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Wahl

 

Der Mensch scheint von Ge­heim­nis­sen fas­zi­niert zu sein. Ge­heim­nis­se und Ge­heim­ge­sell­schaf­ten hat es in der Ge­schich­te im­mer zahl­reich ge­ge­ben; ei­ni­ge wa­ren mit ei­ner gan­zen Klas­se von Men­schen ver­bun­den, zum Bei­spiel mit den In­itia­ti­ons­ri­ten für jun­ge Men­schen, an­de­re hat­ten mit der Re­li­gi­on zu tun wie auch mit den Mys­te­ri­en­kults der hel­le­ni­schen Welt. An­de­re wie­der­um hin­gen mit spe­zi­el­len In­ter­es­sen zu­sam­men wie ab­wei­chen­den Se­xu­al­prak­ti­ken, Bru­der­schaf­ten oder dem Ok­kul­ten. Die Ar­ka­nen des Ta­rot­spiels re­flek­tie­ren die­ses In­ter­es­se; das Wort ‚Ar­ka­num’ be­deu­tet Ge­heim­nis. Die Großen Ar­ka­nen sind die großen Ge­heim­nis­se, die Klei­nen die klei­ne­ren. Da­her über­rasch­te es nicht, wenn das Ta­rot­spiel Ge­gen­stand erns­ter For­schung durch ei­ni­ge Ge­heim­ge­sell­schaf­ten ge­we­sen ist. Die be­deu­tends­te Un­ter­su­chung wur­de durch den Her­me­ti­schen Or­den der Gol­de­nen Däm­me­rung durch­ge­führt, der 1887 als Zweig der Eng­li­schen Ro­sen­kreu­zer ge­grün­det wur­de, die sel­ber zwan­zig Jah­re zu­vor aus der Frei­mau­re­rei her­vor­ge­gan­gen wa­ren, die wie­der­um von den Stein­met­zen oder der Bauhüt­te ab­stamm­ten. Die Gol­de­ne Däm­me­rung hat­te 144 Mit­glie­der – in­ner­halb des ar­ka­ni­schen Kon­tex­tes ei­ne be­deut­sa­me Zahl – und wur­de zur Er­lan­gung von in­itia­to­ri­schem Wis­sen und Kräf­ten so­wie von Prak­ti­ken ze­re­mo­ni­el­ler Ma­gie ge­grün­det. Vie­le Per­sön­lich­kei­ten des täg­li­chen Le­bens wa­ren Mit­glie­der, wie Bram Sto­ker (der Au­tor des Ro­mans Dra­cu­la) und Sax Roh­mer (Schöp­fer des Fu Man Chu). Ei­ner der Groß­meis­ter war der pro­mi­nen­te Dich­ter Wil­liam But­ler Yeats. Er führ­te den Vor­sitz bei vie­len Sit­zun­gen, an­ge­tan mit ei­nem schwar­zen Kilt, ei­ner schwar­zen Mas­ke und mit ei­nem gol­de­nen Dolch im Gür­tel. Heu­te je­doch kennt man die Gol­de­ne Däm­me­rung nur noch we­gen ih­rer Wir­kung auf das Ta­rot­spiel. Ar­thur Ed­ward Wai­te, Schöp­fer des be­kann­ten Ri­der-Wai­te-Spiels, war Mit­glied, eben­so Paul Fos­ter Ca­se, ein be­deu­ten­der Ta­rot­wis­sen­schaft­ler, wie auch Ali­sta­ir Crow­ley – von dem man sag­te, er sei der ver­derb­tes­te Mensch der Welt –, der das Thoth-Ta­rot-Spiel un­ter dem Na­men The­ri­on ent­wi­ckel­te. Crow­ley war ein hoch­in­tel­li­gen­ter und ge­bil­de­ter Mensch, Au­tor ei­ner Rei­he klu­ger Bü­cher, doch er kann­te star­ke Lei­den­schaf­ten, gab sich Dro­gen wie Ko­kain und He­ro­in hin, prak­ti­zier­te die Schwar­ze Ma­gie (bei ei­nem Fall starb ein Mensch, und Crow­ley saß meh­re­re Mo­na­te in ei­ner Ner­ven­heil­an­stalt; man hat­te den Sa­tan her­bei­ge­ru­fen) und be­saß ho­mo­se­xu­el­le Nei­gun­gen, die ihn da­zu brach­ten, daß er Frau­en de­mü­tig­te. Er kauf­te sich in Ita­li­en einen Land­sitz mit Na­men Ab­tei von The­le­ma, wo er sei­nen dunklen Ge­schäf­ten nach­ging, und die­ser wur­de bald be­rüch­tigt. Doch trotz al­ler Feh­ler des Schöp­fers blieb Crow­leys Thoth-Ta­rot-Spiel wohl das schöns­te und wich­tigs­te al­ler Kar­tenent­wür­fe und ist es wohl wert, von je­dem, der sich da­für in­ter­es­siert, stu­diert zu wer­den.

 

Das Bild um ihn her zuck­te und wur­de ver­schwom­men. Bru­der Paul zö­ger­te, doch er er­kann­te so­gleich das Pro­blem: Sein Be­tre­ten der Er­schei­nung ver­än­der­te das Bild. Viel­leicht war es dem le­gen­dären chi­ne­si­schen Künst­ler – wie war doch gleich sein Na­me – ge­lun­gen, sei­ne ei­ge­nen rea­lis­ti­schen Ge­mäl­de zu be­tre­ten, um aus der Welt zu ver­schwin­den, doch nur we­ni­ge an­de­re hat­ten einen sol­chen Sta­tus er­reicht! Bru­der Paul konn­te nur zu­schau­en, nicht teil­neh­men.

Aber warum nicht! Die Er­schei­nun­gen wur­den durch sei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken be­herrscht. Wenn er ein Bild mit sich sel­ber dar­in ma­len woll­te, wer woll­te es ihm ver­bie­ten? Er leg­te die Schwert-Sechs auf.

Das Bild er­schi­en. Der Fluß des Un­be­wuß­ten war zu ei­nem Strom des Be­wußt­seins ge­schwol­len. Die Brücke war ver­schwun­den; die­se Was­ser wa­ren da­für zu breit. Er konn­te das Schloß nicht mehr se­hen. Na­tür­lich war dies ein an­de­res Bild, auch ei­ne an­de­re Kar­te; die Kelch-Fünf stand für Ver­lust, wäh­rend Schwert-Sechs für ei­ne See­rei­se stand. Er hat­te au­gen­schein­lich die Fünf ver­lo­ren, doch die Sechs ge­won­nen.

Er er­blick­te ein klei­nes Ge­fährt auf dem Was­ser. Es war ein fla­ches Boot, in dem ei­ne Frau und ein Kind so­wie ein Mann, der das Boot über den Fluß ru­der­te, sa­ßen. „War­te!“ rief Bru­der Paul in plötz­li­cher Angst, doch sich auch des Wort­spiels be­wußt: Wait!{2} war auch der Na­me des Au­tors die­ses Ta­rot­kar­ten­spiels. „Ich will mit!“ Doch sie ach­te­ten nicht auf ihn, weil sie sich au­ßer Hör­wei­te be­fan­den, wenn sie über­haupt re­al exis­tier­ten. Sie stamm­ten in der Tat von ei­ner an­de­ren Welt, die er nicht be­tre­ten konn­te.

Er dach­te an die ver­schie­de­nen Aus­sprü­che des Hie­rophan­ten und spür­te wie­der den Zorn in sich auf­stei­gen. Er be­leb­te schließ­lich die­se Bil­der; er wür­de sei­ne Ant­wort be­kom­men! Sein Vor­ha­ben be­stand dar­in si­cher­zu­stel­len, ob die­sen Er­schei­nun­gen ir­gend­ein ob­jek­ti­ver Wert zu­kam oder ob sie al­le le­dig­lich ei­ne Rei­he sich ver­fes­ti­gen­der Vi­sio­nen sei­ner Ge­dan­ken dar­stell­ten. Wenn das letz­te­re zu­traf, dann hat­te er die Ant­wort schon ge­fun­den: Es gab kei­nen spe­zi­el­len Gott von Ta­rot. Wenn das ers­te­re zu­traf …

Aber im Mo­ment ver­such­te er bloß, sei­nen Weg aus der Si­tua­ti­on her­aus­zu­fin­den. Er hat­te das Was­ser le­dig­lich pro­bie­ren wol­len, nicht in ihm er­trin­ken.

Was­ser – ein aus­ge­zeich­ne­tes Sym­bol. Warum nicht den Be­weis an­tre­ten?

