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Fähigkeit
Wir schreiben das Jahr 252 A.D.: Kaiser Dezius ist erst seit einem Jahr im Amt, doch in diesem Zeitraum hat er die unruhigen Christen grausam verfolgt. Er hat einen gläubigen Jüngling gefangennehmen und ihn am ganzen Körper mit Honig einschmieren lassen, woraufhin man ihn in die brennende Sonne stellte und den Fliegen und Hornissen aussetzte. Einem anderen Christen wurde das andere Extrem zugedacht: Man band ihn an Händen und Füßen mit blumenumwundenen Seilen und legte ihn nackt auf ein Daunenbett an einen Ort, wo man das leise Murmeln eines Baches hörte. Eine leichte Brise streichelte ihn; er hörte süße Vogelstimmen und roch die duftenden Blumen. Dann kam ein außergewöhnlich schön gestaltetes und anzusehendes Mädchen und entkleidete ihren aufregenden Körper. Sie küßte und streichelte ihn, um seine Männlichkeit zu erregen und ihn zu einer letzten weltlichen Liebkosung zu verführen. Jedoch hatte der Jüngling seine Liebe Gott gewidmet, und dieser Sündenfall mit einer sterblichen Frau hätte ihn beschmutzt. Er besaß keine Waffe, mit der er sich hätte verteidigen können, doch seine Fähigkeit und sein Mut erwiesen sich als angemessen. Er biß sich die Zunge ab und spie sie der Hure ins Gesicht. Durch den Schmerz überkam er die Versuchung und errang für sich die Krone des geistigen Sieges. Paul, der selbst aufrechter Christ war, hatte diese Foltern miterlebt. Entsetzt war er in die Wüste geflohen, wo er den Rest seines Lebens allein in einer Höhle verbrachte. Auf diese Weise wurde er zum ersten christlichen Eremiten und als Sankt Paulus, der Einsiedler, bekannt.
Die großen Windmühlenflügel drehten sich, doch es wurde kein Wasser heraufgeschöpft. Aus dem Rohr tröpfelte es lediglich, und der Brunnen war fast leer. Das bedeutete eine Krise, denn dies war die Hauptwasserader für das ganze Gebiet.
Bruder Paul bedachte seine Lage. „Entweder ist es ein Absinken des Wasserspiegels oder ein Fehler an der Pumpe“, sagte er.
„Der Wasserspiegel?“ fragte Bruder Jakob entsetzt. „Aber soviel haben wir doch nicht geschöpft!“ Seine Sorge war ehrlich und aufrichtig. Die Brüder vom Heiligen Orden verabscheuten die Verschwendung von etwas so Wertvollem wie Wasser.
„Aber wir hatten eine Dürre“, meinte Bruder Paul. Auch in diesem Augenblick brannte die Sonne vom Himmel. „Wir haben vielleicht unwissend zuviel geschöpft, wenn man die besondere Situation, in der wir uns befinden, bedenkt.“
Bruder Jakob war ein magerer, nervöser Mann, der alles sehr ernst nahm. In seinem länglichen Gesicht zuckten die miteinander ringenden Gefühle, die er nicht äußerte. „Wenn es Gottes Wille ist …“
Bruder Paul bemerkte die offensichtliche Angst seines Genossen und beschwichtigte ihn: „Aber zuerst werden wir die Pumpe nachsehen.“
Die Pumpe bestand aus einer Kurbelwelle, die die Drehbewegung der Bolzen in waagerechte Bewegung auf die Kolben an einer Stange übertrug. Die Stange führte hinab in den Brunnen, um den dort versenkten Zylinder zu betreiben, welcher das Wasser hochdrückte. Bruder Paul brachte sein Werkzeug herbei und löste vorsichtig den Mechanismus auseinander, nahm den Kolben vom Gestänge und zog den Zylinder aus der Tiefe heraus. Sein kleines Silberkreuz, das an einer Kette um seinen Hals hing, behinderte ihn beim Vornüberbeugen. Er steckte es mit einer gewissen geistesabwesenden Ehrfurcht in die Brusttasche.
