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Prä­zes­si­on

 

Wenn man sich so die Stan­dard­ver­sio­nen der Bi­bel durch­liest, könn­te man sich wun­dern über die Lücke von et­wa zwei-, drei­hun­dert Jah­ren zwi­schen den Auf­zeich­nun­gen des Al­ten und des Neu­en Tes­ta­men­tes. Ha­ben die al­ten Ge­lehr­ten, die His­to­ri­ker, Phi­lo­so­phen und Pro­phe­ten ein­fach ei­ne Zeit­lang zu den­ken auf­ge­hört? Wie sich her­aus­stell­te, war dies nicht der Fall. Das Ma­te­ri­al war auf­ge­zeich­net und den Ge­lehr­ten zu Je­su Zei­ten be­kannt, viel­leicht so­gar Je­sus sel­ber, doch es wur­de nicht der Bi­bel hin­zu­ge­fügt. In­ner­halb der fol­gen­den Jahr­tau­sen­de ver­sank vie­les in al­ten Bi­blio­the­ken und wur­de weit­ge­hend igno­riert. Dann aber, mit der Ent­de­ckung der Schrift­rol­len vom To­ten Meer im Jah­re 1947, ver­än­der­te sich das Bild, denn die­se Do­ku­men­te, die aus der Zeit Je­su stamm­ten, ent­hiel­ten vie­les von die­sem Ma­te­ri­al und be­stä­tig­ten es. Nun konn­te man die Ge­schich­te der feh­len­den Jah­re er­gän­zen:

Nach­dem Alex­an­der der Große die Welt er­obert hat­te, wur­den vie­le Ju­den aus Is­rael über die Län­der des Mit­tel­meer­rau­mes ver­streut. Das war die Dia­spo­ra – we­der die ers­te noch die letz­te jü­di­sche Ver­trei­bung, denn ei­ne gan­ze Rei­he von Er­obe­rern be­nutz­ten die­se Me­tho­de, um die­ses wi­der­spens­ti­ge Volk in den Griff zu be­kom­men. Das war in­so­fern be­deut­sam, als gleich­zei­tig die Zeit um et­wa 300 A. D. das Ein­schnitts­da­tum für die Bi­bel dar­stell­te. Vie­le ver­trie­be­ne Ju­den spra­chen nun eher Grie­chisch als He­brä­isch, und in Alex­an­dria gab es so­gar mehr Ju­den als in Je­ru­sa­lem. Doch für die Bi­bel, so wie sie zu dem Zeit­punkt aus­sah, wur­den nur ge­nau de­fi­nier­te, he­bräi­sche Tex­te ak­zep­tiert. So wur­de so­wohl von den Chris­ten als auch von den Ju­den viel Ma­te­ri­al aus­ge­schlos­sen, wenn man es auch all­ge­mein als den Tex­ten des Bu­ches an­ge­mes­sen emp­fand. Die voll­stän­di­ge Samm­lung be­steht aus neun­und­drei­ßig Bü­chern des Al­ten Tes­ta­ments, vier­zehn Bü­chern der Apo­kry­phe (was, ver­bor­gen’ be­deu­tet), und sie­ben­und­zwan­zig Bü­chern des Neu­en Tes­ta­men­tes. So ist die Auf­zeich­nung lücken­los.

 

Die Kut­sche ras­te über die Ebe­ne. Bru­der Paul ver­such­te, sich fest­zu­hal­ten, aber sei­ne Hän­de hiel­ten den mons­trö­sen Kelch. Es gab kei­ne Zü­gel.

Er stemm­te die Bei­ne ge­gen die me­tal­le­nen Stüt­zen des Bal­dachins über der Kut­sche und be­merk­te, daß er ei­ne Rüs­tung trug. Sein Vi­sier stand of­fen, und die Arm­schie­nen wa­ren bieg­sam. Es war ei­ne gu­te Rüs­tung. Für den Kampf. Die Kut­sche war so­li­de und gut ge­baut; es be­stand kei­ne Ge­fahr, daß sie trotz der ra­sen­den Schnel­lig­keit aus­ein­an­der­brach. Die Pfer­de …

Pfer­de? Nein, das wa­ren vier un­glaub­li­che ge­har­nisch­te Un­ge­heu­er. Ei­nes hat­te den Kopf ei­nes Bul­len, das an­de­re den ei­nes Ad­lers, das drit­te einen Men­schen­kopf und das vier­te ein Lö­wen­haupt. Die vier Sym­bo­le der vier Ele­men­te! Doch die Kör­per paß­ten nicht da­zu. Der Men­schen­kopf hat­te Adler­klau­en, der Lö­we Ad­ler­flü­gel, Frau­en­brüs­te und Bul­len­fü­ße. Al­le Be­stand­tei­le der Sphinx, doch kei­nes von ih­nen war die Sphinx.

„Was tue ich hier?“ rief Bru­der Paul ver­wirrt.

Der Men­schen­kopf dreh­te sich zu ihm um und zeig­te, um­ge­ben von ei­nem ägyp­ti­schen Kopf­putz, das Ge­sicht The­ri­ons. „Du lenkst die Kut­sche!“ rief das Un­ge­heu­er. „Ich füh­re dich durch das Ta­rot, wie du es ge­wollt hast.“

„Aber doch nicht …“ Bru­der Paul brach ab. Was hat­te er denn ge­wollt? Er hat­te um Füh­rung ge­be­ten, und die Kut­sche war die nächs­te Kar­te. Ar­ka­ne Sie­ben. Das Sym­bol des Sie­ges oder der Rä­der des He­se­kiel, ge­zo­gen von zwei Sphin­xen, die die Sin­ne re­prä­sen­tie­ren: teils Lö­we, teils Frau. Die ok­kul­ten Kräf­ten muß­ten so be­herrscht wer­den, daß sie die Kut­sche des Men­schen an­trie­ben. Oh­ne die­se Kon­trol­le konn­te er sei­nen Weg aus die­sem Mo­rast nicht mehr her­aus­fin­den, in den ihn die Ani­ma­tio­nen ge­trie­ben hat­ten, ganz zu schwei­gen von dem Vor­ha­ben, Gott aus dem Cha­os zu tren­nen.

Warum aber wa­ren es vier Zug­tie­re statt nur zwei? Weil dies nicht die Bru­der Paul be­kann­te Kar­te war, son­dern die The­ri­ons.

Kein Wun­der, daß er Schwie­rig­kei­ten hat­te! „Gib mir die an­de­re Va­ri­an­te!“ rief Bru­der Paul.

Die zu­sam­men­ge­setz­ten We­sen ver­än­der­ten sich und ver­schmol­zen zu zwei wei­ßen Pfer­den. Die Kut­sche nahm ein mit­tel­al­ter­li­ches Aus­se­hen an. „Nein, die auch nicht!“ Wei­te­re Ver­än­de­run­gen, und es er­schie­nen zwei Sphin­xe, die ei­ne schwarz, die an­de­re weiß. „Ja, ge­nau die!“ rief er, und das Bild ver­fes­tig­te sich.

Die wei­ße Sphinx dreh­te den Kopf zu ihm um. „Nett, dich wie­der­zu­se­hen“, sag­te sie.

„Licht!“ rief Bru­der Paul wie­der­er­ken­nend. „Ich mei­ne, den Apo­lo­ge­ten für das Ta­rot der Bru­der­schaft vom Licht! Ich dach­te, dies sei das Wai­te-Spiel?“

Sie kräu­sel­te die ke­cke Na­se. „Ich hat­te ge­hofft, du hät­test die­se un­wür­di­ge Er­fin­dung auf­ge­ge­ben?“

„Jetzt hörst du dich wie The­ri­on an.“

Sie schnaub­te ele­gant. „Warum zwi­schen zwei Irr­we­gen wäh­len, wenn die Wahr­heit auf der Hand liegt? Sei du sel­ber der Er­obe­rer; nimm das Schwert von Zain, um al­le Hin­der­nis­se zu über­win­den und die Herr­schaft des Geis­tes zu er­rin­gen.“

Bru­der Paul hak­te nach. „Du nennst die Ar­ka­ne Sie­ben ‚Der Er­obe­rer’“?

„Ja, Ar­ka­ne Sie­ben. Das ist durch die Bi­bel his­to­risch ge­recht­fer­tigt.“

Oh, oh. Bru­der Paul woll­te sich nicht in ei­ne wei­te­re tech­ni­sche Dis­kus­si­on ver­wi­ckeln las­sen, aber sei­ne Neu­gier war an­ge­sta­chelt. „Die Bi­bel?“

„Jo­seph über­wand, als er nach Ägyp­ten ver­kauft wor­den war, al­le Hin­der­nis­se und ge­lang­te zu großer Macht, wie es durch das Schwert an­ge­deu­tet wird.“ Bru­der Paul merk­te, daß er ein ge­bo­ge­nes Schwert in der Rech­ten hielt, kei­nen Kelch mehr. Er leg­te das Schwert ab, in der Furcht, er wür­de un­be­ab­sich­tigt den bes­tern­ten Bal­da­chin durch­boh­ren. Er dach­te dar­an, daß das he­bräi­sche Al­pha­bet für das Licht­bru­der-Ta­rot an­ders war. In die­sem Spiel war Ar­ka­ne Sie­ben Zain, das Schwert. Da­her hat­te die Da­me mit ih­ren De­fi­ni­tio­nen recht. „Er wur­de durch Po­ti­phars Weib in Ver­su­chung ge­führt, in Ar­ka­ne Sechs, aber er wi­der­stand die­ser Ver­su­chung. Er in­ter­pre­tier­te den Traum des Pha­rao über die sie­ben fet­ten Rin­der und die sie­ben ma­ge­ren als die sie­ben gu­ten Jah­re und die sie­ben schlech­ten Jah­re. Und der Pha­rao sag­te zu ihm: ‚Sie­he, ich ma­che dich zum Herrn über Ägyp­ten’ und ließ ihn in ei­ner Kut­sche fah­ren und mach­te ihn zum Herr­scher über …“

„Schei­ße!“ schrie die schwar­ze Sphinx.

Die wei­ße Sphinx brach scho­ckiert ab.

„Oh, The­ri­on“, mein­te Bru­der Paul in dem Ver­such, ver­nünf­tig zu blei­ben, wenn ihn auch der Zwi­schen­ruf sehr auf­ge­regt hat­te. „Sie hat schließ­lich dei­ne Vor­stel­lung auch nicht un­ter­bro­chen.“

„Ich ha­be auch nicht einen sol­chen Un­sinn ge­quatscht! Frau­en sind ab­so­lut hirn­los; wenn sie kei­nen Schoß hät­ten, wä­ren sie ab­so­lut nutz­los.“

Der Mann war of­fen­sicht­lich ein Ver­äch­ter des schö­nen Ge­schlechts. Was war nur mit ihm los? In an­de­rer Hin­sicht schi­en er recht klug und of­fen zu sein. „Aber“, er­in­ner­te ihn Bru­der Paul, „un­ter­bre­chen soll­test du nie­man­den.“

Die Sphinx wand­te den Kopf der schwar­zen Kol­le­gin zu, dann den gan­zen Kör­per. Die Kut­sche schwank­te, denn bei­de ga­lop­pier­ten in auf­re­gen­der Ge­schwin­dig­keit im­mer wei­ter. „Nein, ich möch­te sei­ne Ein­wän­de hö­ren. Will er et­wa die Glaub­wür­dig­keit der Bi­bel in Fra­ge stel­len?“

„Die Bi­bel ist wohl kaum ein ob­jek­ti­ver Be­richt, und was sie ent­hält, ist so­wohl un­voll­stän­dig als auch ge­rei­nigt. Na­tür­lich ha­ben die He­brä­er und ihr in­to­le­ran­ter, ei­fer­süch­ti­ger Gott die Auf­zeich­nun­gen ge­färbt, da­mit sie ih­nen in den Kram paß­ten. Was glaubst du, ha­ben die ar­men zi­vi­li­sier­ten Ägyp­ter von dem bar­ba­ri­schen Er­obe­rer ge­hal­ten?“

„Sie ha­ben die He­brä­er be­grüßt! Pha­rao hat Jo­seph er­ho­ben, ihm sei­nen Ring an­ge­legt, ei­ne Gold­ket­te um sei­nen Hals ge­legt …“

„Schei­ße!“ wie­der­hol­te The­ri­on. Er schi­en es zu ge­nie­ßen, in Ge­gen­wart der Da­me die­sen un­fei­nen Aus­druck aus­zu­spre­chen. „Pha­rao hat nichts aus der Hand ge­ge­ben! Die he­bräi­schen Stam­mes­brü­der und ih­re Ko­hor­ten ka­men ein­fach her­ein, ei­ne plün­dern­de Hor­de aus der Wüs­te, ha­ben die zi­vi­li­sier­ten Städ­te über­rannt, Häu­ser in Brand ge­steckt, Tem­pel ge­plün­dert und Denk­mä­ler zer­stört. Es wa­ren die ruch­lo­sen Hyksos, die­se so­ge­nann­ten Schä­fer­kö­ni­ge, die die ägyp­ti­sche Kul­tur plün­der­ten wie Schwei­ne ei­ne Kon­di­to­rei, zwei­hun­dert Jah­re, ehe ih­re bar­ba­ri­sche Miß­herr­schaft und Aus­plün­de­rei sie bis zu dem Punkt schwäch­te, daß sich die Ägyp­ter or­ga­ni­sie­ren und sie ver­trei­ben konn­ten. Da­her nennst du die­ses Atu ‚Der Er­obe­rer’. Jo­seph war ein vom Pö­bel ge­zeug­ter Ty­rann, ein Dieb und Mör­der. Das biß­chen Zi­vi­li­sa­ti­on, das er sich äu­ßer­lich zu­ge­legt hat­te, war ägyp­tisch, eben­so wie die Qa­ba­lah …“

„Kab­ba­la?“ frag­te Licht.

„Qa­ba­lah. Ge­stoh­len aus den ägyp­ti­schen Leh­ren, eben­so wie der Gold­schmuck aus den ägyp­ti­schen Häu­sern ge­stoh­len wur­de. Der glei­che Schmuck, den sie ein­schmol­zen, um das Gol­de­ne Kalb dar­aus zu for­men, ei­ne bes­se­re Gott­heit als sie ver­dien­ten, ehe sie sich nach dem Rat Mo­ses auf den blut­rüns­ti­gen, ehr­gei­zi­gen, neu­rei­chen Gott ei­nig­ten, des­sen Na­men aus­zu­spre­chen sie sich schäm­ten.“

„Das brau­che ich mir wirk­lich nicht an­zu­hö­ren!“ rief Licht aus. Das Bild be­gann sich zu ver­än­dern.

„War­te!“ rief Bru­der Paul und er­litt ei­ne dop­pel­te Of­fen­ba­rung. Die­se un­nach­gie­bi­gen An­grif­fe auf die ju­da­isch-christ­li­che Re­li­gi­on – die­ses The­ma kann­te er von ir­gend­wo.

„Wai­te? Das ist aber ge­nug!“ schnapp­te die wei­ße Sphinx. Sie sprang zur Sei­te und brach­te die Kut­sche ge­fähr­lich ins Schlin­gern.

Warum hat­te er nur The­ri­on als Füh­rer ge­wählt an­statt Licht? Um wie vie­les bes­ser er doch mit ihr har­mo­nier­te! Und nun, als er sie fast zu­rück­ge­won­nen hat­te, ging sie wie­der fort. Die Kut­sche schwank­te ge­fähr­lich, droh­te um­zu­stür­zen, ein Op­fer der re­li­gi­ösen Dis­kus­si­on. Die Sphin­xe ver­wan­del­ten sich in zwei rie­si­ge Pfer­de, wie­der­um schwarz und weiß, und dann zer­leg­ten sie sich in die viel­tei­li­gen Un­ge­heu­er von The­ri­ons Thoth Atu. Wie­der­um um­klam­mer­te Bru­der Paul den rie­si­gen Kelch, den er, wie ihm va­ge be­wußt war, um kei­nen Preis fal­len las­sen durf­te.

