6
Wahl
Der Mensch scheint von Geheimnissen fasziniert zu sein. Geheimnisse und Geheimgesellschaften hat es in der Geschichte immer zahlreich gegeben; einige waren mit einer ganzen Klasse von Menschen verbunden, zum Beispiel mit den Initiationsriten für junge Menschen, andere hatten mit der Religion zu tun wie auch mit den Mysterienkults der hellenischen Welt. Andere wiederum hingen mit speziellen Interessen zusammen wie abweichenden Sexualpraktiken, Bruderschaften oder dem Okkulten. Die Arkanen des Tarotspiels reflektieren dieses Interesse; das Wort ‚Arkanum’ bedeutet Geheimnis. Die Großen Arkanen sind die großen Geheimnisse, die Kleinen die kleineren. Daher überraschte es nicht, wenn das Tarotspiel Gegenstand ernster Forschung durch einige Geheimgesellschaften gewesen ist. Die bedeutendste Untersuchung wurde durch den Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung durchgeführt, der 1887 als Zweig der Englischen Rosenkreuzer gegründet wurde, die selber zwanzig Jahre zuvor aus der Freimaurerei hervorgegangen waren, die wiederum von den Steinmetzen oder der Bauhütte abstammten. Die Goldene Dämmerung hatte 144 Mitglieder – innerhalb des arkanischen Kontextes eine bedeutsame Zahl – und wurde zur Erlangung von initiatorischem Wissen und Kräften sowie von Praktiken zeremonieller Magie gegründet. Viele Persönlichkeiten des täglichen Lebens waren Mitglieder, wie Bram Stoker (der Autor des Romans Dracula) und Sax Rohmer (Schöpfer des Fu Man Chu). Einer der Großmeister war der prominente Dichter William Butler Yeats. Er führte den Vorsitz bei vielen Sitzungen, angetan mit einem schwarzen Kilt, einer schwarzen Maske und mit einem goldenen Dolch im Gürtel. Heute jedoch kennt man die Goldene Dämmerung nur noch wegen ihrer Wirkung auf das Tarotspiel. Arthur Edward Waite, Schöpfer des bekannten Rider-Waite-Spiels, war Mitglied, ebenso Paul Foster Case, ein bedeutender Tarotwissenschaftler, wie auch Alistair Crowley – von dem man sagte, er sei der verderbteste Mensch der Welt –, der das Thoth-Tarot-Spiel unter dem Namen Therion entwickelte. Crowley war ein hochintelligenter und gebildeter Mensch, Autor einer Reihe kluger Bücher, doch er kannte starke Leidenschaften, gab sich Drogen wie Kokain und Heroin hin, praktizierte die Schwarze Magie (bei einem Fall starb ein Mensch, und Crowley saß mehrere Monate in einer Nervenheilanstalt; man hatte den Satan herbeigerufen) und besaß homosexuelle Neigungen, die ihn dazu brachten, daß er Frauen demütigte. Er kaufte sich in Italien einen Landsitz mit Namen Abtei von Thelema, wo er seinen dunklen Geschäften nachging, und dieser wurde bald berüchtigt. Doch trotz aller Fehler des Schöpfers blieb Crowleys Thoth-Tarot-Spiel wohl das schönste und wichtigste aller Kartenentwürfe und ist es wohl wert, von jedem, der sich dafür interessiert, studiert zu werden.
Das Bild um ihn her zuckte und wurde verschwommen. Bruder Paul zögerte, doch er erkannte sogleich das Problem: Sein Betreten der Erscheinung veränderte das Bild. Vielleicht war es dem legendären chinesischen Künstler – wie war doch gleich sein Name – gelungen, seine eigenen realistischen Gemälde zu betreten, um aus der Welt zu verschwinden, doch nur wenige andere hatten einen solchen Status erreicht! Bruder Paul konnte nur zuschauen, nicht teilnehmen.
Aber warum nicht! Die Erscheinungen wurden durch seine eigenen Gedanken beherrscht. Wenn er ein Bild mit sich selber darin malen wollte, wer wollte es ihm verbieten? Er legte die Schwert-Sechs auf.
Das Bild erschien. Der Fluß des Unbewußten war zu einem Strom des Bewußtseins geschwollen. Die Brücke war verschwunden; diese Wasser waren dafür zu breit. Er konnte das Schloß nicht mehr sehen. Natürlich war dies ein anderes Bild, auch eine andere Karte; die Kelch-Fünf stand für Verlust, während Schwert-Sechs für eine Seereise stand. Er hatte augenscheinlich die Fünf verloren, doch die Sechs gewonnen.
Er erblickte ein kleines Gefährt auf dem Wasser. Es war ein flaches Boot, in dem eine Frau und ein Kind sowie ein Mann, der das Boot über den Fluß ruderte, saßen. „Warte!“ rief Bruder Paul in plötzlicher Angst, doch sich auch des Wortspiels bewußt: Wait!{2} war auch der Name des Autors dieses Tarotkartenspiels. „Ich will mit!“ Doch sie achteten nicht auf ihn, weil sie sich außer Hörweite befanden, wenn sie überhaupt real existierten. Sie stammten in der Tat von einer anderen Welt, die er nicht betreten konnte.
Er dachte an die verschiedenen Aussprüche des Hierophanten und spürte wieder den Zorn in sich aufsteigen. Er belebte schließlich diese Bilder; er würde seine Antwort bekommen! Sein Vorhaben bestand darin sicherzustellen, ob diesen Erscheinungen irgendein objektiver Wert zukam oder ob sie alle lediglich eine Reihe sich verfestigender Visionen seiner Gedanken darstellten. Wenn das letztere zutraf, dann hatte er die Antwort schon gefunden: Es gab keinen speziellen Gott von Tarot. Wenn das erstere zutraf …
Aber im Moment versuchte er bloß, seinen Weg aus der Situation herauszufinden. Er hatte das Wasser lediglich probieren wollen, nicht in ihm ertrinken.
Wasser – ein ausgezeichnetes Symbol. Warum nicht den Beweis antreten?