Seine Nase krauste sich. „Ich hoffe, das ist nicht das Höllenfeuer“, meinte er.
„Was?“ Bruder Jakob besaß keinen ausgeprägten Humor.
Bruder Paul schraubte die Mechanik auseinander. Rauch stieg empor. „Aha! Die Holzverkleidung ist angesengt und beschädigt, und so konnte die Pumpe nicht mehr richtig arbeiten!“
„Versengt?“ fragte Bruder Jakob überrascht. Er schien sehr erleichtert, daß sich das Problem als ein mechanisches herausstellte und weder mit dem Absinken des Wasserspiegels noch mit dem Höllenfeuer zusammenhing. „Das ist doch eine Wasserpumpe!“
Bruder Paul lächelte geduldig. Die sich tiefer eingrabenden Falten in seinem Gesicht verrieten, daß er häufig diese Miene aufsetzte. Doch es gab auch ein entgegengesetztes Netz von Falten, welches die ernsthaftere Seite seines Charakters verriet; einige ließen sogar auf beträchtlichen Schmerz deuten. „Nicht alles ist naß, Bruder. Dieser Zylinder ist abgedichtet. Bei hohem Wind, wenn sich der Schaft schnell dreht, wird das Gestänge durch die Reibung so heiß, daß es beginnt zu verkohlen.“
„Und gestern hatten wir ziemlich starken Wind“, stimmte Bruder Jakob zu. „Bruder Peter hat dafür gesorgt, daß wir das Mehl für eine ganze Woche mahlen. Aber wir haben nicht daran gedacht, daß die Mühle …“
„Das ist nicht euer Fehler, Bruder“, warf Bruder Paul rasch ein. „Es ist ganz natürlich und auch vernünftig, die Mühle mit höchster Auslastung zu betreiben, und ein starker Wind macht alle Arbeit leichter. Das ist nur ein Problem unserer niedergehenden Technologie. Ich werde die Umhüllung erneuern, aber wir tun besser daran, bei den nächsten heftigen Winden die Mühle zu drosseln. Manchmal ist es wohl besser, ein wenig Wind ungenutzt zu lassen, als ein schlechtes Teil zu verlieren.“ Er lächelte bei der Arbeit vor sich hin und dachte darüber nach, ob er eine Lebensmaxime entdeckt hatte und ob es wert sei, diese Maxime in seine Lebensphilosophie einzufügen.
Er holte das notwendige Ersatzteil und begann, es einzubauen. Seine dunklen Hände waren stark und geschickt.
„Du bist ein Zauberer“, meinte Bruder Jakob. „Ich beneide dich um deine Geschicklichkeit bei mechanischen Dingen.“
„Ich wollte nur, das Geistige sei auch so leicht zu erringen“, erwiderte Bruder Paul. Er schwitzte nun unter der angenehmen Anstrengung. Er war ein untersetzter Mann von durchschnittlicher Größe mit kurzgeschnittenem, schwarzem Haar. Er neigte zum Dickwerden, doch seine Muskeln befanden sich in hervorragendem Zustand, was sich zeigte, als er das schwere Gerät anhob.
„Wäre es nicht besser, die Pumpe an der Oberfläche aufzubauen, um sie besser überprüfen zu können?“ fragte Bruder Jakob, als sich Bruder Paul mit dem Gewicht des herabsinkenden Zylinders abmühte.