„Sie­ben!“ rief er. „Ich de­cke die Kelch-Sie­ben auf.“

Der Kelch in sei­nen Hän­den, der ihm die­se Ein­ge­bung in letz­ter Not ge­ge­ben hat­te, ver­grö­ßer­te sich. Er be­stand aus rei­nem Ame­thyst und war im In­nern blut­rot. Es war der Hei­li­ge Gral.

Der Kelch ver­grö­ßer­te sich so, daß er ihn um­gab; sei­ne Strah­len leuch­te­ten wie bei ei­nem Son­nen­auf­gang. Bru­der Paul spür­te, wie er hin­ein­fiel …

Und es spritz­te auf, er schwamm in ei­nem Meer aus Blut. Di­cke, kleb­ri­ge, grün­li­che Flüs­sig­keit – das Blut ei­nes frem­den We­sens, viel­leicht aus der Sphä­re An­ta­res’, aber nicht von ei­nem Men­schen. Di­cke, zu­sam­men­ge­klump­te Trop­fen ran­nen her­ab und bil­de­ten in dem Meer klei­ne Wel­len. Die Trop­fen fie­len aus an­de­ren Kel­chen: ver­zier­ten blau­en Ge­fäßen, sechs an der Zahl, die in ei­ne Me­tal­lauf­hän­gung ein­ge­las­sen wa­ren, die sich über ei­nem grö­ße­ren Kelch er­hob, wel­che auf der Ober­flä­che die­ses grau­en­haf­ten Mee­res stand. Aus je­dem Kelch floß die grü­ne Flüs­sig­keit über, ins­be­son­de­re aus dem großen. Auf je­dem Kelch schwam­men um­ge­dreh­te Blu­men, Ti­ger­li­li­en oder Lo­tus, und aus ih­nen schi­en der Schleim zu stam­men. Der Ver­we­sungs­ge­ruch war ent­setz­lich.

„So wird der Hei­li­ge Gral durch Aus­schwei­fung pro­fa­ni­siert“, sag­te The­ri­ons Stim­me. Sie schi­en aus dem größ­ten Kelch zu kom­men, dem sieb­ten, als be­fin­de sich der Mann in die­ser wi­der­li­chen Flüs­sig­keit.

„Ich in­ter­es­sie­re mich nicht für Aus­schwei­fung“, pro­tes­tier­te Bru­der Paul keu­chend. Sei­ne Rüs­tung zog ihn her­ab. Er ver­such­te sich ge­gen das Was­ser zu weh­ren, doch der Ge­stank er­schwer­te ihm das At­men. „Ich ha­be die Kelch-Sie­ben auf­ge­deckt.“

„Das hast du in der Tat! Sieh doch, wie die hei­li­gen Mys­te­ri­en der Na­tur zu den ob­szö­nen und scham­lo­sen Ge­heim­nis­sen ei­nes schul­di­gen Be­wußt­seins wer­den.“

Bru­der Paul öff­ne­te er­neut den Mund, um zu pro­tes­tie­ren, doch dann plötz­lich er­kann­te er die Be­deu­tung des Ge­stells, in dem die Kel­che hin­gen. Es war ein zu­sam­men­ge­roll­tes, ein­an­der über­lap­pen­des dop­pel­tes Tri­an­gel, zu den sti­li­sier­ten Um­ris­sen des weib­li­chen Re­pro­duk­ti­ons­or­gans ge­formt. Die Ge­bär­mut­ter zog sich bis zur Va­gi­na, und der größ­te Kelch stell­te die Vul­va dar, die mit grün­li­cher Flüs­sig­keit aus den Ge­schlechts­or­ga­nen der Pflan­ze über­floß. Blu­men wa­ren na­tür­lich Ko­pu­la­ti­ons­or­ga­ne, at­trak­tiv ge­nug, daß an­de­re Spe­zi­es wie Bie­nen gern den Pflan­zen bei der Re­pro­duk­ti­on be­hilf­lich wa­ren. Wie vie­le prü­de Frau­en wa­ren sich der vol­len Be­deu­tung der Ges­te be­wußt, wenn sie ih­re Na­sen in Blü­ten steck­ten, um den an­re­gen­den Duft zu spü­ren? Die Na­tur lacht über die Ver­tu­schun­gen der mensch­li­chen Schwä­chen.

Doch was ge­nug war, war ge­nug. Bru­der Paul hat­te kein In­ter­es­se, wei­ter­hin in die­sen dick­li­chen Flüs­sig­kei­ten zu ba­den. „Die Kelch-Sie­ben von Wai­te!“ schrie er.

„Oh, nun gut“, sag­te The­ri­on mür­risch. „Das ist ei­ner von Ar­thwai­tes bes­ser ge­lun­ge­nen Ver­su­chen, wenn er auch die rich­ti­ge Be­deu­tung voll­stän­dig ver­fehlt.“

Das Meer koch­te auf und entließ dich­te Dampf­wol­ken. Aus der Fer­ne klang The­ri­ons Stim­me. „Das wird dir leid tun!“, und es echo­te: „… leid tun … leid tun …“

Das Meer ver­duns­te­te zu grün­li­chen Wol­ken und ließ Bru­der Paul auf ei­nem kleb­ri­gen, grün­li­chen Film ste­hen, der zu ei­ner Wie­se wur­de. Die Kel­che be­hiel­ten ih­re Stel­lung bei, nah­men je­doch ei­ne gold­gel­be Far­be an. Die Blu­men fie­len her­ein und ver­wan­del­ten sich in ver­schie­de­ne Ob­jek­te, die über den Rand hin­aus­rag­ten. Schließ­lich stand Paul vor den sie­ben Kel­chen, die auf ei­ner grau­en Wol­ken­bank thron­ten.

„Da ist es“, sag­te The­ri­on, der nun ne­ben ihm stand. „Ver­wir­ren­de Bil­der, nicht wahr?“

„Bist du im­mer noch da? Ich dach­te, Wai­te wür­de …“

„Du hast mich doch als Füh­rer ge­wählt, oder? In Ar­ka­ne Sex war das … ich mei­ne na­tür­lich Sechs. Du kannst dir nun je­de Kar­te an­se­hen, die du willst, aber ich wer­de sie in­ter­pre­tie­ren.“

Die­se Wahl war al­so all­ge­mein­gül­tig ge­we­sen, zu­min­dest für die Dau­er sei­nes Auf­ent­hal­tes. Bru­der Paul be­fürch­te­te, sei­ne Wahl zu sorg­los ge­trof­fen zu ha­ben. Nun, er wür­de es durch­ste­hen und beim nächs­ten Mal bes­ser vor­be­rei­tet sein. Die­ses Mal schi­en es, als ha­be er bei der Wahl zwi­schen Tu­gend und Las­ter das Las­ter ge­wählt. Im­mer­hin war er mit die­sem Bild ei­ni­ger­ma­ßen ver­traut, wenn auch der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on die Klei­nen Ar­ka­nen nicht son­der­lich be­ach­te­te.

Zu­nächst ein­mal muß­te er sich ori­en­tie­ren. Warum ge­nau war er hier? Er hat­te aus der um­stür­zen­den Kut­sche her­aus ge­wollt, ge­wiß, eben­so aus der Schleim­sup­pe von The­ri­ons Kelch-Sie­ben, aber was war der po­si­ti­ve Grund?

Ant­wort: Er war hier, um die letzt­end­li­chen Ver­zwei­gun­gen die­ser Er­schei­nun­gen zu er­grün­den. Sein kurz­fris­ti­ges Ziel, aus die­ser spe­zi­el­len Se­quenz her­aus­zu­kom­men, war ge­lau­fen; wie­viel Mü­he er sich auch gab, er schi­en sich nur tiefer hin­ein­zu­boh­ren, wie ein Mensch in tücki­schem Treib­sand sei­ne Si­tua­ti­on nur ver­schlech­tert, in­dem er zap­pelt. (Wenn er auch im­mer ge­dacht hat­te, da Sand dich­ter als Was­ser war, kön­ne ein Mann in Treib­sand auch rich­tig trei­ben. Da­her wür­de er sich in kei­ner Ge­fahr be­fin­den, wenn er sich ein­fach ent­spann­te. Konn­te er hier, in der Ani­ma­ti­on, trei­ben, wenn er sich ein­fach fal­len ließ?)

Wenn sich Gott vor ihm ma­ni­fes­tier­te, wie er es vor an­de­ren ge­tan hat­te – wes­sen Gott wür­de es sein? Die Be­fra­gung des Hie­rophan­ten hat­te nichts genützt; Bru­der Paul muß­te zu­nächst die spe­zi­fi­sche Na­tur der Ma­ni­fes­ta­tio­nen be­grei­fen. Wie­der ein­mal dach­te er zu­rück und hoff­te auf ei­ne neue Ein­sicht. Wa­ren die Vi­sio­nen rei­ne Pro­duk­te sei­ner Ge­dan­ken? Oder lag hin­ter ih­nen ei­ne ob­jek­ti­ve Rea­li­tät? Das blieb ei­ne sehr schwie­ri­ge Fra­ge, denn wie konn­te er den Wert des Ma­te­ri­als, das sei­ner ei­ge­nen Er­fah­rung ent­stamm­te, be­ur­tei­len? Es war wie der Ver­such, einen Test zu ent­wi­ckeln, ob ei­ne Per­son wach war oder träum­te: Er konn­te sich knei­fen – und träu­men, daß er ge­knif­fen wur­de. Wenn er je­des De­tail ei­ner Ani­ma­ti­on be­stim­men konn­te, wür­de je­weils die­ses De­tail au­then­tisch sein; wenn er ei­ner Fehl­in­for­ma­ti­on un­ter­lag, wie konn­te er das Bild kor­ri­gie­ren? Doch nun er­schi­en es ihm als ge­wiß, daß ein Ein­fluß an­de­rer Ge­dan­ken be­stand, denn Bru­der Paul hat­te zu­vor nicht al­le De­tails der Ta­rot­va­ri­an­ten ge­kannt, die er in die­ser Er­schei­nung ken­nen­ge­lernt hat­te. Ei­ni­ge der Vor­stel­lun­gen, die die­se The­rion­ge­stalt ihm prä­sen­tiert hat­te, wa­ren ihm voll­stän­dig neu, doch auch dies konn­ten wie­der­um sei­ne ei­ge­nen un­ter­drück­ten An­schau­un­gen sein, die zum Vor­schein ka­men, und das war um so scho­ckie­ren­der, als er ih­re Exis­tenz zu­vor im­mer ver­neint hat­te. Das schwers­te für einen Men­schen ist wohl, die häß­li­chen Be­stand­tei­le sei­nes Ichs zu ak­zep­tie­ren.

Da­her soll­te er die­sen Din­gen ge­gen­über­tre­ten. Viel­leicht war es das Bes­te, sich hin­ein­zu­stür­zen in die­se Vi­si­on und die Ant­wort zu er­grei­fen, ehe sie ver­schwand. Si­cher war sie in ei­nem die­ser auf­ge­stell­ten Kel­che ent­hal­ten. Je­den­falls schul­de­te er die­sen Blick sich selbst und sei­ner Missi­on.

Er un­ter­such­te die Kel­che ein­ge­hen­der. Ei­ner ent­hielt ein Mi­nia­tur­schloß; ein an­de­rer floß über mit Edel­stei­nen, ein an­de­rer ent­hielt einen Kranz, einen Dra­chen, einen Frau­en­kopf, ei­ne Schlan­ge und ei­ne ver­hüll­te Ge­stalt, al­le­samt Sym­bo­le, de­ren Be­deu­tung er wäh­rend sei­ner Stu­di­en beim Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on er­fah­ren hat­te. Aber nie­mals zu­vor hat­te er sie so faß­bar wie hier vor­ge­fun­den, und er wuß­te nun auch, daß sich die­se be­leb­ten Sym­bo­le nicht pas­siv zu ei­ner kon­ven­tio­nel­len Ana­ly­se her­ge­ben wür­den.

Das Schloß hat­te Ähn­lich­keit mit dem, das er auf vor­he­ri­gen Kar­ten schon ge­se­hen hat­te, und war ver­mut­lich das glei­che Ge­bäu­de. Der Sym­bo­lis­mus im Ta­rot­spiel neig­te zur Kon­sis­tenz; ein Fluß war im­mer der Strom des Un­be­wuß­ten, der in dem schlep­pen­den, flie­ßen­den Ge­wand der Ho­he­pries­te­rin ent­sprang, und der Kelch war im­mer ein Ge­fäß der Emo­ti­on oder Re­li­gi­on. Das Schloß stell­te für ihn ein Stich­wort dar, ei­ne ur­sprüng­li­che Ant­wort. Wenn er dort ein­trat?

Nun, er konn­te es ver­su­chen. Er neig­te da­zu, zu­viel Zeit beim Nach­den­ken zu ver­brin­gen, an­statt zu han­deln.

Und das Schloß ver­grö­ßer­te sich, brach aus dem Kelch her­aus, wur­de zu ei­nem pracht­vol­len Ge­bäu­de mit we­hen­den Fah­nen auf ho­hen Tür­men und lag auf der Spit­ze ei­nes stei­len Ber­ges. Wun­der­schön!

Bru­der Paul mach­te sich auf den Weg. The­ri­on be­glei­te­te ihn und summ­te ei­ne Me­lo­die, als sei­en ihm die Vor­gän­ge völ­lig gleich­gül­tig.

„Das Lied ha­be ich schon ein­mal ge­hört“, sag­te Bru­der Paul, ent­schlos­sen, den Mann nicht so leicht aus der Ver­ant­wor­tung zu ent­las­sen.

„Das ‚Rät­sel­lied’“, ant­wor­te­te The­ri­on auch prompt. „Ei­ne der wahr­haft fei­nen, un­ter­schwel­lig se­xu­el­len Aus­drucks­for­men des Vol­kes.“

„Ja, ge­nau. ‚Ich gab mei­ner Liebs­ten ei­ne Kir­sche …’ Aber warum se­xu­ell? Das ist ein ein­deu­ti­ges Lie­bes­lied.“

„Ha­ha. Die Kir­sche war ih­re Jung­fern­haut, die er durch­bohrt hat. Du hast ein zu klös­ter­li­ches Le­ben ge­führt und nie­mals rich­ti­ge Um­gangs­spra­che ge­lernt.“

„Oh? Er gab ihr auch ein Hühn­chen oh­ne Kno­chen, einen Ring oh­ne En­de und ein Ba­by, das nicht wein­te.“

„Das kno­chen­lo­se Hühn­chen war sein kno­chen­lo­ser, nichts­de­sto­we­ni­ger aber stei­fer Pe­nis, der sich durch ih­re ring­för­mi­ge Öff­nung bohr­te und in ent­spre­chen­der Zeit das Ba­by schuf – das na­tür­lich zu dem Zeit­punkt noch nicht wein­te.“

So konn­te man es auch se­hen. „Ich hät­te beim Strom des Un­be­wuß­ten blei­ben sol­len“, mur­mel­te Bru­der Paul.