Er sprang in den Fluß, wo­bei er fast er­war­te­te, auf har­tem Bo­den auf­zu­schla­gen, als er mit dem Bauch in der Rea­li­tät lan­de­te. Doch er tauch­te sau­ber hin­ein; es war nur der Schock des rich­ti­gen Was­sers, der ihn er­schreck­te. Es schäum­te um ihn her und zerr­te an sei­nen Klei­dern. Er hät­te sie vor­her ab­le­gen soll­ten. Aber er hat­te es nicht recht ge­glaubt …

Wenn Glau­be der Schlüs­sel zu den Er­schei­nun­gen war, wie konn­te die­ses Was­ser dann trotz sei­nes Un­glau­bens echt sein?

Doch sein Ein­tritt ver­än­der­te be­reits das Bild. Das Was­ser ver­flüch­tig­te sich; der Fluß wur­de klei­ner. Bru­der Paul rich­te­te den Blick auf die Leu­te im Boot, woll­te sich an sie hän­gen, um das Bild vor dem Ver­schwin­den zu be­wah­ren. Wenn er nur mit ih­nen re­den könn­te, die­sen Leu­ten aus dem Hin­ter­grund der Ta­rot­kar­ten, und sie fra­gen könn­te …

Das Boot zit­ter­te. Der Mann flog hoch in die Luft, brei­te­te Flü­gel aus und glitt auf ei­ne nied­ri­ge Wol­ke, Die Frau al­ter­te rasch, wur­de runz­lig und ha­ger. Das Kind wur­de zu ei­ner auf­fal­lend hüb­schen jun­gen Da­me.

Als Bru­der Paul sich ih­nen nä­her­te, dreh­ten sie sich zu ihm um. Er blieb in ei­ni­gen Schrit­ten Ab­stand vor ih­nen ste­hen, merk­te, daß er wie­der auf den Fü­ßen stand und sei­ne Klei­der durch­näßt wa­ren. Sein Blick glitt von ei­ner Frau zur an­de­ren, von der jun­gen zur al­ten. Er merk­te, daß dies kein Bild aus den Klei­nen Ar­ka­nen mehr war, son­dern aus den Großen. Das war die Ar­ka­ne Sechs, be­kannt als ‚die Lie­ben­den’.

Nun, nicht not­wen­di­ger­wei­se. Die Sze­ne um­gab ei­ne ge­wis­se Ver­schwom­men­heit, es ent­stand der Ein­druck ei­nes viel­schich­ti­gen Bil­des.

Na­tür­lich. Er hat­te kei­ne Kar­te aus den Großen Ar­ka­nen auf­ge­legt, hat­te nicht spe­zi­fisch nach ei­nem ‚großen Ge­heim­nis’ ge­sucht und in­so­fern kei­ne be­stimm­te Sze­ne fest­ge­legt. Das Bild ver­such­te, sich sel­ber aus dem Cha­os zu bil­den. Das durf­te er nicht zu­las­sen; er muß­te die Kon­trol­le be­wah­ren.

Bru­der Paul hob die Kar­ten, die er noch in der Hand hielt, hoch – zö­ger­te je­doch. Es gab vie­le an­er­kann­te Ver­sio­nen der Ta­rot­kar­ten, und die Großen Ar­ka­nen wa­ren macht­voll. Wel­che Va­ri­an­te der Ar­ka­ne Sechs wä­re wohl die bes­te?

Sei­ne ei­ge­ne Ver­si­on vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on na­tür­lich! Die Ge­lehr­ten des Or­dens hat­ten den Sym­bo­lis­mus ver­fei­nert, den die For­scher von der Gol­de­nen Däm­me­rung ent­wi­ckelt hat­ten, und die Il­lus­tra­tio­nen ver­bes­sert, bis sie so prä­zi­se wa­ren, wie es sich für Ta­rot ge­hör­te: ein wun­der­ba­res Mit­tel zur Selbst­auf­klä­rung.

Doch der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on be­schränk­te sei­ne Brü­der und Schwes­tern nicht auf­sein ei­ge­nes Sys­tem, ge­nau­so­we­nig wie er sie auf ein be­stimm­tes re­li­gi­öses Sys­tem fest­leg­te. Das Herz sei­ner Phi­lo­so­phie, wie die von Je­sus Chris­tus und des Apo­stels Pau­lus, war der Dienst am Men­schen. Ei­ner die­ser Diens­te war die Frei­heit des Glau­bens. Je­ne, die die Po­si­ti­on des Or­dens zu ver­tre­ten such­ten, konn­ten dies na­tür­lich tun und Mi­nis­te­ri­el­le des Vi­si­ons­or­dens wer­den. Doch ein­zel­ne Mit­glie­der wie Bru­der Paul wur­den er­mu­tigt, ihr ei­ge­nes Ver­ständ­nis zu ent­wi­ckeln, denn die Hin­ga­be an den Or­den muß­te frei­wil­lig er­fol­gen. Der Or­den stell­te si­cher, daß es kei­ne Frei­heit oh­ne Auf­klä­rung gab; da­her er­war­te­te man von je­dem, daß er sich um­fas­send bil­de­te, ehe er sich an ei­ner be­stimm­ten Glau­bens­rich­tung ori­en­tier­te. So hat­te Bru­der Paul vie­le Aspek­te re­li­gi­ösen Le­bens un­ter­sucht, wenn auch bis­lang die­se Stu­di­en not­wen­di­ger­wei­se ober­fläch­lich ge­we­sen wa­ren: Es gab in ei­nem ein­zi­gen Men­schen­le­ben ein­fach zu we­nig Zeit, um die Ver­zwei­gun­gen al­ler mensch­li­chen Glau­bens­rich­tun­gen auf der Er­de zu er­fas­sen. Wenn er sein In­ter­es­se bes­ser kon­zen­triert hät­te, dann hät­te er den Sta­tus ei­nes Bru­ders be­reits hin­ter sich ge­las­sen – aber das war nicht sei­ne Art. Nun muß­te er sich fra­gen: Soll­te er die ver­trau­te Ver­si­on des Ta­rots be­nut­zen oder das weit­ge­hend ähn­li­che Wai­te-Spiel in sei­ner Hand, oder soll­te er ernst­haft an­de­re Ta­rot­spie­le in Er­wä­gung zie­hen?

Wenn man die Fra­ge so stell­te, so er­laub­te sie nur ei­ne Ant­wort. Wenn er über­haupt mit Ta­rot um­ging, soll­te er das je­weils pas­sends­te Spiel neh­men. Er ver­such­te stets, ein Pro­blem voll­stän­dig ab­zu­de­cken und ak­zep­tier­te nie­mals blind­lings nur ei­ne Lö­sung. Das Vi­si­ons-Ta­rot­spiel war gut, dar­an be­stand kein Zwei­fel, aber war es das der Si­tua­ti­on ent­spre­chen­de? Da an­de­re Spie­le an­de­re Glau­bens­sys­te­me re­flek­tier­ten und das Pro­blem des Pla­ne­ten Ta­rot das der in Kon­flikt lie­gen­den Glau­bens­rich­tun­gen war, konn­te er kei­ne schnel­le Ent­schei­dung tref­fen.

Er hat­te ei­gent­lich nicht vor­ge­habt, sich bei die­sem ers­ten Ver­such so weit auf die­se Er­schei­nun­gen ein­zu­las­sen. Als ihm dies be­wußt wur­de, spür­te er den Im­puls, sich so­gleich zu­rück­zu­zie­hen, um sich Ge­le­gen­heit zu ver­schaf­fen, ob­jek­ti­ver und ge­las­se­ner zu über­den­ken, was er ent­deckt hat­te, und ein sys­te­ma­ti­sche­res Un­ter­su­chungs­pro­gramm auf­zu­stel­len. Er hat­te im­mer noch das Ge­fühl, Ei­le sei dumm. Er ver­spür­te auch das Ge­fühl, daß – wenn er die bei­den Frau­en an­re­den wür­de und sie auch ant­wor­te­ten – die­ses Mal die Ant­wor­ten be­deut­sa­mer sein wür­den als die des Hie­rophan­ten. Das be­deu­te­te je­doch nicht, daß er nun spre­chen wür­de; er muß­te erst über­le­gen, wel­che Per­son er was fra­gen woll­te. Die Wahl der Per­son konn­te höchs­te Be­deu­tung ha­ben. Da­her soll­te er sich zu­rück­zie­hen und die­se Sze­ne erst wie­der­be­le­ben, wenn er aus­rei­chend dar­auf vor­be­rei­tet war.