„Doch … aber dann hätten wir kein Wasser“, erklärte Bruder Paul. „Oberflächenpumpen arbeiten mit Unterdruck, und der Druck der normalen Atmosphäre pumpt die Flüssigkeit hinauf. Er beträgt etwa 1,033 kp/cm2 und kann Wasser wegen des Reibungswiderstandes und bestimmter anderer Besonderheiten dieses Systems nicht höher als zehn Meter anheben. Daher benutzen wir eine Druckpumpe, die in der Nähe des Wasserspiegels arbeitet; diese Art von Gerät hat keine derartigen Grenzen. Es ist in der Tat mühseliger, aber notwendig.“
„Ja, jetzt verstehe ich es. Es ist mehr, als einfach die Pumpe an der Mühle zu befestigen. Es muß auch richtig gemacht werden.“
„Vermutlich ist es mit der Macht Gottes das gleiche“, meinte Bruder Paul nachdenklich. „Sie ist vorhanden wie der Wind: ein ungeheures Potential, das oftmals durch den Menschen nicht erkannt oder wahrgenommen wird. Aber es ist real. Wir müssen uns nur die Mühe geben, es zu begreifen. Es liegt an uns, dieses Potential anzuschließen, es direkter mit den Leben der Menschen zu verbinden. Aber wenn wir auch alle Elemente besitzen, funktioniert es nur, wenn alle Einzelteile an der richtigen Stelle sitzen, und es klappt nicht, wenn ein Teil der Technik ausfällt, wenn man auch oberflächlich den Fehler nicht erkennen kann.“
„Das halte ich nicht für eine Analogie“, entgegnete Bruder Jakob. „Es ist die Wahrheit. Der Wind ist Gott und auch das Wasser. Wir können nicht abgetrennt von Ihm existieren. Nicht einen kleinen Moment lang, in keiner Weise.“
Bruder Paul hielt bei seiner Arbeit inne und hielt ergeben die Handflächen nach oben. „Du hast natürlich recht. Aber es muß einen Kommunikationsprozeß mit der Macht da oben geben …“ – er hob die Rechte zum Himmel – „… und der Substanz auf der Erde.“ Seine linke Hand wies auf den verschwundenen Zylinder.
„Und diesen Prozeß würde ich ‚beten’ nennen“, sagte Bruder Jakob.
Die reparierte Pumpe begann wieder zu arbeiten. Aus dem Rohr strömte ein voller, klarer Wasserstrahl und ergoß sich in den Vorratstank und die Zisterne. Bruder Jakob war aufgeregt.
Ohne ein weiteres Wort ging Paul zurück in sein Zimmer, wusch sich Hände, Arme und Gesicht und zog sich seinen Habit an: die schwarze Robe mit dem umgebogenen Kragen und dem Kreuz nach außen. Er hatte eine Lektion zu geben und die Zeit bereits überschritten. Wenn es um die Arbeit für Gott auf der Erde ging, war man am besten pünktlich.
Plötzlich hellte sich seine Miene auf. „Luft, Erde, Wasser, Feuer!“ rief er aus. „Wunderbar! Danke, Gott, für diese Enthüllung.“ Es bedeutete für ihn keinen Widerspruch, direkt mit Gott umzugehen. Der Heilige Orden der Vision befürwortete den Kontakt mit Gott in jeder Weise, die für beide Seiten zufriedenstellend erschien.
Dann saßen die Schüler vor ihm: fünf junge Leute aus dem nahe gelegenen Dorf. Man hielt diese Orientierungslektionen gelegentlich ab, wenn sich genügend Interesse dafür zeigte. Während die ungeheure Verringerung an Energie und Menschen auf der Erde zunahm, verstärkten sich die Bedürfnisse nach natürlicheren technologischen und sozialen Systemen, und daher waren diese Lektionen ziemlich regelmäßig geworden. Die Brüder und Schwestern leiteten sie abwechselnd, und diese Woche war Bruder Paul an der Reihe.
„Tut mir leid, ich komme zu spät“, sagte Bruder Paul und gab jedem die Hand. „Ich wurde aufgehalten, wenn man so will, durch eine Übereinanderlagerung der Elemente.“
Eines der Mädchen horchte auf. Es war eine schlanke Nymphe mit hellen Augen und einem hübschen, von blonden Zöpfen gerahmten Elfengesicht. Sie schien etwa fünfzehn Jahre alt zu sein, wenn auch die mangelhafte Ernährung das Wachstum der Jugendlichen in dieser Zeit verzögerte und die Reifung aufhielt. Einen Monat lang die richtige Nahrung würde bei ihr Wunder wirken, körperlich und vielleicht auch geistig. Es war schon schwer, mit leerem Magen ein gläubiges Geschöpf zu sein. Zumindest für diejenigen, die an diese Art von Disziplin nicht gewöhnt waren. „Damit wollen Sie doch etwas anderes sagen, nicht wahr, Sir?“
„Sag Bruder zu mir“, sagte Paul. „Ich bin Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision. Ja, mir ging dabei eine Anekdote durch den Kopf. Danke für diese Frage.“ Es war immer gut, auf der persönlichen Ebene zu beginnen; zu frühes theologisches Theoretisieren konnte die jungen Köpfe verwirren. Er wollte sie nicht bekehren, sondern ihnen Erklärungen geben. Aber auch das mußte in angemessener Form geschehen. Menschen waren komplexer als Windmühlen, aber es gab auch Parallelen zwischen ihnen.