„Oh, ja. Das Was­ser, von dem Ar­thwai­te sagt, es flie­ße durch al­le Ta­rot­kar­ten und be­gin­ne beim Ge­wand des Gauk­lers. Was für ein Un­sinn!“

Jetzt ging es schon wie­der los! „Ich ha­be es im­mer für ei­ne wun­der­schö­ne Vor­stel­lung ge­hal­ten. Wie kommst du da­zu, es als äh … Un­sinn zu be­trach­ten?“

„Auf mehr als nur ei­ne Wei­se, Bru­der! Es ist in­so­fern Un­sinn, als es sich um über­flüs­si­gen Non­sens han­delt; ne­ben dem Un­be­wuß­ten sym­bo­li­siert Was­ser vie­les, und es ist lä­cher­lich an­zu­neh­men, das es nur für ei­ne Sa­che steht. Aber di­rek­ter ge­sagt, die­ser Eu­phe­mis­mus, mit dem er sei­ne An­hän­ger über­schüt­tet … glaubst du wirk­lich, es ist ihr Kleid, dem die­se Flüs­sig­keit ent­springt?“

„Nun, das ist viel­leicht künst­le­ri­sche Frei­heit, aber …“

„Ihr Ge­wand be­deckt doch nur die rich­ti­ge, un­aus­sprech­li­che Quel­le, die ihr Kör­per ist. Ei­ne Frau ist ein We­sen der Flüs­sig­kei­ten, wie ich es in mei­ner Kelch-Sie­ben ver­sucht ha­be zu ver­deut­li­chen. Milch aus den Tit­ten und Blut aus dem …“

„Milch und Blut sind sich che­misch ge­se­hen ähn­lich“, sag­te Bru­der Paul rasch. „Üb­ri­gens ist Chlo­ro­phyll, der Schlüs­sel zum Stoff­wech­sel der Pflan­zen, auch über­ra­schend ähn­lich …“

„Fließt aus ih­ren Öff­nun­gen, ba­det das ge­sam­te Ta­rot in ih­ren hei­ßen, sup­pi­gen …“

„Laß uns das The­ma wech­seln“, mein­te Bru­der Paul, der auf ei­ne wei­te­re Fort­set­zung nicht neu­gie­rig war. Was für ei­ne Gy­no­pho­bie!

„Kom­me schon.“

Ein Dra­che er­schi­en. Bru­der Paul wir­bel­te her­um und griff zum Schwert, das er am Gür­tel ent­deck­te. „Das ist der Dra­che der Ver­su­chung!“ rief er aus. „Er ge­hört zu ei­nem an­de­ren Kelch. Den ha­be ich nicht ge­ru­fen!“

„Das mußt du aber ge­we­sen sein, Paul“, sag­te The­ri­on oh­ne Be­un­ru­hi­gung. „Denn die­se fei­ge Tat stammt nicht von mir.“

Ha! „Ich ha­be das Schloß her­bei­ge­ru­fen, und das war der ein­zi­ge Kelch, den ich ge­leert ha­be.“

The­ri­on spot­te­te: „Du weißt das; ich weiß das. Aber weiß er das?“

Das war nicht ko­misch. Doch der große ro­te Dra­che der Ver­su­chung ras­te schon über die Ebe­ne. Kei­ne Zeit mehr zu dis­ku­tie­ren, wer für ihn ver­ant­wort­lich war. Er muß­te ihn auf­hal­ten. „Die Rit­ter von der Ta­fel­run­de wa­ren im­mer­hin be­rit­ten“, mur­mel­te Bru­der Paul. „Ei­ne Lan­ze und ein ge­har­nisch­tes Pferd.“

„Die Ver­su­chung mußt du al­lein be­kämp­fen“, er­in­ner­te ihn The­ri­on. „Das ist schon im­mer so ge­we­sen.“

So schi­en es auch. The­ri­on trug kei­ne Rüs­tung und auch kei­ne Waf­fe; of­fen­sicht­lich konn­te er dem Dra­chen nicht ge­gen­über­tre­ten, und er un­ter­nahm auch kei­nen Ver­such da­zu. Bru­der Paul trug noch sei­ne Rüs­tung aus der Kut­sche, wenn auch die Kut­sche selbst ver­lo­ren war. Al­les hing al­so an ihm.

Der Dra­che hat­te einen rie­si­gen ge­zack­ten Kopf, aus dem ei­ne oran­ge­far­be­ne Flam­me zuck­te. Nein, das war nur die ge­zähn­te Zun­ge. Die bei­den Vor­der­bei­ne rag­ten un­mit­tel­bar hin­ter dem Kopf auf, fast wie Oh­ren, und dem Hals ent­spros­sen zwei klei­ne Flü­gel wie Fe­dern oder Haa­re. Der Rest des Un­ge­heu­ers lief wur­m­ähn­lich ge­rin­gelt aus. Nur das Vor­der­teil ver­mit­tel­te ei­ne be­droh­li­che Wir­kung; wenn sich die­ses We­sen um­dreh­te, wür­de es harm­los aus­se­hen. Was na­tür­lich dem Cha­rak­ter der Ver­su­chung wie auch je­der an­de­ren Be­dro­hung ent­sprach.

Der Dra­che zog sich al­ler­dings nicht zu­rück. Er troll­te di­rekt auf Bru­der Paul zu; der schlan­gen­ar­ti­ge Kör­per tanz­te wie ein Spring­seil hin­ter dem schreck­li­chen Kopf her.

Bru­der Paul trat ihm ent­ge­gen; das Schwert glänz­te wie Ex­ca­li­bur. Doch er frag­te sich: Ei­gent­lich hielt er sich für einen fried­lie­ben­den Men­schen und kei­nen Krie­ger; warum soll­te er ein Le­be­we­sen mit dem bru­ta­len Schwert an­grei­fen? Doch dies war kein le­ben­di­ges We­sen, son­dern ein her­bei­ge­zau­ber­tes Sym­bol. Aber die Fra­ge lenk­te ihn ab.

Der Dra­che der Ver­su­chung kam bis auf zwei Me­ter Ent­fer­nung her­bei. Ver­ächt­lich blick­te er Bru­der Paul an. Er hat­te große gel­be Au­gen, und sein Blick war recht ein­drucks­voll. Die ro­te Schnau­ze war mit großen, haa­ri­gen grün­blau­en War­zen be­deckt, und aus der Stirn rag­ten ver­knö­cher­te graue Hör­ner. Die Stoß­zäh­ne wa­ren ge­bo­gen und schleim­be­deckt. Bru­der Paul frag­te sich ab­we­send, ob das We­sen wohl in ei­nem von The­ri­ons schlei­mi­gen Kel­chen her­um­gen­ascht hat­te, ehe es hier­her­kam.

Die ge­zähn­te Zun­ge zuck­te her­aus und stieß wie ein Pfeil nach Bru­der Paul, hielt aber kurz vor dem Ziel in­ne. Lang­sam flapp­ten die klei­nen Flü­gel vor und zu­rück, und zwi­schen den ge­fe­der­ten Rip­pen kräu­sel­te sich die le­dri­ge Haut. Bru­der Paul konn­te sich nicht er­in­nern, je­mals et­was Häß­li­che­res ge­se­hen zu ha­ben.

„Was’n los?“ frag­te der Dra­che. „Ein Hühn­chen?“

Bru­der Paul spür­te Wut in sich auf­stei­gen. Was für ein Recht hat­te die­ses wi­der­li­che We­sen, ihm Spitz­na­men zu ge­ben? Er um­klam­mer­te sein Schwert und trat einen Schritt vor.

Und blieb ste­hen. Das war die Ver­su­chung – der Trieb, aus nich­ti­gem Grund Ge­walt an­zu­wen­den. Das Mons­ter hat­te ihn al­so ein Hühn­chen ge­nannt; aber warum soll­te er auf einen so al­ten Scherz so rea­gie­ren? Das war die nie­ders­te Ebe­ne so­zia­ler In­ter­ak­ti­on und Ge­walt die Zu­flucht der Un­fä­hi­gen. „Ich möch­te bloß das Schloß be­su­chen, denn ich ver­mu­te, die von mir be­nö­tig­te In­for­ma­ti­on liegt dort drin­nen. Wenn du bit­te freund­lich zur Sei­te tre­ten wür­dest. Denn zwi­schen uns braucht es kei­nen Streit zu ge­ben.“

„Die Ver­su­chung tritt nie­mals bei­sei­te!“ schnaub­te die Krea­tur. Sie konn­te sehr gut zur glei­chen Zeit spre­chen und schnau­ben. „Zu­erst mußt du mich be­sie­gen, ehe du auf dei­ner Missi­on fort­fah­ren kannst, du Hühn­chen!“

„Aber ich will dich nicht um­brin­gen. Ich wer­de zu­frie­den sein, an dir vor­bei­zu­ge­hen.“

„Du kannst mich doch gar nicht um­brin­gen! Ich bin von Ewig­keit. Du kannst auch nicht an mir vor­bei­ge­hen. Ei­gent­lich kannst du auch gar nicht ge­gen mich kämp­fen; du bist von Na­tur aus ein Feig­ling. Warum ver­läßt du nicht die Sze­ne an­statt hier die Luft zu ver­pes­ten?“

Als hät­te er das nicht schon ver­sucht! „Ich wür­de gern, wenn ich nicht mei­ne Missi­on hät­te. Da­nach aber wer­de ich ge­hen. Nun geh bit­te bei­sei­te.“ Bru­der Paul schritt vor­wärts.

Der Dra­che blieb ste­hen. „Man kann die Ver­su­chung nicht bluf­fen!“ knurr­te er.

Bru­der Paul wei­ger­te sich, oh­ne wei­te­re Pro­vo­ka­ti­on mit dem Schwert zu­zu­schla­gen. Wenn er auch wuß­te, der Dra­che war bloß ein Sym­bol, so war doch die Ähn­lich­keit zu ei­nem le­ben­di­gen, in­tel­li­gen­ten (wenn auch häß­li­chen) We­sen zu stark.

Er schritt zur Sei­te – und wie­der stand der Dra­che vor ihm. Wun­der­ba­rer­wei­se war er ge­sprun­gen, um ihm den Weg zu ver­sper­ren, Paul wech­sel­te die Rich­tung – und wie­der ver­sperr­te er ihm den Weg.

So lief das al­so. Das We­sen ver­such­te, ihn zum Zu­schla­gen zu be­we­gen. Und wenn er den ers­ten Streich tat, war er der Ver­su­chung er­le­gen.

Die­ses Mal ging Bru­der Paul di­rekt auf den Dra­chen zu. Und sprang vor der war­zi­gen Schnau­ze fort.

The­ri­on war ein we­nig ab­seits ste­hen­ge­blie­ben und be­ob­ach­te­te mit mor­bi­dem In­ter­es­se die Sze­ne. „Er hat mich nicht ge­bis­sen“, mein­te Bru­der Paul über­rascht.

„Die Ver­su­chung greift nicht phy­sisch an“, er­klär­te The­ri­on. „Sie bie­tet le­dig­lich ei­ne reiz­vol­le­re Al­ter­na­ti­ve an. Aber sie muß be­siegt wer­den.“

Bru­der Paul konn­te nichts Reiz­vol­les an dem Dra­chen ent­de­cken. Er ver­such­te wie­der, ihn zu um­ge­hen, und schei­ter­te. Nun wur­de er schon wü­ten­der und ver­spür­te den Drang, die­ses Ding ein­fach aus dem Weg zu hau­en, doch er un­ter­drück­te die­sen Im­puls. Statt des­sen steck­te er das Schwert zu­rück und ver­such­te, mit den Hän­den die Ver­su­chung aus dem Weg zu räu­men. Doch der Dra­che war zu schwer und lang, als daß es ihn hät­te tra­gen kön­nen. „Mit halb­her­zi­gen Maß­nah­men kannst du mich nicht be­sie­gen“, sag­te er mit ei­nem phä­no­me­na­len, drei­ßig Zen­ti­me­ter brei­ten Grin­sen.

Bru­der Paul ge­riet ins Schwit­zen. Of­fen­sicht­lich konn­te ihn das Ding wirk­lich auf­hal­ten, wenn er sich wei­ger­te, mit ihm zu kämp­fen. Doch er zö­ger­te im­mer noch. Er wand­te sich an The­ri­on. „Du bist mein Füh­rer. Was emp­fiehlst du?“

„Du mußt einen ge­mein­sa­men Bo­den fin­den, auf dem du ihm be­geg­nest. Die Ver­su­chung nimmt vie­ler­lei Ge­stalt an. Viel­leicht paßt dir ei­ne da­von.“

Bru­der Paul dach­te dar­über nach. Vie­ler­lei Ge­stalt – konn­te man das wört­lich neh­men? Kör­per­lich? „Ich möch­te dir nicht mit dem Schwert kom­men, Biest“, sag­te Bru­der Paul. „Aber du mußt aus dem Weg. Gibt es kein we­ni­ger zer­stö­re­ri­sches Mit­tel, den Ge­gen­stand zu er­ör­tern?“

„Ich tref­fe dich an der Front, du Hühn­chen“, spot­te­te der Dra­che. Ein Teil des Grin­sens blieb, weil es ihm nicht ge­lun­gen war, es aus den letz­ten Maul­win­keln zu ent­fer­nen.

„Und mit blo­ßer Hand? Kön­nen wir uns in mensch­li­cher Ge­stalt be­geg­nen?“

Der Dra­che ver­schwand. An sei­ner Stel­le stand ein Mann, rie­sig und mus­ku­lös, mit gel­ben Au­gen, ro­tem Ge­sicht, blau­en Hör­nern und ei­ner War­zen­na­se. Und je­nem dau­er­haf­ten Grin­sen. „Was sagst du nun, du Feig­ling?“ frag­te der Dä­mon.

„Ich sa­ge, wenn Ja­kob mit dem En­gel des Herrn kämp­fen konn­te, dann kann auch ich mit der Ver­su­chung kämp­fen“, ent­geg­ne­te Bru­der Paul. Nun fühl­te er sich bes­ser. Das war ei­ne Ju­do­si­tua­ti­on, und dar­in kann­te er sich aus. Er konn­te sei­nen Geg­ner in die Knie zwin­gen, oh­ne ihn zu ver­let­zen.

„Ich ken­ne kei­nen Ja­kob.“

„,Und Ja­kob stand auf in der Nacht und nahm sei­ne bei­den Frau­en und die bei­den Mäg­de und sei­ne elf Söh­ne und zog an die Furt des Jab­bok, nahm sie und führ­te sie über das Was­ser, so daß hin­über­kam, was er hat­te, und blieb al­lein zu­rück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Mor­gen­rö­te an­brach.’ Dies stammt aus der Bi­bel: Das Ers­te Buch Mo­se, Ka­pi­tel 32.“ Bru­der Paul hielt in­ne in der Er­war­tung, der Dra­che wür­de über die Bi­bel spot­ten, wur­de je­doch ent­täuscht. Aber na­tür­lich war dies nicht ein Dä­mon aus den in­fer­na­li­schen Re­gio­nen, son­dern je­ner, der in­ner­halb ei­nes je­den Men­schen wohnt; er wür­de mit dem Hei­li­gen wie auch dem Un­hei­li­gen gut ver­traut sein. Es moch­te höchs­tens sein, daß er die­se be­son­de­re Ge­schich­te nicht kann­te.