Er sprang in den Fluß, wobei er fast erwartete, auf hartem Boden aufzuschlagen, als er mit dem Bauch in der Realität landete. Doch er tauchte sauber hinein; es war nur der Schock des richtigen Wassers, der ihn erschreckte. Es schäumte um ihn her und zerrte an seinen Kleidern. Er hätte sie vorher ablegen sollten. Aber er hatte es nicht recht geglaubt …
Wenn Glaube der Schlüssel zu den Erscheinungen war, wie konnte dieses Wasser dann trotz seines Unglaubens echt sein?
Doch sein Eintritt veränderte bereits das Bild. Das Wasser verflüchtigte sich; der Fluß wurde kleiner. Bruder Paul richtete den Blick auf die Leute im Boot, wollte sich an sie hängen, um das Bild vor dem Verschwinden zu bewahren. Wenn er nur mit ihnen reden könnte, diesen Leuten aus dem Hintergrund der Tarotkarten, und sie fragen könnte …
Das Boot zitterte. Der Mann flog hoch in die Luft, breitete Flügel aus und glitt auf eine niedrige Wolke, Die Frau alterte rasch, wurde runzlig und hager. Das Kind wurde zu einer auffallend hübschen jungen Dame.
Als Bruder Paul sich ihnen näherte, drehten sie sich zu ihm um. Er blieb in einigen Schritten Abstand vor ihnen stehen, merkte, daß er wieder auf den Füßen stand und seine Kleider durchnäßt waren. Sein Blick glitt von einer Frau zur anderen, von der jungen zur alten. Er merkte, daß dies kein Bild aus den Kleinen Arkanen mehr war, sondern aus den Großen. Das war die Arkane Sechs, bekannt als ‚die Liebenden’.
Nun, nicht notwendigerweise. Die Szene umgab eine gewisse Verschwommenheit, es entstand der Eindruck eines vielschichtigen Bildes.
Natürlich. Er hatte keine Karte aus den Großen Arkanen aufgelegt, hatte nicht spezifisch nach einem ‚großen Geheimnis’ gesucht und insofern keine bestimmte Szene festgelegt. Das Bild versuchte, sich selber aus dem Chaos zu bilden. Das durfte er nicht zulassen; er mußte die Kontrolle bewahren.
Bruder Paul hob die Karten, die er noch in der Hand hielt, hoch – zögerte jedoch. Es gab viele anerkannte Versionen der Tarotkarten, und die Großen Arkanen waren machtvoll. Welche Variante der Arkane Sechs wäre wohl die beste?
Seine eigene Version vom Heiligen Orden der Vision natürlich! Die Gelehrten des Ordens hatten den Symbolismus verfeinert, den die Forscher von der Goldenen Dämmerung entwickelt hatten, und die Illustrationen verbessert, bis sie so präzise waren, wie es sich für Tarot gehörte: ein wunderbares Mittel zur Selbstaufklärung.
Doch der Heilige Orden der Vision beschränkte seine Brüder und Schwestern nicht aufsein eigenes System, genausowenig wie er sie auf ein bestimmtes religiöses System festlegte. Das Herz seiner Philosophie, wie die von Jesus Christus und des Apostels Paulus, war der Dienst am Menschen. Einer dieser Dienste war die Freiheit des Glaubens. Jene, die die Position des Ordens zu vertreten suchten, konnten dies natürlich tun und Ministerielle des Visionsordens werden. Doch einzelne Mitglieder wie Bruder Paul wurden ermutigt, ihr eigenes Verständnis zu entwickeln, denn die Hingabe an den Orden mußte freiwillig erfolgen. Der Orden stellte sicher, daß es keine Freiheit ohne Aufklärung gab; daher erwartete man von jedem, daß er sich umfassend bildete, ehe er sich an einer bestimmten Glaubensrichtung orientierte. So hatte Bruder Paul viele Aspekte religiösen Lebens untersucht, wenn auch bislang diese Studien notwendigerweise oberflächlich gewesen waren: Es gab in einem einzigen Menschenleben einfach zu wenig Zeit, um die Verzweigungen aller menschlichen Glaubensrichtungen auf der Erde zu erfassen. Wenn er sein Interesse besser konzentriert hätte, dann hätte er den Status eines Bruders bereits hinter sich gelassen – aber das war nicht seine Art. Nun mußte er sich fragen: Sollte er die vertraute Version des Tarots benutzen oder das weitgehend ähnliche Waite-Spiel in seiner Hand, oder sollte er ernsthaft andere Tarotspiele in Erwägung ziehen?
Wenn man die Frage so stellte, so erlaubte sie nur eine Antwort. Wenn er überhaupt mit Tarot umging, sollte er das jeweils passendste Spiel nehmen. Er versuchte stets, ein Problem vollständig abzudecken und akzeptierte niemals blindlings nur eine Lösung. Das Visions-Tarotspiel war gut, daran bestand kein Zweifel, aber war es das der Situation entsprechende? Da andere Spiele andere Glaubenssysteme reflektierten und das Problem des Planeten Tarot das der in Konflikt liegenden Glaubensrichtungen war, konnte er keine schnelle Entscheidung treffen.
Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, sich bei diesem ersten Versuch so weit auf diese Erscheinungen einzulassen. Als ihm dies bewußt wurde, spürte er den Impuls, sich sogleich zurückzuziehen, um sich Gelegenheit zu verschaffen, objektiver und gelassener zu überdenken, was er entdeckt hatte, und ein systematischeres Untersuchungsprogramm aufzustellen. Er hatte immer noch das Gefühl, Eile sei dumm. Er verspürte auch das Gefühl, daß – wenn er die beiden Frauen anreden würde und sie auch antworteten – dieses Mal die Antworten bedeutsamer sein würden als die des Hierophanten. Das bedeutete jedoch nicht, daß er nun sprechen würde; er mußte erst überlegen, welche Person er was fragen wollte. Die Wahl der Person konnte höchste Bedeutung haben. Daher sollte er sich zurückziehen und diese Szene erst wiederbeleben, wenn er ausreichend darauf vorbereitet war.
Ein Problem blieb jedoch bestehen: Wie konnte er den Weg aus dieser Erscheinung herausfinden? Sollte er eine der Frauen fragen? Dann würde er sich in eine Unterhaltung mit ihnen begeben, wie er es mit dem Hierophanten getan hatte. Besser war es, die beiden vollständig unbehelligt zu lassen.