„Angeber“, murmelte einer der Jungen. Es war ein ungebärdiger Bursche mit breiten Schultern, aber von mißmutigem Äußeren. Offensichtlich hatte man ihn hierhergeschickt, weil ihn niemand anders mehr bändigen konnte. Die Ordensstation war keine Besserungsschule, aber vielleicht würde er hier die Erleuchtung finden. Die Mechanismen Gottes waren niemals vorhersehbar.
„Wir haben unter vielen anderen Geräten eine Windmühle, mit der wir Wasser aus dem Boden pumpen“, begann Bruder Paul. „Durch Reibung ist ein Gehäuse ausgebrannt. Fällt euch dabei irgend etwas ein?“
Alle starrten ihn fragend an – drei Jungen und zwei Mädchen.
„Bei unseren Studien im Orden legen wir Wert auf die Elemente“, fuhr Bruder Paul fort. „Nicht die Atomelemente der alten Wissenschaften, wenn wir uns auch damit befassen, nein, eher die klassischen: Luft, Wasser, Erde und Feuer. Wieder und wieder finden wir diese in den verschiedensten Manifestationen. Sie zeigen sich bei verschiedenen Persönlichkeitstypen, in der Astrologie, bei den Tarotkarten – ihre Symbolik ist universell. Und gerade habe ich..“
„Die Windmühle“, warf das blonde Mädchen ein. „Wind ist Luft, und sie pumpt Wasser!“
„Aus der Erde“, fügte ein Junge hinzu.
„Und sie ist verbrannt“, warf der Mißmutige ein. „Und?“
„Die vier Elemente – alle zusammen“, sagte das erste Mädchen erfreut. Unbewußt schlug sie fröhlich die Hände zusammen. Bruder Paul bemerkte, daß in den Freudensäußerungen des jungen Mädchens etwas sehr Anziehendes lag. Vielleicht war es ein Plan der Natur, daß sie heiratete, ehe sie ihren Eltern zur Last wurde. „Ich finde das schön. Wie ein Puzzle.“
„Aber was soll das?“ fragte der Tölpel.
„Das ist eine Denkübung“, gab Bruder Paul zurück. „Wenn wir Parallelen suchen, Zusammenhänge, neue Aspekte der Dinge, dann finden wir die Bedeutung heraus, und wir werden reifer. Es ist gut, sowohl den Körper zu ertüchtigen als auch den Geist. Die alten Griechen waren davon überzeugt, und von ihnen haben wir sowohl den Satz des Pythagoras als auch die Olympischen Spiele. Auch wir glauben daran. Im eigentlichen Sinne ist es das, um was es bei dem Heiligen Orden der Vision geht. ‚Heilig’ bedeutet auch ‚ganzheitlich’, ‚Vision’ die Vision des Heiligen Paulus auf der Straße nach Damaskus, die ihn Christ werden ließ. Man darf ihn nicht mit dem Heiligen Paul, dem Einsiedler, verwechseln. Wir sind keine Kirche, sondern eher eine Bruderschaft. Wir möchten alle Menschen zueinander bringen und sie das Universalgesetz der Schöpfung lehren, um die Erde auf das neue heraufziehende Zeitalter vorzubereiten. Wir versuchen, den Bedürftigen zu helfen, gleich, was ihre Bedürfnisse sein mögen, und beraten sie entweder oder bieten ihnen materielle Hilfe an. Wir legen großen Wert auf praktische Anwendung – auch bei Windmühlen – in diesen Tagen der schwindenden Zivilisation.“
„He, das ist toll“, sagte das Mädchen. „Kann jeder Mitglied werden?“
Dank sei ihr! Sie übernahm seine Aufgabe!
