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Präzession
Wenn man sich so die Standardversionen der Bibel durchliest, könnte man sich wundern über die Lücke von etwa zwei-, dreihundert Jahren zwischen den Aufzeichnungen des Alten und des Neuen Testamentes. Haben die alten Gelehrten, die Historiker, Philosophen und Propheten einfach eine Zeitlang zu denken aufgehört? Wie sich herausstellte, war dies nicht der Fall. Das Material war aufgezeichnet und den Gelehrten zu Jesu Zeiten bekannt, vielleicht sogar Jesus selber, doch es wurde nicht der Bibel hinzugefügt. Innerhalb der folgenden Jahrtausende versank vieles in alten Bibliotheken und wurde weitgehend ignoriert. Dann aber, mit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer im Jahre 1947, veränderte sich das Bild, denn diese Dokumente, die aus der Zeit Jesu stammten, enthielten vieles von diesem Material und bestätigten es. Nun konnte man die Geschichte der fehlenden Jahre ergänzen:
Nachdem Alexander der Große die Welt erobert hatte, wurden viele Juden aus Israel über die Länder des Mittelmeerraumes verstreut. Das war die Diaspora – weder die erste noch die letzte jüdische Vertreibung, denn eine ganze Reihe von Eroberern benutzten diese Methode, um dieses widerspenstige Volk in den Griff zu bekommen. Das war insofern bedeutsam, als gleichzeitig die Zeit um etwa 300 A. D. das Einschnittsdatum für die Bibel darstellte. Viele vertriebene Juden sprachen nun eher Griechisch als Hebräisch, und in Alexandria gab es sogar mehr Juden als in Jerusalem. Doch für die Bibel, so wie sie zu dem Zeitpunkt aussah, wurden nur genau definierte, hebräische Texte akzeptiert. So wurde sowohl von den Christen als auch von den Juden viel Material ausgeschlossen, wenn man es auch allgemein als den Texten des Buches angemessen empfand. Die vollständige Sammlung besteht aus neununddreißig Büchern des Alten Testaments, vierzehn Büchern der Apokryphe (was, verborgen’ bedeutet), und siebenundzwanzig Büchern des Neuen Testamentes. So ist die Aufzeichnung lückenlos.
Die Kutsche raste über die Ebene. Bruder Paul versuchte, sich festzuhalten, aber seine Hände hielten den monströsen Kelch. Es gab keine Zügel.
Er stemmte die Beine gegen die metallenen Stützen des Baldachins über der Kutsche und bemerkte, daß er eine Rüstung trug. Sein Visier stand offen, und die Armschienen waren biegsam. Es war eine gute Rüstung. Für den Kampf. Die Kutsche war solide und gut gebaut; es bestand keine Gefahr, daß sie trotz der rasenden Schnelligkeit auseinanderbrach. Die Pferde …
Pferde? Nein, das waren vier unglaubliche geharnischte Ungeheuer. Eines hatte den Kopf eines Bullen, das andere den eines Adlers, das dritte einen Menschenkopf und das vierte ein Löwenhaupt. Die vier Symbole der vier Elemente! Doch die Körper paßten nicht dazu. Der Menschenkopf hatte Adlerklauen, der Löwe Adlerflügel, Frauenbrüste und Bullenfüße. Alle Bestandteile der Sphinx, doch keines von ihnen war die Sphinx.
„Was tue ich hier?“ rief Bruder Paul verwirrt.
Der Menschenkopf drehte sich zu ihm um und zeigte, umgeben von einem ägyptischen Kopfputz, das Gesicht Therions. „Du lenkst die Kutsche!“ rief das Ungeheuer. „Ich führe dich durch das Tarot, wie du es gewollt hast.“
„Aber doch nicht …“ Bruder Paul brach ab. Was hatte er denn gewollt? Er hatte um Führung gebeten, und die Kutsche war die nächste Karte. Arkane Sieben. Das Symbol des Sieges oder der Räder des Hesekiel, gezogen von zwei Sphinxen, die die Sinne repräsentieren: teils Löwe, teils Frau. Die okkulten Kräften mußten so beherrscht werden, daß sie die Kutsche des Menschen antrieben. Ohne diese Kontrolle konnte er seinen Weg aus diesem Morast nicht mehr herausfinden, in den ihn die Animationen getrieben hatten, ganz zu schweigen von dem Vorhaben, Gott aus dem Chaos zu trennen.
Warum aber waren es vier Zugtiere statt nur zwei? Weil dies nicht die Bruder Paul bekannte Karte war, sondern die Therions.
Kein Wunder, daß er Schwierigkeiten hatte! „Gib mir die andere Variante!“ rief Bruder Paul.
Die zusammengesetzten Wesen veränderten sich und verschmolzen zu zwei weißen Pferden. Die Kutsche nahm ein mittelalterliches Aussehen an. „Nein, die auch nicht!“ Weitere Veränderungen, und es erschienen zwei Sphinxe, die eine schwarz, die andere weiß. „Ja, genau die!“ rief er, und das Bild verfestigte sich.
Die weiße Sphinx drehte den Kopf zu ihm um. „Nett, dich wiederzusehen“, sagte sie.
„Licht!“ rief Bruder Paul wiedererkennend. „Ich meine, den Apologeten für das Tarot der Bruderschaft vom Licht! Ich dachte, dies sei das Waite-Spiel?“
Sie kräuselte die kecke Nase. „Ich hatte gehofft, du hättest diese unwürdige Erfindung aufgegeben?“
„Jetzt hörst du dich wie Therion an.“
Sie schnaubte elegant. „Warum zwischen zwei Irrwegen wählen, wenn die Wahrheit auf der Hand liegt? Sei du selber der Eroberer; nimm das Schwert von Zain, um alle Hindernisse zu überwinden und die Herrschaft des Geistes zu erringen.“
Bruder Paul hakte nach. „Du nennst die Arkane Sieben ‚Der Eroberer’“?
„Ja, Arkane Sieben. Das ist durch die Bibel historisch gerechtfertigt.“
Oh, oh. Bruder Paul wollte sich nicht in eine weitere technische Diskussion verwickeln lassen, aber seine Neugier war angestachelt. „Die Bibel?“
„Joseph überwand, als er nach Ägypten verkauft worden war, alle Hindernisse und gelangte zu großer Macht, wie es durch das Schwert angedeutet wird.“ Bruder Paul merkte, daß er ein gebogenes Schwert in der Rechten hielt, keinen Kelch mehr. Er legte das Schwert ab, in der Furcht, er würde unbeabsichtigt den besternten Baldachin durchbohren. Er dachte daran, daß das hebräische Alphabet für das Lichtbruder-Tarot anders war. In diesem Spiel war Arkane Sieben Zain, das Schwert. Daher hatte die Dame mit ihren Definitionen recht. „Er wurde durch Potiphars Weib in Versuchung geführt, in Arkane Sechs, aber er widerstand dieser Versuchung. Er interpretierte den Traum des Pharao über die sieben fetten Rinder und die sieben mageren als die sieben guten Jahre und die sieben schlechten Jahre. Und der Pharao sagte zu ihm: ‚Siehe, ich mache dich zum Herrn über Ägypten’ und ließ ihn in einer Kutsche fahren und machte ihn zum Herrscher über …“
„Scheiße!“ schrie die schwarze Sphinx.
Die weiße Sphinx brach schockiert ab.
„Oh, Therion“, meinte Bruder Paul in dem Versuch, vernünftig zu bleiben, wenn ihn auch der Zwischenruf sehr aufgeregt hatte. „Sie hat schließlich deine Vorstellung auch nicht unterbrochen.“
„Ich habe auch nicht einen solchen Unsinn gequatscht! Frauen sind absolut hirnlos; wenn sie keinen Schoß hätten, wären sie absolut nutzlos.“
Der Mann war offensichtlich ein Verächter des schönen Geschlechts. Was war nur mit ihm los? In anderer Hinsicht schien er recht klug und offen zu sein. „Aber“, erinnerte ihn Bruder Paul, „unterbrechen solltest du niemanden.“
Die Sphinx wandte den Kopf der schwarzen Kollegin zu, dann den ganzen Körper. Die Kutsche schwankte, denn beide galoppierten in aufregender Geschwindigkeit immer weiter. „Nein, ich möchte seine Einwände hören. Will er etwa die Glaubwürdigkeit der Bibel in Frage stellen?“
„Die Bibel ist wohl kaum ein objektiver Bericht, und was sie enthält, ist sowohl unvollständig als auch gereinigt. Natürlich haben die Hebräer und ihr intoleranter, eifersüchtiger Gott die Aufzeichnungen gefärbt, damit sie ihnen in den Kram paßten. Was glaubst du, haben die armen zivilisierten Ägypter von dem barbarischen Eroberer gehalten?“
„Sie haben die Hebräer begrüßt! Pharao hat Joseph erhoben, ihm seinen Ring angelegt, eine Goldkette um seinen Hals gelegt …“
„Scheiße!“ wiederholte Therion. Er schien es zu genießen, in Gegenwart der Dame diesen unfeinen Ausdruck auszusprechen. „Pharao hat nichts aus der Hand gegeben! Die hebräischen Stammesbrüder und ihre Kohorten kamen einfach herein, eine plündernde Horde aus der Wüste, haben die zivilisierten Städte überrannt, Häuser in Brand gesteckt, Tempel geplündert und Denkmäler zerstört. Es waren die ruchlosen Hyksos, diese sogenannten Schäferkönige, die die ägyptische Kultur plünderten wie Schweine eine Konditorei, zweihundert Jahre, ehe ihre barbarische Mißherrschaft und Ausplünderei sie bis zu dem Punkt schwächte, daß sich die Ägypter organisieren und sie vertreiben konnten. Daher nennst du dieses Atu ‚Der Eroberer’. Joseph war ein vom Pöbel gezeugter Tyrann, ein Dieb und Mörder. Das bißchen Zivilisation, das er sich äußerlich zugelegt hatte, war ägyptisch, ebenso wie die Qabalah …“
„Kabbala?“ fragte Licht.
„Qabalah. Gestohlen aus den ägyptischen Lehren, ebenso wie der Goldschmuck aus den ägyptischen Häusern gestohlen wurde. Der gleiche Schmuck, den sie einschmolzen, um das Goldene Kalb daraus zu formen, eine bessere Gottheit als sie verdienten, ehe sie sich nach dem Rat Moses auf den blutrünstigen, ehrgeizigen, neureichen Gott einigten, dessen Namen auszusprechen sie sich schämten.“
„Das brauche ich mir wirklich nicht anzuhören!“ rief Licht aus. Das Bild begann sich zu verändern.
„Warte!“ rief Bruder Paul und erlitt eine doppelte Offenbarung. Diese unnachgiebigen Angriffe auf die judaisch-christliche Religion – dieses Thema kannte er von irgendwo.