„Oh, der Ja­kob!“ rief der Dä­mon spöt­tisch. „Das war ein ganz schön schwäch­li­cher En­gel, der nicht ein­mal einen Sterb­li­chen schla­gen konn­te. Er hät­te so­gar ver­lo­ren, wenn er nicht einen ge­mei­nen Griff an­ge­wandt hät­te.“

Bru­der Paul er­in­ner­te sich. „,Und als er sah, daß er ihn nicht über­moch­te, schlug er ihn auf das Ge­lenk sei­ner Hüf­te, und das Ge­lenk der Hüf­te Ja­kobs wur­de über dem Rin­gen mit ihm ver­renkt.’ Das klingt aber eher nach ei­nem Bein­schluß als ei­nem un­er­laub­ten Schlag – He­bel­wir­kung auf den Schen­kel, um den Hüft­wurf aus­zu­füh­ren.“

„Das, Ge­lenk sei­ner Hüf­te’ ist ein Eu­phe­mis­mus für die Ho­den“, be­harr­te der Dä­mon. „Der En­gel hat Ja­kob in die Ei­er ge­tre­ten.“

„Viel­leicht“, gab Bru­der Paul zu. „Dar­über kann man sich strei­ten. Doch wei­ter un­ten wird es er­wähnt als ‚Mus­kel­stück auf dem Ge­lenk der Hüf­te’, und er hat auch ei­ne re­spek­ta­ble Fa­mi­lie ge­zeugt.“

„Nicht, nach­dem er mit dem En­gel ge­run­gen hat.“

Bru­der Paul brei­te­te die Hän­de aus. Er hat­te die­sen Kampf mit dem Dä­mon für phy­sisch ge­hal­ten, doch er war froh, sich auf die bib­li­sche Are­na zu­rück­zie­hen zu kön­nen. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren hat­te er viel in der Bi­bel ge­le­sen und war so­wohl von der Ge­schich­te als auch der Re­li­gi­on fas­zi­niert. Auch reiz­te ihn die Kon­ti­nui­tät der Bi­bel in den Apo­kry­phen und Pseu­do­epi­gra­phia. „Je­den­falls hat ihn der En­gel nicht ge­schla­gen, und er hat von ihm einen Se­gen, den Na­men Is­rael er­zwun­gen, was heißt ‚Prinz Got­tes’, und hat den Stamm Is­rael ge­grün­det.“

„Und sei­ne Toch­ter Di­na wur­de ver­ge­wal­tigt“, sag­te der Dä­mon mit fröh­li­chem Lä­cheln.

Die­ses We­sen er­in­ner­te Bru­der Paul sehr stark an The­ri­on. Er blick­te sich um, aber The­ri­on stand im­mer noch dort. Doch als er wei­ter­dach­te, mein­te er, The­ri­on hät­te wohl die Ver­ge­wal­ti­gung nicht ge­fal­len, nicht aus Ver­nunft­grün­den, son­dern weil der se­xu­el­le Akt ihm als männ­li­ches Op­fer an ei­ne un­wür­di­ge Frau galt. Warum die­se Ga­be ei­ner ge­rin­gen Frau auf­zwin­gen? „Ver­ge­wal­ti­gung ist ein zu star­ker Aus­druck“, fuhr Bru­der Paul fort. „Der jun­ge Mann war eh­ren­wert und bat, Di­na of­fi­zi­ell hei­ra­ten zu dür­fen. Er hat so­gar die Be­din­gung ak­zep­tiert, sich be­schnei­den zu las­sen, ob­wohl er ein hoch­ge­bo­re­ner Prinz war.“

„Ja, das ha­ben sie ver­tuscht“, sag­te der Dä­mon. „Sie ha­ben ver­sucht, dar­aus einen gu­ten Fick zu ma­chen, da­mit sie ihn nicht stei­ni­gen muß­ten we­gen Ver­ge­wal­ti­gung und sie we­gen Nach­gie­big­keit. Ei­ne Men­ge saf­ti­ger De­tails ha­ben sie aus der Hei­li­gen Schrift her­aus­zen­siert.“

Bru­der Paul woll­te ge­ra­de ei­ne wü­ten­de Ant­wort ge­ben, merk­te aber dann, daß dies le­dig­lich ein wei­te­rer Aspekt des Kamp­fes war. Die Ver­su­chung focht so­wohl mit Ide­en als auch mit Wor­ten, und die Wahr­heit war un­wich­tig. Wenn Ver­zer­rung und Um­gangs­spra­che Bru­der Paul da­zu brach­ten, die Ge­duld zu ver­lie­ren, lä­ge der Sieg beim Dra­chen.

Al­ler­dings wa­ren die­se Sei­ten­hie­be auf die Au­then­ti­zi­tät der Bi­bel et­was, was Bru­der Paul ins­ge­heim auch schon über­dacht hat­te. Er schätz­te es, die ge­sam­te Be­deu­tung des­sen, was er las, zu er­fas­sen, und vie­les in der Bi­bel blieb auf quä­len­de Wei­se viel­deu­tig. Ja­kobs Be­geg­nung mit dem En­gel des Herrn – das war ein Rät­sel! Warum soll­te ein En­gel mit ei­nem Sterb­li­chen rin­gen wol­len, und warum wür­de so et­was Rei­nes wie ein En­gel je­mals ei­ner Ver­su­chung er­lie­gen? Doch Bru­der Paul wuß­te, er durf­te die Bi­bel nur un­ter äu­ßers­ter Vor­sicht her­aus­for­dern, denn es war ein Do­ku­ment, das Ge­ne­ra­tio­nen von Ge­lehr­ten nicht mit Si­cher­heit in Zwei­fel zie­hen konn­ten. Die ar­chäo­lo­gi­schen Be­wei­se un­ter­stütz­ten dar­über hin­aus noch die Rich­tig­keit der bib­li­schen Aus­sa­gen. Wer war er denn, ein klei­ner No­vi­ze in ei­nem klei­nen Or­den, um sein schwäch­li­ches Ur­teil ge­gen die ge­sam­mel­te Weis­heit und Of­fen­ba­rung der Zei­ten zu set­zen?

Auch hier muß­te er al­so der Ver­su­chung wi­der­ste­hen. Es war nicht an ihm, ir­gend­ei­nen Aspekt der Schrift in al­ler Öf­fent­lich­keit zu dis­ku­tie­ren. Es war ein Feh­ler ge­we­sen, es hier her­auf­zu­be­schwö­ren. Was er tat, lag in sei­ner Ver­ant­wort­lich­keit; es durf­te nicht durch Be­zü­ge auf die Bi­bel ge­recht­fer­tigt wer­den. Es war ei­ne Per­ver­si­on, die Hei­li­ge Schrift den ei­ge­nen Zwe­cken dien­lich zu ma­chen – wenn dies auch vie­le Spöt­ter aus Ei­gen­nutz ta­ten.

„Ge­nug da­von“, sag­te Bru­der Paul. „Wenn du mich nicht vor­bei­läßt, muß ich einen He­bel­griff an­wen­den.“

Der Dä­mon lach­te. Er war grö­ßer als Bru­der Paul und sah kräf­ti­ger aus. Aber wie kräf­tig war er wirk­lich? Ver­su­chung konn­te nicht mit welt­li­chen Ma­ßen ge­mes­sen wer­den.

Bru­der Paul trat auf das Schloß zu, und na­tür­lich stell­te sich der Dä­mon ihm so­gleich in den Weg. Die­ses Mal ging Bru­der Paul je­doch wei­ter, stieß ge­gen die rech­te Schul­ter des Dä­mons und setz­te den lin­ken Fuß ein, um den rech­ten Fuß des Dä­mons fort­zu­schie­ben. Es war der o uchi ga­ri oder ‚große in­ne­re Ha­ken’ des Ju­do.

Der Dä­mon fiel in den Sand, als sei er auf ei­ner Ba­na­nen­scha­le aus­ge­glit­ten. Bru­der Paul trat über ihn hin­weg und ging wei­ter auf das Schloß zu. Das war er­staun­lich leicht ge­we­sen!

Aber wie­der stand der Dä­mon vor ihm. „Sehr cle­ver, Sterb­li­cher! Aber die Ver­su­chung läßt man nicht so leicht hin­ter sich. Du kannst mich tau­send­mal um­wer­fen, und im­mer wie­der wer­de ich vor dir ste­hen, denn mich be­siegt nicht ei­ne ein­zi­ge Hand­lung.“

Bru­der Paul trat wie­der auf ihn zu. Der Dä­mon wapp­ne­te sich ge­gen das Ma­nö­ver, das ihn zu­vor um­ge­wor­fen hat­te, doch die­ses Mal er­griff Bru­der Paul mit der Lin­ken sei­nen rech­ten Arm und zog ihn ruck­ar­tig nach vorn. Sein rech­ter Arm stieß nach vorn, als wol­le er den un­zu­gäng­li­chen Hals des We­sens um­fas­sen. Der Dä­mon lach­te ver­ächt­lich, zuck­te zu­rück und wi­der­stand so­wohl dem Wurf als auch der Um­klam­me­rung.

Bru­der Pauls rech­ter Arm fuhr wei­ter über den Kopf des Dä­mons, ver­fehl­te ihn aber to­tal. Er dreh­te sich her­um, als ha­be er sich hoff­nungs­los ver­wi­ckelt, und fiel in den Sand. Doch das Ge­wicht sei­nes her­ab­fal­len­den Kör­pers zog den Dä­mon mit über den Rücken her­ab. Das war so­lo maki­ko­mi, der äu­ße­re Um­klam­me­rungs­griff, ei­ne son­der­ba­re und star­ke Op­fer­tech­nik. Schwer fiel der Dä­mon zu Bo­den und Bru­der Paul über ihn; die­ser Wurf be­saß einen sol­chen Schwung, daß ein ge­wöhn­li­cher Mensch häu­fig da­bei be­wußt­los wur­de. So­gleich wir­bel­te Bru­der Paul her­um, schleu­der­te den Dä­mon aufs Ge­sicht und wen­de­te einen kom­pli­zier­ten Arm­griff an, einen der kan­set­su wa­za. Viel­leicht hat­te der Dä­mon kein Blut, aber er hat­te be­stimmt Ge­len­ke, und die­se konn­te man wie bei ei­nem ge­wöhn­li­chen Men­schen un­ter Druck set­zen. Man konn­te ein Ge­lenk auf die­se Wei­se bre­chen, aber er woll­te le­dig­lich so­viel He­bel­wir­kung an­set­zen, daß das We­sen nach­gab. In die­ser Po­si­ti­on gab es für die Krea­tur kei­ne Mög­lich­keit, zu­rück­zu­schla­gen; sie konn­te we­der bei­ßen noch tre­ten noch wür­gen.

Er drück­te auf den Arm und bog ge­schickt den El­len­bo­gen zu­rück. Der Dä­mon schrie auf. „Er­gibst du dich?“ frag­te Bru­der Paul und gab leicht nach.

Statt ei­ner Ant­wort ver­wan­del­te sich der Dä­mon wie­der in den Dra­chen, sei­ne ur­sprüng­li­che und viel­leicht na­tür­li­che Ge­stalt. Bru­der Paul hielt ei­nes sei­ner Bei­ne, doch die Ge­len­ke wa­ren an­ders, und er konn­te den Griff nicht wei­ter an­wen­den. Die Kie­fer des Un­ge­heu­ers öff­ne­ten sich, die oran­ge­far­be­ne Zun­ge zuck­te her­aus, um wie ei­ne Peit­sche über Bru­der Pauls Ge­sicht zu le­cken. Er muß­te rasch los­las­sen.

„Du hast es al­so nicht aus­ge­hal­ten“, sag­te Bru­der Paul zu dem Dra­chen. „Du hast ver­lo­ren!“

„Die Ver­su­chung ver­liert nie; sie wird le­dig­lich zu­rück­ge­schla­gen, um mit neu­er Kraft auf­zu­er­ste­hen. Ich hin­de­re dich im­mer noch.“ Und der Dra­che stand er­neut zwi­schen Bru­der Paul und dem Schloß.

Bru­der Paul wand­te sich an The­ri­on, der die gan­ze Zeit über un­schul­dig an der Sei­te ge­stan­den hat­te. „Was sagst du nun, Füh­rer?“

„Trink et­was“, sag­te The­ri­on und reich­te ihm einen ho­hen, küh­len Kelch mit ei­ner Flüs­sig­keit.

„Ich brau­che kein …“ woll­te Bru­der Paul schon ant­wor­ten, doch er war wirk­lich durs­tig, und in die­ser Si­tua­ti­on war ein Er­fri­schungs­trunk an­ge­mes­sen und ver­lo­ckend. Viel­leicht war er zu er­hitzt und be­sorgt, um auf das Nächst­lie­gen­de zu kom­men – was im­mer es sein moch­te. Mit ei­nem kla­re­ren, küh­le­ren Kopf könn­te er viel­leicht rasch die Lö­sung die­ses Pro­blems er­ra­ten. Er nahm den Trank ent­ge­gen.

Es war ein köst­li­ches, schwe­res Ge­bräu, doch nach dem ers­ten Schluck hielt er in­ne. „Das ist doch et­was mit Al­ko­hol!“ mein­te er vor­wurfs­voll.

„Na­tür­lich. Das Bes­te, was es gibt, um Mut zu ma­chen.“

„Mut!“ Bru­der Pauls Zorn stand kurz vor der Ex­plo­si­on. „So et­was brau­che ich nicht. Mein Or­den lehnt den Al­ko­hol ab, eben­so wie an­de­re das Ge­hirn be­ein­träch­ti­gen­de Dro­gen. Gib mir Was­ser.“

„Hier gibt es kein Was­ser. Das ist ei­ne Wüs­te“, mein­te The­ri­on un­ge­rührt. „Ver­dammt dein Or­den wirk­lich den Al­ko­hol?“

„Nein. Der Hei­li­ge Or­den der Vi­si­on ver­dammt nichts und nie­man­den, denn das wi­der­sprä­che dem frei­en Wil­len. Er miß­ach­tet le­dig­lich je­ne Din­ge, die man am leich­tes­ten miß­braucht. Man er­war­tet von je­der­mann, daß er sei­ne ei­ge­nen Re­geln in fleisch­li­chen Din­gen auf­stellt. Aber nur die­je­ni­gen, de­ren Re­geln auch pas­sen, stei­gen in­ner­halb des Or­dens auf.“

„Ach du lie­be Gü­te“, mein­te The­ri­on ge­ring­schät­zig. „Du bist al­so der Skla­ve der Ver­bo­te dei­nes Or­dens und wagst es nicht ein­mal, dies zu­zu­ge­ben?“

„Nein!“ Bru­der Paul schluck­te den Rest des Ge­tränks her­un­ter und gab da­mit sei­nem bren­nen­den Durst nach.

Die Wir­kung trat so­fort ein. Sei­ne Glie­der pri­ckel­ten; der Kopf fühl­te sich an­ge­nehm leicht an. Das war aber ein gu­tes Ge­bräu!

Bru­der Paul trat dem Dra­chen ent­ge­gen, der im­mer noch grin­send zwi­schen ihm und dem Schloß stand. „Ich ha­be ge­nug von dir, Ver­su­chung. Geh mir aus dem Weg!“

„Ver­such’s doch, Matsch­kopf!“

Bru­der Paul zog das blit­zen­de Schwert. Dro­hend trat er einen Schritt nach vorn und zwang die Bes­tie zu­rück. Als sie je­doch nicht wei­ter zu­rück­wich, schlug er mit al­ler Kraft zu – und spal­te­te den furchter­re­gen­den Kopf. Es floß wirk­lich kein Blut, der Kopf ent­hielt nur ein schwam­mar­ti­ges Ma­te­ri­al wie ge­schäum­tes Plas­tik.

Die Krea­tur gab mit ei­nem Zi­schen, als ent­strö­me ihr Dampf, den Geist auf und fiel mit krampf­haft zu­cken­den Glied­ma­ßen hin­ter­rücks in den Sand.

„Nun, das ha­be ich wohl ge­schafft“, mein­te Bru­der Paul und wisch­te den grü­nen Schleim von der Klin­ge, in­dem er sie durch den Sand zog.

„Das ist wahr“, stimm­te The­ri­on zu.

„Dann laß uns zum Teu­fel nun zum Schloß ge­hen, ehe der Dra­che wie­der zum Le­ben er­wacht.“

„Gut ge­sagt.“

Doch nun stand ein neu­es Hin­der­nis zwi­schen ih­nen und ih­rem Ziel. Es war ein wei­te­rer Kelch – der mit dem Sie­ger­kranz. Die ge­floch­te­nen Zwei­ge und Blät­ter rag­ten hoch und grün über den Rand hin­aus. Es war kein voll­stän­di­ger Kranz; viel­mehr hat­te er ei­ne Lücke.