„Jeder, der möchte, nach einer bestimmten Lehrzeit. Man muß den Orden wirklich verstehen, ehe man wissen kann, ob man ein Teil davon werden will.“
„Warum tragt ihr Kutten und studiert die Bibel und so weiter?“ fragte einer der anderen Jungen. Er hatte dunkle Haut wie Bruder Paul: Die Gesellschaft pflegte diese Verschmelzung von verschiedenen Rassen immer noch ‚schwarz’ zu nennen. „Könnt ihr nicht einfach hinausgehen und Gutes tun ohne diese Verkleidung?“
„Eine ausgezeichnete Frage“, meinte Bruder Paul. „Ihr beginnt wirklich die Verbindung von Inhalt und Form zu begreifen. Eine gute Idee ist ohne die angemessene Form, in die man sie kleidet, Verschwendung. Zum Beispiel wäre eine exzellente Idee für ein Buch durch unbeholfene oder ungenaue Schreibweise vergeudet. Auch ist eine gute Idee, wie man Energie aus dem Wind gewinnt, umsonst, wenn man die Gerätschaften dazu nur unvollständig herstellt. Vielleicht ist der Mensch selber eine Idee, die im Kopf des Schöpfers existiert – doch auch diese Idee muß die ihr gemäße Gestalt annehmen. So ist das auch bei uns im Orden der Heiligen Vision: Wir meinen, daß Formen wichtig, ja sogar von der grundlegenden Idee untrennbar sind.“
„Aber das ist McLuhanismus“, sagte der dritte Junge. Er war ein weißer, schwarzhaariger, sauberer Junge, der etwas älter als die anderen war. Wahrscheinlich war er auch gebildeter. Er hatte ein Wort benutzt, das heutzutage nur noch wenigen bekannt war, um die Kenntnisse des Lehrers auf die Probe zu stellen.
„Nicht hundertprozentig“, entgegnete Bruder Paul, froh, auf die Herausforderung eine Antwort zu wissen. „Das Medium ist vielleicht untrennbar von der Botschaft, aber es ist nicht die Botschaft. Vielleicht würden unseren Zwecken andere Ausdrucksformen ebenso dienlich sein, aber wir haben ein System, das zu funktionieren scheint, und wir werden es beibehalten, bis es uns sinnvoll erscheint, es zu ändern.“ Einen Moment lang schloß er die Augen und schickte ein stummes Dankgebet aus, weil die Stunde so gut verlief. „Wir meinen, daß Gott, uns zu führen, kein besseres Mittel hat als die Bibel, aber eines Tages vielleicht …“
„Unsinn“, warf der griesgrämige Junge ein. „Gott existiert nicht, und die Bibel ist unwichtig. Alles Aberglaube.“
Jetzt war der Fehdehandschuh geworfen. Alle blickten auf Bruder Paul, um seine Reaktion abzuwarten.
Sie wurden enttäuscht. „Vielleicht hast du recht“, entgegnete dieser ohne Verstimmung. „Skeptizismus ist etwas Gesundes. Wenn ich jedoch für mich allein spreche, dann muß ich allerdings sagen, wenn ich auch manchmal so fühle wie du, so bin ich doch zu anderen Zeiten absolut sicher, daß Gott real und wichtig ist. Es liegt an jeder einzelnen Person, dies zu entscheiden – und innerhalb des Ordens hat er dazu die Freiheit. Wir diktieren keine Religion, und wir stoßen niemanden aus; wir stellen lediglich das Material zur Verfügung.“
Man hörte ein Kichern. Bruder Paul bemerkte es mit Unbehagen, denn er hatte keine Punkte für sich verbuchen, sondern lediglich die Stellung des Ordens verdeutlichen wollen. Irgendwie war es ihm mißlungen, denn nun war seine Zuhörerschaft eher durch seine offensichtliche Klugheit als durch seine Philosophie beeindruckt.