„Waite? Das ist aber genug!“ schnappte die weiße Sphinx. Sie sprang zur Seite und brachte die Kutsche gefährlich ins Schlingern.
Warum hatte er nur Therion als Führer gewählt anstatt Licht? Um wie vieles besser er doch mit ihr harmonierte! Und nun, als er sie fast zurückgewonnen hatte, ging sie wieder fort. Die Kutsche schwankte gefährlich, drohte umzustürzen, ein Opfer der religiösen Diskussion. Die Sphinxe verwandelten sich in zwei riesige Pferde, wiederum schwarz und weiß, und dann zerlegten sie sich in die vielteiligen Ungeheuer von Therions Thoth Atu. Wiederum umklammerte Bruder Paul den riesigen Kelch, den er, wie ihm vage bewußt war, um keinen Preis fallen lassen durfte.
„Sieben!“ rief er. „Ich decke die Kelch-Sieben auf.“
Der Kelch in seinen Händen, der ihm diese Eingebung in letzter Not gegeben hatte, vergrößerte sich. Er bestand aus reinem Amethyst und war im Innern blutrot. Es war der Heilige Gral.
Der Kelch vergrößerte sich so, daß er ihn umgab; seine Strahlen leuchteten wie bei einem Sonnenaufgang. Bruder Paul spürte, wie er hineinfiel …
Und es spritzte auf, er schwamm in einem Meer aus Blut. Dicke, klebrige, grünliche Flüssigkeit – das Blut eines fremden Wesens, vielleicht aus der Sphäre Antares’, aber nicht von einem Menschen. Dicke, zusammengeklumpte Tropfen rannen herab und bildeten in dem Meer kleine Wellen. Die Tropfen fielen aus anderen Kelchen: verzierten blauen Gefäßen, sechs an der Zahl, die in eine Metallaufhängung eingelassen waren, die sich über einem größeren Kelch erhob, welche auf der Oberfläche dieses grauenhaften Meeres stand. Aus jedem Kelch floß die grüne Flüssigkeit über, insbesondere aus dem großen. Auf jedem Kelch schwammen umgedrehte Blumen, Tigerlilien oder Lotus, und aus ihnen schien der Schleim zu stammen. Der Verwesungsgeruch war entsetzlich.
„So wird der Heilige Gral durch Ausschweifung profanisiert“, sagte Therions Stimme. Sie schien aus dem größten Kelch zu kommen, dem siebten, als befinde sich der Mann in dieser widerlichen Flüssigkeit.
„Ich interessiere mich nicht für Ausschweifung“, protestierte Bruder Paul keuchend. Seine Rüstung zog ihn herab. Er versuchte sich gegen das Wasser zu wehren, doch der Gestank erschwerte ihm das Atmen. „Ich habe die Kelch-Sieben aufgedeckt.“
„Das hast du in der Tat! Sieh doch, wie die heiligen Mysterien der Natur zu den obszönen und schamlosen Geheimnissen eines schuldigen Bewußtseins werden.“
Bruder Paul öffnete erneut den Mund, um zu protestieren, doch dann plötzlich erkannte er die Bedeutung des Gestells, in dem die Kelche hingen. Es war ein zusammengerolltes, einander überlappendes doppeltes Triangel, zu den stilisierten Umrissen des weiblichen Reproduktionsorgans geformt. Die Gebärmutter zog sich bis zur Vagina, und der größte Kelch stellte die Vulva dar, die mit grünlicher Flüssigkeit aus den Geschlechtsorganen der Pflanze überfloß. Blumen waren natürlich Kopulationsorgane, attraktiv genug, daß andere Spezies wie Bienen gern den Pflanzen bei der Reproduktion behilflich waren. Wie viele prüde Frauen waren sich der vollen Bedeutung der Geste bewußt, wenn sie ihre Nasen in Blüten steckten, um den anregenden Duft zu spüren? Die Natur lacht über die Vertuschungen der menschlichen Schwächen.
Doch was genug war, war genug. Bruder Paul hatte kein Interesse, weiterhin in diesen dicklichen Flüssigkeiten zu baden. „Die Kelch-Sieben von Waite!“ schrie er.
„Oh, nun gut“, sagte Therion mürrisch. „Das ist einer von Arthwaites besser gelungenen Versuchen, wenn er auch die richtige Bedeutung vollständig verfehlt.“
Das Meer kochte auf und entließ dichte Dampfwolken. Aus der Ferne klang Therions Stimme. „Das wird dir leid tun!“, und es echote: „… leid tun … leid tun …“
Das Meer verdunstete zu grünlichen Wolken und ließ Bruder Paul auf einem klebrigen, grünlichen Film stehen, der zu einer Wiese wurde. Die Kelche behielten ihre Stellung bei, nahmen jedoch eine goldgelbe Farbe an. Die Blumen fielen herein und verwandelten sich in verschiedene Objekte, die über den Rand hinausragten. Schließlich stand Paul vor den sieben Kelchen, die auf einer grauen Wolkenbank thronten.
„Da ist es“, sagte Therion, der nun neben ihm stand. „Verwirrende Bilder, nicht wahr?“
„Bist du immer noch da? Ich dachte, Waite würde …“
„Du hast mich doch als Führer gewählt, oder? In Arkane Sex war das … ich meine natürlich Sechs. Du kannst dir nun jede Karte ansehen, die du willst, aber ich werde sie interpretieren.“
Diese Wahl war also allgemeingültig gewesen, zumindest für die Dauer seines Aufenthaltes. Bruder Paul befürchtete, seine Wahl zu sorglos getroffen zu haben. Nun, er würde es durchstehen und beim nächsten Mal besser vorbereitet sein. Dieses Mal schien es, als habe er bei der Wahl zwischen Tugend und Laster das Laster gewählt. Immerhin war er mit diesem Bild einigermaßen vertraut, wenn auch der Heilige Orden der Vision die Kleinen Arkanen nicht sonderlich beachtete.
Zunächst einmal mußte er sich orientieren. Warum genau war er hier? Er hatte aus der umstürzenden Kutsche heraus gewollt, gewiß, ebenso aus der Schleimsuppe von Therions Kelch-Sieben, aber was war der positive Grund?
Antwort: Er war hier, um die letztendlichen Verzweigungen dieser Erscheinungen zu ergründen. Sein kurzfristiges Ziel, aus dieser speziellen Sequenz herauszukommen, war gelaufen; wieviel Mühe er sich auch gab, er schien sich nur tiefer hineinzubohren, wie ein Mensch in tückischem Treibsand seine Situation nur verschlechtert, indem er zappelt. (Wenn er auch immer gedacht hatte, da Sand dichter als Wasser war, könne ein Mann in Treibsand auch richtig treiben. Daher würde er sich in keiner Gefahr befinden, wenn er sich einfach entspannte. Konnte er hier, in der Animation, treiben, wenn er sich einfach fallen ließ?)
Wenn sich Gott vor ihm manifestierte, wie er es vor anderen getan hatte – wessen Gott würde es sein? Die Befragung des Hierophanten hatte nichts genützt; Bruder Paul mußte zunächst die spezifische Natur der Manifestationen begreifen. Wieder einmal dachte er zurück und hoffte auf eine neue Einsicht. Waren die Visionen reine Produkte seiner Gedanken? Oder lag hinter ihnen eine objektive Realität? Das blieb eine sehr schwierige Frage, denn wie konnte er den Wert des Materials, das seiner eigenen Erfahrung entstammte, beurteilen? Es war wie der Versuch, einen Test zu entwickeln, ob eine Person wach war oder träumte: Er konnte sich kneifen – und träumen, daß er gekniffen wurde. Wenn er jedes Detail einer Animation bestimmen konnte, würde jeweils dieses Detail authentisch sein; wenn er einer Fehlinformation unterlag, wie konnte er das Bild korrigieren? Doch nun erschien es ihm als gewiß, daß ein Einfluß anderer Gedanken bestand, denn Bruder Paul hatte zuvor nicht alle Details der Tarotvarianten gekannt, die er in dieser Erscheinung kennengelernt hatte. Einige der Vorstellungen, die diese Theriongestalt ihm präsentiert hatte, waren ihm vollständig neu, doch auch dies konnten wiederum seine eigenen unterdrückten Anschauungen sein, die zum Vorschein kamen, und das war um so schockierender, als er ihre Existenz zuvor immer verneint hatte. Das schwerste für einen Menschen ist wohl, die häßlichen Bestandteile seines Ichs zu akzeptieren.
Daher sollte er diesen Dingen gegenübertreten. Vielleicht war es das Beste, sich hineinzustürzen in diese Vision und die Antwort zu ergreifen, ehe sie verschwand. Sicher war sie in einem dieser aufgestellten Kelche enthalten. Jedenfalls schuldete er diesen Blick sich selbst und seiner Mission.
Er untersuchte die Kelche eingehender. Einer enthielt ein Miniaturschloß; ein anderer floß über mit Edelsteinen, ein anderer enthielt einen Kranz, einen Drachen, einen Frauenkopf, eine Schlange und eine verhüllte Gestalt, allesamt Symbole, deren Bedeutung er während seiner Studien beim Heiligen Orden der Vision erfahren hatte. Aber niemals zuvor hatte er sie so faßbar wie hier vorgefunden, und er wußte nun auch, daß sich diese belebten Symbole nicht passiv zu einer konventionellen Analyse hergeben würden.
Das Schloß hatte Ähnlichkeit mit dem, das er auf vorherigen Karten schon gesehen hatte, und war vermutlich das gleiche Gebäude. Der Symbolismus im Tarotspiel neigte zur Konsistenz; ein Fluß war immer der Strom des Unbewußten, der in dem schleppenden, fließenden Gewand der Hohepriesterin entsprang, und der Kelch war immer ein Gefäß der Emotion oder Religion. Das Schloß stellte für ihn ein Stichwort dar, eine ursprüngliche Antwort. Wenn er dort eintrat?
Nun, er konnte es versuchen. Er neigte dazu, zuviel Zeit beim Nachdenken zu verbringen, anstatt zu handeln.
Und das Schloß vergrößerte sich, brach aus dem Kelch heraus, wurde zu einem prachtvollen Gebäude mit wehenden Fahnen auf hohen Türmen und lag auf der Spitze eines steilen Berges. Wunderschön!
Bruder Paul machte sich auf den Weg. Therion begleitete ihn und summte eine Melodie, als seien ihm die Vorgänge völlig gleichgültig.
„Das Lied habe ich schon einmal gehört“, sagte Bruder Paul, entschlossen, den Mann nicht so leicht aus der Verantwortung zu entlassen.