„Nimm ihn“, dräng­te The­ri­on. „Du hast ihn er­run­gen. Du hast die Ver­su­chung ge­tö­tet.“

Bru­der Paul dach­te nach. „Ja, wahr­schein­lich ha­be ich das.“ Ir­gend­wie war er nicht ganz zu­frie­den, doch das an­ge­neh­me Ge­tränk putsch­te ihn im­mer noch auf. „Warum nicht?“

Er streck­te die Hand aus und griff nach dem Kranz aus dem me­ter­ho­hen Kelch. Ko­misch, daß auch dies in sei­ner Vi­si­on vom Schloß ent­hal­ten war; hat­te ihm sei­ne Wahl ei­nes Kel­ches auch al­le an­de­ren ge­währt? Ir­gend­wie nahm sein Aben­teu­er einen an­de­ren Ver­lauf, als er sich dies vor­ge­stellt hat­te.

Er setz­te sich den Kranz auf den Kopf. Er paß­te gut und fühl­te sich wun­der­bar an.

„Sehr schön“, mein­te The­ri­on be­wun­dernd. „Du siehst wie ein rich­ti­ger Er­obe­rer aus.“

Ja, es war die Ar­ka­ne Sie­ben, der Wa­gen, der Er­obe­rer, oder? Mit den sie­ben Kel­chen dar­über. Bru­der Paul bück­te sich, um sein Eben­bild in der glän­zen­den Ober­flä­che des Kel­ches zu be­trach­ten. Und er­starr­te.

Sein Eben­bild war ein To­ten­schä­del. Ein grin­sen­der Kno­chen­schä­del mit vor­ste­hen­den gel­ben Zäh­nen und großen, kan­ti­gen Au­gen­höh­len.

Ent­setzt zuck­te Bru­der Paul zu­rück. Ir­gend et­was kam ihm in den Sinn, et­was so Grau­en­er­re­gen­des …

Nein. Er klam­mer­te es aus. Dies war nur ein Spie­gel­bild, nichts Über­na­tür­li­ches. Er zwang sich, noch ein­mal hin­zu­se­hen. Wie­der ein To­ten­kopf.

Ver­suchs­wei­se be­weg­te er sein Ge­sicht. Auch der Schä­del be­weg­te sich. Er öff­ne­te den Mund, und der kno­chi­ge Kie­fer fiel her­ab. Er zwin­ker­te mit den Au­gen, doch konn­ten na­tür­lich die lee­ren Au­gen­höh­len nicht zwin­kern, und wenn, wie könn­te er es se­hen, wenn sei­ne ei­ge­nen Au­gen ge­schlos­sen wa­ren?

Die lin­ke Hand fuhr her­auf, um das Ge­sicht zu be­rüh­ren. Na­se und Wan­gen wa­ren da; fes­tes Fleisch und Haut. Der Schä­del war nur ein Bild, kei­ne Rea­li­tät. Aber was hat­te es zu be­deu­ten?

„Laßt uns nicht her­um­trö­deln“, sag­te The­ri­on. „Der Dra­che wird nicht den gan­zen Tag lang tot­spie­len.“

Be­dau­ernd stand Bru­der Paul auf und ging um den Kelch her­um. Er war sich si­cher, daß der Schä­del et­was Wich­ti­ges zu be­deu­ten hat­te. Wenn es Teil des na­tür­li­chen Sym­bo­lis­mus der Kar­te war, warum hat­te er es dann nicht frü­her be­merkt? Wenn nicht, warum tauch­te es jetzt auf? Er war die­ser Kar­te vie­le Ma­le, ehe er zum Pla­ne­ten Ta­rot ge­kom­men war, be­geg­net; war der Schä­del im­mer auf dem Kelch ge­we­sen? Er konn­te sich nicht dar­an er­in­nern. Da war et­was – et­was Ver­bor­ge­nes und Schreck­li­ches –, aber er hat­te einen Auf­trag. Viel­leicht wür­de es sich spä­ter er­klä­ren las­sen.

Er ging wei­ter. Dann merk­te er, daß er den Schä­del hät­te über­prü­fen kön­nen, in­dem er mit dem einen Au­ge ge­zwin­kert hät­te, um sich mit dem an­de­ren zu be­ob­ach­ten. Sei­ne Ge­dan­ken ar­bei­te­ten nicht klar, wenn auch sein Kopf ganz frei zu sein schi­en. Nun, es wür­de nichts aus­ma­chen, wenn er zu­rück­ging, um noch ein­mal auf den Kelch zu bli­cken. Wenn er noch dort war.

Er blick­te zu­rück. Der rie­si­ge Kelch stand noch dort, und da­hin­ter lag der Kör­per des Dra­chens. Er be­dau­er­te, ihn ge­tö­tet zu ha­ben; das hät­te er wirk­lich nicht tun sol­len. Ei­gent­lich war er kein ge­walt­tä­ti­ger Mensch. Was war nur über ihn ge­kom­men? Er ver­spür­te einen schlech­ten Ge­schmack im Mund so­wie be­gin­nen­den Kopf­schmerz. Sein Ma­gen groll­te, als wol­le er sich sei­nes In­halts ent­le­di­gen. „Ich füh­le mich nicht wohl“, sag­te er.

„Ein klei­ner Ka­ter“, sag­te The­ri­on rasch. „Igno­rie­re es. Das geht vor­bei.“

„Ka­ter?“ – Oh, die Re­ak­ti­on auf das Ge­tränk. Schnell high, schnell wie­der down. Das paß­te gut!

Nun be­fan­den sie sich schon an den Au­ßen­ge­bäu­den des Schlos­ses und stie­gen über den stei­len Saum­pfad hin­auf zum Gip­fel, auf dem es thron­te. Sie ka­men rasch vor­an, denn es war ein sehr schma­ler Berg, doch noch ra­scher er­mü­de­te Bru­der Paul. Dann sah er in ei­ner fast ver­ti­ka­len Fels­wand einen Ein­laß, ei­ne Art Höh­le. Und in die­ser Höh­le stand ein wei­te­rer Kelch. Er war bis zum Rand mit Edel­stei­nen ge­füllt: Per­len, Dia­man­ten und aus­ge­such­te an­de­re Stei­ne. Wun­der­schön!

Bru­der Paul ging dar­auf zu, fand sich je­doch un­ver­mit­telt zu mü­de, um den gan­zen Weg zu schaf­fen. Er sah nun auch, daß sich der Kelch in ei­ner Art Kä­fig mit ei­nem Kom­bi­na­ti­ons­schloß be­fand. In dem Schloß war ein Bild mit drei auf­ge­reih­ten Zi­tro­nen zu se­hen.

„Oh, ein al­ter Glückss­piel­au­to­mat“, mur­mel­te er. „Aber ich spie­le nicht ger­ne.“

„Aber sieh dir die po­ten­ti­el­le Be­loh­nung an!“ rief The­ri­on. „Du wä­rest reich – ein Mul­ti­mil­lio­när in je­der Wäh­rung!“

„Reich­tum be­deu­tet mir nichts. Brü­der und Schwes­tern des Or­dens wid­men ih­re Le­ben den nicht­ma­te­ri­el­len Din­gen, der Ein­fach­heit und den gu­ten Ta­ten.“

„Aber denk an all die gu­ten Ta­ten, die du da­mit voll­brin­gen könn­test.“

„Ich will nur in das Schloß hin­ein und die Ant­wort auf mei­ne Fra­ge fin­den“, ent­geg­ne­te Bru­der Paul. „Wenn ich doch nur die Kraft hät­te, das letz­te Stück hin­auf­zu­stei­gen.“

„Hier, riech ein­mal dar­an“, sag­te The­ri­on und öff­ne­te ein win­zi­ges ver­zier­tes sil­ber­nes Käst­chen.

Bru­der Paul sah hin­ein. In dem Käst­chen be­fand sich ein weiß­li­ches Pul­ver. „Was ist es?“

„Ein Sti­mu­lans. Wird seid Jahr­hun­der­ten be­nutzt, um dem Men­schen zu er­mög­li­chen, oh­ne Er­mü­dung schwe­rer zu ar­bei­ten. Ab­so­lut si­cher. Macht nicht süch­tig. Ver­such es.“ Er schob es Bru­der Paul un­ter die Na­se, und die­ser roch fast un­frei­wil­lig dar­an.

Die Wir­kung war er­staun­lich. Plötz­lich fühl­te er sich furcht­bar stark, ge­sund und klar. „Don­ner­wet­ter! Was ist es?“

„Ko­kain.“

„Ko­kain? Du hast mich an­ge­lo­gen! Das ist ei­ne der schlimms­ten Sucht­dro­gen!“

Wür­dig schüt­tel­te The­ri­on den Kopf. „Nein. Es gibt kei­ne kör­per­li­che Ab­hän­gig­keit. Es ist das reins­te na­tür­li­che Sti­mu­lans oh­ne schäd­li­che Ne­ben­wir­kun­gen. Viel bes­ser als Al­ko­hol. Aber wenn du es nicht glaubst, dann gib doch die Pro­be zu­rück.“

„Die Pri­se? Wie soll ich das denn ma­chen?“

„Das ist doch dei­ne Er­schei­nung. Du kannst al­les.“

Bru­der Paul wun­der­te sich. Wenn er al­les tun konn­te, warum fand er dann nicht den Weg aus die­sem Sumpf her­aus? Nun, viel­leicht konn­te er es wirk­lich, wenn er es nur stark ge­nug wünsch­te. Aber er fühl­te sich nun so wohl, warum soll­te er das rück­gän­gig ma­chen? Er woll­te ja im­mer noch zum Schloß und hat­te be­reits so­viel Müh­le in­ves­tiert, daß es Ver­schwen­dung be­deu­te­te, wenn er jetzt auf­gä­be. „Oh, laß nur.“

Sei­ne Au­gen wan­der­ten zu dem ju­we­len­ge­füll­ten Kelch zu­rück. „Doch erst noch die­se Klei­nig­keit.“ Er schritt hin­über zu dem Kä­fig und griff nach dem He­bel des ein­ar­mi­gen Ban­di­ten. „Was muß ich in die­se Ma­schi­ne hin­ein­ste­cken, um mit­spie­len zu kön­nen?“

„Einen lä­cher­li­chen Preis. Nur ein Sieb­tel dei­ner See­le.“

„Ge­bongt!“ sag­te Bru­der Paul la­chend. Und ver­spür­te ein son­der­ba­res Zer­ren, das ihn einen Mo­ment lang be­trof­fen mach­te. Wenn der Preis für die­sen Kelch ein Sieb­tel war und es ins­ge­samt sie­ben Kel­che gab … und er hat­te be­reits ei­ni­ge hin­ter sich ge­las­sen … aber er fühl­te sich so gut, daß er es bald wie­der ver­gaß. Kraft­voll zog er an dem He­bel.

Ver­schwom­men tanz­ten die Sym­bo­le durch das Schau­glas des Au­to­ma­ten. Schwer­ter, Stä­be, Mün­zen und et­was Un­de­fi­nier­ba­res – viel­leicht Schlei­fen­li­ni­en? Wo wa­ren die Zi­tro­nen ge­blie­ben? Dann ka­men sie zum Still­stand: ein Kelch – zwei Kel­che – drei Kel­che!

Die Kä­fig­tür sprang auf. Der Kelch neig­te sich nach vorn. Die Reich­tü­mer er­gos­sen sich über den Höh­len­bo­den. Ge­won­nen!

„Ich ha­be ge­spielt und ge­won­nen!“ rief Bru­der Paul.

The­ri­on nick­te. „Das ist dei­ne Ani­ma­ti­on“, wie­der­hol­te er. „Ich zei­ge dir nur den Weg, wie du es aus­schöpfst.“

Ir­gend et­was lag in die­ser Be­mer­kung – oh, ver­giß es! „Gib die­se Ju­we­len den Wohl­fahrts­in­sti­tu­tio­nen der Welt“, sag­te Bru­der Paul. „Ich muß wei­ter.“ Vor­sich­tig stieg er über die glit­zern­den Stei­ne auf sei­nem Weg und ver­ließ die Höh­le.

Nun war der Auf­stieg wie­der leich­ter. In we­ni­gen Au­gen­bli­cken er­reich­ten sie das Haupt­por­tal. Es stand of­fen, und sie schrit­ten ins Schloß hin­ein.

„Wie ein Dorn­rös­chen­pa­last“, be­merk­te The­ri­on.

„Wie in ei­nem Mär­chen“, stimm­te ihm Bru­der Paul zu.

Aus ir­gend­ei­nem Grund fand The­ri­on die­se Be­mer­kung über­aus ko­misch. „Zei­ge mir, über was du lachst, und ich sa­ge dir, wer du bist“, sag­te er keu­chend zwi­schen den ein­zel­nen Lach­stür­men. Aber es war er, der lach­te, nicht Bru­der Paul. Son­der­ba­rer Mann!

„Ko­misch“, mein­te Bru­der Paul, „wie ich ei­ne Ani­ma­ti­ons­rei­he be­gin­ne, um her­aus­zu­fin­den, was Ani­ma­tio­nen ver­ur­sacht, und mich sel­ber in die­ser Phan­ta­sie­welt fin­de, wo ich einen Dra­chen tö­ten muß, mich sel­ber als Ske­lett se­he und ein Sieb­tel mei­ner See­le ge­gen einen welt­li­chen Schatz set­ze, den ich nicht brau­che. Warum kann ich nicht un­mit­tel­bar zu den Wur­zeln vor­drin­gen?“

„Das kannst du schon, wenn du weißt, wie es geht“, er­wi­der­te The­ri­on.

„Ich ha­be dich doch als Füh­rer an­ge­for­dert. Warum kannst du mir nicht den Weg zei­gen?“

„Ich zei­ge dir doch den Weg. Aber auf mei­ne Wei­se. Aber der An­trieb muß von dir kom­men.“

„Ich ha­be nie­mals den Dra­chen tö­ten oder um Reich­tü­mer spie­len wol­len. Du und dei­ne ver­damm­ten Dro­gen …“

„Ge­naue Be­schrei­bung.“

Und warum fluch­te er, wo er doch ei­gent­lich nie­mals fluch­te? Hier lag vie­les falsch, ver­strickt mit In­tri­gen. „Was tue ich nun?“ frag­te Bru­der Paul ir­ri­tiert.