Dann merkte er, warum er so fest an eine Antwort glaubte. Einer der Aspekte der Arkane Sechs war die Wahl – die Wahl zwischen Tugend und Laster. Eine Frau war die richtige, aber welche? So verschwommen sie beide waren, vermochte er es nicht zu sagen. Und er war sich keineswegs sicher, daß das äußere Erscheinungsbild den notwendigen Hinweis darauf gab. Tugend war nicht notwendigerweise schön und das Laster nicht immer häßlich. Wenn das so wäre, würden sich immer nur wenige Menschen falsch entscheiden. Auch das mußte er sorgfältig bedenken.
Er hatte mit Zahlen und Bildern gespielt und war nirgendwohin gelangt, weil er eben nur gespielt hatte. Jetzt schließlich befand er sich innerhalb der Erscheinung, und die Wahl war noch viel schwieriger. Er wußte nicht, wessen Gott, wenn überhaupt einer, sich hier manifestierte, und er würde es nie erfahren, wenn er seinen Vorurteilen gestattete, seine Untersuchungen zu dominieren. Gott konnte sich sehr wohl durch ein unerwartetes Medium manifestieren. Vielleicht besaß er in seinen TarotVorstellungen ein passendes Mittel, vielleicht auch ein lächerliches, aber nun schien er der Wahrheit näher gekommen zu sein, als er es zuvor gewesen war, näher auch, als es ihm vielleicht in Zukunft gelingen würde, und er wußte nicht, ob er die Gelegenheit verstreichen lassen konnte. Gott würde wahrscheinlich nicht warten, bis es ihm einmal paßte. Daher war er wohl am besten beraten, wenn er nahm, was ihm angeboten wurde, und dies sogleich weiter verfolgte.
Doch wie ein schwindendes Bewußtsein mahnte ihn sein angeborenes Gefühl zur Vorsicht. Er konnte es sich nicht gestatten, sich unstatthafterweise durch Nebensächlichkeiten beeinflussen zu lassen. Der flüchtige Anblick der Herrscherin hatte ihn gereizt, das Mädchen aus dem Weizenfeld, welches sich als Amaranth herausgestellt hatte und die eine der Gestalten vor ihm sein konnte. Wenn er das Bild nun verließ, würde sie dann mit ihm kommen? Oder wäre sie verloren? Wie konnte er es erfahren?
Was erfahren? Er schüttelte den Kopf. Sicher ging er seinen Visionen hier nicht nach, weil er vermutete, er könne hier einige Macht über sie ausüben, ein Mittel, sie freundlich zu stimmen für … für was? Er hatte nichts mit ihr zu schaffen, außer daß er ihre Reliefkarte benutzte, um den Weg hier heraus zu finden. Da sie nicht zu den offiziellen Beobachtern gehörte, drohte ihre bloße Präsenz die gesamte Mission zu verzerren, insbesondere, da ihre Persönlichkeit und Körper so …
Er drehte sich im Kreis. War es besser zu versuchen, der Erscheinung zu entfliehen – als sei er in der Lage, sie ein anderes Mal richtig herbeizurufen – anstatt sie mehr oder minder zufällig sich bilden zu lassen? Oder sollte er sich kopfüber hineinstürzen, wo er schon so weit gekommen war? Er war hoffnungslos verwirrt, was seine eigenen Motive anging. Er brauchte objektiveren Rat. Aber den konnte er nicht bekommen, ohne die Erscheinung zu verlassen (die Szene der Arkane Sechs war in all ihren verschwommenen Details gehorsam erstarrt, während er mit seiner Unsicherheit rang), und das allein wäre bereits eine Entscheidung, vielleicht ein Irrtum. Es bedeutete, daß er allein war. Es sei denn, er könnte irgendwie innerhalb der Erscheinung Rat suchen.
Nun, warum nicht? „Ich möchte“, sagte er laut, „eine Beraterin wählen, die mich durch dieses Erscheinungsbild hindurchführt.“
„Wollen wir das nicht alle?“ stimmte ihm jemand zu.
Bruder Paul blickte sich um. Es war eine männliche Stimme gewesen, doch beide Gestalten vor ihm waren, wenn auch verschwommen sichtbar, definitiv weiblich. „Wo bist du?“
„Hier oben auf Wolke Neun.“
Bruder Paul blickte auf. Der Mann aus dem Boot sah hinab. „Bist du freiwillig dort oben?“ fragte ihn Bruder Paul.
„Nicht daß ich wüßte. Ich habe meine Frau und mein Kind über den Fluß gerudert, als plötzlich …“ Der Mann hielt inne. „Ich habe nicht einmal Frau und Kind. Bin ich wahnsinnig?“
„Nein“, beruhigte ihn Bruder Paul. „Du bist Teil einer Szene, die ich aus den Tarotkarten beschworen habe.“
„Du hast sie herbeigezaubert? Ich dachte, ich sei es gewesen!“ Der Mann kratzte sich am Kopf. „Aber wenn es dir gefällt … Es muß dein Einfall gewesen sein, denn ich hätte mich sonst niemals auf diesen Flug begeben.“
War dies ein richtiger Mensch, ein Kolonist, der wie Bruder Paul an diesem Bild teilnahm? Oder war er ausschließlich Bestandteil des herbeigerufenen Bildes? Bruder Paul zögerte mit seinen Fragen, da er nicht sicher war, ob er den Antworten trauen konnte. Er sollte in absehbarer Zeit in der Lage sein, dies selber herauszufinden. „Nun, vielleicht können wir dich dort herunterholen. Ich bin dabei, eine andere Karte aufzulegen.“
„Warte!“ rief der Mann. „Wenn du diese Wolke ablegst, falle ich herab und breche mir das Bein!“
Bruder Paul begann zu lachen, wurde jedoch unmittelbar darauf nachdenklich. Es gab kaum Zweifel, daß diese Animationen dreidimensionale projizierte Visionen waren, die selbst eine Kameralinse sehen konnte (und er hoffte, sein Aufzeichner war auf dem Posten, denn wer würde auf der Erde sonst seine Geschichte glauben?) – aber innerhalb der Bilder schien es eine gewisse physisch faßbare Realität zu geben. Es starben wirklich Menschen während einer Erscheinung. Wenn dieser Mann echt war, saß er vielleicht in Wirklichkeit auf einem Baum, und wenn die ‚Wolke’ verschwand, konnte er wirklich von seinem Ast fallen und sich ernsthaft verletzen. Dafür wollte Bruder Paul nicht verantwortlich sein.