„Das ‚Rätsellied’“, antwortete Therion auch prompt. „Eine der wahrhaft feinen, unterschwellig sexuellen Ausdrucksformen des Volkes.“
„Ja, genau. ‚Ich gab meiner Liebsten eine Kirsche …’ Aber warum sexuell? Das ist ein eindeutiges Liebeslied.“
„Haha. Die Kirsche war ihre Jungfernhaut, die er durchbohrt hat. Du hast ein zu klösterliches Leben geführt und niemals richtige Umgangssprache gelernt.“
„Oh? Er gab ihr auch ein Hühnchen ohne Knochen, einen Ring ohne Ende und ein Baby, das nicht weinte.“
„Das knochenlose Hühnchen war sein knochenloser, nichtsdestoweniger aber steifer Penis, der sich durch ihre ringförmige Öffnung bohrte und in entsprechender Zeit das Baby schuf – das natürlich zu dem Zeitpunkt noch nicht weinte.“
So konnte man es auch sehen. „Ich hätte beim Strom des Unbewußten bleiben sollen“, murmelte Bruder Paul.
„Oh, ja. Das Wasser, von dem Arthwaite sagt, es fließe durch alle Tarotkarten und beginne beim Gewand des Gauklers. Was für ein Unsinn!“
Jetzt ging es schon wieder los! „Ich habe es immer für eine wunderschöne Vorstellung gehalten. Wie kommst du dazu, es als äh … Unsinn zu betrachten?“
„Auf mehr als nur eine Weise, Bruder! Es ist insofern Unsinn, als es sich um überflüssigen Nonsens handelt; neben dem Unbewußten symbolisiert Wasser vieles, und es ist lächerlich anzunehmen, das es nur für eine Sache steht. Aber direkter gesagt, dieser Euphemismus, mit dem er seine Anhänger überschüttet … glaubst du wirklich, es ist ihr Kleid, dem diese Flüssigkeit entspringt?“
„Nun, das ist vielleicht künstlerische Freiheit, aber …“
„Ihr Gewand bedeckt doch nur die richtige, unaussprechliche Quelle, die ihr Körper ist. Eine Frau ist ein Wesen der Flüssigkeiten, wie ich es in meiner Kelch-Sieben versucht habe zu verdeutlichen. Milch aus den Titten und Blut aus dem …“
„Milch und Blut sind sich chemisch gesehen ähnlich“, sagte Bruder Paul rasch. „Übrigens ist Chlorophyll, der Schlüssel zum Stoffwechsel der Pflanzen, auch überraschend ähnlich …“
„Fließt aus ihren Öffnungen, badet das gesamte Tarot in ihren heißen, suppigen …“
„Laß uns das Thema wechseln“, meinte Bruder Paul, der auf eine weitere Fortsetzung nicht neugierig war. Was für eine Gynophobie!
„Komme schon.“
Ein Drache erschien. Bruder Paul wirbelte herum und griff zum Schwert, das er am Gürtel entdeckte. „Das ist der Drache der Versuchung!“ rief er aus. „Er gehört zu einem anderen Kelch. Den habe ich nicht gerufen!“
„Das mußt du aber gewesen sein, Paul“, sagte Therion ohne Beunruhigung. „Denn diese feige Tat stammt nicht von mir.“
Ha! „Ich habe das Schloß herbeigerufen, und das war der einzige Kelch, den ich geleert habe.“
Therion spottete: „Du weißt das; ich weiß das. Aber weiß er das?“
Das war nicht komisch. Doch der große rote Drache der Versuchung raste schon über die Ebene. Keine Zeit mehr zu diskutieren, wer für ihn verantwortlich war. Er mußte ihn aufhalten. „Die Ritter von der Tafelrunde waren immerhin beritten“, murmelte Bruder Paul. „Eine Lanze und ein geharnischtes Pferd.“
„Die Versuchung mußt du allein bekämpfen“, erinnerte ihn Therion. „Das ist schon immer so gewesen.“
So schien es auch. Therion trug keine Rüstung und auch keine Waffe; offensichtlich konnte er dem Drachen nicht gegenübertreten, und er unternahm auch keinen Versuch dazu. Bruder Paul trug noch seine Rüstung aus der Kutsche, wenn auch die Kutsche selbst verloren war. Alles hing also an ihm.
Der Drache hatte einen riesigen gezackten Kopf, aus dem eine orangefarbene Flamme zuckte. Nein, das war nur die gezähnte Zunge. Die beiden Vorderbeine ragten unmittelbar hinter dem Kopf auf, fast wie Ohren, und dem Hals entsprossen zwei kleine Flügel wie Federn oder Haare. Der Rest des Ungeheuers lief wurmähnlich geringelt aus. Nur das Vorderteil vermittelte eine bedrohliche Wirkung; wenn sich dieses Wesen umdrehte, würde es harmlos aussehen. Was natürlich dem Charakter der Versuchung wie auch jeder anderen Bedrohung entsprach.
Der Drache zog sich allerdings nicht zurück. Er trollte direkt auf Bruder Paul zu; der schlangenartige Körper tanzte wie ein Springseil hinter dem schrecklichen Kopf her.
Bruder Paul trat ihm entgegen; das Schwert glänzte wie Excalibur. Doch er fragte sich: Eigentlich hielt er sich für einen friedliebenden Menschen und keinen Krieger; warum sollte er ein Lebewesen mit dem brutalen Schwert angreifen? Doch dies war kein lebendiges Wesen, sondern ein herbeigezaubertes Symbol. Aber die Frage lenkte ihn ab.
Der Drache der Versuchung kam bis auf zwei Meter Entfernung herbei. Verächtlich blickte er Bruder Paul an. Er hatte große gelbe Augen, und sein Blick war recht eindrucksvoll. Die rote Schnauze war mit großen, haarigen grünblauen Warzen bedeckt, und aus der Stirn ragten verknöcherte graue Hörner. Die Stoßzähne waren gebogen und schleimbedeckt. Bruder Paul fragte sich abwesend, ob das Wesen wohl in einem von Therions schleimigen Kelchen herumgenascht hatte, ehe es hierherkam.
Die gezähnte Zunge zuckte heraus und stieß wie ein Pfeil nach Bruder Paul, hielt aber kurz vor dem Ziel inne. Langsam flappten die kleinen Flügel vor und zurück, und zwischen den gefederten Rippen kräuselte sich die ledrige Haut. Bruder Paul konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Häßlicheres gesehen zu haben.
„Was’n los?“ fragte der Drache. „Ein Hühnchen?“
Bruder Paul spürte Wut in sich aufsteigen. Was für ein Recht hatte dieses widerliche Wesen, ihm Spitznamen zu geben? Er umklammerte sein Schwert und trat einen Schritt vor.
Und blieb stehen. Das war die Versuchung – der Trieb, aus nichtigem Grund Gewalt anzuwenden. Das Monster hatte ihn also ein Hühnchen genannt; aber warum sollte er auf einen so alten Scherz so reagieren? Das war die niederste Ebene sozialer Interaktion und Gewalt die Zuflucht der Unfähigen. „Ich möchte bloß das Schloß besuchen, denn ich vermute, die von mir benötigte Information liegt dort drinnen. Wenn du bitte freundlich zur Seite treten würdest. Denn zwischen uns braucht es keinen Streit zu geben.“
„Die Versuchung tritt niemals beiseite!“ schnaubte die Kreatur. Sie konnte sehr gut zur gleichen Zeit sprechen und schnauben. „Zuerst mußt du mich besiegen, ehe du auf deiner Mission fortfahren kannst, du Hühnchen!“
„Aber ich will dich nicht umbringen. Ich werde zufrieden sein, an dir vorbeizugehen.“
„Du kannst mich doch gar nicht umbringen! Ich bin von Ewigkeit. Du kannst auch nicht an mir vorbeigehen. Eigentlich kannst du auch gar nicht gegen mich kämpfen; du bist von Natur aus ein Feigling. Warum verläßt du nicht die Szene anstatt hier die Luft zu verpesten?“
Als hätte er das nicht schon versucht! „Ich würde gern, wenn ich nicht meine Mission hätte. Danach aber werde ich gehen. Nun geh bitte beiseite.“ Bruder Paul schritt vorwärts.
Der Drache blieb stehen. „Man kann die Versuchung nicht bluffen!“ knurrte er.
Bruder Paul weigerte sich, ohne weitere Provokation mit dem Schwert zuzuschlagen. Wenn er auch wußte, der Drache war bloß ein Symbol, so war doch die Ähnlichkeit zu einem lebendigen, intelligenten (wenn auch häßlichen) Wesen zu stark.
Er schritt zur Seite – und wieder stand der Drache vor ihm. Wunderbarerweise war er gesprungen, um ihm den Weg zu versperren, Paul wechselte die Richtung – und wieder versperrte er ihm den Weg.
So lief das also. Das Wesen versuchte, ihn zum Zuschlagen zu bewegen. Und wenn er den ersten Streich tat, war er der Versuchung erlegen.
Dieses Mal ging Bruder Paul direkt auf den Drachen zu. Und sprang vor der warzigen Schnauze fort.
Therion war ein wenig abseits stehengeblieben und beobachtete mit morbidem Interesse die Szene. „Er hat mich nicht gebissen“, meinte Bruder Paul überrascht.
„Die Versuchung greift nicht physisch an“, erklärte Therion. „Sie bietet lediglich eine reizvollere Alternative an. Aber sie muß besiegt werden.“
Bruder Paul konnte nichts Reizvolles an dem Drachen entdecken. Er versuchte wieder, ihn zu umgehen, und scheiterte. Nun wurde er schon wütender und verspürte den Drang, dieses Ding einfach aus dem Weg zu hauen, doch er unterdrückte diesen Impuls. Statt dessen steckte er das Schwert zurück und versuchte, mit den Händen die Versuchung aus dem Weg zu räumen. Doch der Drache war zu schwer und lang, als daß es ihn hätte tragen können. „Mit halbherzigen Maßnahmen kannst du mich nicht besiegen“, sagte er mit einem phänomenalen, dreißig Zentimeter breiten Grinsen.
Bruder Paul geriet ins Schwitzen. Offensichtlich konnte ihn das Ding wirklich aufhalten, wenn er sich weigerte, mit ihm zu kämpfen. Doch er zögerte immer noch. Er wandte sich an Therion. „Du bist mein Führer. Was empfiehlst du?“
„Du mußt einen gemeinsamen Boden finden, auf dem du ihm begegnest. Die Versuchung nimmt vielerlei Gestalt an. Vielleicht paßt dir eine davon.“
Bruder Paul dachte darüber nach. Vielerlei Gestalt – konnte man das wörtlich nehmen? Körperlich? „Ich möchte dir nicht mit dem Schwert kommen, Biest“, sagte Bruder Paul. „Aber du mußt aus dem Weg. Gibt es kein weniger zerstörerisches Mittel, den Gegenstand zu erörtern?“
„Ich treffe dich an der Front, du Hühnchen“, spottete der Drache. Ein Teil des Grinsens blieb, weil es ihm nicht gelungen war, es aus den letzten Maulwinkeln zu entfernen.
