ma­ni­fes­ta­tio­nen, das war deut­lich ge­wor­den, konn­ten einen töd­li­chen Aus­gang neh­men! „Kann ich das sel­ber aus­pro­bie­ren? Hier? Jetzt?“ frag­te Bru­der Paul und ver­spür­te einen leich­ten Schau­der, wie Lam­pen­fie­ber.

„Schnell, denn der Sturm zieht schon vor­über“, mein­te De­kan Brown. „Die­se Din­ge sind schwan­ken­der Na­tur – die­se Run­de war au­ßer­ge­wöhn­lich gut. Nor­ma­ler­wei­se er­weist es sich als not­wen­dig, zum Nord­loch zu ge­hen, um der­art deut­li­che Ani­ma­tio­nen zu be­kom­men. Und das ist ge­fähr­lich.“

Bru­der Paul nahm einen der Großen Ar­ka­nen: Null, der Narr!

„Nein!“ rie­fen meh­re­re Stim­men zu­gleich.

„Ver­su­chen Sie nicht, einen le­ben­di­gen Men­schen her­bei­zu­ru­fen“, sag­te Pfar­rer Siltz, sicht­lich er­regt, und die an­de­ren schie­nen sei­ne Ge­füh­le zu tei­len. „Das könn­te un­vor­her­seh­ba­re Kon­se­quen­zen ha­ben.“

Bru­der Paul nick­te. Sie stan­den al­so doch nicht so sehr über die­sen Phä­no­me­nen! Wenn sie es über­haupt je­mals ver­sucht hat­ten, einen Men­schen her­bei­zu­ru­fen, dann hat­ten sie noch nicht viel da­mit ex­pe­ri­men­tiert. Er wuß­te, wo er be­gin­nen muß­te. „Aber wenn ich die­se Phä­no­me­ne or­dent­lich un­ter­su­chen soll, muß man mir ge­stat­ten, al­les zu be­le­ben, was in mei­ner Macht steht – und ich wür­de es vor­zie­hen, hier da­mit zu be­gin­nen, un­ter Ih­ren er­fah­re­nen Au­gen.“

Die an­de­ren tausch­ten miß­bil­li­gen­de Bli­cke aus. Sie moch­ten zu ver­schie­de­nen Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ge­hö­ren, doch hier stell­ten sie ei­ne ge­wis­se Ein­heit dar. „Ih­re Lo­gik siegt“, sag­te Pfar­rer Siltz schwer­fäl­lig. „Wenn Sie es tun müs­sen, dann bes­ser hier. Wir wer­den da­bei­sein.“

Bru­der Paul such­te in dem Kar­ten­spiel her­um. Hier war der Na­me des Nar­ren Le Mal, und er war als Hof­narr ge­klei­det. Gänz­lich ab­wei­chend von Wai­tes In­ter­pre­ta­ti­on, nach der der Narr ein ed­ler, un­schul­di­ger Jüng­ling war, der im Be­griff ist, einen Fel­sen her­ab­zu­tre­ten; sym­bo­lisch ge­se­hen das un­ge­heu­re Po­ten­ti­al des Men­schen für Stre­ben und Irr­tum. An­de­re Ver­sio­nen kann­ten einen hin­ter­häl­ti­gen klei­nen Hund, der den Ho­sen­bo­den des Nar­ren zer­fetz­te, so daß man des­sen nack­tes Hin­ter­teil sah: der Gip­fel der Lä­cher­lich­keit. Ei­ne Va­ri­an­te hat­te er ge­se­hen, in der der Narr sich zu ent­lee­ren schi­en. Wahr­schein­lich war es doch das bes­te, die­se Kar­te zu über­ge­hen; ein Ver­such könn­te in der Tat ei­ne Nar­re­tei be­deu­ten.