„Nun gut. Ich lasse das mit der Karte und rufe nur Sprecher herbei für jedes einzelne Tarotspiel, wenn sich das als möglich erweisen sollte. Ich bin sicher, dir wird nichts passieren.“ Wenn der Mann ihm glaubte, würde ihm auch nichts geschehen. Glaube war der Schlüssel, wenn sein momentaner Eindruck richtig war.
„Kannst du mir nicht einfach eine Leiter herbeizaubern, damit ich hinabsteigen kann?“ fragte der Mann kläglich.
Bruder Paul dachte nach. „Ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe. Bislang habe ich diese Bilder geformt, indem ich Karten aufgedeckt habe und mich darauf konzentrierte. Ich habe keine Karte mit einer Leiter. Wenn ich versuche, in dieses Bild eine Leiter einzufügen, die dort nicht hineingehört – nun, wenn ich mich in eine Erscheinung hineinbegeben habe, habe ich sie immer verändert. Ich fürchte aber, ich kann keine Szene verändern, die bereits existiert, ohne sie insgesamt zu zerstören. Ein Versuch, eine Leiter herbeizuzaubern, könnte also vielleicht den Boden, auf dem sie stehen soll, hinwegraffen und genau zu dem Fall führen, den wir vermeiden wollen. Vielleicht sind Einzeländerungen möglich, wenn ich größere Erfahrung mit Erscheinungen habe, aber im Moment fürchte ich …“
„Ich verstehe“, antwortete der Mann. „Mach es auf deine Weise. Ich warte. Diese Wolke ist eigentlich recht bequem.“
Bruder Paul konzentrierte sich. „Ältestes Tarotspiel, sende deinen Sprecher“, intonierte er mit plötzlicher Intensität. Diese Sache mit den Erscheinungen war im Detail recht schwierig, etwa wie zum ersten Mal Rollschuhfahren. Man konnte das Grundprinzip beherrschen, verfügte aber nicht über die Koordinationsfähigkeit, es richtig durchzuführen, und konnte schmerzhaft stürzen. Er war sich keineswegs sicher, ob er nun die Spielregeln befolgte, denn dies war eher ein unendlicher Befehl als eine bildliche Darstellung.
Eine Gestalt erschien. Hatte es wirklich funktioniert? Es schien ein König zu sein. Der König sprach. Doch die Worte waren unverständlich. Es war eine fremde Sprache! Er hätte wissen müssen, daß er von den Pappfiguren keine Information erhalten würde! Wieder wurde er getäuscht. Aber …
Aufmerksam hörte Bruder Paul zu. Im Verlauf seiner Ausbildung hatte er Kurse in Französisch und Deutsch belegt und ein gewisses Sprachgefühl entwickelt. Aber das war zehn Jahre her. In Deutsch war er besser gewesen, doch diese Gestalt sah nicht deutsch aus. Französisch? Ja, vielleicht das Frankreich vor sechs Jahrhunderten, der Zeit des frühesten bekannten authentischen Tarotspiels. Das mußte König Karl IV. um 1400 sein, der das berühmte Gringonneur-Tarotspiel protegierte.
Die Gestalt machte eine Handbewegung, und eine Szene entstand. Eine Erscheinung, die eine weitere Erscheinung hervorrief? Nun denn! Diese neue Szene war voller Menschen. Drei Paare gingen fröhlich wie bei einer Parade auf und ab. Die jungen Männer trugen mittelalterliche Kleidung, die jungen Damen eleganten Kopfputz und Schleppenkleider. Über ihnen hatte sich der Wolkenmann in zwei militärische Gestalten mit gespannten Bogen verwandelt. Sie richteten die Pfeile auf die fröhlichen Paare. Was für ein Unheil hatte er nun heraufbeschworen?
Bruder Paul lächelte. Das war kein Hinterhalt oder das Symbol einer gespaltenen Persönlichkeit, sondern Romantik. Die Wolkenmänner waren ausgewachsene Cupidos, die den Menschen Liebespfeile schickten. Aber sein Ziel war es, einen Führer zu finden und nicht die detaillierten Besonderheiten eines bestimmten Tarotspiels zu erfahren. Jedenfalls würde ein Führer, dessen Rat er kaum verstand, weil er in wenig vertrauter Sprache erteilt wurde, nicht ausreichen.
„Tut mir leid“, sagte Bruder Paul. „Du bist vielleicht aus einem Original-Tarotspiel von makelloser Ausführung, aber ich muß weitersuchen. Der nächste bitte!“
Die Szene verschwand mitsamt dem König und wurde durch etwas ersetzt, was Bruder Paul für italienisch hielt, wenn er auch nicht genau sagen konnte, aufgrund welcher Tatsache er so urteilte. Es war ein in den Jahren fortgeschrittener Mann. Er trug ein schenkellanges Cape, das reich bestickt war, dazu einen kronenartigen Kopfputz. Offensichtlich eine Person von Rang.
Der Mann machte eine kleine, förmliche Verbeugung. „Filippo Maria Visconti“, sagte er.
Das war also der berühmte (oder berüchtigte) Herzog von Mailand, über den Bruder Paul gelesen hatte, der das wunderschöne Visconti-Sforza-Tarotspiel in Auftrag gab, in Erinnerung an die Hochzeit seiner Tochter mit dem Sprößling der Sforza. Ein harter, brutaler Mann. Er hatte für die Malereien ein kleines Vermögen ausgegeben, und das Kartenspiel war das schönste aller mittelalterlichen Versionen.
Bruder Paul erwiderte die Verbeugung. „Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision“, stellte er sich vor. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Doch sein Vergnügen wurde durch eine nagende Erinnerung gedämpft: Hatte dieser Herzog nicht Menschenfleisch an seine Hunde verfüttert?