„Und mit bloßer Hand? Können wir uns in menschlicher Gestalt begegnen?“
Der Drache verschwand. An seiner Stelle stand ein Mann, riesig und muskulös, mit gelben Augen, rotem Gesicht, blauen Hörnern und einer Warzennase. Und jenem dauerhaften Grinsen. „Was sagst du nun, du Feigling?“ fragte der Dämon.
„Ich sage, wenn Jakob mit dem Engel des Herrn kämpfen konnte, dann kann auch ich mit der Versuchung kämpfen“, entgegnete Bruder Paul. Nun fühlte er sich besser. Das war eine Judosituation, und darin kannte er sich aus. Er konnte seinen Gegner in die Knie zwingen, ohne ihn zu verletzen.
„Ich kenne keinen Jakob.“
„,Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, so daß hinüberkam, was er hatte, und blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.’ Dies stammt aus der Bibel: Das Erste Buch Mose, Kapitel 32.“ Bruder Paul hielt inne in der Erwartung, der Drache würde über die Bibel spotten, wurde jedoch enttäuscht. Aber natürlich war dies nicht ein Dämon aus den infernalischen Regionen, sondern jener, der innerhalb eines jeden Menschen wohnt; er würde mit dem Heiligen wie auch dem Unheiligen gut vertraut sein. Es mochte höchstens sein, daß er diese besondere Geschichte nicht kannte.
„Oh, der Jakob!“ rief der Dämon spöttisch. „Das war ein ganz schön schwächlicher Engel, der nicht einmal einen Sterblichen schlagen konnte. Er hätte sogar verloren, wenn er nicht einen gemeinen Griff angewandt hätte.“
Bruder Paul erinnerte sich. „,Und als er sah, daß er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt.’ Das klingt aber eher nach einem Beinschluß als einem unerlaubten Schlag – Hebelwirkung auf den Schenkel, um den Hüftwurf auszuführen.“
„Das, Gelenk seiner Hüfte’ ist ein Euphemismus für die Hoden“, beharrte der Dämon. „Der Engel hat Jakob in die Eier getreten.“
„Vielleicht“, gab Bruder Paul zu. „Darüber kann man sich streiten. Doch weiter unten wird es erwähnt als ‚Muskelstück auf dem Gelenk der Hüfte’, und er hat auch eine respektable Familie gezeugt.“
„Nicht, nachdem er mit dem Engel gerungen hat.“
Bruder Paul breitete die Hände aus. Er hatte diesen Kampf mit dem Dämon für physisch gehalten, doch er war froh, sich auf die biblische Arena zurückziehen zu können. In den vergangenen Jahren hatte er viel in der Bibel gelesen und war sowohl von der Geschichte als auch der Religion fasziniert. Auch reizte ihn die Kontinuität der Bibel in den Apokryphen und Pseudoepigraphia. „Jedenfalls hat ihn der Engel nicht geschlagen, und er hat von ihm einen Segen, den Namen Israel erzwungen, was heißt ‚Prinz Gottes’, und hat den Stamm Israel gegründet.“
„Und seine Tochter Dina wurde vergewaltigt“, sagte der Dämon mit fröhlichem Lächeln.
Dieses Wesen erinnerte Bruder Paul sehr stark an Therion. Er blickte sich um, aber Therion stand immer noch dort. Doch als er weiterdachte, meinte er, Therion hätte wohl die Vergewaltigung nicht gefallen, nicht aus Vernunftgründen, sondern weil der sexuelle Akt ihm als männliches Opfer an eine unwürdige Frau galt. Warum diese Gabe einer geringen Frau aufzwingen? „Vergewaltigung ist ein zu starker Ausdruck“, fuhr Bruder Paul fort. „Der junge Mann war ehrenwert und bat, Dina offiziell heiraten zu dürfen. Er hat sogar die Bedingung akzeptiert, sich beschneiden zu lassen, obwohl er ein hochgeborener Prinz war.“
„Ja, das haben sie vertuscht“, sagte der Dämon. „Sie haben versucht, daraus einen guten Fick zu machen, damit sie ihn nicht steinigen mußten wegen Vergewaltigung und sie wegen Nachgiebigkeit. Eine Menge saftiger Details haben sie aus der Heiligen Schrift herauszensiert.“
Bruder Paul wollte gerade eine wütende Antwort geben, merkte aber dann, daß dies lediglich ein weiterer Aspekt des Kampfes war. Die Versuchung focht sowohl mit Ideen als auch mit Worten, und die Wahrheit war unwichtig. Wenn Verzerrung und Umgangssprache Bruder Paul dazu brachten, die Geduld zu verlieren, läge der Sieg beim Drachen.
Allerdings waren diese Seitenhiebe auf die Authentizität der Bibel etwas, was Bruder Paul insgeheim auch schon überdacht hatte. Er schätzte es, die gesamte Bedeutung dessen, was er las, zu erfassen, und vieles in der Bibel blieb auf quälende Weise vieldeutig. Jakobs Begegnung mit dem Engel des Herrn – das war ein Rätsel! Warum sollte ein Engel mit einem Sterblichen ringen wollen, und warum würde so etwas Reines wie ein Engel jemals einer Versuchung erliegen? Doch Bruder Paul wußte, er durfte die Bibel nur unter äußerster Vorsicht herausfordern, denn es war ein Dokument, das Generationen von Gelehrten nicht mit Sicherheit in Zweifel ziehen konnten. Die archäologischen Beweise unterstützten darüber hinaus noch die Richtigkeit der biblischen Aussagen. Wer war er denn, ein kleiner Novize in einem kleinen Orden, um sein schwächliches Urteil gegen die gesammelte Weisheit und Offenbarung der Zeiten zu setzen?
Auch hier mußte er also der Versuchung widerstehen. Es war nicht an ihm, irgendeinen Aspekt der Schrift in aller Öffentlichkeit zu diskutieren. Es war ein Fehler gewesen, es hier heraufzubeschwören. Was er tat, lag in seiner Verantwortlichkeit; es durfte nicht durch Bezüge auf die Bibel gerechtfertigt werden. Es war eine Perversion, die Heilige Schrift den eigenen Zwecken dienlich zu machen – wenn dies auch viele Spötter aus Eigennutz taten.
„Genug davon“, sagte Bruder Paul. „Wenn du mich nicht vorbeiläßt, muß ich einen Hebelgriff anwenden.“
Der Dämon lachte. Er war größer als Bruder Paul und sah kräftiger aus. Aber wie kräftig war er wirklich? Versuchung konnte nicht mit weltlichen Maßen gemessen werden.
Bruder Paul trat auf das Schloß zu, und natürlich stellte sich der Dämon ihm sogleich in den Weg. Dieses Mal ging Bruder Paul jedoch weiter, stieß gegen die rechte Schulter des Dämons und setzte den linken Fuß ein, um den rechten Fuß des Dämons fortzuschieben. Es war der o uchi gari oder ‚große innere Haken’ des Judo.
Der Dämon fiel in den Sand, als sei er auf einer Bananenschale ausgeglitten. Bruder Paul trat über ihn hinweg und ging weiter auf das Schloß zu. Das war erstaunlich leicht gewesen!
Aber wieder stand der Dämon vor ihm. „Sehr clever, Sterblicher! Aber die Versuchung läßt man nicht so leicht hinter sich. Du kannst mich tausendmal umwerfen, und immer wieder werde ich vor dir stehen, denn mich besiegt nicht eine einzige Handlung.“
Bruder Paul trat wieder auf ihn zu. Der Dämon wappnete sich gegen das Manöver, das ihn zuvor umgeworfen hatte, doch dieses Mal ergriff Bruder Paul mit der Linken seinen rechten Arm und zog ihn ruckartig nach vorn. Sein rechter Arm stieß nach vorn, als wolle er den unzugänglichen Hals des Wesens umfassen. Der Dämon lachte verächtlich, zuckte zurück und widerstand sowohl dem Wurf als auch der Umklammerung.
Bruder Pauls rechter Arm fuhr weiter über den Kopf des Dämons, verfehlte ihn aber total. Er drehte sich herum, als habe er sich hoffnungslos verwickelt, und fiel in den Sand. Doch das Gewicht seines herabfallenden Körpers zog den Dämon mit über den Rücken herab. Das war solo makikomi, der äußere Umklammerungsgriff, eine sonderbare und starke Opfertechnik. Schwer fiel der Dämon zu Boden und Bruder Paul über ihn; dieser Wurf besaß einen solchen Schwung, daß ein gewöhnlicher Mensch häufig dabei bewußtlos wurde. Sogleich wirbelte Bruder Paul herum, schleuderte den Dämon aufs Gesicht und wendete einen komplizierten Armgriff an, einen der kansetsu waza. Vielleicht hatte der Dämon kein Blut, aber er hatte bestimmt Gelenke, und diese konnte man wie bei einem gewöhnlichen Menschen unter Druck setzen. Man konnte ein Gelenk auf diese Weise brechen, aber er wollte lediglich soviel Hebelwirkung ansetzen, daß das Wesen nachgab. In dieser Position gab es für die Kreatur keine Möglichkeit, zurückzuschlagen; sie konnte weder beißen noch treten noch würgen.
Er drückte auf den Arm und bog geschickt den Ellenbogen zurück. Der Dämon schrie auf. „Ergibst du dich?“ fragte Bruder Paul und gab leicht nach.
Statt einer Antwort verwandelte sich der Dämon wieder in den Drachen, seine ursprüngliche und vielleicht natürliche Gestalt. Bruder Paul hielt eines seiner Beine, doch die Gelenke waren anders, und er konnte den Griff nicht weiter anwenden. Die Kiefer des Ungeheuers öffneten sich, die orangefarbene Zunge zuckte heraus, um wie eine Peitsche über Bruder Pauls Gesicht zu lecken. Er mußte rasch loslassen.
„Du hast es also nicht ausgehalten“, sagte Bruder Paul zu dem Drachen. „Du hast verloren!“
„Die Versuchung verliert nie; sie wird lediglich zurückgeschlagen, um mit neuer Kraft aufzuerstehen. Ich hindere dich immer noch.“ Und der Drache stand erneut zwischen Bruder Paul und dem Schloß.
Bruder Paul wandte sich an Therion, der die ganze Zeit über unschuldig an der Seite gestanden hatte. „Was sagst du nun, Führer?“
„Trink etwas“, sagte Therion und reichte ihm einen hohen, kühlen Kelch mit einer Flüssigkeit.