Die Ar­ka­ne Eins war der Ma­gier oder Gauk­ler, der sei­ne bil­li­gen Tricks un­ter ei­nem ab­ge­deck­ten Tisch voll­führ­te. In der Or­dens­sta­ti­on war Bru­der Paul manch­mal gen­eckt wor­den – sehr sanft na­tür­lich, denn kein Bru­der wür­de einen an­de­ren be­wußt ver­let­zen – we­gen sei­ner ver­mu­te­ten Nei­gung zu den Kar­ten. Sie kann­ten sei­ne Ver­gan­gen­heit als Kar­ten­kö­nig und hat­ten sei­ne Ge­schick­lich­keit mit al­len me­cha­ni­schen Din­gen sehr wohl be­ob­ach­tet. Bru­der Paul nahm der­ar­ti­ge An­spie­lun­gen gut­mü­tig hin, dank­bar für die Ka­me­rad­schaft, die er nach sei­nem vor­he­ri­gen Le­ben im Or­den ge­fun­den hat­te. Er dach­te von sich selbst gern als von je­mand, der auf der Su­che nach den letzt­end­li­chen Be­grün­dun­gen für das Le­ben war, wie es durch die Ob­jek­te auf dem Tisch aus den Ta­rot­kar­ten sym­bo­li­siert war: Stab, Kelch, Schwert und Mün­ze, die Feu­er, Was­ser, Luft und Er­de, be­zie­hungs­wei­se den all­ge­gen­wär­ti­gen Sym­bo­lis­mus der For­men be­deu­te­ten. Auch in die­ser Ver­si­on hier schweb­te die kos­mi­sche Schlei­fen­li­nie oder lie­gen­de Acht, das Sym­bol der Un­end­lich­keit, wie ein Hei­li­gen­schein über dem Kopf des Ma­gier, und um sei­ne Tail­le schlang sich ei­ne sich in den ei­ge­nen Schwanz bei­ßen­de Schlan­ge: der Wurm Ou­ro­bo­rus, Sym­bol für die Ewig­keit. Al­le Din­ge in Raum und Zeit – das war die Groß­ar­tig­keit des Kon­zep­tes, nach dem die­ser mo­der­ne Ma­gier streb­te. Aber hier, in die­sem Kar­ten­spiel, war er nur ein her­un­ter­ge­kom­me­ner Trick­künst­ler. Nein, auch die ließ er aus.

Ar­ka­ne Zwei, hier Ju­no be­nannt. In der rö­mi­schen My­tho­lo­gie war Ju­no die Frau Ju­pi­ters und Kö­ni­gin der Göt­ter, Ge­gen­stück der grie­chi­schen He­ra. Sie galt als die Be­schüt­ze­rin der Ehe und der Frau­en. Ihr Vo­gel war der Pfau, der auch in die­sem Spiel vor­han­den war. Hier war sie ei­ne hüb­sche Frau in hell­ro­tem Kleid, mit vol­lem Bu­sen und nack­ten Bei­nen. Aber ei­ne der­ar­ti­ge Ama­zo­nen­ge­stalt wür­de viel­leicht von der männ­lich do­mi­nier­ten Ge­sell­schaft nicht gern ge­se­hen. Be­dau­ernd leg­te er sie fort; selbst in ih­rem be­kann­te­ren Ge­wän­de als Ho­he­pries­te­rin (und be­rüch­tig­te Päps­tin) war sie wohl ei­ne frag­wür­di­ge Wahl.

Ar­ka­ne Drei, die Herr­sche­rin – ei­ne rei­fe­re und mäch­ti­ge­re Frau als die vor­an­ge­gan­ge­ne. In vie­len Kar­ten­spie­len war die Pries­te­rin ei­ne Jung­frau, wäh­rend die Herr­sche­rin die Mut­ter­fi­gur be­deu­te­te. Hier saß sie auf ih­rem Thron; in an­de­ren Spie­len stand der Thron in ei­nem Wei­zen­feld. War es wirk­lich sie ge­we­sen, die er ge­se­hen hat­te, als er aus der Kap­sel stieg – nur vor we­ni­gen Stun­den? Wenn dem so war, dann woll­te er sie nicht hier in al­ler Öf­fent­lich­keit her­bei­ru­fen. Er wür­de sie lie­ber al­lein tref­fen, denn sie hat­te et­was für ihn sehr An­zie­hen­des. Leg sie ab, zu­min­dest für den Au­gen­blick.