„Tu, was du willst – das ist das gan­ze Ge­setz.“

„Das hast du schon ein­mal ge­sagt, aber es nützt nichts. Es stammt von Ra­be­lais, der für dich wohl die Haupt­quel­le dar­stellt. Hier ste­he ich und kann nicht tun, was ich will. Ich mei­ne, was ich wün­sche. Und du schleichst ein­fach hin­ter­her und gibst Nich­tig­kei­ten von dir.“

The­ri­on sah ihn ernst­haft an. „Du magst ja in dei­nem Ziel recht ha­ben, aber wenn du dein Ziel für wich­tig hältst, dann liegst du falsch, weil du die Wich­tig­keit von an­de­ren Din­gen dar­über ver­gißt. Die wirk­lich wich­ti­gen Din­ge sind rie­sig, still und un­er­gründ­lich.“

„Wel­che Din­ge?“

„Dein Wil­le.“

„Mein Wil­le ist es, die Wir­kungs­wei­se der Ani­ma­tio­nen zu er­grün­den! Aber da wan­de­re ich in die­sem ver­las­se­nen Schloß her­um und bin so­weit da­von ent­fernt wie zu­vor. Was ist das über­haupt für ein Ort?“

„The­le­ma.“

„Was?“

„Das ist die Ab­tei von The­le­ma, der Ort für die Ent­de­ckung dei­nes wah­ren Wil­lens.“

„Ich weiß be­reits, was ich will! Ich ha­be ge­sagt …“

„Wenn du es wüß­test, wür­dest du es be­frie­di­gen.“

Bru­der Paul hielt in­ne. Auf der einen Sei­te war dies Un­sinn, doch auf der an­de­ren schi­en es durch­aus einen Sinn zu er­ge­ben. „Du sagst, ich glau­be le­dig­lich, mei­nen Wil­len zu ken­nen, und wer­de nir­gend­wo­hin ge­lan­gen, weil ich ei­nem falschen Wil­len nach­ja­ge. Ei­ner Il­lu­si­on?“

The­ri­on nick­te. „Lang­sam be­ginnst du zu be­grei­fen. Erst mußt du ge­nau über dein Ziel Be­scheid wis­sen, erst dann kannst du es er­rei­chen.“

„Nun, ich ha­be aber ge­dacht, ich hät­te es be­grif­fen. Aber ir­gend­wie wer­de ich im­mer wie­der da­von ab­ge­bracht, als sei ich Op­fer der Co­rio­lis­kraft.“ Er hielt in­ne, ver­wun­dert durch die­se Of­fen­ba­rung. Co­rio­lis­kraft – die wich­tigs­te De­ter­mi­nan­te des Wet­ters auf je­dem Pla­ne­ten. Ei­ne Luft­mas­se, die ver­sucht, sich aus ei­nem Hoch­druck­ge­biet in der Nä­he des Äqua­tors in ein Tief­druck­ge­biet zu be­we­gen, ob nach Nor­den oder Sü­den, wird durch Ge­stalt und Ro­ta­ti­on des Pla­ne­ten zur Sei­te ab­ge­drängt, weil die Ober­flä­chen­ge­schwin­dig­keit der Ro­ta­ti­on beim Äqua­tor stär­ker ist als an den Po­lar­krei­sen. Nun, für einen Lai­en war das ei­ne schwie­ri­ge Vor­stel­lung, doch für den Me­teo­ro­lo­gen von äu­ßers­ter Wich­tig­keit. Es war, als er­lä­ge die Na­tur hier ih­rem ei­ge­nen Sys­tem, in­dem sie end­lo­se Rück­stö­ße, In­sta­bi­li­tä­ten und Wech­sel ver­ur­sach­te, die das Wet­ter be­stim­men. Gab es so et­was wie ei­ne geis­ti­ge Co­rio­lis­kraft, so daß ei­nem ge­ge­be­nen Trieb nicht nach­ge­gan­gen wer­den konn­te, ehe die ge­sam­te Na­tur der Con­di­tio hu­ma­na be­grif­fen wur­de? Doch das war kaum ei­ne per­fek­te Ana­lo­gie, denn die mensch­li­che See­le war kei­ne Pla­ne­teno­ber­flä­che, und mensch­li­che Ge­dan­ken wa­ren kei­ne flüch­ti­ge Bri­se. Die Si­tua­ti­on war dy­na­mi­scher, und Kräf­te wur­den in rech­tem Win­kel ab­ge­lei­tet nach …

„Prä­zes­si­on!“ rief er laut.

The­ri­on blick­te gut­mü­tig auf. „Ja?“

„Prä­zes­si­on. Der Fak­tor, der die Rich­tung der Kraft zu ver­än­dern scheint, wie man es bei ei­nem Krei­sel oder dre­hen­den Rad be­ob­ach­ten kann: Wenn man sie rich­tig aus­nutzt, wie bei ei­nem Fahr­rad, hat sie sta­bi­li­sie­ren­de Wir­kung, doch wenn man sie miß­ver­steht, ver­zerrt sie je­de An­stren­gung zu …“

The­ri­on schüt­tel­te den Kopf. „Kannst du mir das ge­nau­er er­klä­ren?“

„Das ist ein tech­ni­scher Be­griff. Er um­faßt die Er­de und al­le dre­hen­den Din­ge und so­mit die mensch­li­che Tech­no­lo­gie und My­tho­lo­gie. Die Prä­zes­si­on der Tag­und­nacht­glei­che …“ Er hol­te tief Luft. „Es gibt ein­fach ei­ne Men­ge ro­ta­ti­ons­mä­ßi­ger Träg­heit bei ei­nem sich dre­hen­den Ob­jekt, und wenn man ei­ne äu­ße­re Kraft an­setzt, um die Rich­tung zu än­dern, muß man mit die­ser Träg­heit fer­tig wer­den. Wenn man das ver­steht und die ge­nau­en Vek­to­ren kennt …“

The­ri­on lä­chel­te. „Und dei­ne Igno­ranz zieht hier den Schluß­strich, weil die Träg­heit des Den­kens kom­ple­xer ist als je­de zu­fäl­li­ge Un­ter­su­chung ent­hül­len kann. Er­ken­ne dich sel­ber – oder wie ich es lie­ber aus­drücke: Tu, was du willst.“

„Ja“, stimm­te Bru­der Paul zu und er­faß­te schließ­lich doch die Be­deu­tung die­ses Sat­zes. Je­mand konn­te nicht wirk­lich tun, was er woll­te, wenn er sich nicht zu­vor voll­stän­dig be­griff, um her­aus­zu­fin­den, was er wirk­lich woll­te. Was er wirk­lich woll­te – und nicht, was er in sei­ner Igno­ranz für sein Wol­len hielt. Vie­le Men­schen blie­ben auf der Sei­te der Igno­ranz, un­er­müd­lich nach Reich­tum oder Macht stre­bend, die ih­nen le­dig­lich Un­glück brach­ten. An­de­re streb­ten nach Glück, de­fi­nier­ten es aber le­dig­lich ma­te­ri­ell. An­de­re wie­der­um ver­such­ten dies wie­der­gutz­u­ma­chen, in­dem sie es aus­schließ­lich nicht­ma­te­ri­ell de­fi­nier­ten und Schi­mä­ren such­ten. Wie es viel­leicht auch Bru­der Paul ge­tan hat­te. „Mein letzt­end­li­cher Wil­le ist fein­ge­spon­ne­ner und ge­wun­de­ner als ich sel­ber be­wußt er­ken­nen kann. Da die­se Ani­ma­tio­nen zu­min­dest teil­wei­se mei­nem Un­be­wuß­ten ent­sprin­gen, ver­fal­le ich der Prä­zes­si­on, wenn ich durch rein be­wuß­te Ge­dan­ken zu len­ken su­che. So ver­wi­cke­le ich mich und fin­de mich im rech­ten Win­kel ab­ge­trie­ben wie­der, kämp­fe ge­gen den Dra­chen der Ver­su­chung und Gott weiß was noch al­les!“

Wie­der­um nick­te The­ri­on und sah aus wie ein her­un­ter­ge­kom­me­ner Stra­ßen­phi­lo­soph. „Ich weiß auch noch et­was: Es war dein ei­ge­nes Be­wußt­sein, ge­gen das du ge­kämpft hast.“

„Du weißt es; ei­gent­lich bist du kein schlech­ter Füh­rer“, mein­te Bru­der Paul. „Du kennst mei­nen ei­ge­nen Wil­len bes­ser als ich. Aber wie wenn man ein Pferd zum Was­ser führt …“

„Das ist das gan­ze Ge­setz“, stimm­te The­ri­on zu.

Sie wa­ren kreuz und quer durch das ver­las­se­ne, un­heim­li­che Schloß ge­gan­gen. Nun be­tra­ten sie ei­ne der obe­ren Kam­mern – und sa­hen ei­ne Frau. Sie saß in ei­nem rie­si­gen Kelch, da­her wuß­te er, dies war ei­ne wei­te­re Vi­si­on der sie­ben Kel­che, mit der er auf die ei­ne oder an­de­re Wei­se fer­tig wer­den muß­te. Er ver­mu­te­te, der ur­sprüng­li­che Kelch, der mit dem Schloß, den er ge­wählt hat­te, war le­dig­lich ein Ein­gangs­punkt ge­we­sen; und ehe er hin­durch­ge­lang­te, wür­de er vom In­halt al­ler sie­ben kos­ten. Hät­te er zu­erst die Frau ge­wählt, hät­te er wohl auch den Schä­del, die Ver­su­chung und das Schloß ge­fun­den, aber viel­leicht in an­de­rer Rei­hen­fol­ge. Mit der Prä­zes­si­on gab es kei­nen leich­ten oder di­rek­ten Weg zu ei­nem Ziel. Aber nun zu die­ser Frau: Sie war ein Wun­der an na­tür­li­cher Sym­me­trie und kul­ti­vier­ter Äs­the­tik, mit Haar wie Som­mer­wei­zen …

„Ama­ranth!“ keuch­te Bru­der Paul.

„Bit­te?“ frag­te The­ri­on.

Na­tür­lich kann­te die­ser Mann nicht den Pri­vat­na­men, den Paul der Kno­chen­bre­cher­da­me ge­ge­ben hat­te. Aber nun war er si­cher: Ama­ranth war in die­se Ani­ma­ti­on ge­langt, und hier war sie, die Schau­spie­le­rin in ei­ner ganz be­son­de­ren Rol­le. Die Haupt­cha­rak­tere die­ser Sze­ne wur­den von Le­ben­di­gen ge­spielt, die ih­re Tex­te, wie sie wa­ren, auf­sag­ten oder even­tu­ell an­hand von Leit­li­ni­en frei spra­chen. „Ein pri­va­ter Ge­dan­ke, völ­lig un­wich­tig“, mein­te Bru­der Paul und wuß­te, daß er log. Da Lü­gen für ihn ver­ab­scheu­ens­wür­dig wa­ren, muß­te er sich so­fort ver­bes­sern. „Ich glau­be, ich er­ken­ne die­se Frau. Sie …“

„Die Frau exis­tiert, um dem Man­ne zu die­nen“, be­merk­te The­ri­on.

Der Mann war al­so nicht wirk­lich an der Iden­ti­tät die­ser Frau in­ter­es­siert. Für ihn wa­ren Frau­en aus­tausch­bar, ver­hüllt durch sei­ne all­ge­mei­ne Feind­se­lig­keit ih­nen ge­gen­über. Nun, in die­sem Fall spiel­te Bru­der Paul das Spiel mit, denn nach al­lem, was er von Ama­ranth wuß­te, wür­de sie al­le mit ei­ner sol­chen Mei­nung ge­hö­rig ei­nes Bes­se­ren be­leh­ren.

Bru­der Paul ging auf die Frau zu. „In wel­cher Wei­se spie­gelst du mei­nen ver­bor­ge­nen Wil­len wi­der?“ frag­te er.

Sie lös­te sich aus dem Kelch und stand vor ihm, ei­ne so schö­ne Ge­stalt, wie er sie sich nur vor­stel­len konn­te. „Ich bin die Lie­be.“

Lie­be. Das war so­gar noch mehr, als er er­war­tet hat­te. „Hei­li­ge oder pro­fa­ne?“ frag­te er vor­sich­tig. „Ich bin mit ei­nem re­li­gi­ösen Auf­trag hier.“

„Er sagt, er liebt Gott und kei­ne Frau“, warf The­ri­on ein.

„Ich lie­be Gott und die Frau­en“, bell­te Bru­der Paul zu­rück. „Aber für mei­ne Missi­on muß ich …“

Ama­ranth reck­te sich und be­ton­te ih­re wun­der­vol­len Brüs­te; Bru­der Paul er­kann­te die Ver­su­chung in an­de­rer Ge­stalt. Er wuß­te, daß die Ani­ma­ti­on ih­re Er­schei­nung nicht noch ver­bes­ser­te; sie war in je­der Hin­sicht so ver­lo­ckend wie im wirk­li­chen Le­ben. Ei­ne Frau, die nur in der Ani­ma­ti­on schön war … aber na­tür­lich soll­te die Äu­ßer­lich­keit nicht das ein­zig An­zie­hen­de sein.

„Du hast tap­fer ge­kämpft, um in die­ses Schloß zu ge­lan­gen“, merk­te The­ri­on an. „Weist du nun zu­rück, was es dir bie­tet?“

„Die Prä­zes­si­on bringt die­se Frau; was ich su­che, liegt an­ders­wo.“

„Wo­her weißt du das?“

Un­si­cher dach­te Bru­der Paul dar­über nach. Er hat­te ge­dacht, er ha­be die Ver­su­chung über­wun­den – und es war ei­ne un­ge­heu­re Ver­su­chung ge­we­sen! –, aber konn­te es sein, daß das Ziel sei­ner Su­che kör­per­li­che Lie­be war? Es schi­en kaum wahr­schein­lich, aber si­cher konn­te er auch nicht sein. Es gab zwi­schen den ein­zel­nen Ar­ten der Lie­be tie­fe Af­fi­ni­tät, auf der höchs­ten Ebe­ne als Re­li­gi­on aus­ge­drückt und auf der nied­rigs­ten als Sex. Oft sag­te man ‚Gott ist Lie­be’. Konn­te er die ei­ne Form oh­ne die an­de­re er­rei­chen?

Er dach­te an die säu­er­li­chen Kom­men­ta­re des Hie­rophan­ten. Wie sah es mit sei­nem Glau­ben aus? War der Aus­druck kör­per­li­cher Lie­be not­wen­di­ger­wei­se im­mer schlecht? Die An­sich­ten des Hie­rophan­ten gli­chen ei­ner Par­odie von …

„Der Hie­rophant!“ rief Bru­der Paul aus und wir­bel­te zu The­ri­on her­um. „Du!“

„Du hast es al­so be­grif­fen“, sag­te The­ri­on schnip­pisch.

„Du hast be­wußt die re­li­gi­öse Hal­tung zer­stört …“

„Zer­stört? Das wür­de ich nicht sa­gen“, ent­geg­ne­te The­ri­on. „Ich hat­te ei­ne Rol­le zu spie­len, und da­her ha­be ich sie völ­lig frei ge­spielt. Ich ha­be die Es­senz ge­lie­fert an­stel­le blo­ßer Ka­suis­tik. Die mo­der­nen Re­li­gio­nen has­sen den Sex und das Ver­gnü­gen und ver­su­chen, es zu un­ter­drücken, weil ein Mann mit stei­fem Schwanz nicht zu ei­nem Pries­ter ge­hen wür­de. Die al­ten Re­li­gio­nen be­sa­ßen viel mehr Grips; sie kann­ten die an­de­re Sei­te der gött­li­chen Lie­be, näm­lich die kör­per­li­che Lie­be. Das ist ei­ne voll­stän­dig na­tür­li­che und not­wen­di­ge Funk­ti­on.“

„Aber nicht au­ßer­halb der Ehe“, er­wi­der­te Bru­der Paul, der bei dem Ge­dan­ken zit­ter­te, auf wel­che Wei­se er ge­lei­tet wor­den war, noch ehe er sei­nen Füh­rer ge­wählt hat­te.

Warum nicht? Was ist denn die Ehe schon, au­ßer ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ze­re­mo­nie, die die Be­sitz­rech­te ei­nes be­stimm­ten Man­nes an ei­ner be­stimm­ten Frau re­gelt? Küm­mert sich Gott viel­leicht um die Kon­ven­tio­nen der mensch­li­chen Kul­tur? Wer re­giert denn hier? Gott oder der Mensch?“

„Aber ge­wiß doch Gott!“ rief Bru­der Paul.

„Aber warum hat Gott den Men­schen dann nicht vor sei­ner hoch­zeit­li­chen Ze­re­mo­nie im­po­tent ge­macht oder es so ge­re­gelt, daß er nur auf be­stimm­te Sti­mu­li wie Ge­ruch rea­gie­ren kann? Tie­re ha­ben da­mit kei­ne Pro­ble­me.“

„Aber der Mann ist auch kein Tier“, ent­geg­ne­te Bru­der Paul. „Der Mensch hat ein Be­wußt­sein. Er kon­trol­liert sei­ne Trie­be.“

„Dann we­delt der Schwanz den Hund. Der Mensch kon­trol­liert die na­tür­li­chen Trie­be, die ihm Gott ge­ge­ben hat, an­statt sich mit ih­nen so aus­zu­drücken, wie es Gott mit ih­nen vor­hat­te.“

„Nein. Das mensch­li­che Be­wußt­sein stammt von Gott!“

„Und Gott wur­de im Bild des Men­schen ge­schaf­fen.“

Ein auf­schluß­rei­cher Hieb! Na­tür­lich war der Mensch im Bild Got­tes, aber wenn man so ar­gu­men­tier­te, wür­de The­ri­on ein­fach dar­auf hin­wei­sen, daß Gott von da­her ein ge­schlecht­li­ches We­sen sei, aber un­ver­hei­ra­tet. Nun war sich Bru­der Paul un­si­cher, ob das Sa­kra­ment der Ehe in sei­ne Vor­stel­lung paß­te, denn es traf zu, daß Tie­re nicht hei­ra­te­ten. Tie­re wa­ren ab­so­lut na­tür­lich, aber un­schul­dig.