Visconti fuhr mit seiner Darstellung fort – in italienisch. Noch eine Sprachbarriere! Der Herzog machte eine Handbewegung, und eine weitere Szene materialisierte sich. In dieser befanden sich nur drei Figuren: das junge Paar und ein geflügelter Cupido auf einem Podest zwischen den beiden – über das der arme Mensch aus seiner Wolke herabsteigen konnte –, aber dem Cupido waren die Augen verbunden, und er hielt einen Pfeil in jeder Hand, den er auf die Leute unter sich schleudern wollte. Liebe ist blindl dachte Bruder Paul.
„Francesco Sforza … Bianca Maria Visconti …“ Diese Namen waren aus dem undeutlichen Kommentar zu erkennen. Das verlobte Paar, das die beiden mächtigen Familien einte. Ein wahrhaft hübsches Bild. Aber der alte Filippo Maria Visconti kam als Führer ebenfalls nicht in Frage.
„Der nächste“, sagte Bruder Paul.
Dieses Mal erschien eine kleine Gestalt: ein Kind. Es war Bruder Paul auf unheimliche Weise vertraut. Kannte er es? Bruder Paul schüttelte den Kopf. Dieses Kind war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, höchstens sechs, und sah keinem Kind ähnlich, das Bruder Paul jemals auf der Erde gesehen hatte.
Das Kind sprach französisch, und wenn Bruder Paul auch mehr Worte als zuvor begriff, bedeutete dies doch eine zu große Herausforderung für ihn. Seine Neugier auf dieses Kind ließ ihn jedoch aufmerksam zuhören. War es ein Mädchen oder ein Junge? Weiblich, entschied er.
Sie machte eine Handbewegung, und es entstand eine Szene. „Marseille“, sagte sie deutlich. Und dies kam dem ursprünglichen, verschwommenen Bild am nächsten: ein junger Mann zwischen zwei Frauen mit einem geflügelten Cupido darüber, der den Bogen gespannt hielt und einen Pfeil absenden wollte. Wenn Bruder Paul den Mann nicht bald sicher aus seiner Wolke bekam, könnte er sich provoziert fühlen, den Pfeil auch wirklich abzuschicken!
Aber dieses Bild war eher wie ein Bilderbogen als die beiden vorherigen. Dies war eine Szene, die ein Kind schön finden würde und der fast sämtliche Feinheiten der Kunst fehlten. Doch auf die gleiche Weise wurde auch die Bedeutung klar: Der Mann mußte sich zwischen der hübschen jungen Frau und der häßlichen Alten entscheiden. Oder war die alte Schachtel die Mutter, die großmütig über dem Glück ihres Sohnes oder ihrer Tochter thronte? Ohne Zweifel schilderte das Kind dies, aber Bruder Paul verstand nicht genug. Bedauernd lehnte er auch diesen potentiellen Führer ab. „Ich bin sicher, deine Gesellschaft würde mir gefallen, Kind“, sagte er sanft. „Aber da ich deine Worte nicht verstehe, muß ich mich nach einem anderen Führer umsehen. Der nächste!“
Es erschien eine Dame, die gänzlich anders gekleidet war. Sie schien Ägypterin zu sein und trug einen altmodischen Kopfputz, der durch ein Schmuckstück in Gestalt einer Schlange an Ort und Stelle gehalten wurde, sowie ein knöchellanges Gewand mit schwarzen, quer darüber gelegten Bändern. Sie blickte zur Seite, um das Gesicht im Profil zu zeigen, wie auf ägyptischen Malereien.
„Ich hoffe, du sprichst meine Sprache“, murmelte Bruder Paul. Ägyptisch lag ihm überhaupt nicht!
„Oh ja“, sagte sie und setzte ihn in Erstaunen. „Ich stehe für das Heilige Tarot der Bruderschaft vom Licht.“
Bruder Paul war das Tarot der Lichtbrüder einigermaßen vertraut, doch es unterschied sich in einigen grundsätzlichen Aspekten von dem des Visionsordens. Zum einen waren die hebräischen Buchstaben, die mit dieser Arkane zusammenhingen, anders. Bruder Paul kannte es als Zain, was Schwert bedeutete; das Spiel der Lichtbrüder nannte es Vau, was Nagel bedeutete.
Die Frau machte eine Handbewegung, wobei sich ihr Arm auf tänzerische Weise bewegte, und ihre Karte manifestierte sich. Ein Mann stand zwischen zwei Frauen. Alle trugen altägyptische Gewänder. Der Mann hielt die Arme gekreuzt, die Hände ruhten auf seinen Schultern; die Arme der Frauen waren von den Ellenbogen an hochgehoben, und die Hände befanden sich in Schulterhöhe. So berührte jede Frau mit einer Hand die Schulter des Mannes, wenn sie sich auch von ihm abgewandt hielt, während er keine von beiden ansah. Über ihnen spannte eine dämonische Gestalt in einem Sonnenkreis einen verzierten Bogen und hatte einen langen Pfeil aufgelegt.