„Ich brauche kein …“ wollte Bruder Paul schon antworten, doch er war wirklich durstig, und in dieser Situation war ein Erfrischungstrunk angemessen und verlockend. Vielleicht war er zu erhitzt und besorgt, um auf das Nächstliegende zu kommen – was immer es sein mochte. Mit einem klareren, kühleren Kopf könnte er vielleicht rasch die Lösung dieses Problems erraten. Er nahm den Trank entgegen.
Es war ein köstliches, schweres Gebräu, doch nach dem ersten Schluck hielt er inne. „Das ist doch etwas mit Alkohol!“ meinte er vorwurfsvoll.
„Natürlich. Das Beste, was es gibt, um Mut zu machen.“
„Mut!“ Bruder Pauls Zorn stand kurz vor der Explosion. „So etwas brauche ich nicht. Mein Orden lehnt den Alkohol ab, ebenso wie andere das Gehirn beeinträchtigende Drogen. Gib mir Wasser.“
„Hier gibt es kein Wasser. Das ist eine Wüste“, meinte Therion ungerührt. „Verdammt dein Orden wirklich den Alkohol?“
„Nein. Der Heilige Orden der Vision verdammt nichts und niemanden, denn das widerspräche dem freien Willen. Er mißachtet lediglich jene Dinge, die man am leichtesten mißbraucht. Man erwartet von jedermann, daß er seine eigenen Regeln in fleischlichen Dingen aufstellt. Aber nur diejenigen, deren Regeln auch passen, steigen innerhalb des Ordens auf.“
„Ach du liebe Güte“, meinte Therion geringschätzig. „Du bist also der Sklave der Verbote deines Ordens und wagst es nicht einmal, dies zuzugeben?“
„Nein!“ Bruder Paul schluckte den Rest des Getränks herunter und gab damit seinem brennenden Durst nach.
Die Wirkung trat sofort ein. Seine Glieder prickelten; der Kopf fühlte sich angenehm leicht an. Das war aber ein gutes Gebräu!
Bruder Paul trat dem Drachen entgegen, der immer noch grinsend zwischen ihm und dem Schloß stand. „Ich habe genug von dir, Versuchung. Geh mir aus dem Weg!“
„Versuch’s doch, Matschkopf!“
Bruder Paul zog das blitzende Schwert. Drohend trat er einen Schritt nach vorn und zwang die Bestie zurück. Als sie jedoch nicht weiter zurückwich, schlug er mit aller Kraft zu – und spaltete den furchterregenden Kopf. Es floß wirklich kein Blut, der Kopf enthielt nur ein schwammartiges Material wie geschäumtes Plastik.
Die Kreatur gab mit einem Zischen, als entströme ihr Dampf, den Geist auf und fiel mit krampfhaft zuckenden Gliedmaßen hinterrücks in den Sand.
„Nun, das habe ich wohl geschafft“, meinte Bruder Paul und wischte den grünen Schleim von der Klinge, indem er sie durch den Sand zog.
„Das ist wahr“, stimmte Therion zu.
„Dann laß uns zum Teufel nun zum Schloß gehen, ehe der Drache wieder zum Leben erwacht.“
„Gut gesagt.“
Doch nun stand ein neues Hindernis zwischen ihnen und ihrem Ziel. Es war ein weiterer Kelch – der mit dem Siegerkranz. Die geflochtenen Zweige und Blätter ragten hoch und grün über den Rand hinaus. Es war kein vollständiger Kranz; vielmehr hatte er eine Lücke.
„Nimm ihn“, drängte Therion. „Du hast ihn errungen. Du hast die Versuchung getötet.“
Bruder Paul dachte nach. „Ja, wahrscheinlich habe ich das.“ Irgendwie war er nicht ganz zufrieden, doch das angenehme Getränk putschte ihn immer noch auf. „Warum nicht?“
Er streckte die Hand aus und griff nach dem Kranz aus dem meterhohen Kelch. Komisch, daß auch dies in seiner Vision vom Schloß enthalten war; hatte ihm seine Wahl eines Kelches auch alle anderen gewährt? Irgendwie nahm sein Abenteuer einen anderen Verlauf, als er sich dies vorgestellt hatte.
Er setzte sich den Kranz auf den Kopf. Er paßte gut und fühlte sich wunderbar an.
„Sehr schön“, meinte Therion bewundernd. „Du siehst wie ein richtiger Eroberer aus.“
Ja, es war die Arkane Sieben, der Wagen, der Eroberer, oder? Mit den sieben Kelchen darüber. Bruder Paul bückte sich, um sein Ebenbild in der glänzenden Oberfläche des Kelches zu betrachten. Und erstarrte.
Sein Ebenbild war ein Totenschädel. Ein grinsender Knochenschädel mit vorstehenden gelben Zähnen und großen, kantigen Augenhöhlen.
Entsetzt zuckte Bruder Paul zurück. Irgend etwas kam ihm in den Sinn, etwas so Grauenerregendes …
Nein. Er klammerte es aus. Dies war nur ein Spiegelbild, nichts Übernatürliches. Er zwang sich, noch einmal hinzusehen. Wieder ein Totenkopf.
Versuchsweise bewegte er sein Gesicht. Auch der Schädel bewegte sich. Er öffnete den Mund, und der knochige Kiefer fiel herab. Er zwinkerte mit den Augen, doch konnten natürlich die leeren Augenhöhlen nicht zwinkern, und wenn, wie könnte er es sehen, wenn seine eigenen Augen geschlossen waren?
Die linke Hand fuhr herauf, um das Gesicht zu berühren. Nase und Wangen waren da; festes Fleisch und Haut. Der Schädel war nur ein Bild, keine Realität. Aber was hatte es zu bedeuten?
„Laßt uns nicht herumtrödeln“, sagte Therion. „Der Drache wird nicht den ganzen Tag lang totspielen.“
Bedauernd stand Bruder Paul auf und ging um den Kelch herum. Er war sich sicher, daß der Schädel etwas Wichtiges zu bedeuten hatte. Wenn es Teil des natürlichen Symbolismus der Karte war, warum hatte er es dann nicht früher bemerkt? Wenn nicht, warum tauchte es jetzt auf? Er war dieser Karte viele Male, ehe er zum Planeten Tarot gekommen war, begegnet; war der Schädel immer auf dem Kelch gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Da war etwas – etwas Verborgenes und Schreckliches –, aber er hatte einen Auftrag. Vielleicht würde es sich später erklären lassen.
Er ging weiter. Dann merkte er, daß er den Schädel hätte überprüfen können, indem er mit dem einen Auge gezwinkert hätte, um sich mit dem anderen zu beobachten. Seine Gedanken arbeiteten nicht klar, wenn auch sein Kopf ganz frei zu sein schien. Nun, es würde nichts ausmachen, wenn er zurückging, um noch einmal auf den Kelch zu blicken. Wenn er noch dort war.
Er blickte zurück. Der riesige Kelch stand noch dort, und dahinter lag der Körper des Drachens. Er bedauerte, ihn getötet zu haben; das hätte er wirklich nicht tun sollen. Eigentlich war er kein gewalttätiger Mensch. Was war nur über ihn gekommen? Er verspürte einen schlechten Geschmack im Mund sowie beginnenden Kopfschmerz. Sein Magen grollte, als wolle er sich seines Inhalts entledigen. „Ich fühle mich nicht wohl“, sagte er.
„Ein kleiner Kater“, sagte Therion rasch. „Ignoriere es. Das geht vorbei.“
„Kater?“ – Oh, die Reaktion auf das Getränk. Schnell high, schnell wieder down. Das paßte gut!
Nun befanden sie sich schon an den Außengebäuden des Schlosses und stiegen über den steilen Saumpfad hinauf zum Gipfel, auf dem es thronte. Sie kamen rasch voran, denn es war ein sehr schmaler Berg, doch noch rascher ermüdete Bruder Paul. Dann sah er in einer fast vertikalen Felswand einen Einlaß, eine Art Höhle. Und in dieser Höhle stand ein weiterer Kelch. Er war bis zum Rand mit Edelsteinen gefüllt: Perlen, Diamanten und ausgesuchte andere Steine. Wunderschön!
Bruder Paul ging darauf zu, fand sich jedoch unvermittelt zu müde, um den ganzen Weg zu schaffen. Er sah nun auch, daß sich der Kelch in einer Art Käfig mit einem Kombinationsschloß befand. In dem Schloß war ein Bild mit drei aufgereihten Zitronen zu sehen.
„Oh, ein alter Glücksspielautomat“, murmelte er. „Aber ich spiele nicht gerne.“
„Aber sieh dir die potentielle Belohnung an!“ rief Therion. „Du wärest reich – ein Multimillionär in jeder Währung!“
„Reichtum bedeutet mir nichts. Brüder und Schwestern des Ordens widmen ihre Leben den nichtmateriellen Dingen, der Einfachheit und den guten Taten.“
„Aber denk an all die guten Taten, die du damit vollbringen könntest.“
„Ich will nur in das Schloß hinein und die Antwort auf meine Frage finden“, entgegnete Bruder Paul. „Wenn ich doch nur die Kraft hätte, das letzte Stück hinaufzusteigen.“
„Hier, riech einmal daran“, sagte Therion und öffnete ein winziges verziertes silbernes Kästchen.
Bruder Paul sah hinein. In dem Kästchen befand sich ein weißliches Pulver. „Was ist es?“
„Ein Stimulans. Wird seid Jahrhunderten benutzt, um dem Menschen zu ermöglichen, ohne Ermüdung schwerer zu arbeiten. Absolut sicher. Macht nicht süchtig. Versuch es.“ Er schob es Bruder Paul unter die Nase, und dieser roch fast unfreiwillig daran.
Die Wirkung war erstaunlich. Plötzlich fühlte er sich furchtbar stark, gesund und klar. „Donnerwetter! Was ist es?“
„Kokain.“
„Kokain? Du hast mich angelogen! Das ist eine der schlimmsten Suchtdrogen!“
Würdig schüttelte Therion den Kopf. „Nein. Es gibt keine körperliche Abhängigkeit. Es ist das reinste natürliche Stimulans ohne schädliche Nebenwirkungen. Viel besser als Alkohol. Aber wenn du es nicht glaubst, dann gib doch die Probe zurück.“
„Die Prise? Wie soll ich das denn machen?“
„Das ist doch deine Erscheinung. Du kannst alles.“
Bruder Paul wunderte sich. Wenn er alles tun konnte, warum fand er dann nicht den Weg aus diesem Sumpf heraus? Nun, vielleicht konnte er es wirklich, wenn er es nur stark genug wünschte. Aber er fühlte sich nun so wohl, warum sollte er das rückgängig machen? Er wollte ja immer noch zum Schloß und hatte bereits soviel Mühle investiert, daß es Verschwendung bedeutete, wenn er jetzt aufgäbe. „Oh, laß nur.“
Seine Augen wanderten zu dem juwelengefüllten Kelch zurück. „Doch erst noch diese Kleinigkeit.“ Er schritt hinüber zu dem Käfig und griff nach dem Hebel des einarmigen Banditen. „Was muß ich in diese Maschine hineinstecken, um mitspielen zu können?“
„Einen lächerlichen Preis. Nur ein Siebtel deiner Seele.“
„Gebongt!“ sagte Bruder Paul lachend. Und verspürte ein sonderbares Zerren, das ihn einen Moment lang betroffen machte. Wenn der Preis für diesen Kelch ein Siebtel war und es insgesamt sieben Kelche gab … und er hatte bereits einige hinter sich gelassen … aber er fühlte sich so gut, daß er es bald wieder vergaß. Kraftvoll zog er an dem Hebel.