Doch er muß­te im­mer noch dar­an glau­ben, daß ei­nes der Din­ge, die den Men­schen vom Tier un­ter­schie­den, sei­ne Mo­ral, sein hö­her ent­wi­ckel­tes Be­wußt­sein war. „Ich will mit dir lie­ber nicht über die Ehe­strei­ten“, mein­te Bru­der Paul, „und auch nicht die­se jun­ge Frau miß­brau­chen. Ich möch­te nur die Rea­li­tät hin­ter dem Bild si­chern.“

„Aber du un­ter­liegst wie­der der Prä­zes­si­on“, mein­te The­ri­on trau­rig. „Du be­stehst dar­auf, die pri­va­ten Re­geln dei­nes Er­den­le­bens in die­sen Rah­men hin­ein­zu­tra­gen, und wei­gerst dich, zu­zu­ge­ben, daß sie nicht mehr pas­sen. Du denkst, du kannst die Schwie­rig­kei­ten über­win­den, in­dem du ein­fach nach vorn schrei­test. Wann wirst du mer­ken, daß du nicht ge­win­nen kannst, wenn du nicht die Spiel­re­geln be­folgst? Du hast erst drei Kel­che pro­biert.“

Ver­su­chung, Sieg und Reich­tum. Of­fen­sicht­lich muß­te er al­le hin­ter sich brin­gen, ehe er die Er­hel­lung er­reich­te. Kei­ne Ab­kür­zun­gen. Doch be­deu­te­te die Ge­gen­wart die­ser Frau, die ei­gent­lich in die­ser Ani­ma­ti­on ge­fan­gen wur­de, daß er sie se­xu­ell pro­bie­ren muß­te? The­ri­on schi­en da­für zu plä­die­ren, was son­der­bar war, denn er haß­te die Frau­en aus­drück­lich. Of­fen­sicht­lich konn­te sich Bru­der Paul nicht er­lau­ben, The­ri­ons Wor­ten all­zu ge­nau zu fol­gen, weil sie viel­leicht nicht not­wen­di­ger­wei­se des­sen Wil­len wi­der­spie­gel­ten. Die­se Frau war viel­leicht ver­füh­re­risch, aber er brauch­te nicht ver­führt zu wer­den.

„Ich möch­te gern mit dir re­den“, sag­te Bru­der Paul zu der Frau. „Was hörst du gern?“

„Ich be­te dich an, IAO“, ant­wor­te­te sie.

„Mein Na­me ist Bru­der Paul vom Hei­li­gen Or­den der Vi­si­on“, sag­te er. Das reich­te für ei­ne of­fi­zi­el­le Vor­stel­lung in­ner­halb die­ser Ani­ma­ti­on, falls das über­haupt hel­fen konn­te. „Du … ich glau­be, wir ken­nen uns schon aus dem … äh … ech­ten Le­ben. Und du hast auch das Ta­rot­spiel der Bru­der­schaft vom Licht re­prä­sen­tiert. Wie soll ich dich nun nen­nen?“

Sie öff­ne­te ihr Kleid. Dar­un­ter war sie nackt, schlank und ro­sa­weiß, mit vol­len Brüs­ten. Kör­per­lich stell­te sie sein Ideal­bild von ei­ner Frau dar, was of­fen­sicht­lich der Grund für die ers­te An­zie­hung ge­we­sen war. Er such­te nach dem sub­li­men Ein­ver­ständ­nis von Gott, aber sein Fleisch hat­te an­de­res im Sinn.

„Ich be­te dich an, IAO“, wie­der­hol­te sie.

Bru­der Paul wei­ger­te sich mitz­u­ma­chen. „Ich dach­te, im ech­ten Le­ben wür­dest du einen schlan­gen­fü­ßi­gen Gott na­mens Ab­ra …“ An den ge­sam­ten Na­men konn­te er sich nicht mehr er­in­nern.

„Sie re­det von IAO – oder auch Ab­ra­xas, wört­lich ge­nom­men“, er­klär­te The­ri­on. „Er hat Men­schen­ge­stalt mit dem Kopf ei­nes Hahns und Bei­nen ei­ner Schlan­ge, und er ist der Gott der Heil­kun­de. An­schei­nend hält sie dich für einen Gott.“

„Mich?“ rief Bru­der Paul ent­setzt aus. „Ich ein heid­nischer Gott?“

„Ab­ra­xas war im rö­mi­schen Reich ein höchst mo­di­scher Gott. Viel­leicht sieht sie dich als mo­der­ne In­kar­na­ti­on. Wenn du ihr viel­leicht dei­ne Fü­ße zeigst …“

Bru­der Paul mur­mel­te ei­ne höchst un­hei­li­ge Sil­be. Aber The­ri­on be­trach­te­te den Tor­so Ama­ranths. „Sie ist ge­wiß ein ge­sun­des, gut er­nähr­tes Ex­em­plar“, be­merk­te er, als be­trach­te er ein Voll­blut­pferd. „Zu fast al­len Zei­ten wa­ren die meis­ten Men­schen schlecht er­nährt: Erst in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten hat sich ein gu­ter Er­näh­rungs­stand ver­brei­tet. Man sieht je­doch nur sel­ten ei­ne so fei­ne Ge­stalt, auch heu­te noch.“

Wem woll­te er die Fi­gur ver­kau­fen? „Du ver­ehrst wirk­lich einen heid­nischen Gott?“ frag­te Bru­der Paul die La­dy. Ir­gend­wie war ihm die Be­deu­tung des­sen noch nicht klar ge­wor­den, oder er hat­te es nicht rich­tig ge­glaubt, als sie, die Ko­lo­nis­tin, die­sen Sach­ver­halt er­wähn­te.

„Aber das ist doch ei­ne freie Ge­sell­schaft“, mein­te The­ri­on. „Nie­mand darf nach dem Ver­trag ir­gend­ein Mit­glied ei­ner an­de­ren Re­li­gi­on, was im­mer ih­re Form ist, ver­fol­gen. Das ist das ein­zi­ge, das auf die­sem Pla­ne­ten einen mör­de­ri­schen Krieg ver­hin­dert. Ich bin si­cher, IAO hat eben­so viel Recht hier­zu­sein wie je­der christ­li­che Gott.“

Das Mäd­chen schlüpf­te aus ih­rem Ge­wand und stell­te sich voll­stän­dig nackt vor sie hin. Ihr Kör­per war be­rau­schend, nicht nur, weil sie gut er­nährt war; an ihr gab es kein Fett, wo es nicht auch hin­ge­hör­te. Sie trat auf Bru­der Paul zu.

Be­un­ru­higt wich er zu­rück.

„Die al­ten Pries­te­rin­nen führ­ten die Gläu­bi­gen mit den di­rek­tes­ten Mit­teln zur Ver­ei­ni­gung mit ih­ren Göt­tern“, fuhr The­ri­on fort. „Sie will dir hel­fen, dei­nen wah­ren Wil­len zu ent­de­cken; willst du ihr nicht fol­gen?“

„Aber das ist nicht die Art von Ver­ei­ni­gung, die ich su­che“, pro­tes­tier­te Bru­der Paul. „Nicht mit IAO, nicht …“

„Und wenn IAO der Gott von Ta­rot ist, und du wei­gerst dich, ihn zu tref­fen?“

„Un­mög­lich!“ Aber Bru­der Paul merk­te auch, daß es nicht un­mög­lich war. Un­wahr­schein­lich viel­leicht, aber theo­re­tisch durch­aus mög­lich. Das gan­ze Pro­blem des Pla­ne­ten Ta­rot, der Grund, warum er her­ge­kom­men war, war doch, ob­jek­tiv zu be­stim­men (wenn es die Um­stän­de er­laub­ten), wel­cher Gott die Leit­fi­gur hin­ter den Ani­ma­tio­nen war oder ob es kein Gott war. Er muß­te sei­ne re­li­gi­ösen Vor­ur­tei­le aus dem Spiel las­sen. Denn – da­zu zwang er sich – IAO Ab­ra­xas, der Gott der An­be­tung, konn­te es wirk­lich sein. Und wenn es I A O nicht war, muß­te er die­se Tat­sa­che doch ge­nau un­ter­su­chen. Die ver­sam­mel­ten Re­li­gio­nen des Pla­ne­ten Ta­rot war­te­ten auf sein Ur­teil. Nie­mand ih­rer ei­ge­nen Ver­tre­ter konn­te die­se Un­ter­su­chung durch­füh­ren, weil ein je­der un­ter ih­nen zu sehr dem je­wei­li­gen Gott er­ge­ben war, um noch ob­jek­tiv blei­ben zu kön­nen. Je­ne, die es am auf­rich­tigs­ten ver­sucht hat­ten, wa­ren An­fäl­le von Glau­bens­zwei­fel er­le­gen, in ei­ni­gen Fäl­len mit fa­ta­lem Aus­gang.

Bru­der Paul hat­te nicht vor, bei sei­nem Aben­teu­er zu ster­ben. Aber er woll­te auch an kei­ner Weiß­wä­sche­rei oder Auf­wär­mung von per­sön­li­chen Vor­ur­tei­len teil­ha­ben. Die Ethik sei­nes Or­dens und sein Stolz ver­lang­ten, daß er die Wahr­heit such­te. Der Auf­trag ging über sei­ne klei­nen Skru­pel weit hin­aus. Er muß­te IAO ei­ne faire Chan­ce ge­ben.

„Aber ist es wirk­lich not­wen­dig …?“ frag­te er kläg­lich mit Blick auf die nack­te Pries­te­rin. „Wenn sie ei­ne zeit­ge­nös­si­sche An­hän­ge­rin von Ab­ra­xas ist, lä­ge es in ih­rem In­ter­es­se, mich da­von zu über­zeu­gen, daß ihr Gott der näm­li­che sei, auch wenn er es viel­leicht gar nicht ist.“

„Si­cher“, stimm­te The­ri­on zu. „Ich be­nei­de dich nicht um dei­ne Auf­ga­be.“

„Und wenn ich mit ihr schla­fe, be­weist das gar nichts.“

„Es sei denn, wie bei dem Kampf mit dem Dra­chen, es er­weist sich als Weg zur rei­nen Wahr­heit“, sag­te The­ri­on. „In die­sem Fall wä­re es zu scha­de, sie ei­ne Il­lu­si­on zu nen­nen und die­sen Kelch un­ge­leert zu las­sen.“

„Das er­gibt doch kei­nen Sinn!“ Wie­der blick­te Bru­der Paul auf die Ab­ra­xas-Pries­te­rin. Wenn dies wirk­lich der Gott von Ta­rot war und wenn es nur ei­ne Art des Um­gangs mit die­sem Gott gab, ent­spre­chend dem al­ten Ri­tu­al der Ver­ei­ni­gung …

„Schnüf­fel mal dar­an“, sag­te The­ri­on und öff­ne­te ein an­de­res Käst­chen.

„Nein. Kein Ko­kain mehr! Das löst gar nichts!“

„Das ist kein Ko­kain.“

„Oh.“ Bru­der Paul gab nach und roch dar­an.

„Es ist He­ro­in“, fuhr The­ri­on fort.

Aber die Dro­ge tat be­reits ih­re Wir­kung. Bru­der Paul wand­te sich der Pries­te­rin zu. „Du willst al­so Ge­schlechts­ver­kehr“, sag­te er keck. „Nun, für die Wahr­heit bum­se ich dich gern.“ Wie durch Zau­be­rei fie­len sei­ne Klei­der von ihm ab, als er auf sie zu­trat.

Er nahm sie in die Ar­me und küß­te sie aus­gie­big. Auf­ge­regt zit­ter­ten ih­re küh­len, fes­ten Brüs­te an sei­ner Brust. Sei­ne Hän­de glit­ten an ih­rem ge­bo­ge­nen Rücken ent­lang und über die schlan­ken Schen­kel, bis sie sich über ih­ren fes­ten, aber den­noch wei­chen Hin­ter­ba­cken wölb­ten. Was für ein Pracht­stück!

Der Kuß war zau­ber­haft. Nie­mals zu­vor hat­te er so et­was er­lebt. Er wuß­te, durch das He­ro­in wur­de al­les in­ten­si­ver, aber es war ihm egal. Er fühl­te sich sei­ner selbst so si­cher, daß ihm al­les an­de­re gleich­gül­tig war. Die­se Er­fah­rung konn­te er oh­ne je­de Zu­rück­hal­tung ge­nie­ßen.

Er­fah­rung. Das war der tief­sit­zen­de In­stinkt im Men­schen: das Stre­ben nach neu­en Ge­füh­len, die Be­frie­di­gung der Neu­gier, Ab­wechs­lung und Auf­re­gung und Er­fül­lung! Er­fah­rung. Je­de Se­kun­de, je­de Mi­nu­te war kost­bar; er muß­te sich bis zum Äu­ßers­ten hin­ge­ben, weil dies die letzt­end­li­che Be­deu­tung des Le­bens war. Warum soll­te er sä­en und nicht ern­ten?

Er ließ die Pries­te­rin ge­ra­de so­weit los, daß er ihr ins Ge­sicht se­hen konn­te. Sie lä­chel­te.

„Stich mit dei­nem dä­mo­ni­schen Lä­cheln in mein Hirn“, sag­te The­ri­on. „Wei­che mich in Co­gnac ein, in Küs­se und Ko­kain.“ Er sprach rhyth­misch, als sprä­che er ein Ge­dicht.

Das hat­te zur Wir­kung, daß Bru­der Pauls Er­re­gung trotz des He­ro­ins ab­ge­stumpft wur­de. „Hast du nicht ir­gend­wo an­ders zu tun?“ frag­te er.

„Ich bin dein Füh­rer. Ich muß dich si­cher an die­ser Her­aus­for­de­rung ent­lang lei­ten.“

„Du fürch­test, ich wer­de mit der Pries­te­rin schla­fen?“

„Ich fürch­te, du tust es nicht, wenn ich dich nicht lei­te.“

„Das steht zwi­schen mir und mei­ner Re­li­gi­on.“

„Und dei­ne Re­li­gi­on, wie prak­tisch al­le mo­der­nen Glau­bens­rich­tun­gen, ist grund­sätz­lich ge­gen Se­xua­li­tät. Dein Ver­ständ­nis von die­sem The­ma ist be­grenzt, wenn auch dein In­stinkt, wenn du ihn nur her­aus­las­sen wür­dest, ge­sund ist. Se­xua­li­tät ist gut, Lie­be heißt das Ge­setz. Igno­ranz ist schlecht.“

„Aber flüch­ti­ger, zu­fäl­li­ger Sex …“

„Kein Mann kommt mit ei­ner Di­ät ab­so­lu­ter Ab­sti­nenz aus. Man muß dem Men­schen er­lau­ben, sich nor­mal se­xu­ell aus­zu­le­ben, wie es Gott ge­plant hat. Er muß sei­nen na­tür­li­chen Trie­ben nach­kom­men, wie im­mer sie auch sein mö­gen, oder er wird da­hin­wel­ken.“

„Aber …“ mein­te Bru­der Paul im­mer noch un­si­cher. Er hat­te sei­ne Glau­bens­sät­ze, aber durch die­se Lo­gik und die Frau in sei­nen Ar­men wur­den sie hef­tig be­drängt.