Ein Pro­blem blieb je­doch be­ste­hen: Wie konn­te er den Weg aus die­ser Er­schei­nung her­aus­fin­den? Soll­te er ei­ne der Frau­en fra­gen? Dann wür­de er sich in ei­ne Un­ter­hal­tung mit ih­nen be­ge­ben, wie er es mit dem Hie­rophan­ten ge­tan hat­te. Bes­ser war es, die bei­den voll­stän­dig un­be­hel­ligt zu las­sen.

Dann merk­te er, warum er so fest an ei­ne Ant­wort glaub­te. Ei­ner der Aspek­te der Ar­ka­ne Sechs war die Wahl – die Wahl zwi­schen Tu­gend und Las­ter. Ei­ne Frau war die rich­ti­ge, aber wel­che? So ver­schwom­men sie bei­de wa­ren, ver­moch­te er es nicht zu sa­gen. Und er war sich kei­nes­wegs si­cher, daß das äu­ße­re Er­schei­nungs­bild den not­wen­di­gen Hin­weis dar­auf gab. Tu­gend war nicht not­wen­di­ger­wei­se schön und das Las­ter nicht im­mer häß­lich. Wenn das so wä­re, wür­den sich im­mer nur we­ni­ge Men­schen falsch ent­schei­den. Auch das muß­te er sorg­fäl­tig be­den­ken.

Er hat­te mit Zah­len und Bil­dern ge­spielt und war nir­gend­wo­hin ge­langt, weil er eben nur ge­spielt hat­te. Jetzt schließ­lich be­fand er sich in­ner­halb der Er­schei­nung, und die Wahl war noch viel schwie­ri­ger. Er wuß­te nicht, wes­sen Gott, wenn über­haupt ei­ner, sich hier ma­ni­fes­tier­te, und er wür­de es nie er­fah­ren, wenn er sei­nen Vor­ur­tei­len ge­stat­te­te, sei­ne Un­ter­su­chun­gen zu do­mi­nie­ren. Gott konn­te sich sehr wohl durch ein un­er­war­te­tes Me­di­um ma­ni­fes­tie­ren. Viel­leicht be­saß er in sei­nen Ta­rot­Vor­stel­lun­gen ein pas­sen­des Mit­tel, viel­leicht auch ein lä­cher­li­ches, aber nun schi­en er der Wahr­heit nä­her ge­kom­men zu sein, als er es zu­vor ge­we­sen war, nä­her auch, als es ihm viel­leicht in Zu­kunft ge­lin­gen wür­de, und er wuß­te nicht, ob er die Ge­le­gen­heit ver­strei­chen las­sen konn­te. Gott wür­de wahr­schein­lich nicht war­ten, bis es ihm ein­mal paß­te. Da­her war er wohl am bes­ten be­ra­ten, wenn er nahm, was ihm an­ge­bo­ten wur­de, und dies so­gleich wei­ter ver­folg­te.

Doch wie ein schwin­den­des Be­wußt­sein mahn­te ihn sein an­ge­bo­re­nes Ge­fühl zur Vor­sicht. Er konn­te es sich nicht ge­stat­ten, sich un­statt­haf­ter­wei­se durch Ne­ben­säch­lich­kei­ten be­ein­flus­sen zu las­sen. Der flüch­ti­ge An­blick der Herr­sche­rin hat­te ihn ge­reizt, das Mäd­chen aus dem Wei­zen­feld, wel­ches sich als Ama­ranth her­aus­ge­stellt hat­te und die ei­ne der Ge­stal­ten vor ihm sein konn­te. Wenn er das Bild nun ver­ließ, wür­de sie dann mit ihm kom­men? Oder wä­re sie ver­lo­ren? Wie konn­te er es er­fah­ren?

Was er­fah­ren? Er schüt­tel­te den Kopf. Si­cher ging er sei­nen Vi­sio­nen hier nicht nach, weil er ver­mu­te­te, er kön­ne hier ei­ni­ge Macht über sie aus­üben, ein Mit­tel, sie freund­lich zu stim­men für … für was? Er hat­te nichts mit ihr zu schaf­fen, au­ßer daß er ih­re Re­li­ef­kar­te be­nutz­te, um den Weg hier her­aus zu fin­den. Da sie nicht zu den of­fi­zi­el­len Be­ob­ach­tern ge­hör­te, droh­te ih­re blo­ße Prä­senz die ge­sam­te Missi­on zu ver­zer­ren, ins­be­son­de­re, da ih­re Per­sön­lich­keit und Kör­per so …

Er dreh­te sich im Kreis. War es bes­ser zu ver­su­chen, der Er­schei­nung zu ent­flie­hen – als sei er in der La­ge, sie ein an­de­res Mal rich­tig her­bei­zu­ru­fen – an­statt sie mehr oder min­der zu­fäl­lig sich bil­den zu las­sen? Oder soll­te er sich kopf­über hin­ein­stür­zen, wo er schon so weit ge­kom­men war? Er war hoff­nungs­los ver­wirrt, was sei­ne ei­ge­nen Mo­ti­ve an­ging. Er brauch­te ob­jek­ti­ver­en Rat. Aber den konn­te er nicht be­kom­men, oh­ne die Er­schei­nung zu ver­las­sen (die Sze­ne der Ar­ka­ne Sechs war in all ih­ren ver­schwom­me­nen De­tails ge­hor­sam er­starrt, wäh­rend er mit sei­ner Un­si­cher­heit rang), und das al­lein wä­re be­reits ei­ne Ent­schei­dung, viel­leicht ein Irr­tum. Es be­deu­te­te, daß er al­lein war. Es sei denn, er könn­te ir­gend­wie in­ner­halb der Er­schei­nung Rat su­chen.

Nun, warum nicht? „Ich möch­te“, sag­te er laut, „ei­ne Be­ra­te­rin wäh­len, die mich durch die­ses Er­schei­nungs­bild hin­durch­führt.“

„Wol­len wir das nicht al­le?“ stimm­te ihm je­mand zu.

Bru­der Paul blick­te sich um. Es war ei­ne männ­li­che Stim­me ge­we­sen, doch bei­de Ge­stal­ten vor ihm wa­ren, wenn auch ver­schwom­men sicht­bar, de­fi­ni­tiv weib­lich. „Wo bist du?“

„Hier oben auf Wol­ke Neun.“

Bru­der Paul blick­te auf. Der Mann aus dem Boot sah hin­ab. „Bist du frei­wil­lig dort oben?“ frag­te ihn Bru­der Paul.

„Nicht daß ich wüß­te. Ich ha­be mei­ne Frau und mein Kind über den Fluß ge­ru­dert, als plötz­lich …“ Der Mann hielt in­ne. „Ich ha­be nicht ein­mal Frau und Kind. Bin ich wahn­sin­nig?“

„Nein“, be­ru­hig­te ihn Bru­der Paul. „Du bist Teil ei­ner Sze­ne, die ich aus den Ta­rot­kar­ten be­schwo­ren ha­be.“

„Du hast sie her­bei­ge­zau­bert? Ich dach­te, ich sei es ge­we­sen!“ Der Mann kratz­te sich am Kopf. „Aber wenn es dir ge­fällt … Es muß dein Ein­fall ge­we­sen sein, denn ich hät­te mich sonst nie­mals auf die­sen Flug be­ge­ben.“

War dies ein rich­ti­ger Mensch, ein Ko­lo­nist, der wie Bru­der Paul an die­sem Bild teil­nahm? Oder war er aus­schließ­lich Be­stand­teil des her­bei­ge­ru­fe­nen Bil­des? Bru­der Paul zö­ger­te mit sei­nen Fra­gen, da er nicht si­cher war, ob er den Ant­wor­ten trau­en konn­te. Er soll­te in ab­seh­ba­rer Zeit in der La­ge sein, dies sel­ber her­aus­zu­fin­den. „Nun, viel­leicht kön­nen wir dich dort her­un­ter­ho­len. Ich bin da­bei, ei­ne an­de­re Kar­te auf­zu­le­gen.“

„War­te!“ rief der Mann. „Wenn du die­se Wol­ke ab­legst, fal­le ich her­ab und bre­che mir das Bein!“

Bru­der Paul be­gann zu la­chen, wur­de je­doch un­mit­tel­bar dar­auf nach­denk­lich. Es gab kaum Zwei­fel, daß die­se Ani­ma­tio­nen drei­di­men­sio­na­le pro­ji­zier­te Vi­sio­nen wa­ren, die selbst ei­ne Ka­me­ralin­se se­hen konn­te (und er hoff­te, sein Auf­zeich­ner war auf dem Pos­ten, denn wer wür­de auf der Er­de sonst sei­ne Ge­schich­te glau­ben?) – aber in­ner­halb der Bil­der schi­en es ei­ne ge­wis­se phy­sisch faß­ba­re Rea­li­tät zu ge­ben. Es star­ben wirk­lich Men­schen wäh­rend ei­ner Er­schei­nung. Wenn die­ser Mann echt war, saß er viel­leicht in Wirk­lich­keit auf ei­nem Baum, und wenn die ‚Wol­ke’ ver­schwand, konn­te er wirk­lich von sei­nem Ast fal­len und sich ernst­haft ver­let­zen. Da­für woll­te Bru­der Paul nicht ver­ant­wort­lich sein.