Ar­ka­ne Vier, der Herr­scher, Ge­gen­stück zur Herr­sche­rin, Sym­bol welt­li­cher Macht, saß auf sei­nem vier­e­cki­gen Thron, die Bei­ne zur Zahl Vier ge­kreuzt, in der rech­ten Hand ein Zep­ter in Form ei­nes ägyp­ti­schen Ankh oder Le­bens­kreu­zes, in der Lin­ken den Reichs­ap­fel. Er re­prä­sen­tier­te die Herr­schaft von Ver­stand über Ge­fühl, des Be­wußt­seins über das Un­be­wuß­te. Ja, das war ein gu­tes Sym­bol für die­se Si­tua­ti­on! Die Kar­te der Macht.

Wenn er auch die mit­tel­al­ter­li­che Kar­te in Hän­den hielt, stell­te er sich den­noch die Ver­si­on des Or­dens vor. Der vor ihm lie­gen­de Herr­scher, den er be­le­ben woll­te, war ein mit­tel­al­ter­li­cher Mon­arch mit ei­nem großen, ge­wölb­ten Schild, das ein we­nig Ähn­lich­keit mit dem höl­zer­nen Be­cher hat­te, mit dem man sich hier ge­gen den Sturm schütz­te, so­wie ein Szep­ter, dem nur drei Spit­zen fehl­ten, um zum Drei­zack zu wer­den. Pfar­rer Siltz hät­te für ihn gut Mo­dell ste­hen kön­nen!

Bru­der Paul kon­zen­trier­te sich. Er fühl­te sich un­be­hag­lich; viel­leicht hat­te er so lan­ge zu ei­ner Ent­schei­dung ge­braucht, weil er wuß­te, daß sei­ne Klug­heit auf dem Spiel stand. Es muß­te einen Trick ge­ben, den die Ko­lo­nis­ten kann­ten und der die Be­le­bun­gen so re­al er­schei­nen ließ; of­fen­sicht­lich war er da­zu nicht in der La­ge.

Wie vor­her­seh­bar ge­sch­ah nichts. Was im­mer ei­ne Er­schei­nung auch sein moch­te, es funk­tio­nier­te nicht bei je­dem. Was be­deu­te­te, es war in der Tat ein Trick. „Es scheint nicht zu funk­tio­nie­ren“, sag­te er mit ei­ner ge­wis­sen Er­leich­te­rung.

„Er­lau­ben Sie mir einen Ver­such; viel­leicht brau­chen Sie nur die An­lei­tung“, sag­te Pfar­rer Siltz. Er nahm die Kar­te und kon­zen­trier­te sich.

Nichts ge­sch­ah.

„Der Sturm hat nach­ge­las­sen“, sag­te De­kan Brown. „Die Ani­ma­ti­ons­wir­kung ist vor­bei.“

Al­so war die Kraft hin­ter den Be­le­bun­gen zu­fäl­lig ver­schwun­den. Nichts konn­te mehr be­wie­sen wer­den, ob auf die ei­ne oder die an­de­re Wei­se. Bru­der Paul sag­te sich, daß er da­mit hät­te rech­nen müs­sen.

Und doch war er ent­täuscht. Es wä­re zu wun­der­bar ge­we­sen, um wahr zu sein, und hier stand er, viel­leicht um die Bla­se zum Plat­zen zu brin­gen – aber was für ei­ne un­glaub­li­che Macht die Ani­ma­tio­nen be­deu­ten wür­den, wenn sie nur echt wä­ren! Kör­per­li­che Ob­jek­te, die – aus der Vor­stel­lungs­kraft ent­ste­hen!

Nun gut. Er war hier, um die Rea­li­tät zu prü­fen. Es war nicht sei­ne Sa­che, nur zu hof­fen oder zu phan­ta­sie­ren.