„Dies ist die Sechste Arkane mit Namen ‚Die zwei Pfade’“, sagte die Sprecherin. „Achte auf die beiden sich teilenden Wege, wie in dem Gedicht bei Robert Frost; die Wahl des Weges ist das wichtigste. Diese Arkane bezieht sich auf den ägyptischen Buchstaben Ur, hebräisch Vau, oder die lateinischen Buchstaben V, U und W. Seine Farbe ist gelb, der Ton E, seine okkulte Wissenschaft der Kabbalismus. Sie drückt ihr Thema auf drei Ebenen aus: In der spirituellen Welt reflektiert es das Wissen um Gut und Böse, in der intellektuellen das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Notwendigkeit, in der physischen Welt den Antagonismus der Naturkräfte, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Achte darauf, daß die Frau zur Linken bescheiden gekleidet ist, während die Frau zur Rechten verführerisch nacktbusig ist, einen Kranz im Haar trägt und das durchsichtige Gewand die Beine buchstäblich bis zur Taille zeigt. Denke auch daran, Sohn der Erde, daß für den gewöhnlichen Menschen die Verführung der Unmoral eine weitaus größere Faszination birgt als die strenge Schönheit der Tugend.“
Bruder Paul war beeindruckt. „Du hast den Symbolismus wirklich herausgestellt“, meinte er. „Aber die meisten Gelehrten interpretieren diese Karte eher als Liebe denn als Wahl.“
„Venus regiert die Leidenschaften und sozialen Beziehungen“, entgegnete sie ohne Verärgerung. „Sie gibt die Liebe zum Wohlleben, Luxus und Vergnügen. Es ist nicht essentiell böse, aber wenn man diese Linie des geringsten Widerstandes verfolgt, kann es zum Übel führen. Wenn man dabei scheitert, den Verführungen der Schlechten zu widerstehen, gelangt man unter den bösen Einfluß der Zweiten Arkane, der verschleierten Isis …“
„Warte, warte!“ protestierte Bruder Paul. „Ich will mich im Moment nicht mit der Hohepriesterin oder anderen Karten einlassen; ich möchte nur diese Karte hier als Repräsentantin deines Spiels verstehen, damit ich sie mit den entsprechenden Karten der anderen Spiele vergleichen kann. Steht diese Karte für Liebe oder für die Wahl? Ein einfaches Ja oder Nein reicht nicht – ich meine entweder die eine Beschreibung oder die andere.“
Sie blickte ihn vorwurfsvoll an. „Wenn du auf die unendlich komplexen Fragen der Ewigkeit einfache Antworten suchst, dann hat es keinen Zweck, die Bruderschaft vom Licht zu befragen.“
Bruder Paul hatte keine so elegante, aber direkte Zurechtweisung von einer Zauberfigur erwartet. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Denn eigentlich bin ich nicht auf der Suche nach einer vollständigen Erklärung der Symbole, sondern nach einem Führer, der mich rasch und zuverlässig zur Wahrheit führen kann. Ich weiß, ich werde das Tarotspiel niemals so eingehend begreifen wie du, aber vielleicht kannst du mir zeigen …“
Sie gab nach. „Vielleicht. Ich will versuchen, deine einfachen Fragen zu beantworten. Dies ist sowohl die Karte der Liebe als auch der Wahl, denn bei den schwierigsten Problemen ist immer auch die Liebe im Spiel. Achte bitte darauf, daß der Mann reglos in dem Winkel steht, den die Verbindung zwischen den beiden Straßen bildet, was im Moment offenbar auch deine Situation ist. Jede Frau deutet auf ihren Weg hin. Die Tugend trägt die heilige Schlange auf der Stirn; das Laster ist mit Weinranken und Trauben gekrönt. Auf diese Weise verkörpert sie die Verführung.“
„Verführung“, echote Bruder Paul. Ihre ‚simplen’ Antworten erschienen ihm nicht sonderlich einfach, doch er schätzte ihren Versuch, sich auf seine Ebene herabzulassen. Er merkte, daß sie in Kleidung und Haltung der Gestalt der Tugend auffallend ähnelte, doch ihr bescheidenes Auftreten konnte nicht gänzlich die wunderschönen Brüste, langen Beine und anderen weiblichen Attribute verhüllen. Sie erinnerte ihn an … nun, an die Kolonistin Amaranth. Und wieder diese Versuchung! Aber nicht gleichzeitig mit Logik verbunden.
„Ich schätze deine Vernunft“, sagte er. „Es tut mir leid, daß ich dem Tarot der Bruderschaft vom Licht nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt habe. Wahrscheinlich bin ich, als ich den dämonischen Cupido am Himmel sah, sofort zu dem Schluß gekommen …“
„Das ist weder ein Dämon noch ein Cupido“, entgegnete sie. „Es ist der Genius der Gerechtigkeit, der in einer blitzenden Aureole der zwölf Strahlen des Zodiac darüber schwebt, gekrönt mit den Flammen des Geistes, und er richtet den Pfeil der Strafe auf das Laster. Diese Gruppe steht für den Kampf zwischen Bewußtsein und den Leidenschaften, zwischen göttlicher Seele und animalischer Seele; und als Ergebnis dieses Kampfes beginnt ein neuer Lebensabschnitt.“
Bruder Paul nickte nachdenklich. Sicher paßte Venus gut zum Aspekt der Liebe, und die Interpretation des Bildes als Wahlsituation paßte auch extrem gut zu seiner gegenwärtigen Situation. Und wenn dies das Mädchen Amaranth war und beschrieb, was eigentlich nur ihr Tarotspiel sein konnte, wäre er sehr froh, sie als Führerin zu haben. Doch immerhin würde er sich die anderen Angebote noch ansehen, ehe er eine Entscheidung traf. Entschuldigend versuchte er, dies der Dame zu erklären.
Sie lächelte. „Ich bin sicher, du wirst das Richtige tun“, sagte sie und verschwand.
Sie konnte also darauf warten, bis sie an die Reihe kam. Sie gefiel ihm immer besser.
Die nächste Erscheinung war ein Mann, der ihn sehr an seine außerirdische Bekanntschaft, Antares in seinem menschlichen Gastkörper, erinnerte. Doch die Szene selbst war sogleich erkennbar: ‚Die Liebenden’ von Arthur Waite, dem vielleicht bekanntesten Experten des Tarotspiels. Die Szene stellte einen nackten Mann und eine Frau dar, die mit ausgebreiteten Händen voreinander standen, während ein riesiger, geflügelter Engel über den Wolken schwebte und seinen Segen erteilte. Das Tarotspiel des Heiligen Ordens der Vision war von dem von Paul Foster Case abgeleitet, welches wiederum eine Verfeinerung des Waiteschen darstellte.
So erschien ihm dieses Bild äußerst angenehm in seiner Vertrautheit.