„Nun gut. Ich las­se das mit der Kar­te und ru­fe nur Spre­cher her­bei für je­des ein­zel­ne Ta­rot­spiel, wenn sich das als mög­lich er­wei­sen soll­te. Ich bin si­cher, dir wird nichts pas­sie­ren.“ Wenn der Mann ihm glaub­te, wür­de ihm auch nichts ge­sche­hen. Glau­be war der Schlüs­sel, wenn sein mo­men­ta­ner Ein­druck rich­tig war.

„Kannst du mir nicht ein­fach ei­ne Lei­ter her­bei­zau­bern, da­mit ich hin­ab­stei­gen kann?“ frag­te der Mann kläg­lich.

Bru­der Paul dach­te nach. „Ich bin nicht si­cher, ob ich das schaf­fe. Bis­lang ha­be ich die­se Bil­der ge­formt, in­dem ich Kar­ten auf­ge­deckt ha­be und mich dar­auf kon­zen­trier­te. Ich ha­be kei­ne Kar­te mit ei­ner Lei­ter. Wenn ich ver­su­che, in die­ses Bild ei­ne Lei­ter ein­zu­fü­gen, die dort nicht hin­ein­ge­hört – nun, wenn ich mich in ei­ne Er­schei­nung hin­ein­be­ge­ben ha­be, ha­be ich sie im­mer ver­än­dert. Ich fürch­te aber, ich kann kei­ne Sze­ne ver­än­dern, die be­reits exis­tiert, oh­ne sie ins­ge­samt zu zer­stö­ren. Ein Ver­such, ei­ne Lei­ter her­bei­zu­zau­bern, könn­te al­so viel­leicht den Bo­den, auf dem sie ste­hen soll, hin­weg­raf­fen und ge­nau zu dem Fall füh­ren, den wir ver­mei­den wol­len. Viel­leicht sind Ein­ze­l­än­de­run­gen mög­lich, wenn ich grö­ße­re Er­fah­rung mit Er­schei­nun­gen ha­be, aber im Mo­ment fürch­te ich …“

„Ich ver­ste­he“, ant­wor­te­te der Mann. „Mach es auf dei­ne Wei­se. Ich war­te. Die­se Wol­ke ist ei­gent­lich recht be­quem.“

Bru­der Paul kon­zen­trier­te sich. „Äl­tes­tes Ta­rot­spiel, sen­de dei­nen Spre­cher“, in­to­nier­te er mit plötz­li­cher In­ten­si­tät. Die­se Sa­che mit den Er­schei­nun­gen war im De­tail recht schwie­rig, et­wa wie zum ers­ten Mal Roll­schuh­fah­ren. Man konn­te das Grund­prin­zip be­herr­schen, ver­füg­te aber nicht über die Ko­or­di­na­ti­ons­fä­hig­keit, es rich­tig durch­zu­füh­ren, und konn­te schmerz­haft stür­zen. Er war sich kei­nes­wegs si­cher, ob er nun die Spiel­re­geln be­folg­te, denn dies war eher ein un­end­li­cher Be­fehl als ei­ne bild­li­che Dar­stel­lung.

Ei­ne Ge­stalt er­schi­en. Hat­te es wirk­lich funk­tio­niert? Es schi­en ein Kö­nig zu sein. Der Kö­nig sprach. Doch die Wor­te wa­ren un­ver­ständ­lich. Es war ei­ne frem­de Spra­che! Er hät­te wis­sen müs­sen, daß er von den Papp­fi­gu­ren kei­ne In­for­ma­ti­on er­hal­ten wür­de! Wie­der wur­de er ge­täuscht. Aber …

Auf­merk­sam hör­te Bru­der Paul zu. Im Ver­lauf sei­ner Aus­bil­dung hat­te er Kur­se in Fran­zö­sisch und Deutsch be­legt und ein ge­wis­ses Sprach­ge­fühl ent­wi­ckelt. Aber das war zehn Jah­re her. In Deutsch war er bes­ser ge­we­sen, doch die­se Ge­stalt sah nicht deutsch aus. Fran­zö­sisch? Ja, viel­leicht das Frank­reich vor sechs Jahr­hun­der­ten, der Zeit des frü­he­s­ten be­kann­ten au­then­ti­schen Ta­rot­spiels. Das muß­te Kö­nig Karl IV. um 1400 sein, der das be­rühm­te Grin­gon­neur-Ta­rot­spiel pro­te­gier­te.

Die Ge­stalt mach­te ei­ne Hand­be­we­gung, und ei­ne Sze­ne ent­stand. Ei­ne Er­schei­nung, die ei­ne wei­te­re Er­schei­nung her­vor­rief? Nun denn! Die­se neue Sze­ne war vol­ler Men­schen. Drei Paa­re gin­gen fröh­lich wie bei ei­ner Pa­ra­de auf und ab. Die jun­gen Män­ner tru­gen mit­tel­al­ter­li­che Klei­dung, die jun­gen Da­men ele­gan­ten Kopf­putz und Schlep­pen­klei­der. Über ih­nen hat­te sich der Wol­ken­mann in zwei mi­li­tä­ri­sche Ge­stal­ten mit ge­spann­ten Bo­gen ver­wan­delt. Sie rich­te­ten die Pfei­le auf die fröh­li­chen Paa­re. Was für ein Un­heil hat­te er nun her­auf­be­schwo­ren?

Bru­der Paul lä­chel­te. Das war kein Hin­ter­halt oder das Sym­bol ei­ner ge­spal­te­nen Per­sön­lich­keit, son­dern Ro­man­tik. Die Wol­ken­män­ner wa­ren aus­ge­wach­se­ne Cu­pi­dos, die den Men­schen Lie­bes­pfei­le schick­ten. Aber sein Ziel war es, einen Füh­rer zu fin­den und nicht die de­tail­lier­ten Be­son­der­hei­ten ei­nes be­stimm­ten Ta­rot­spiels zu er­fah­ren. Je­den­falls wür­de ein Füh­rer, des­sen Rat er kaum ver­stand, weil er in we­nig ver­trau­ter Spra­che er­teilt wur­de, nicht aus­rei­chen.

„Tut mir leid“, sag­te Bru­der Paul. „Du bist viel­leicht aus ei­nem Ori­gi­nal-Ta­rot­spiel von ma­kel­lo­ser Aus­füh­rung, aber ich muß wei­ter­su­chen. Der nächs­te bit­te!“

Die Sze­ne ver­schwand mit­samt dem Kö­nig und wur­de durch et­was er­setzt, was Bru­der Paul für ita­lie­nisch hielt, wenn er auch nicht ge­nau sa­gen konn­te, auf­grund wel­cher Tat­sa­che er so ur­teil­te. Es war ein in den Jah­ren fort­ge­schrit­te­ner Mann. Er trug ein schen­kel­lan­ges Ca­pe, das reich be­stickt war, da­zu einen kro­nen­ar­ti­gen Kopf­putz. Of­fen­sicht­lich ei­ne Per­son von Rang.

Der Mann mach­te ei­ne klei­ne, förm­li­che Ver­beu­gung. „Fil­ip­po Ma­ria Vis­con­ti“, sag­te er.

Das war al­so der be­rühm­te (oder be­rüch­tig­te) Her­zog von Mai­land, über den Bru­der Paul ge­le­sen hat­te, der das wun­der­schö­ne Vis­con­ti-Sfor­za-Ta­rot­spiel in Auf­trag gab, in Er­in­ne­rung an die Hoch­zeit sei­ner Toch­ter mit dem Spröß­ling der Sfor­za. Ein har­ter, bru­ta­ler Mann. Er hat­te für die Ma­le­rei­en ein klei­nes Ver­mö­gen aus­ge­ge­ben, und das Kar­ten­spiel war das schöns­te al­ler mit­tel­al­ter­li­chen Ver­sio­nen.