Die Pries­te­rin knie­te vor ihm nie­der, als er­gä­be sie sich ihm; ih­re Brüs­te glit­ten auf­rei­zend an sei­nem Kör­per ent­lang. „Ich be­te dich an, IAO“, wie­der­hol­te sie.

„He, ich bin nicht I A O“, pro­tes­tier­te Bru­der Paul. Aber dann merk­te er, daß er es viel­leicht war; sie ver­ehr­te einen schlan­gen­fü­ßi­gen Gott, da­her such­te sie im Mann auch die Schlan­ge.

Un­ter ih­ren Be­rüh­run­gen er­hob sich die Schlan­ge und schwoll wie das Vor­der­teil der Ko­bra an. Die Haut am Kopf glitt zu­rück und gab einen schwa­chen Duft frei, der in die­ser spe­zi­el­len Ta­sche ent­stand – der Ge­ruch, den das Mes­ser der meis­ten Chris­ten so­wie al­len Mos­lems und Ju­den in Ge­stalt von ‚Ge­sund­heit’ durch das Mes­ser ver­wei­ger­te.

Aber Bru­der Paul hat­te sich die­sem un­freund­li­chen Schnitt nie­mals hin­ge­ge­ben. Sein Glied war voll­stän­dig und es funk­tio­nier­te, wie Gott es vor­ge­se­hen hat­te. Der Duft der Er­re­gung ver­brei­te­te sich. „IAO!“ hauch­te sie in Ek­sta­se, und ihr Atem strei­chel­te sein Glied.

„Lie­be ist das Ge­setz!“ in­to­nier­te The­ri­on. „Lie­be und frei­er Wil­le.“

„Ge­nug da­von!“ rief Bru­der Paul und zog ih­re Hän­de und ihr Ge­sicht von sei­nem Kör­per. Er hob sie hoch, doch sie wir­bel­te her­um und leg­te sich quer über den Di­wan (Di­wan? Wo war der Kelch? Oh, das war das glei­che!) Er streb­te ihr nach und fing sie mit bei­den Hän­den ein, als sie sich über die Leh­ne zog; sei­ne Len­de glitt über ihr üp­pi­ges Hin­ter­teil. Ih­re Hän­de, die sich lös­ten, wäh­rend sich der Un­ter­kör­per hob, glit­ten ab; der Ober­kör­per fiel vorn­über in den Kelch. Sie lag nun im rech­ten Win­kel vorn­über­ge­beugt, die Brüs­te ge­gen den In­nen­rand flach­ge­drückt, die El­len­bo­gen in der Tie­fe ver­schlun­gen und das Ge­sicht un­sicht­bar im Schat­ten. Aber er brauch­te we­der ih­re Brüs­te, noch Ar­me, noch Ge­sicht. Er führ­te sein Glied mit der Hand, fand die Stel­le und stieß hin­ein.

Er hat­te es sich leicht vor­ge­stellt, in ih­re of­fen dar­ge­brach­te Va­gi­na ein­zu­drin­gen, aber es war nicht ein­fach. Es schmerz­te leicht, als er sich den Ein­gang an zu­sam­men­ge­preß­ten Mus­keln vor­bei oh­ne ge­nü­gen­de Feuch­tig­keit er­zwang. Doch die Dro­ge trieb ihn an: Im­mer­hin war er ein Er­obe­rer!

Der Hö­he­punkt war wie ei­ne Ex­plo­si­on: Ei­ne Kern­de­to­na­ti­on in ei­ner un­ter­ir­di­schen Höh­lung. Der Rück­stoß warf ihn nach hin­ten und un­ter­brach die Ver­bin­dung. Gleich­zei­tig kipp­te auch sein He­ro­in­hö­he­punkt über. Er fühl­te sich mü­de und krank, reiz­bar und an­ge­ekelt. Die Pries­te­rin war aus dem Kelch her­aus auf den Bo­den ge­fal­len und lag aus­ge­streckt auf dem Rücken. The­ri­on hock­te ne­ben ihr, fast über ih­rem Kopf. Viel­leicht war sie ver­letzt; es war ein ziem­li­cher Schwung ge­we­sen. Bru­der Paul war es egal. Er woll­te ein­fach noch ein­mal am ‚H’ schnüf­feln.

Er stol­per­te auf The­ri­on zu. „Gib’s mir“, keuch­te er.

„Ich bin be­schäf­tigt“, bell­te The­ri­on, im­mer noch am Bo­den kau­ernd. „Ich muß ihr …“

Bru­der Pauls Na­se lief, und sein Ma­gen krampf­te sich zu­sam­men. Ent­zugs­er­schei­nun­gen, das wuß­te er. „Gib mir den Stoff!“

The­ri­on igno­rier­te ihn und kon­zen­trier­te sich auf das Mäd­chen.

„Ich will mehr Do­pe, mehr Stoff!“ be­harr­te Bru­der Paul. „Wie nennt man es heut­zu­ta­ge? Pot? Schnee? Wo ist es?“

Im­mer noch gab The­ri­on kei­ne Ant­wort; im­mer noch kau­er­te er am Bo­den.

Plötz­lich kam Wut in Bru­der Paul auf. „Du wid­mest dich ihr mehr als mir! Mich sollst du schließ­lich füh­ren!“

„Shit“, gab The­ri­on zu­rück.

Bru­der Paul er­in­ner­te sich. War das nicht auch ein Na­me für He­ro­in? „Dann gib mir Shit!“ rief er.

Vor ihm er­schi­en ein Kelch, doch er ent­hielt kein wei­ßes Pul­ver. Wü­tend ball­te er die Faust und kipp­te ihn um. Zi­schend ent­fuhr ihm ei­ne grü­ne Schlan­ge. Ein Fuß des Got­tes Ab­ra­xas? Nein, das war le­dig­lich das Sym­bol der Ei­fer­sucht.

Er wuß­te nicht ein noch aus. Die Hit­ze ver­wan­del­te sich in frös­teln­de Küh­le. In was war er da hin­ein­ge­ra­ten? „Warum bist du ei­gent­lich so selbst­si­cher?“ frag­te Bru­der Paul. „Wenn es mir so dre­ckig geht und ich ver­wirrt bin. Das ist nicht fair!“

The­ri­on blick­te auf. „Ich bin zu­frie­den, weil ich mei­ne wah­re Na­tur ken­ne“, sag­te er. „Ich weiß, was ich bin und wem ich die­ne. Ich bin im Frie­den mit mir selbst. Kein Sieg, Reich­tum oder ei­ne Frau kommt da­ge­gen an. ‚Tu, was du willst’ lau­tet das gan­ze Ge­setz.“

„Dann zeig mir, wie ich mei­ne wah­re Na­tur be­grei­fe“, rief Bru­der Paul. „Da liegt der Schlüs­sel zur größ­ten Macht.“

„Du mußt sie in dir sel­ber su­chen und dich sel­ber aus dem Ge­fäng­nis dei­ner Sin­ne be­frei­en“, ent­geg­ne­te The­ri­on. „Me­di­ta­ti­on, wie es Yo­ga be­für­wor­tet …“

„Nein! Dar­auf kann ich nicht war­ten. Ich will es jetzt!“

„Dann nimm die Ab­kür­zung.“ The­ri­on hielt ei­ne klei­ne Kap­sel hoch. „LSD.“

Bru­der Paul schnapp­te da­nach und schluck­te sie hin­un­ter.

Es war ein Kopf­sprung in einen Mahl­strom. Aus al­len Rich­tun­gen ström­te es auf ihn ein und schi­en eben­so von ihm aus­zu­strö­men: Bil­der, Ge­räusche, Ge­rü­che, Aro­men und Be­rüh­run­gen. Er sah den Raum. Das Mäd­chen lag im­mer noch mit of­fe­nem Mund auf dem Flur. The­ri­on kau­er­te im­mer noch über ihr. Er sah die Mö­bel. Den Son­nen fleck vom Fens­ter. Er hör­te den Wind um den Ab­grund pfei­fen, ein Tier in der Fer­ne heu­len, ei­ne un­sicht­ba­re Uhr ti­cken. Er roch die Le­der­couch und das Me­tall von der In­nen­sei­te des großen Kel­ches, den Staub vom Bo­den und den schwa­chen süß­li­chen Duft ei­ner Blu­me ir­gend­wo drau­ßen. Er spür­te die Über­res­te der Kap­sel­flüs­sig­keit, das Strei­cheln ei­ner sanf­ten Bri­se über sei­nen nack­ten Kör­per. Ab­len­kun­gen, mit de­nen er fer­tig wer­den muß­te.

Er zwang sei­ne Wahr­neh­mung zur Kon­zen­tra­ti­on, schloß al­le äu­ße­ren Sti­mu­li aus. Nun sah er Licht hin­ter den Au­gen­li­dern, denn sie wa­ren nicht dick ge­nug, um ihm to­ta­le Dun­kel­heit zu ge­wäh­ren. Er hör­te sei­nen ei­ge­nen Atem und Herz­schlag. Er roch sei­nen Atem mit ei­nem Hauch Whis­key da­bei. Whis­key? Oh, von die­sem ers­ten Schluck bei der Ver­su­chung. Sei­ne Zun­ge schmeck­te leicht bit­ter. Er fühl­te die Span­nung sei­ner Mus­keln, die sich ver­krampf­ten, um ihn auf­recht zu hal­ten.

Es gab üb­ri­gens mehr als nur fünf Sin­ne, doch die meis­ten na­men­lo­sen konn­te man un­ter ‚Be­rüh­rung’ sub­su­mie­ren: un­be­hag­li­ches Ge­fühl, Mus­kel­span­nung, Ori­en­tie­rung. Ab­len­kun­gen.

Er setz­te sich auf den Bo­den und nahm die Stel­lung mit ge­kreuz­ten Bei­nen ein, die am bes­ten für Me­di­ta­ti­on ge­eig­net ist. Ganz be­wußt ent­spann­te er sich. All­mäh­lich ver­flog die Kör­per­span­nung und gab sei­ne Ge­dan­ken frei.

Es war, als flö­ge er in nied­ri­ger Hö­he über ei­ne Land­schaft auf den Son­nen­un­ter­gang zu. Sei­ne halb­ge­ord­ne­ten Ge­dan­ken flo­gen vor­bei wie Wol­ken in Tech­ni­co­lor, ei­ni­ge form­los, an­de­re wun­der­schön, ei­ni­ge be­droh­lich. Un­ter ihm lag das Schloß mit der Pries­te­rin wie ei­nem Dorn­rös­chen dar­in, das auf den Kuß war­tet, der ihr das Be­wußt­sein zu­rück­brin­gen soll. Nur, daß es ei­ne Rei­ni­gung be­deu­te­te. Es war wirk­lich der Se­xualakt, der sie zum Auf­ste­hen brin­gen wür­de, der ihr Le­ben wie­der er­we­cken wür­de. Al­ler­dings konn­te man das Kin­dern nicht er­zäh­len (warum zum Teu­fel ei­gent­lich nicht?), und in die­sem Fall hat­te sie der Akt statt des­sen zum Schla­fen ge­bracht. Pries­te­rin des Ab­ra­xas? Was war ei­ne sol­che Tem­pel­ver­eh­rung an­de­res als ri­tua­li­sier­te Pro­sti­tu­ti­on? Pro­sti­tu­ti­on, der äl­tes­te Be­ruf der Frau. Er wür­de so lan­ge exis­tie­ren, so­lan­ge Män­ner Geld und einen Trieb hat­ten und die Frau bei­des nicht. Wel­che Iro­nie, daß er mit der Re­li­gi­on ver­bun­den wur­de. Doch die Re­li­gi­on heg­te ei­ne eben­so große Af­fi­ni­tät zu den Las­tern der Men­schen wie vie­le an­de­re In­sti­tu­tio­nen.

Die Dro­ge in­ten­si­vier­te al­les und ver­schaff­te ihm ei­ne phä­no­me­na­le vi­su­el­le, au­di­ti­ve und tak­ti­le Er­fah­rung. Der Dra­che der Ver­su­chung griff ihn an, wur­de aber auf­ge­bla­sen wie ein Was­ser­stoff­bal­lon, bis er mit harm­lo­sem Flämm­chen ver­brann­te. The­ri­on wür­de sa­gen, er ha­be sich zu To­de ge­furzt. Dann wie­der die Pries­te­rin von I A O, die ihm ih­ren lieb­li­chen Kör­per öff­ne­te und schrie: „Ich be­te dich an, I A O!“, aber es er­reg­te ihn nicht mehr. Die Far­ben des Ta­rot: Sym­bo­le flo­gen um ihn her wie die Kar­ten in Ali­ce im Wun­der­land: Männ­li­che Stä­be und Schwer­ter durch­bohr­ten weib­li­che Kel­che und Schei­ben. Rasch, in­ner­halb we­ni­ger Se­kun­den, schaff­te er sich die­se stö­ren­den Ge­dan­ken vom Leib. All­mäh­lich ori­en­tier­te er sich an sei­nem Ziel: sei­ner ei­ge­nen wah­ren Na­tur.

Jetzt konn­te er in der Fer­ne das ers­te Glü­hen wahr­neh­men – die Strah­lung des Grals. Wie bei An­bruch der Däm­me­rung ver­stärk­te sich die­ses wun­der­ba­re Licht, wäh­rend er dar­auf zu­schoß. Die stö­ren­den, über­flüs­si­gen Ge­dan­ken ver­schwan­den und leuch­te­ten in Pas­tell­tö­nen vor der strah­len­den Son­nen­schei­be; er flog an ih­nen vor­bei und ent­hüll­te den Weg nach Nir­wa­na.

End­lich tauch­te der glü­hen­de Rand auf, groß­ar­ti­ger als je­de Vi­si­on, die er sich zu­vor auch nur vor­ge­stellt hat­te. Wei­ter flog er, be­kam mehr zu Ge­sicht: die pracht­vol­le Run­dung des hei­li­gen Grals, der per­fekt vom Him­mel hing.

Nun sah er, daß der Kelch sel­ber glüh­te, so wie da­mals, als er an den er­staun­ten Rit­tern von Kö­nig Ar­thurs Ta­fel­run­de vor­bei­ge­schwebt war. Dies war ein schwa­ches Glim­mern, ver­gli­chen mit dem ur­sprüng­li­chen Fun­keln. Die­ser Schein ent­stand durch den In­halt – die tief ver­schlei­er­te Ge­stalt, de­ren Licht sich zwi­schen Bal­da­chin und Rand er­goß. Die Ge­stalt sei­ner Es­senz!

Neu­gie­rig be­weg­te er sich dar­auf zu, nun ge­wiß, daß er die Pracht, die sei­ne See­le war, er­bli­cken wür­de. Wel­che Ge­stalt wür­de sie an­neh­men, je­ne gött­li­che Of­fen­ba­rung? Ein rie­si­ger, ed­ler, leuch­ten­der Kris­tall mit My­ria­den von Fa­cet­ten, ei­ne my­ria­den­e­cki­ge Re­flek­ti­on? Ei­ne gott­ähn­li­che Strah­lung, die das sterb­li­che Au­ge blen­den wür­de? Ei­ne un­be­rühr­ba­re Au­ra rei­nen Wun­ders?

Er ge­lang­te zu dem rie­si­gen Ge­fäß, je­nem Kelch Je­su, der Quint­es­senz von Am­bi­ti­on, und späh­te un­ter die strah­len­de Ab­de­ckung. Er spür­te einen schreck­li­chen, un­an­ge­mes­se­nen Ge­ruch, doch er igno­rier­te ihn. Hier schließ­lich lag die Wahr­heit, die See­le!

Es war ein rie­si­ger, halb ge­roll­ter, halb zer­brö­seln­der, damp­fen­der mensch­li­cher Kot­hau­fen.