Doch die Vorteile für das Lichtbruderschaft-Spiel standen noch im Raum. „Sir“, sagte Bruder Paul zögernd zu der Waiteschen Gestalt. „Ich habe gerade eine ägyptische Variante dieser Arkane gesehen …“
„Angeberei!“ bellte die Gestalt. „Es gibt nicht den geringsten Beweis für den ägyptischen Ursprung der Tarotkarten!“
„Aber eine Reihe von Experten haben …“
Die Gestalt nahm eine Haltung an, die bei einem geringer stehenden Menschen arrogant gewirkt hätte. „Ich wünsche innerhalb der Regeln der Höflichkeit der Bruderschaft der Forschung zu sagen, daß mir jede Betrachtungsweise, die dort ihren Ausdruck findet, aufs äußerste gleichgültig ist. Es gibt eine geheime Tradition bezüglich des Tarot, ebenso wie eine darin enthaltene geheime Doktrin; ich habe …“
„Aber der Aspekt der Wahl, der Verführung, zwei Wege …“
Die Gestalt gab nicht nach. „Dies ist in aller Simplizität die Karte der menschlichen Liebe, hier dargestellt als Teil des Weges, der Wahrheit und des Lebens. Sie ersetzt die alten Karten der Ehe ebenso wie die späteren Dummheiten, die den Mann zwischen Tugend und Laster darstellen. Im höchsten Sinne ist diese Karte ein Geheimnis des Bekenners und des Sabbat.“
„Aber …“
„Die alten Bedeutungen fallen notwendigerweise mit den alten Bildern in Stücke. Einige von ihnen gehörten zum Alltäglichen, und andere beinhalteten einen falschen Symbolismus.“
Bruder Paul hatte vor Waite immer großen Respekt gehegt, doch diese Arroganz erinnerte ihn auf unangenehme Weise an die Erscheinung des Hierophanten.
Doch es handelte sich um eine führende Tarotgestalt. Bruder Paul versuchte es noch einmal. „Gemäß der Bruderschaft vom Licht ist der hebräische Buchstabe dieser Karte Vau und nicht …“
„Das kann nur das Werk von Eliphaz Levi sein. Er bestand darauf, den Narren an das Ende der Großen Arkanen zu stellen, und vertauschte damit die gesamte Reihenfolge der hebräischen Buchstaben. Der Titel Narr paßt in der Tat zu ihm! Es gab niemals zuvor einen solchen Mund, der …“
„Mm, ja. Aber astrologisch gesehen scheint Venus zur Karte der Liebe zu passen.“
„Nonsens. Der entsprechende Buchstabe ist Zain, das Schwert. Ein Schwert spaltet, wie auch Eva aus der Rippe Adams geschaffen wurde, Knochen von seinem Knochen, Fleisch von seinem Fleisch. Zain folgt dem Vau des Hierophanten: der Nagel, der die Dinge zusammenhält. Natürlicherweise paßt Gemini dazu vom astrologischen Aspekt her. Das Zeichen der Zwillinge, von Dualität, männlich und weiblich. Es ist überhaupt keine Frage.“
Innerlich seufzte Bruder Paul. Ehe er mit dem Lichtbruderschafts-Tarot konfrontiert wurde, war er mit Waite einer Meinung gewesen; nun schienen ihm beide divergierende Standpunkte vernünftig. Warum war ein augenscheinlich so einfaches Projekt plötzlich so kompliziert? Einen einzigen Experten aus sechs herauszuwählen, von denen er einige bereits wegen der Sprache oder des Alters eliminiert hatte!
„Ich muß noch eine weitere Karte in Erwägung ziehen“, sagte Bruder Paul in dem Bewußtsein des Zahlensymbols: Sechs Varianten der Arkane Sechs.
Waite verschwand mit einer Grimasse der Resignation. Er war offensichtlich der Meinung, die bloße Erwägung von anderen Möglichkeiten sei frivol. Ersetzt wurde er durch einen stämmigen, unansehnlichen Mann, kahl und keck, dessen Miene dennoch sehr herrschsüchtig wirkte. „Ich bin Meister Therion, die Bestie 666“, verkündete er. „Ich habe deine vorherigen Gespräche mit angehört. Ist der alte Arthwaite nicht ein Arschloch? Ein Wunder, daß ihn überhaupt jemand ausstehen kann.“
Bruder Paul war absolut verdutzt. Diese Animationen legten einen Gutteil mehr Individualität an den Tag, als er erwartet hatte. „Arthur Waite ist ein Gelehrter. Er …“ Er hielt inne. „Wie hast du dich genannt?“
„Bestie 666. Der lebendige Teufel. Der verderbteste Mensch auf Erden. Wird das nicht unmittelbar klar?“
„Äh … nein. Ich …“
„Nenne mich Meister Therion, wenn du willst. Tu, was du willst, das ist das ganze Gesetz. Liebe ist das Gesetz; Liebe aus freiem Willen.“
Wiederum war Bruder Paul beeindruckt. Liebe ist das Gesetz.
Therion lächelte zustimmend. „Ja, ja. Hast du den Versprecher von dem alten Arthwaite über Adam und Eva mitbekommen? Er glaubt sogar diese abgehalferte Geschichte über Adams Rippe. Rippe, aber wirklich! Eva wurde aus der Vorhaut von Adams altem Penis nach dessen Beschneidung geschaffen, sieh dir das im babylonischen Talmud an, von dem im alten Testament soviel geklaut worden ist. Und zensiert. Ein kleiner, sauberer, blutiger Hautring, das ursprüngliche Symbol für Weiblichkeit. Gott formte sie zu einer lebendigen, atmenden Fleischröhre, charakterisiert durch Kreise, von den beiden Kugeln, die so lächerlich aus der Brust ragen, bis zu der Art und Weise, wie ihre elliptischen Gedanken arbeiten. Sie wurde einzig zu dem Zweck geschaffen, jenes Mitglied erneut zu umarmen, aus dem man sie so fröhlich geschnitten hat, um ihn wieder ganz zu machen. Jeder Mann, der ihr erlaubt, seine Gedanken aus irgendeinem anderen Grund abzulenken, ist ein Dummkopf.“
Bruder Paul versuchte, Therion einzuschätzen. Es war lange her, daß jemand eine Frau so konzentriert und unprovoziert herabgewürdigt hätte. „Du bist wirklich eine Bestie.“
„Stimmt“, meinte Therion fröhlich.
„Ich denke, du siehst dir besser deine Karte an.“
„Tu, was du willst!“ Therion machte eine Handbewegung, und ein Bild erschien.