Verärgert schob sich der massige Junge nach vorn. „Ich glaube, du bist ein Schwindler. Du willst doch gar nichts für dich selbst entscheiden. Du willst einfach den Regeln des Ordens gehorchen. Du bist wie ein Automat.“
„Vielleicht stimmt das“, stimmte Bruder Paul ihm zu, auf der Suche nach einem Weg, den Zorn des Jungen aufzuweichen, ohne das Ziel der Stunde aus den Augen zu verlieren. „Du beziehst dich auf das Konzept von der Vorherbestimmung, der Prädestination, und in diesem Sinne sind wir alle Automaten mit der Illusion der eigenständigen Entscheidung. Wenn jeder Augenblick durch bestehende Kräfte und Situationen exakt vorherbestimmt ist, kann man dann von einem freien Willen sprechen? Aber ich ziehe es vor …“
„Du bist ein verdammter Schleimscheißer!“ rief der Junge aus. „Du stimmst einfach allem zu, was ich sage! Was machst du denn, wenn ich dich stoße, so?“ Und er trat heftig mit vorgeschobenen Händen auf ihn zu.
Bruder Paul befand sich aber nicht mehr an dieser Stelle. Rasch war er zur Seite getreten und hatte nur ein ausgestrecktes Bein dort stehenlassen. Kopfüber stolperte der Junge über den Fuß. Bruder Paul fing ihn auf und ließ ihn auf den Boden gleiten, wobei er einen Arm des Jungen umklammert hielt. „Verrate niemals im voraus deine Absicht“, sagte er milde.
Der Junge wollte aufstehen. Er blickte mörderisch um sich. Er dachte, es sei ein unglücklicher Sturz gewesen. Aber Bruder Paul drückte nur ein wenig auf die von ihm gehaltene Hand, berührte sie lediglich mit einem Finger, und der Junge brach unter dem plötzlichen Schmerz zusammen. Er war hilflos, wenn es auch den anderen so erschien, als spiele er. Ein Einfingergriff verursachte Schmerzen? Lächerlich!
„Ein bißchen formales Training kann von Vorteil sein“, erklärte Bruder Paul den anderen. „Dies ist eine Form des Aikido, einer japanischen Kampfart. Wie man sieht, ist mein Glaube daran stärker als der Unglaube dieses jungen Mannes. Aber wenn er diese Form ausüben würde, könnte er die Situation schnell ins Gegenteil verkehren, denn er ist sehr stark.“ Unterschätze niemals die Wirkung eines unerwarteten Kompliments! „Die Idee ist, wie ich vorhin schon bemerkte, ohne die Form sinnlos.“
Nun ließ er den Jungen los, um festzustellen, ob er die Situation wieder im Griff hatte. Rasch stand der Bursche wieder auf den Beinen. Sein Gesicht war gerötet, doch er griff ihn nicht noch einmal an. „Wissenschaftliche Anwendung von allem kann sehr produktiv sein“, fuhr Bruder Paul fort, „ob es nun Aikido ist oder ein Gebet.“ Er blickte den Jungen an. „Und nun versuch es bei mir.“
„Was?“ Der Junge war vollständig überrascht – zum zweiten Mal.
„So“, sagte Bruder Paul. „Ich komme so auf dich zu …“ Er trat kämpferisch einen Schritt nach vorn und hob die Faust. „Aber du mußt dich von mir fortdrehen und den linken Fuß im Taiotoshi-Körperfall des Judo drehen …“ Er zeigte es dem Jungen, bis der Fuß richtig stand. „Dann greif mein Hemd und stell den rechten Fuß so vor mich, direkt vor das Schienbein. Siehst du, wie dein Körper in die richtige Position fällt? Darum nennt man diese Position den Körperfall. Und weil ich nach vorn falle, stolpert mein Fuß über dein Bein, während du an meinem Hemd zerrst …“ Es war kein Hemd, sondern das lose Vorderteil seiner Kutte, doch der Effekt war der gleiche. „Und ich komme völlig aus dem Gleichgewicht und falle böse hin.“ Bruder Paul glitt gewandt über das Bein und fiel schwer auf Rücken und Seite. Die linke Hand schlug auf die Strohmatte, die man in der Station anstelle Teppichen benutzte.