Bru­der Paul er­wi­der­te die Ver­beu­gung. „Bru­der Paul vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on“, stell­te er sich vor. „Ich freue mich, Ih­re Be­kannt­schaft zu ma­chen.“ Doch sein Ver­gnü­gen wur­de durch ei­ne na­gen­de Er­in­ne­rung ge­dämpft: Hat­te die­ser Her­zog nicht Men­schen­fleisch an sei­ne Hun­de ver­füt­tert?

Vis­con­ti fuhr mit sei­ner Dar­stel­lung fort – in ita­lie­nisch. Noch ei­ne Sprach­bar­rie­re! Der Her­zog mach­te ei­ne Hand­be­we­gung, und ei­ne wei­te­re Sze­ne ma­te­ria­li­sier­te sich. In die­ser be­fan­den sich nur drei Fi­gu­ren: das jun­ge Paar und ein ge­flü­gel­ter Cu­pi­do auf ei­nem Po­dest zwi­schen den bei­den – über das der ar­me Mensch aus sei­ner Wol­ke her­ab­stei­gen konn­te –, aber dem Cu­pi­do wa­ren die Au­gen ver­bun­den, und er hielt einen Pfeil in je­der Hand, den er auf die Leu­te un­ter sich schleu­dern woll­te. Lie­be ist blindl dach­te Bru­der Paul.

„Fran­ces­co Sfor­za … Bian­ca Ma­ria Vis­con­ti …“ Die­se Na­men wa­ren aus dem un­deut­li­chen Kom­men­tar zu er­ken­nen. Das ver­lob­te Paar, das die bei­den mäch­ti­gen Fa­mi­li­en ein­te. Ein wahr­haft hüb­sches Bild. Aber der al­te Fil­ip­po Ma­ria Vis­con­ti kam als Füh­rer eben­falls nicht in Fra­ge.

„Der nächs­te“, sag­te Bru­der Paul.

Die­ses Mal er­schi­en ei­ne klei­ne Ge­stalt: ein Kind. Es war Bru­der Paul auf un­heim­li­che Wei­se ver­traut. Kann­te er es? Bru­der Paul schüt­tel­te den Kopf. Die­ses Kind war viel­leicht vier oder fünf Jah­re alt, höchs­tens sechs, und sah kei­nem Kind ähn­lich, das Bru­der Paul je­mals auf der Er­de ge­se­hen hat­te.

Das Kind sprach fran­zö­sisch, und wenn Bru­der Paul auch mehr Wor­te als zu­vor be­griff, be­deu­te­te dies doch ei­ne zu große Her­aus­for­de­rung für ihn. Sei­ne Neu­gier auf die­ses Kind ließ ihn je­doch auf­merk­sam zu­hö­ren. War es ein Mäd­chen oder ein Jun­ge? Weib­lich, ent­schied er.

Sie mach­te ei­ne Hand­be­we­gung, und es ent­stand ei­ne Sze­ne. „Mar­seil­le“, sag­te sie deut­lich. Und dies kam dem ur­sprüng­li­chen, ver­schwom­me­nen Bild am nächs­ten: ein jun­ger Mann zwi­schen zwei Frau­en mit ei­nem ge­flü­gel­ten Cu­pi­do dar­über, der den Bo­gen ge­spannt hielt und einen Pfeil ab­sen­den woll­te. Wenn Bru­der Paul den Mann nicht bald si­cher aus sei­ner Wol­ke be­kam, könn­te er sich pro­vo­ziert füh­len, den Pfeil auch wirk­lich ab­zu­schi­cken!

Aber die­ses Bild war eher wie ein Bil­der­bo­gen als die bei­den vor­he­ri­gen. Dies war ei­ne Sze­ne, die ein Kind schön fin­den wür­de und der fast sämt­li­che Fein­hei­ten der Kunst fehl­ten. Doch auf die glei­che Wei­se wur­de auch die Be­deu­tung klar: Der Mann muß­te sich zwi­schen der hüb­schen jun­gen Frau und der häß­li­chen Al­ten ent­schei­den. Oder war die al­te Schach­tel die Mut­ter, die groß­mü­tig über dem Glück ih­res Soh­nes oder ih­rer Toch­ter thron­te? Oh­ne Zwei­fel schil­der­te das Kind dies, aber Bru­der Paul ver­stand nicht ge­nug. Be­dau­ernd lehn­te er auch die­sen po­ten­ti­el­len Füh­rer ab. „Ich bin si­cher, dei­ne Ge­sell­schaft wür­de mir ge­fal­len, Kind“, sag­te er sanft. „Aber da ich dei­ne Wor­te nicht ver­ste­he, muß ich mich nach ei­nem an­de­ren Füh­rer um­se­hen. Der nächs­te!“

Es er­schi­en ei­ne Da­me, die gänz­lich an­ders ge­klei­det war. Sie schi­en Ägyp­te­rin zu sein und trug einen alt­mo­di­schen Kopf­putz, der durch ein Schmuck­stück in Ge­stalt ei­ner Schlan­ge an Ort und Stel­le ge­hal­ten wur­de, so­wie ein knö­chel­lan­ges Ge­wand mit schwar­zen, quer dar­über ge­leg­ten Bän­dern. Sie blick­te zur Sei­te, um das Ge­sicht im Pro­fil zu zei­gen, wie auf ägyp­ti­schen Ma­le­rei­en.

„Ich hof­fe, du sprichst mei­ne Spra­che“, mur­mel­te Bru­der Paul. Ägyp­tisch lag ihm über­haupt nicht!

„Oh ja“, sag­te sie und setz­te ihn in Er­stau­nen. „Ich ste­he für das Hei­li­ge Ta­rot der Bru­der­schaft vom Licht.“

Bru­der Paul war das Ta­rot der Licht­brü­der ei­ni­ger­ma­ßen ver­traut, doch es un­ter­schied sich in ei­ni­gen grund­sätz­li­chen Aspek­ten von dem des Vi­si­ons­or­dens. Zum einen wa­ren die he­bräi­schen Buch­sta­ben, die mit die­ser Ar­ka­ne zu­sam­men­hin­gen, an­ders. Bru­der Paul kann­te es als Zain, was Schwert be­deu­te­te; das Spiel der Licht­brü­der nann­te es Vau, was Na­gel be­deu­te­te.

Die Frau mach­te ei­ne Hand­be­we­gung, wo­bei sich ihr Arm auf tän­ze­ri­sche Wei­se be­weg­te, und ih­re Kar­te ma­ni­fes­tier­te sich. Ein Mann stand zwi­schen zwei Frau­en. Al­le tru­gen al­tägyp­ti­sche Ge­wän­der. Der Mann hielt die Ar­me ge­kreuzt, die Hän­de ruh­ten auf sei­nen Schul­tern; die Ar­me der Frau­en wa­ren von den El­len­bo­gen an hoch­ge­ho­ben, und die Hän­de be­fan­den sich in Schulter­hö­he. So be­rühr­te je­de Frau mit ei­ner Hand die Schul­ter des Man­nes, wenn sie sich auch von ihm ab­ge­wandt hielt, wäh­rend er kei­ne von bei­den an­sah. Über ih­nen spann­te ei­ne dä­mo­ni­sche Ge­stalt in ei­nem Son­nen­kreis einen ver­zier­ten Bo­gen und hat­te einen lan­gen Pfeil auf­ge­legt.

„Dies ist die Sechs­te Ar­ka­ne mit Na­men ‚Die zwei Pfa­de’“, sag­te die Spre­che­rin. „Ach­te auf die bei­den sich tei­len­den We­ge, wie in dem Ge­dicht bei Ro­bert Frost; die Wahl des Weges ist das wich­tigs­te. Die­se Ar­ka­ne be­zieht sich auf den ägyp­ti­schen Buch­sta­ben Ur, he­brä­isch Vau, oder die la­tei­ni­schen Buch­sta­ben V, U und W. Sei­ne Far­be ist gelb, der Ton E, sei­ne ok­kul­te Wis­sen­schaft der Kab­ba­lis­mus. Sie drückt ihr The­ma auf drei Ebe­nen aus: In der spi­ri­tu­el­len Welt re­flek­tiert es das Wis­sen um Gut und Bö­se, in der in­tel­lek­tu­el­len das Gleich­ge­wicht zwi­schen Frei­heit und Not­wen­dig­keit, in der phy­si­schen Welt den Ant­ago­nis­mus der Na­tur­kräf­te, die Ver­bin­dung zwi­schen Ur­sa­che und Wir­kung. Ach­te dar­auf, daß die Frau zur Lin­ken be­schei­den ge­klei­det ist, wäh­rend die Frau zur Rech­ten ver­füh­re­risch nackt­bu­sig ist, einen Kranz im Haar trägt und das durch­sich­ti­ge Ge­wand die Bei­ne buch­stäb­lich bis zur Tail­le zeigt. Den­ke auch dar­an, Sohn der Er­de, daß für den ge­wöhn­li­chen Men­schen die Ver­füh­rung der Un­mo­ral ei­ne weitaus grö­ße­re Fas­zi­na­ti­on birgt als die stren­ge Schön­heit der Tu­gend.“