Es war … anders. Die Szene war voller Figuren, doch nicht überfüllt. In der Mitte standen ein Mann und eine Frau, beide in königlichen Gewändern. Sie standen vor einer riesigen, kopflosen Gestalt, deren Arme segnend nach vorn gestreckt waren. Wo eigentlich der Kopf sein sollte, flog statt dessen der geflügelte Cupido, der ebenfalls einen Pfeil aufgelegt hatte. In den oberen Ecken standen jeweils eine nackte Frau und ein nackter Mann; im Vordergrund befanden sich zwei Kinder; ebenso gab es einen Löwen, einen Vogel und eine Schlange. Alles zusammen elf Lebewesen – doch sie waren so harmonisch zueinander gestellt, daß alles normal schien. Die Gesamtwirkung war wunderschön.
Aber es war dennoch nicht Kunst, die er suchte, sondern Rat. „Zwei vorherige Versionen dieser Karte unterscheiden sich in bestimmten Details“, begann Bruder Paul vorsichtig.
„Arthwaite ist lächerlich, doch was das hebräische Äquivalent angeht, so hat er mehr oder minder Recht“, meinte Therion.
„Selbst eine stehengebliebene Uhr zeigt manchmal die korrekte Zeit an. Diese Karte heißt: ‚Die Liebenden’, mit Zain, dem Schwert, und dem astrologischen Aspekt der Zwillinge.“
„Mehr oder minder korrekt?“ wiederholte Bruder Paul fragend.
„Er transponierte die Karte nach seinem Maß und seiner Lust. Das kann man nicht vernünftig begründen.“
Bruder Paul war verdutzt. „Maßstab? Lust? Das sind keine Symbole des Tarot.“
„Früher unter Mäßigkeit und Stärke bekannt“, erklärte Therion. „Arthwaite hat sie einfach für sich selber umgedreht, ebenso wie er ihre Symbole durcheinanderbrachte. Er leugnete den ägyptischen Ursprung des Tarot.“
„Und du sagst, es sei ägyptisch?“
„Aber absolut. Ich nenne es das Buch Thot. Natürlich haben andere spekulativere Ableitungen vorgenommen. Die Phrase Ohev Tzarot ist hebräisch und bedeutet ‚Liebhaber von Kummer’. Das scheint auf mehrere Weisen zuzutreffen, doch ich halte es für Zufall. Aber wenn wir das Wort mit einem ‚Z’ beginnen lassen, könnten wir es von ‚Zar’ ableiten, oder es ‚Czar’ buchstabieren, indem wir es vom römischen Kaiser Caesar ableiten. Daher könnte Tzarot die Bedeutung haben: höchste Macht, die ein okkultes Reich regiert. Eine solche Logik ist sogar Arthwaites wert! Aber der eigentliche Ursprung des Tarot ist recht unwichtig, selbst wenn er gesichert wäre! Es muß als eigenes System für sich stehen oder fallen. Ohne Zweifel ist es ein bewußter Versuch, in Bildform die Doktrinen der Qabalah zu repräsentieren.“
„Der Kabbala?“
„Der Qabalah.“
„Kehren wir zur Arkane Sechs zurück.“
„Nun gut. Atu Sechs ist, zusammen mit seinem Zwilling Atu Vierzehn, das geheimnisvollste und schwierigste der …“
„Bitte“, unterbrach ihn Bruder Paul. „Ich benötige eine recht simple Analyse.“ Er fragte sich, ob er eine weitere Zurückweisung erhalten würde.
Doch Meister Therion lächelte geduldig. „Natürlich. Ich werde am Anfang beginnen. Es gibt eine assyrische Legende von Eva und einer Schlange: Kain war das Kind Evas und der Schlange der Weisheit und nicht von Adam. Es war notwendig, daß er das Blut seines Bruders vergoß, damit Gott von den Kindern Evas erfuhr.“
„Das kann nicht sein!“ rief Bruder Paul entsetzt. „Der Sohn einer Schlange?“
Therion blickte ihn stirnrunzelnd an. „Ich hatte dich für einen Suchenden nach der Wahrheit gehalten …“
„Ich …“ Bruder Paul fühlte sich getroffen; es war ihm aber gleichgültig, ob er das Objekt von Obszönitäten oder Blasphemie wurde.
„Sicher merkst du, daß es keine allgemeine Erkenntnis war, wenn Adam und Eva verleugnet wurden, sondern fleischliche Erkenntnis. Die Schlange ist das ursprüngliche phallische Symbol.“
„Ich möchte wirklich objektiv sein“, sagte Bruder Paul. „Aber kannst du mir nicht eine spezifiziertere Zusammenfassung über die Bedeutung der Karte geben? Meinst du zum Beispiel, daß sie auch für die Wahl steht?“
„Sie repräsentiert die Erschaffung der Welt. Analyse, Synthese. Die kleinen Figuren hinter dem verhüllten Eremiten sind Eva und Adams erste Frau Lilith.“
Bruder Paul merkte, daß er nicht weiterkam. Wahrscheinlich waren die Karten der Lichtbrüder am besten, und daher sollte die schöne Frau seine Führerin sein, „Ich fürchte, ich …“
„Tu, was du willst“, sagte Therion.
Um wirklich zu tun, was er wollte, merkte Bruder Paul, bedurfte es der Gegenwart der Frau. Er glaubte, ihre Wahl rechtfertigen zu können – auf der Grundlage dessen, was er aus den Beispielkarten ersehen hatte, ebenso wie aus den Haltungen der Repräsentanten. Waite war zu arrogant und unflexibel gewesen, während Therion … nun ja, er war ein wenig biestig …
Doch dann bemerkte er etwas anderes bei den Zentralfiguren des Bildes. Die Frau hatte große Ähnlichkeit mit dem Mädchen aus dem Weizenfeld, und der Mann war schwarz. Nicht schwarz wie ein Dämon, sondern wie ein Neger. Das war eine interrassische Verbindung!
Bruder Paul selber hatte nur ein Achtel schwarzes Blut, doch dieses eine Achtel drohte auf seiner Heimatwelt mit unangemessener Wichtigkeit über ihm. Plötzlich identifizierte er sich.
Er trat in Therions Bild und traf seine Wahl.
Es war ein Fehler.