Verschwommen tanzten die Symbole durch das Schauglas des Automaten. Schwerter, Stäbe, Münzen und etwas Undefinierbares – vielleicht Schleifenlinien? Wo waren die Zitronen geblieben? Dann kamen sie zum Stillstand: ein Kelch – zwei Kelche – drei Kelche!
Die Käfigtür sprang auf. Der Kelch neigte sich nach vorn. Die Reichtümer ergossen sich über den Höhlenboden. Gewonnen!
„Ich habe gespielt und gewonnen!“ rief Bruder Paul.
Therion nickte. „Das ist deine Animation“, wiederholte er. „Ich zeige dir nur den Weg, wie du es ausschöpfst.“
Irgend etwas lag in dieser Bemerkung – oh, vergiß es! „Gib diese Juwelen den Wohlfahrtsinstitutionen der Welt“, sagte Bruder Paul. „Ich muß weiter.“ Vorsichtig stieg er über die glitzernden Steine auf seinem Weg und verließ die Höhle.
Nun war der Aufstieg wieder leichter. In wenigen Augenblicken erreichten sie das Hauptportal. Es stand offen, und sie schritten ins Schloß hinein.
„Wie ein Dornröschenpalast“, bemerkte Therion.
„Wie in einem Märchen“, stimmte ihm Bruder Paul zu.
Aus irgendeinem Grund fand Therion diese Bemerkung überaus komisch. „Zeige mir, über was du lachst, und ich sage dir, wer du bist“, sagte er keuchend zwischen den einzelnen Lachstürmen. Aber es war er, der lachte, nicht Bruder Paul. Sonderbarer Mann!
„Komisch“, meinte Bruder Paul, „wie ich eine Animationsreihe beginne, um herauszufinden, was Animationen verursacht, und mich selber in dieser Phantasiewelt finde, wo ich einen Drachen töten muß, mich selber als Skelett sehe und ein Siebtel meiner Seele gegen einen weltlichen Schatz setze, den ich nicht brauche. Warum kann ich nicht unmittelbar zu den Wurzeln vordringen?“
„Das kannst du schon, wenn du weißt, wie es geht“, erwiderte Therion.
„Ich habe dich doch als Führer angefordert. Warum kannst du mir nicht den Weg zeigen?“
„Ich zeige dir doch den Weg. Aber auf meine Weise. Aber der Antrieb muß von dir kommen.“
„Ich habe niemals den Drachen töten oder um Reichtümer spielen wollen. Du und deine verdammten Drogen …“
„Genaue Beschreibung.“
Und warum fluchte er, wo er doch eigentlich niemals fluchte? Hier lag vieles falsch, verstrickt mit Intrigen. „Was tue ich nun?“ fragte Bruder Paul irritiert.
„Tu, was du willst – das ist das ganze Gesetz.“
„Das hast du schon einmal gesagt, aber es nützt nichts. Es stammt von Rabelais, der für dich wohl die Hauptquelle darstellt. Hier stehe ich und kann nicht tun, was ich will. Ich meine, was ich wünsche. Und du schleichst einfach hinterher und gibst Nichtigkeiten von dir.“
Therion sah ihn ernsthaft an. „Du magst ja in deinem Ziel recht haben, aber wenn du dein Ziel für wichtig hältst, dann liegst du falsch, weil du die Wichtigkeit von anderen Dingen darüber vergißt. Die wirklich wichtigen Dinge sind riesig, still und unergründlich.“
„Welche Dinge?“
„Dein Wille.“
„Mein Wille ist es, die Wirkungsweise der Animationen zu ergründen! Aber da wandere ich in diesem verlassenen Schloß herum und bin soweit davon entfernt wie zuvor. Was ist das überhaupt für ein Ort?“
„Thelema.“
„Was?“
„Das ist die Abtei von Thelema, der Ort für die Entdeckung deines wahren Willens.“
„Ich weiß bereits, was ich will! Ich habe gesagt …“
„Wenn du es wüßtest, würdest du es befriedigen.“
Bruder Paul hielt inne. Auf der einen Seite war dies Unsinn, doch auf der anderen schien es durchaus einen Sinn zu ergeben. „Du sagst, ich glaube lediglich, meinen Willen zu kennen, und werde nirgendwohin gelangen, weil ich einem falschen Willen nachjage. Einer Illusion?“
Therion nickte. „Langsam beginnst du zu begreifen. Erst mußt du genau über dein Ziel Bescheid wissen, erst dann kannst du es erreichen.“
„Nun, ich habe aber gedacht, ich hätte es begriffen. Aber irgendwie werde ich immer wieder davon abgebracht, als sei ich Opfer der Corioliskraft.“ Er hielt inne, verwundert durch diese Offenbarung. Corioliskraft – die wichtigste Determinante des Wetters auf jedem Planeten. Eine Luftmasse, die versucht, sich aus einem Hochdruckgebiet in der Nähe des Äquators in ein Tiefdruckgebiet zu bewegen, ob nach Norden oder Süden, wird durch Gestalt und Rotation des Planeten zur Seite abgedrängt, weil die Oberflächengeschwindigkeit der Rotation beim Äquator stärker ist als an den Polarkreisen. Nun, für einen Laien war das eine schwierige Vorstellung, doch für den Meteorologen von äußerster Wichtigkeit. Es war, als erläge die Natur hier ihrem eigenen System, indem sie endlose Rückstöße, Instabilitäten und Wechsel verursachte, die das Wetter bestimmen. Gab es so etwas wie eine geistige Corioliskraft, so daß einem gegebenen Trieb nicht nachgegangen werden konnte, ehe die gesamte Natur der Conditio humana begriffen wurde? Doch das war kaum eine perfekte Analogie, denn die menschliche Seele war keine Planetenoberfläche, und menschliche Gedanken waren keine flüchtige Brise. Die Situation war dynamischer, und Kräfte wurden in rechtem Winkel abgeleitet nach …
„Präzession!“ rief er laut.
Therion blickte gutmütig auf. „Ja?“
„Präzession. Der Faktor, der die Richtung der Kraft zu verändern scheint, wie man es bei einem Kreisel oder drehenden Rad beobachten kann: Wenn man sie richtig ausnutzt, wie bei einem Fahrrad, hat sie stabilisierende Wirkung, doch wenn man sie mißversteht, verzerrt sie jede Anstrengung zu …“
Therion schüttelte den Kopf. „Kannst du mir das genauer erklären?“
„Das ist ein technischer Begriff. Er umfaßt die Erde und alle drehenden Dinge und somit die menschliche Technologie und Mythologie. Die Präzession der Tagundnachtgleiche …“ Er holte tief Luft. „Es gibt einfach eine Menge rotationsmäßiger Trägheit bei einem sich drehenden Objekt, und wenn man eine äußere Kraft ansetzt, um die Richtung zu ändern, muß man mit dieser Trägheit fertig werden. Wenn man das versteht und die genauen Vektoren kennt …“
Therion lächelte. „Und deine Ignoranz zieht hier den Schlußstrich, weil die Trägheit des Denkens komplexer ist als jede zufällige Untersuchung enthüllen kann. Erkenne dich selber – oder wie ich es lieber ausdrücke: Tu, was du willst.“
„Ja“, stimmte Bruder Paul zu und erfaßte schließlich doch die Bedeutung dieses Satzes. Jemand konnte nicht wirklich tun, was er wollte, wenn er sich nicht zuvor vollständig begriff, um herauszufinden, was er wirklich wollte. Was er wirklich wollte – und nicht, was er in seiner Ignoranz für sein Wollen hielt. Viele Menschen blieben auf der Seite der Ignoranz, unermüdlich nach Reichtum oder Macht strebend, die ihnen lediglich Unglück brachten. Andere strebten nach Glück, definierten es aber lediglich materiell. Andere wiederum versuchten dies wiedergutzumachen, indem sie es ausschließlich nichtmateriell definierten und Schimären suchten. Wie es vielleicht auch Bruder Paul getan hatte. „Mein letztendlicher Wille ist feingesponnener und gewundener als ich selber bewußt erkennen kann. Da diese Animationen zumindest teilweise meinem Unbewußten entspringen, verfalle ich der Präzession, wenn ich durch rein bewußte Gedanken zu lenken suche. So verwickele ich mich und finde mich im rechten Winkel abgetrieben wieder, kämpfe gegen den Drachen der Versuchung und Gott weiß was noch alles!“
Wiederum nickte Therion und sah aus wie ein heruntergekommener Straßenphilosoph. „Ich weiß auch noch etwas: Es war dein eigenes Bewußtsein, gegen das du gekämpft hast.“
„Du weißt es; eigentlich bist du kein schlechter Führer“, meinte Bruder Paul. „Du kennst meinen eigenen Willen besser als ich. Aber wie wenn man ein Pferd zum Wasser führt …“
„Das ist das ganze Gesetz“, stimmte Therion zu.
Sie waren kreuz und quer durch das verlassene, unheimliche Schloß gegangen. Nun betraten sie eine der oberen Kammern – und sahen eine Frau. Sie saß in einem riesigen Kelch, daher wußte er, dies war eine weitere Vision der sieben Kelche, mit der er auf die eine oder andere Weise fertig werden mußte. Er vermutete, der ursprüngliche Kelch, der mit dem Schloß, den er gewählt hatte, war lediglich ein Eingangspunkt gewesen; und ehe er hindurchgelangte, würde er vom Inhalt aller sieben kosten. Hätte er zuerst die Frau gewählt, hätte er wohl auch den Schädel, die Versuchung und das Schloß gefunden, aber vielleicht in anderer Reihenfolge. Mit der Präzession gab es keinen leichten oder direkten Weg zu einem Ziel. Aber nun zu dieser Frau: Sie war ein Wunder an natürlicher Symmetrie und kultivierter Ästhetik, mit Haar wie Sommerweizen …
„Amaranth!“ keuchte Bruder Paul.
„Bitte?“ fragte Therion.