Bru­der Paul war be­ein­druckt. „Du hast den Sym­bo­lis­mus wirk­lich her­aus­ge­stellt“, mein­te er. „Aber die meis­ten Ge­lehr­ten in­ter­pre­tie­ren die­se Kar­te eher als Lie­be denn als Wahl.“

„Ve­nus re­giert die Lei­den­schaf­ten und so­zia­len Be­zie­hun­gen“, ent­geg­ne­te sie oh­ne Ver­är­ge­rung. „Sie gibt die Lie­be zum Wohl­le­ben, Lu­xus und Ver­gnü­gen. Es ist nicht es­sen­ti­ell bö­se, aber wenn man die­se Li­nie des ge­rings­ten Wi­der­stan­des ver­folgt, kann es zum Übel füh­ren. Wenn man da­bei schei­tert, den Ver­füh­run­gen der Schlech­ten zu wi­der­ste­hen, ge­langt man un­ter den bö­sen Ein­fluß der Zwei­ten Ar­ka­ne, der ver­schlei­er­ten Isis …“

„War­te, war­te!“ pro­tes­tier­te Bru­der Paul. „Ich will mich im Mo­ment nicht mit der Ho­he­pries­te­rin oder an­de­ren Kar­ten ein­las­sen; ich möch­te nur die­se Kar­te hier als Re­prä­sen­tan­tin dei­nes Spiels ver­ste­hen, da­mit ich sie mit den ent­spre­chen­den Kar­ten der an­de­ren Spie­le ver­glei­chen kann. Steht die­se Kar­te für Lie­be oder für die Wahl? Ein ein­fa­ches Ja oder Nein reicht nicht – ich mei­ne ent­we­der die ei­ne Be­schrei­bung oder die an­de­re.“

Sie blick­te ihn vor­wurfs­voll an. „Wenn du auf die un­end­lich kom­ple­xen Fra­gen der Ewig­keit ein­fa­che Ant­wor­ten suchst, dann hat es kei­nen Zweck, die Bru­der­schaft vom Licht zu be­fra­gen.“

Bru­der Paul hat­te kei­ne so ele­gan­te, aber di­rek­te Zu­recht­wei­sung von ei­ner Zau­ber­fi­gur er­war­tet. „Tut mir leid“, ent­schul­dig­te er sich. „Denn ei­gent­lich bin ich nicht auf der Su­che nach ei­ner voll­stän­di­gen Er­klä­rung der Sym­bo­le, son­dern nach ei­nem Füh­rer, der mich rasch und zu­ver­läs­sig zur Wahr­heit füh­ren kann. Ich weiß, ich wer­de das Ta­rot­spiel nie­mals so ein­ge­hend be­grei­fen wie du, aber viel­leicht kannst du mir zei­gen …“

Sie gab nach. „Viel­leicht. Ich will ver­su­chen, dei­ne ein­fa­chen Fra­gen zu be­ant­wor­ten. Dies ist so­wohl die Kar­te der Lie­be als auch der Wahl, denn bei den schwie­rigs­ten Pro­ble­men ist im­mer auch die Lie­be im Spiel. Ach­te bit­te dar­auf, daß der Mann reg­los in dem Win­kel steht, den die Ver­bin­dung zwi­schen den bei­den Stra­ßen bil­det, was im Mo­ment of­fen­bar auch dei­ne Si­tua­ti­on ist. Je­de Frau deu­tet auf ih­ren Weg hin. Die Tu­gend trägt die hei­li­ge Schlan­ge auf der Stirn; das Las­ter ist mit Wein­ran­ken und Trau­ben ge­krönt. Auf die­se Wei­se ver­kör­pert sie die Ver­füh­rung.“

„Ver­füh­rung“, echo­te Bru­der Paul. Ih­re ‚sim­plen’ Ant­wor­ten er­schie­nen ihm nicht son­der­lich ein­fach, doch er schätz­te ih­ren Ver­such, sich auf sei­ne Ebe­ne her­ab­zu­las­sen. Er merk­te, daß sie in Klei­dung und Hal­tung der Ge­stalt der Tu­gend auf­fal­lend äh­nel­te, doch ihr be­schei­de­nes Auf­tre­ten konn­te nicht gänz­lich die wun­der­schö­nen Brüs­te, lan­gen Bei­ne und an­de­ren weib­li­chen At­tri­bu­te ver­hül­len. Sie er­in­ner­te ihn an … nun, an die Ko­lo­nis­tin Ama­ranth. Und wie­der die­se Ver­su­chung! Aber nicht gleich­zei­tig mit Lo­gik ver­bun­den.

„Ich schät­ze dei­ne Ver­nunft“, sag­te er. „Es tut mir leid, daß ich dem Ta­rot der Bru­der­schaft vom Licht nicht mehr Auf­merk­sam­keit ge­schenkt ha­be. Wahr­schein­lich bin ich, als ich den dä­mo­ni­schen Cu­pi­do am Him­mel sah, so­fort zu dem Schluß ge­kom­men …“

„Das ist we­der ein Dä­mon noch ein Cu­pi­do“, ent­geg­ne­te sie. „Es ist der Ge­ni­us der Ge­rech­tig­keit, der in ei­ner blit­zen­den Au­reo­le der zwölf Strah­len des Zo­diac dar­über schwebt, ge­krönt mit den Flam­men des Geis­tes, und er rich­tet den Pfeil der Stra­fe auf das Las­ter. Die­se Grup­pe steht für den Kampf zwi­schen Be­wußt­sein und den Lei­den­schaf­ten, zwi­schen gött­li­cher See­le und ani­ma­li­scher See­le; und als Er­geb­nis die­ses Kamp­fes be­ginnt ein neu­er Le­bens­ab­schnitt.“

Bru­der Paul nick­te nach­denk­lich. Si­cher paß­te Ve­nus gut zum Aspekt der Lie­be, und die In­ter­pre­ta­ti­on des Bil­des als Wahl­si­tua­ti­on paß­te auch ex­trem gut zu sei­ner ge­gen­wär­ti­gen Si­tua­ti­on. Und wenn dies das Mäd­chen Ama­ranth war und be­schrieb, was ei­gent­lich nur ihr Ta­rot­spiel sein konn­te, wä­re er sehr froh, sie als Füh­re­rin zu ha­ben. Doch im­mer­hin wür­de er sich die an­de­ren An­ge­bo­te noch an­se­hen, ehe er ei­ne Ent­schei­dung traf. Ent­schul­di­gend ver­such­te er, dies der Da­me zu er­klä­ren.

Sie lä­chel­te. „Ich bin si­cher, du wirst das Rich­ti­ge tun“, sag­te sie und ver­schwand.

Sie konn­te al­so dar­auf war­ten, bis sie an die Rei­he kam. Sie ge­fiel ihm im­mer bes­ser.

Die nächs­te Er­schei­nung war ein Mann, der ihn sehr an sei­ne au­ßer­ir­di­sche Be­kannt­schaft, An­ta­res in sei­nem mensch­li­chen Gast­kör­per, er­in­ner­te. Doch die Sze­ne selbst war so­gleich er­kenn­bar: ‚Die Lie­ben­den’ von Ar­thur Wai­te, dem viel­leicht be­kann­tes­ten Ex­per­ten des Ta­rot­spiels. Die Sze­ne stell­te einen nack­ten Mann und ei­ne Frau dar, die mit aus­ge­brei­te­ten Hän­den vor­ein­an­der stan­den, wäh­rend ein rie­si­ger, ge­flü­gel­ter En­gel über den Wol­ken schweb­te und sei­nen Se­gen er­teil­te. Das Ta­rot­spiel des Hei­li­gen Or­dens der Vi­si­on war von dem von Paul Fos­ter Ca­se ab­ge­lei­tet, wel­ches wie­der­um ei­ne Ver­fei­ne­rung des Wai­te­schen dar­stell­te.

So er­schi­en ihm die­ses Bild äu­ßerst an­ge­nehm in sei­ner Ver­traut­heit.