Erstaunt blieb der Junge stehen, und die anderen vier sprangen beunruhigt auf. Sie wußten nicht, wie gewandt Bruder Paul derartige Stürze zu bewältigen pflegte und daß das Geräusch zum größten Teil vom Aufschlagen der Hand auf die Matte herrührte. „Und wenn das immer noch nichts nützt, dann benutze den Händedruck oder eine Drehung des Armes, um mich ruhig zu halten.“ Bruder Paul stand auf, und der Junge versuchte, ihm dabei zu helfen, aus Furcht, er habe sich verletzt. Jetzt bestand zwischen ihnen keine Feindseligkeit mehr.
„Hast du das hier studiert?“ fragte der dunkle Junge ehrfürchtig.
„Unter anderem“, antwortete Bruder Paul. „Manchmal erweist es sich für die Ordensmitglieder als notwendig, jemanden zu unterwerfen, der … äh … zeitweise ungeeignet ist. Wir sind gegen den Einsatz von Waffen, weil sie Menschen ernsthaft verletzen können, aber die Methode der Selbstverteidigung oder Kontrolle mit dem bloßen Körper …“ Er zuckte lächelnd die Achseln und blickte den zuvor so mißmutigen Jungen an. „Wie du siehst, hast du mich zu Boden gebracht, ohne mir weh zu tun.“
Alle erwiderten sein Lächeln, und er erkannte, daß alles wieder in Ordnung war. Gott hatte ihm den rechten Weg gewiesen. „Natürlich braucht man nicht dem Heiligen Orden der Vision beizutreten, um in so etwas unterwiesen zn werden. Alle unsere Kurse in Selbstverteidigung, Lesen, Hygiene, Landwirtschaft, Technik, Rechnen und Weben stehen jedermann offen, der das notwendige Interesse und die Fähigkeit dazu hat.“ Wieder lächelte er. „Man könnte uns sogar überreden, die eine oder andere Klasse in Religion zu unterweisen.“
Das blonde Mädchen kicherte anerkennend. „Wenn du die Klasse leitest, Bruder?“
Bruder Paul senkte den Blick. „Ich bedauere, aber ich besitze weder die Ausbildung noch die Qualifikation für einen solchen Kursus. Aber ich arbeite dafür und werde in ein paar Jahren hoffentlich soweit sein.“ Er blickte auf. „Ich danke euch allen für eure Aufmerksamkeit in dieser Einführungsstunde. Jetzt werde ich euch in der Station herumführen.“ Er hob die Nase in die Luft. „Ich glaube, Bruder Peter ist auch mit dem Backen fertig. Vielleicht können wir an der Küche vorbeigehen und ein wenig von seinen Produkten probieren. Meiner Meinung nach gibt es kaum etwas Besseres als ofenwarmes Brot mit ein wenig selbstgemachter …“
Doch ein anderer Bruder tauchte auf. „Hochwürden wünscht dich sogleich zu sehen“, murmelte er. „Ich werde an deiner Stelle den Rundgang leiten.“
Oh, oh. Hatte er wieder Schwierigkeiten? „Danke, Bruder Samuel.“ Bruder Paul ging hinaus.
„Was wollt ihr denn zuerst sehen?“ fragte Bruder Samuel die Gruppe.
Als Bruder Paul die Tür hinter sich schloß, hörte er die Antwort: „Den Körperfall.“ Er lächelte vor sich hin, denn Bruder Samuel hatte einen chronisch steifen Rücken und absolut keine Ausbildung in den Kampfkünsten. Aber der köstliche Duft aus der Bäckerei würde ihn retten, denn junge Leute waren immer hungrig.
Als er zum Büro von Hoch würden ging, ernüchterten sich seine Gedanken. Hatte er sich dieser Gruppe gegenüber richtig verhalten, oder war er einfach clever gewesen und hatte sie eher durch Körperkraft und rhetorischen Humor als durch wertvolle Information beeindruckt? Man konnte es nie richtig wissen!