Natürlich kannte dieser Mann nicht den Privatnamen, den Paul der Knochenbrecherdame gegeben hatte. Aber nun war er sicher: Amaranth war in diese Animation gelangt, und hier war sie, die Schauspielerin in einer ganz besonderen Rolle. Die Hauptcharaktere dieser Szene wurden von Lebendigen gespielt, die ihre Texte, wie sie waren, aufsagten oder eventuell anhand von Leitlinien frei sprachen. „Ein privater Gedanke, völlig unwichtig“, meinte Bruder Paul und wußte, daß er log. Da Lügen für ihn verabscheuenswürdig waren, mußte er sich sofort verbessern. „Ich glaube, ich erkenne diese Frau. Sie …“
„Die Frau existiert, um dem Manne zu dienen“, bemerkte Therion.
Der Mann war also nicht wirklich an der Identität dieser Frau interessiert. Für ihn waren Frauen austauschbar, verhüllt durch seine allgemeine Feindseligkeit ihnen gegenüber. Nun, in diesem Fall spielte Bruder Paul das Spiel mit, denn nach allem, was er von Amaranth wußte, würde sie alle mit einer solchen Meinung gehörig eines Besseren belehren.
Bruder Paul ging auf die Frau zu. „In welcher Weise spiegelst du meinen verborgenen Willen wider?“ fragte er.
Sie löste sich aus dem Kelch und stand vor ihm, eine so schöne Gestalt, wie er sie sich nur vorstellen konnte. „Ich bin die Liebe.“
Liebe. Das war sogar noch mehr, als er erwartet hatte. „Heilige oder profane?“ fragte er vorsichtig. „Ich bin mit einem religiösen Auftrag hier.“
„Er sagt, er liebt Gott und keine Frau“, warf Therion ein.
„Ich liebe Gott und die Frauen“, bellte Bruder Paul zurück. „Aber für meine Mission muß ich …“
Amaranth reckte sich und betonte ihre wundervollen Brüste; Bruder Paul erkannte die Versuchung in anderer Gestalt. Er wußte, daß die Animation ihre Erscheinung nicht noch verbesserte; sie war in jeder Hinsicht so verlockend wie im wirklichen Leben. Eine Frau, die nur in der Animation schön war … aber natürlich sollte die Äußerlichkeit nicht das einzig Anziehende sein.
„Du hast tapfer gekämpft, um in dieses Schloß zu gelangen“, merkte Therion an. „Weist du nun zurück, was es dir bietet?“
„Die Präzession bringt diese Frau; was ich suche, liegt anderswo.“
„Woher weißt du das?“
Unsicher dachte Bruder Paul darüber nach. Er hatte gedacht, er habe die Versuchung überwunden – und es war eine ungeheure Versuchung gewesen! –, aber konnte es sein, daß das Ziel seiner Suche körperliche Liebe war? Es schien kaum wahrscheinlich, aber sicher konnte er auch nicht sein. Es gab zwischen den einzelnen Arten der Liebe tiefe Affinität, auf der höchsten Ebene als Religion ausgedrückt und auf der niedrigsten als Sex. Oft sagte man ‚Gott ist Liebe’. Konnte er die eine Form ohne die andere erreichen?
Er dachte an die säuerlichen Kommentare des Hierophanten. Wie sah es mit seinem Glauben aus? War der Ausdruck körperlicher Liebe notwendigerweise immer schlecht? Die Ansichten des Hierophanten glichen einer Parodie von …
„Der Hierophant!“ rief Bruder Paul aus und wirbelte zu Therion herum. „Du!“
„Du hast es also begriffen“, sagte Therion schnippisch.
„Du hast bewußt die religiöse Haltung zerstört …“
„Zerstört? Das würde ich nicht sagen“, entgegnete Therion. „Ich hatte eine Rolle zu spielen, und daher habe ich sie völlig frei gespielt. Ich habe die Essenz geliefert anstelle bloßer Kasuistik. Die modernen Religionen hassen den Sex und das Vergnügen und versuchen, es zu unterdrücken, weil ein Mann mit steifem Schwanz nicht zu einem Priester gehen würde. Die alten Religionen besaßen viel mehr Grips; sie kannten die andere Seite der göttlichen Liebe, nämlich die körperliche Liebe. Das ist eine vollständig natürliche und notwendige Funktion.“
„Aber nicht außerhalb der Ehe“, erwiderte Bruder Paul, der bei dem Gedanken zitterte, auf welche Weise er geleitet worden war, noch ehe er seinen Führer gewählt hatte.
„Warum nicht? Was ist denn die Ehe schon, außer einer gesellschaftlichen Zeremonie, die die Besitzrechte eines bestimmten Mannes an einer bestimmten Frau regelt? Kümmert sich Gott vielleicht um die Konventionen der menschlichen Kultur? Wer regiert denn hier? Gott oder der Mensch?“
„Aber gewiß doch Gott!“ rief Bruder Paul.
„Aber warum hat Gott den Menschen dann nicht vor seiner hochzeitlichen Zeremonie impotent gemacht oder es so geregelt, daß er nur auf bestimmte Stimuli wie Geruch reagieren kann? Tiere haben damit keine Probleme.“
„Aber der Mann ist auch kein Tier“, entgegnete Bruder Paul. „Der Mensch hat ein Bewußtsein. Er kontrolliert seine Triebe.“
„Dann wedelt der Schwanz den Hund. Der Mensch kontrolliert die natürlichen Triebe, die ihm Gott gegeben hat, anstatt sich mit ihnen so auszudrücken, wie es Gott mit ihnen vorhatte.“
„Nein. Das menschliche Bewußtsein stammt von Gott!“
„Und Gott wurde im Bild des Menschen geschaffen.“
Ein aufschlußreicher Hieb! Natürlich war der Mensch im Bild Gottes, aber wenn man so argumentierte, würde Therion einfach darauf hinweisen, daß Gott von daher ein geschlechtliches Wesen sei, aber unverheiratet. Nun war sich Bruder Paul unsicher, ob das Sakrament der Ehe in seine Vorstellung paßte, denn es traf zu, daß Tiere nicht heirateten. Tiere waren absolut natürlich, aber unschuldig.
Doch er mußte immer noch daran glauben, daß eines der Dinge, die den Menschen vom Tier unterschieden, seine Moral, sein höher entwickeltes Bewußtsein war. „Ich will mit dir lieber nicht über die Ehestreiten“, meinte Bruder Paul, „und auch nicht diese junge Frau mißbrauchen. Ich möchte nur die Realität hinter dem Bild sichern.“
„Aber du unterliegst wieder der Präzession“, meinte Therion traurig. „Du bestehst darauf, die privaten Regeln deines Erdenlebens in diesen Rahmen hineinzutragen, und weigerst dich, zuzugeben, daß sie nicht mehr passen. Du denkst, du kannst die Schwierigkeiten überwinden, indem du einfach nach vorn schreitest. Wann wirst du merken, daß du nicht gewinnen kannst, wenn du nicht die Spielregeln befolgst? Du hast erst drei Kelche probiert.“
Versuchung, Sieg und Reichtum. Offensichtlich mußte er alle hinter sich bringen, ehe er die Erhellung erreichte. Keine Abkürzungen. Doch bedeutete die Gegenwart dieser Frau, die eigentlich in dieser Animation gefangen wurde, daß er sie sexuell probieren mußte? Therion schien dafür zu plädieren, was sonderbar war, denn er haßte die Frauen ausdrücklich. Offensichtlich konnte sich Bruder Paul nicht erlauben, Therions Worten allzu genau zu folgen, weil sie vielleicht nicht notwendigerweise dessen Willen widerspiegelten. Diese Frau war vielleicht verführerisch, aber er brauchte nicht verführt zu werden.
„Ich möchte gern mit dir reden“, sagte Bruder Paul zu der Frau. „Was hörst du gern?“
„Ich bete dich an, IAO“, antwortete sie.
„Mein Name ist Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision“, sagte er. Das reichte für eine offizielle Vorstellung innerhalb dieser Animation, falls das überhaupt helfen konnte. „Du … ich glaube, wir kennen uns schon aus dem … äh … echten Leben. Und du hast auch das Tarotspiel der Bruderschaft vom Licht repräsentiert. Wie soll ich dich nun nennen?“
Sie öffnete ihr Kleid. Darunter war sie nackt, schlank und rosaweiß, mit vollen Brüsten. Körperlich stellte sie sein Idealbild von einer Frau dar, was offensichtlich der Grund für die erste Anziehung gewesen war. Er suchte nach dem sublimen Einverständnis von Gott, aber sein Fleisch hatte anderes im Sinn.
„Ich bete dich an, IAO“, wiederholte sie.
Bruder Paul weigerte sich mitzumachen. „Ich dachte, im echten Leben würdest du einen schlangenfüßigen Gott namens Abra …“ An den gesamten Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.
„Sie redet von IAO – oder auch Abraxas, wörtlich genommen“, erklärte Therion. „Er hat Menschengestalt mit dem Kopf eines Hahns und Beinen einer Schlange, und er ist der Gott der Heilkunde. Anscheinend hält sie dich für einen Gott.“
„Mich?“ rief Bruder Paul entsetzt aus. „Ich ein heidnischer Gott?“
„Abraxas war im römischen Reich ein höchst modischer Gott. Vielleicht sieht sie dich als moderne Inkarnation. Wenn du ihr vielleicht deine Füße zeigst …“
Bruder Paul murmelte eine höchst unheilige Silbe. Aber Therion betrachtete den Torso Amaranths. „Sie ist gewiß ein gesundes, gut ernährtes Exemplar“, bemerkte er, als betrachte er ein Vollblutpferd. „Zu fast allen Zeiten waren die meisten Menschen schlecht ernährt: Erst in den vergangenen Jahrhunderten hat sich ein guter Ernährungsstand verbreitet. Man sieht jedoch nur selten eine so feine Gestalt, auch heute noch.“
Wem wollte er die Figur verkaufen? „Du verehrst wirklich einen heidnischen Gott?“ fragte Bruder Paul die Lady. Irgendwie war ihm die Bedeutung dessen noch nicht klar geworden, oder er hatte es nicht richtig geglaubt, als sie, die Kolonistin, diesen Sachverhalt erwähnte.
„Aber das ist doch eine freie Gesellschaft“, meinte Therion. „Niemand darf nach dem Vertrag irgendein Mitglied einer anderen Religion, was immer ihre Form ist, verfolgen. Das ist das einzige, das auf diesem Planeten einen mörderischen Krieg verhindert. Ich bin sicher, IAO hat ebenso viel Recht hierzusein wie jeder christliche Gott.“
Das Mädchen schlüpfte aus ihrem Gewand und stellte sich vollständig nackt vor sie hin. Ihr Körper war berauschend, nicht nur, weil sie gut ernährt war; an ihr gab es kein Fett, wo es nicht auch hingehörte. Sie trat auf Bruder Paul zu.