Doch die Vor­tei­le für das Licht­bru­der­schaft-Spiel stan­den noch im Raum. „Sir“, sag­te Bru­der Paul zö­gernd zu der Wai­te­schen Ge­stalt. „Ich ha­be ge­ra­de ei­ne ägyp­ti­sche Va­ri­an­te die­ser Ar­ka­ne ge­se­hen …“

„An­ge­be­rei!“ bell­te die Ge­stalt. „Es gibt nicht den ge­rings­ten Be­weis für den ägyp­ti­schen Ur­sprung der Ta­rot­kar­ten!“

„Aber ei­ne Rei­he von Ex­per­ten ha­ben …“

Die Ge­stalt nahm ei­ne Hal­tung an, die bei ei­nem ge­rin­ger ste­hen­den Men­schen ar­ro­gant ge­wirkt hät­te. „Ich wün­sche in­ner­halb der Re­geln der Höf­lich­keit der Bru­der­schaft der For­schung zu sa­gen, daß mir je­de Be­trach­tungs­wei­se, die dort ih­ren Aus­druck fin­det, aufs äu­ßers­te gleich­gül­tig ist. Es gibt ei­ne ge­hei­me Tra­di­ti­on be­züg­lich des Ta­rot, eben­so wie ei­ne dar­in ent­hal­te­ne ge­hei­me Dok­trin; ich ha­be …“

„Aber der Aspekt der Wahl, der Ver­füh­rung, zwei We­ge …“

Die Ge­stalt gab nicht nach. „Dies ist in al­ler Sim­pli­zi­tät die Kar­te der mensch­li­chen Lie­be, hier dar­ge­stellt als Teil des Weges, der Wahr­heit und des Le­bens. Sie er­setzt die al­ten Kar­ten der Ehe eben­so wie die spä­te­ren Dumm­hei­ten, die den Mann zwi­schen Tu­gend und Las­ter dar­stel­len. Im höchs­ten Sin­ne ist die­se Kar­te ein Ge­heim­nis des Be­ken­ners und des Sab­bat.“

„Aber …“

„Die al­ten Be­deu­tun­gen fal­len not­wen­di­ger­wei­se mit den al­ten Bil­dern in Stücke. Ei­ni­ge von ih­nen ge­hör­ten zum All­täg­li­chen, und an­de­re bein­hal­te­ten einen falschen Sym­bo­lis­mus.“

Bru­der Paul hat­te vor Wai­te im­mer großen Re­spekt ge­hegt, doch die­se Ar­ro­ganz er­in­ner­te ihn auf un­an­ge­neh­me Wei­se an die Er­schei­nung des Hie­rophan­ten.

Doch es han­del­te sich um ei­ne füh­ren­de Ta­rot­ge­stalt. Bru­der Paul ver­such­te es noch ein­mal. „Ge­mäß der Bru­der­schaft vom Licht ist der he­bräi­sche Buch­sta­be die­ser Kar­te Vau und nicht …“

„Das kann nur das Werk von Eli­phaz Le­vi sein. Er be­stand dar­auf, den Nar­ren an das En­de der Großen Ar­ka­nen zu stel­len, und ver­tausch­te da­mit die ge­sam­te Rei­hen­fol­ge der he­bräi­schen Buch­sta­ben. Der Ti­tel Narr paßt in der Tat zu ihm! Es gab nie­mals zu­vor einen sol­chen Mund, der …“

„Mm, ja. Aber astro­lo­gisch ge­se­hen scheint Ve­nus zur Kar­te der Lie­be zu pas­sen.“

„Non­sens. Der ent­spre­chen­de Buch­sta­be ist Zain, das Schwert. Ein Schwert spal­tet, wie auch Eva aus der Rip­pe Adams ge­schaf­fen wur­de, Kno­chen von sei­nem Kno­chen, Fleisch von sei­nem Fleisch. Zain folgt dem Vau des Hie­rophan­ten: der Na­gel, der die Din­ge zu­sam­men­hält. Na­tür­li­cher­wei­se paßt Ge­mi­ni da­zu vom astro­lo­gi­schen Aspekt her. Das Zei­chen der Zwil­lin­ge, von Dua­li­tät, männ­lich und weib­lich. Es ist über­haupt kei­ne Fra­ge.“

In­ner­lich seufz­te Bru­der Paul. Ehe er mit dem Licht­bru­der­schafts-Ta­rot kon­fron­tiert wur­de, war er mit Wai­te ei­ner Mei­nung ge­we­sen; nun schie­nen ihm bei­de di­ver­gie­ren­de Stand­punk­te ver­nünf­tig. Warum war ein au­gen­schein­lich so ein­fa­ches Pro­jekt plötz­lich so kom­pli­ziert? Einen ein­zi­gen Ex­per­ten aus sechs her­aus­zu­wäh­len, von de­nen er ei­ni­ge be­reits we­gen der Spra­che oder des Al­ters eli­mi­niert hat­te!

„Ich muß noch ei­ne wei­te­re Kar­te in Er­wä­gung zie­hen“, sag­te Bru­der Paul in dem Be­wußt­sein des Zah­len­sym­bols: Sechs Va­ri­an­ten der Ar­ka­ne Sechs.

Wai­te ver­schwand mit ei­ner Gri­mas­se der Re­si­gna­ti­on. Er war of­fen­sicht­lich der Mei­nung, die blo­ße Er­wä­gung von an­de­ren Mög­lich­kei­ten sei fri­vol. Er­setzt wur­de er durch einen stäm­mi­gen, un­an­sehn­li­chen Mann, kahl und keck, des­sen Mie­ne den­noch sehr herrsch­süch­tig wirk­te. „Ich bin Meis­ter The­ri­on, die Bes­tie 666“, ver­kün­de­te er. „Ich ha­be dei­ne vor­he­ri­gen Ge­sprä­che mit an­ge­hört. Ist der al­te Ar­thwai­te nicht ein Arsch­loch? Ein Wun­der, daß ihn über­haupt je­mand aus­ste­hen kann.“

Bru­der Paul war ab­so­lut ver­dutzt. Die­se Ani­ma­tio­nen leg­ten einen Gut­teil mehr In­di­vi­dua­li­tät an den Tag, als er er­war­tet hat­te. „Ar­thur Wai­te ist ein Ge­lehr­ter. Er …“ Er hielt in­ne. „Wie hast du dich ge­nannt?“

„Bes­tie 666. Der le­ben­di­ge Teu­fel. Der ver­derb­tes­te Mensch auf Er­den. Wird das nicht un­mit­tel­bar klar?“

„Äh … nein. Ich …“

„Nen­ne mich Meis­ter The­ri­on, wenn du willst. Tu, was du willst, das ist das gan­ze Ge­setz. Lie­be ist das Ge­setz; Lie­be aus frei­em Wil­len.“

Wie­der­um war Bru­der Paul be­ein­druckt. Lie­be ist das Ge­setz.

The­ri­on lä­chel­te zu­stim­mend. „Ja, ja. Hast du den Ver­spre­cher von dem al­ten Ar­thwai­te über Adam und Eva mit­be­kom­men? Er glaubt so­gar die­se ab­ge­hal­fer­te Ge­schich­te über Adams Rip­pe. Rip­pe, aber wirk­lich! Eva wur­de aus der Vor­haut von Adams al­tem Pe­nis nach des­sen Be­schnei­dung ge­schaf­fen, sieh dir das im ba­by­lo­ni­schen Tal­mud an, von dem im al­ten Tes­ta­ment so­viel ge­klaut wor­den ist. Und zen­siert. Ein klei­ner, sau­be­rer, blu­ti­ger Hautring, das ur­sprüng­li­che Sym­bol für Weib­lich­keit. Gott form­te sie zu ei­ner le­ben­di­gen, at­men­den Fleisch­röh­re, cha­rak­te­ri­siert durch Krei­se, von den bei­den Ku­geln, die so lä­cher­lich aus der Brust ra­gen, bis zu der Art und Wei­se, wie ih­re el­lip­ti­schen Ge­dan­ken ar­bei­ten. Sie wur­de ein­zig zu dem Zweck ge­schaf­fen, je­nes Mit­glied er­neut zu um­ar­men, aus dem man sie so fröh­lich ge­schnit­ten hat, um ihn wie­der ganz zu ma­chen. Je­der Mann, der ihr er­laubt, sei­ne Ge­dan­ken aus ir­gend­ei­nem an­de­ren Grund ab­zu­len­ken, ist ein Dumm­kopf.“

Bru­der Paul ver­such­te, The­ri­on ein­zu­schät­zen. Es war lan­ge her, daß je­mand ei­ne Frau so kon­zen­triert und un­pro­vo­ziert her­ab­ge­wür­digt hät­te. „Du bist wirk­lich ei­ne Bes­tie.“

„Stimmt“, mein­te The­ri­on fröh­lich.

„Ich den­ke, du siehst dir bes­ser dei­ne Kar­te an.“

„Tu, was du willst!“ The­ri­on mach­te ei­ne Hand­be­we­gung, und ein Bild er­schi­en.

Es war … an­ders. Die Sze­ne war vol­ler Fi­gu­ren, doch nicht über­füllt. In der Mit­te stan­den ein Mann und ei­ne Frau, bei­de in kö­nig­li­chen Ge­wän­dern. Sie stan­den vor ei­ner rie­si­gen, kopf­lo­sen Ge­stalt, de­ren Ar­me seg­nend nach vorn ge­streckt wa­ren. Wo ei­gent­lich der Kopf sein soll­te, flog statt des­sen der ge­flü­gel­te Cu­pi­do, der eben­falls einen Pfeil auf­ge­legt hat­te. In den obe­ren Ecken stan­den je­weils ei­ne nack­te Frau und ein nack­ter Mann; im Vor­der­grund be­fan­den sich zwei Kin­der; eben­so gab es einen Lö­wen, einen Vo­gel und ei­ne Schlan­ge. Al­les zu­sam­men elf Le­be­we­sen – doch sie wa­ren so har­mo­nisch zu­ein­an­der ge­stellt, daß al­les nor­mal schi­en. Die Ge­samt­wir­kung war wun­der­schön.

Aber es war den­noch nicht Kunst, die er such­te, son­dern Rat. „Zwei vor­he­ri­ge Ver­sio­nen die­ser Kar­te un­ter­schei­den sich in be­stimm­ten De­tails“, be­gann Bru­der Paul vor­sich­tig.

„Ar­thwai­te ist lä­cher­lich, doch was das he­bräi­sche Äqui­va­lent an­geht, so hat er mehr oder min­der Recht“, mein­te The­ri­on.

„Selbst ei­ne ste­hen­ge­blie­be­ne Uhr zeigt manch­mal die kor­rek­te Zeit an. Die­se Kar­te heißt: ‚Die Lie­ben­den’, mit Zain, dem Schwert, und dem astro­lo­gi­schen Aspekt der Zwil­lin­ge.“

„Mehr oder min­der kor­rekt?“ wie­der­hol­te Bru­der Paul fra­gend.

„Er trans­po­nier­te die Kar­te nach sei­nem Maß und sei­ner Lust. Das kann man nicht ver­nünf­tig be­grün­den.“

Bru­der Paul war ver­dutzt. „Maß­stab? Lust? Das sind kei­ne Sym­bo­le des Ta­rot.“

„Frü­her un­ter Mä­ßig­keit und Stär­ke be­kannt“, er­klär­te The­ri­on. „Ar­thwai­te hat sie ein­fach für sich sel­ber um­ge­dreht, eben­so wie er ih­re Sym­bo­le durch­ein­an­der­brach­te. Er leug­ne­te den ägyp­ti­schen Ur­sprung des Ta­rot.“

„Und du sagst, es sei ägyp­tisch?“

„Aber ab­so­lut. Ich nen­ne es das Buch Thot. Na­tür­lich ha­ben an­de­re spe­ku­la­ti­ve­re Ab­lei­tun­gen vor­ge­nom­men. Die Phra­se Ohev Tz­arot ist he­brä­isch und be­deu­tet ‚Lieb­ha­ber von Kum­mer’. Das scheint auf meh­re­re Wei­sen zu­zu­tref­fen, doch ich hal­te es für Zu­fall. Aber wenn wir das Wort mit ei­nem ‚Z’ be­gin­nen las­sen, könn­ten wir es von ‚Zar’ ab­lei­ten, oder es ‚Czar’ buch­sta­bie­ren, in­dem wir es vom rö­mi­schen Kai­ser Cae­sar ab­lei­ten. Da­her könn­te Tz­arot die Be­deu­tung ha­ben: höchs­te Macht, die ein ok­kul­tes Reich re­giert. Ei­ne sol­che Lo­gik ist so­gar Ar­thwai­tes wert! Aber der ei­gent­li­che Ur­sprung des Ta­rot ist recht un­wich­tig, selbst wenn er ge­si­chert wä­re! Es muß als ei­ge­nes Sys­tem für sich ste­hen oder fal­len. Oh­ne Zwei­fel ist es ein be­wuß­ter Ver­such, in Bild­form die Dok­tri­nen der Qa­ba­lah zu re­prä­sen­tie­ren.“

„Der Kab­ba­la?“

„Der Qa­ba­lah.“

„Keh­ren wir zur Ar­ka­ne Sechs zu­rück.“

„Nun gut. Atu Sechs ist, zu­sam­men mit sei­nem Zwil­ling Atu Vier­zehn, das ge­heim­nis­volls­te und schwie­rigs­te der …“

„Bit­te“, un­ter­brach ihn Bru­der Paul. „Ich be­nö­ti­ge ei­ne recht sim­ple Ana­ly­se.“ Er frag­te sich, ob er ei­ne wei­te­re Zu­rück­wei­sung er­hal­ten wür­de.

Doch Meis­ter The­ri­on lä­chel­te ge­dul­dig. „Na­tür­lich. Ich wer­de am An­fang be­gin­nen. Es gibt ei­ne as­sy­ri­sche Le­gen­de von Eva und ei­ner Schlan­ge: Kain war das Kind Evas und der Schlan­ge der Weis­heit und nicht von Adam. Es war not­wen­dig, daß er das Blut sei­nes Bru­ders ver­goß, da­mit Gott von den Kin­dern Evas er­fuhr.“

„Das kann nicht sein!“ rief Bru­der Paul ent­setzt. „Der Sohn ei­ner Schlan­ge?“

The­ri­on blick­te ihn stirn­run­zelnd an. „Ich hat­te dich für einen Su­chen­den nach der Wahr­heit ge­hal­ten …“

„Ich …“ Bru­der Paul fühl­te sich ge­trof­fen; es war ihm aber gleich­gül­tig, ob er das Ob­jekt von Ob­szö­ni­tä­ten oder Blas­phe­mie wur­de.

„Si­cher merkst du, daß es kei­ne all­ge­mei­ne Er­kennt­nis war, wenn Adam und Eva ver­leug­net wur­den, son­dern fleisch­li­che Er­kennt­nis. Die Schlan­ge ist das ur­sprüng­li­che phal­li­sche Sym­bol.“

„Ich möch­te wirk­lich ob­jek­tiv sein“, sag­te Bru­der Paul. „Aber kannst du mir nicht ei­ne spe­zi­fi­zier­te­re Zu­sam­men­fas­sung über die Be­deu­tung der Kar­te ge­ben? Meinst du zum Bei­spiel, daß sie auch für die Wahl steht?“

„Sie re­prä­sen­tiert die Er­schaf­fung der Welt. Ana­ly­se, Syn­the­se. Die klei­nen Fi­gu­ren hin­ter dem ver­hüll­ten Ere­mi­ten sind Eva und Adams ers­te Frau Li­lith.“

Bru­der Paul merk­te, daß er nicht wei­ter­kam. Wahr­schein­lich wa­ren die Kar­ten der Licht­brü­der am bes­ten, und da­her soll­te die schö­ne Frau sei­ne Füh­re­rin sein, „Ich fürch­te, ich …“

„Tu, was du willst“, sag­te The­ri­on.

Um wirk­lich zu tun, was er woll­te, merk­te Bru­der Paul, be­durf­te es der Ge­gen­wart der Frau. Er glaub­te, ih­re Wahl recht­fer­ti­gen zu kön­nen – auf der Grund­la­ge des­sen, was er aus den Bei­spiel­kar­ten er­se­hen hat­te, eben­so wie aus den Hal­tun­gen der Re­prä­sen­tan­ten. Wai­te war zu ar­ro­gant und un­fle­xi­bel ge­we­sen, wäh­rend The­ri­on … nun ja, er war ein we­nig bies­tig …

Doch dann be­merk­te er et­was an­de­res bei den Zen­tral­fi­gu­ren des Bil­des. Die Frau hat­te große Ähn­lich­keit mit dem Mäd­chen aus dem Wei­zen­feld, und der Mann war schwarz. Nicht schwarz wie ein Dä­mon, son­dern wie ein Ne­ger. Das war ei­ne in­ter­ras­si­sche Ver­bin­dung!

Bru­der Paul sel­ber hat­te nur ein Ach­tel schwar­zes Blut, doch die­ses ei­ne Ach­tel droh­te auf sei­ner Hei­mat­welt mit un­an­ge­mes­se­ner Wich­tig­keit über ihm. Plötz­lich iden­ti­fi­zier­te er sich.

Er trat in The­ri­ons Bild und traf sei­ne Wahl.

Es war ein Feh­ler.