Beunruhigt wich er zurück.
„Die alten Priesterinnen führten die Gläubigen mit den direktesten Mitteln zur Vereinigung mit ihren Göttern“, fuhr Therion fort. „Sie will dir helfen, deinen wahren Willen zu entdecken; willst du ihr nicht folgen?“
„Aber das ist nicht die Art von Vereinigung, die ich suche“, protestierte Bruder Paul. „Nicht mit IAO, nicht …“
„Und wenn IAO der Gott von Tarot ist, und du weigerst dich, ihn zu treffen?“
„Unmöglich!“ Aber Bruder Paul merkte auch, daß es nicht unmöglich war. Unwahrscheinlich vielleicht, aber theoretisch durchaus möglich. Das ganze Problem des Planeten Tarot, der Grund, warum er hergekommen war, war doch, objektiv zu bestimmen (wenn es die Umstände erlaubten), welcher Gott die Leitfigur hinter den Animationen war oder ob es kein Gott war. Er mußte seine religiösen Vorurteile aus dem Spiel lassen. Denn – dazu zwang er sich – IAO Abraxas, der Gott der Anbetung, konnte es wirklich sein. Und wenn es I A O nicht war, mußte er diese Tatsache doch genau untersuchen. Die versammelten Religionen des Planeten Tarot warteten auf sein Urteil. Niemand ihrer eigenen Vertreter konnte diese Untersuchung durchführen, weil ein jeder unter ihnen zu sehr dem jeweiligen Gott ergeben war, um noch objektiv bleiben zu können. Jene, die es am aufrichtigsten versucht hatten, waren Anfälle von Glaubenszweifel erlegen, in einigen Fällen mit fatalem Ausgang.
Bruder Paul hatte nicht vor, bei seinem Abenteuer zu sterben. Aber er wollte auch an keiner Weißwäscherei oder Aufwärmung von persönlichen Vorurteilen teilhaben. Die Ethik seines Ordens und sein Stolz verlangten, daß er die Wahrheit suchte. Der Auftrag ging über seine kleinen Skrupel weit hinaus. Er mußte IAO eine faire Chance geben.
„Aber ist es wirklich notwendig …?“ fragte er kläglich mit Blick auf die nackte Priesterin. „Wenn sie eine zeitgenössische Anhängerin von Abraxas ist, läge es in ihrem Interesse, mich davon zu überzeugen, daß ihr Gott der nämliche sei, auch wenn er es vielleicht gar nicht ist.“
„Sicher“, stimmte Therion zu. „Ich beneide dich nicht um deine Aufgabe.“
„Und wenn ich mit ihr schlafe, beweist das gar nichts.“
„Es sei denn, wie bei dem Kampf mit dem Drachen, es erweist sich als Weg zur reinen Wahrheit“, sagte Therion. „In diesem Fall wäre es zu schade, sie eine Illusion zu nennen und diesen Kelch ungeleert zu lassen.“
„Das ergibt doch keinen Sinn!“ Wieder blickte Bruder Paul auf die Abraxas-Priesterin. Wenn dies wirklich der Gott von Tarot war und wenn es nur eine Art des Umgangs mit diesem Gott gab, entsprechend dem alten Ritual der Vereinigung …
„Schnüffel mal daran“, sagte Therion und öffnete ein anderes Kästchen.
„Nein. Kein Kokain mehr! Das löst gar nichts!“
„Das ist kein Kokain.“
„Oh.“ Bruder Paul gab nach und roch daran.
„Es ist Heroin“, fuhr Therion fort.
Aber die Droge tat bereits ihre Wirkung. Bruder Paul wandte sich der Priesterin zu. „Du willst also Geschlechtsverkehr“, sagte er keck. „Nun, für die Wahrheit bumse ich dich gern.“ Wie durch Zauberei fielen seine Kleider von ihm ab, als er auf sie zutrat.
Er nahm sie in die Arme und küßte sie ausgiebig. Aufgeregt zitterten ihre kühlen, festen Brüste an seiner Brust. Seine Hände glitten an ihrem gebogenen Rücken entlang und über die schlanken Schenkel, bis sie sich über ihren festen, aber dennoch weichen Hinterbacken wölbten. Was für ein Prachtstück!
Der Kuß war zauberhaft. Niemals zuvor hatte er so etwas erlebt. Er wußte, durch das Heroin wurde alles intensiver, aber es war ihm egal. Er fühlte sich seiner selbst so sicher, daß ihm alles andere gleichgültig war. Diese Erfahrung konnte er ohne jede Zurückhaltung genießen.
Erfahrung. Das war der tiefsitzende Instinkt im Menschen: das Streben nach neuen Gefühlen, die Befriedigung der Neugier, Abwechslung und Aufregung und Erfüllung! Erfahrung. Jede Sekunde, jede Minute war kostbar; er mußte sich bis zum Äußersten hingeben, weil dies die letztendliche Bedeutung des Lebens war. Warum sollte er säen und nicht ernten?
Er ließ die Priesterin gerade soweit los, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie lächelte.
„Stich mit deinem dämonischen Lächeln in mein Hirn“, sagte Therion. „Weiche mich in Cognac ein, in Küsse und Kokain.“ Er sprach rhythmisch, als spräche er ein Gedicht.
Das hatte zur Wirkung, daß Bruder Pauls Erregung trotz des Heroins abgestumpft wurde. „Hast du nicht irgendwo anders zu tun?“ fragte er.
„Ich bin dein Führer. Ich muß dich sicher an dieser Herausforderung entlang leiten.“
„Du fürchtest, ich werde mit der Priesterin schlafen?“
„Ich fürchte, du tust es nicht, wenn ich dich nicht leite.“
„Das steht zwischen mir und meiner Religion.“
„Und deine Religion, wie praktisch alle modernen Glaubensrichtungen, ist grundsätzlich gegen Sexualität. Dein Verständnis von diesem Thema ist begrenzt, wenn auch dein Instinkt, wenn du ihn nur herauslassen würdest, gesund ist. Sexualität ist gut, Liebe heißt das Gesetz. Ignoranz ist schlecht.“
„Aber flüchtiger, zufälliger Sex …“
„Kein Mann kommt mit einer Diät absoluter Abstinenz aus. Man muß dem Menschen erlauben, sich normal sexuell auszuleben, wie es Gott geplant hat. Er muß seinen natürlichen Trieben nachkommen, wie immer sie auch sein mögen, oder er wird dahinwelken.“
„Aber …“ meinte Bruder Paul immer noch unsicher. Er hatte seine Glaubenssätze, aber durch diese Logik und die Frau in seinen Armen wurden sie heftig bedrängt.
Die Priesterin kniete vor ihm nieder, als ergäbe sie sich ihm; ihre Brüste glitten aufreizend an seinem Körper entlang. „Ich bete dich an, IAO“, wiederholte sie.
„He, ich bin nicht I A O“, protestierte Bruder Paul. Aber dann merkte er, daß er es vielleicht war; sie verehrte einen schlangenfüßigen Gott, daher suchte sie im Mann auch die Schlange.
Unter ihren Berührungen erhob sich die Schlange und schwoll wie das Vorderteil der Kobra an. Die Haut am Kopf glitt zurück und gab einen schwachen Duft frei, der in dieser speziellen Tasche entstand – der Geruch, den das Messer der meisten Christen sowie allen Moslems und Juden in Gestalt von ‚Gesundheit’ durch das Messer verweigerte.
Aber Bruder Paul hatte sich diesem unfreundlichen Schnitt niemals hingegeben. Sein Glied war vollständig und es funktionierte, wie Gott es vorgesehen hatte. Der Duft der Erregung verbreitete sich. „IAO!“ hauchte sie in Ekstase, und ihr Atem streichelte sein Glied.
„Liebe ist das Gesetz!“ intonierte Therion. „Liebe und freier Wille.“
„Genug davon!“ rief Bruder Paul und zog ihre Hände und ihr Gesicht von seinem Körper. Er hob sie hoch, doch sie wirbelte herum und legte sich quer über den Diwan (Diwan? Wo war der Kelch? Oh, das war das gleiche!) Er strebte ihr nach und fing sie mit beiden Händen ein, als sie sich über die Lehne zog; seine Lende glitt über ihr üppiges Hinterteil. Ihre Hände, die sich lösten, während sich der Unterkörper hob, glitten ab; der Oberkörper fiel vornüber in den Kelch. Sie lag nun im rechten Winkel vornübergebeugt, die Brüste gegen den Innenrand flachgedrückt, die Ellenbogen in der Tiefe verschlungen und das Gesicht unsichtbar im Schatten. Aber er brauchte weder ihre Brüste, noch Arme, noch Gesicht. Er führte sein Glied mit der Hand, fand die Stelle und stieß hinein.
Er hatte es sich leicht vorgestellt, in ihre offen dargebrachte Vagina einzudringen, aber es war nicht einfach. Es schmerzte leicht, als er sich den Eingang an zusammengepreßten Muskeln vorbei ohne genügende Feuchtigkeit erzwang. Doch die Droge trieb ihn an: Immerhin war er ein Eroberer!
Der Höhepunkt war wie eine Explosion: Eine Kerndetonation in einer unterirdischen Höhlung. Der Rückstoß warf ihn nach hinten und unterbrach die Verbindung. Gleichzeitig kippte auch sein Heroinhöhepunkt über. Er fühlte sich müde und krank, reizbar und angeekelt. Die Priesterin war aus dem Kelch heraus auf den Boden gefallen und lag ausgestreckt auf dem Rücken. Therion hockte neben ihr, fast über ihrem Kopf. Vielleicht war sie verletzt; es war ein ziemlicher Schwung gewesen. Bruder Paul war es egal. Er wollte einfach noch einmal am ‚H’ schnüffeln.
Er stolperte auf Therion zu. „Gib’s mir“, keuchte er.
„Ich bin beschäftigt“, bellte Therion, immer noch am Boden kauernd. „Ich muß ihr …“
Bruder Pauls Nase lief, und sein Magen krampfte sich zusammen. Entzugserscheinungen, das wußte er. „Gib mir den Stoff!“
Therion ignorierte ihn und konzentrierte sich auf das Mädchen.
„Ich will mehr Dope, mehr Stoff!“ beharrte Bruder Paul. „Wie nennt man es heutzutage? Pot? Schnee? Wo ist es?“
Immer noch gab Therion keine Antwort; immer noch kauerte er am Boden.
Plötzlich kam Wut in Bruder Paul auf. „Du widmest dich ihr mehr als mir! Mich sollst du schließlich führen!“
„Shit“, gab Therion zurück.
Bruder Paul erinnerte sich. War das nicht auch ein Name für Heroin? „Dann gib mir Shit!“ rief er.
Vor ihm erschien ein Kelch, doch er enthielt kein weißes Pulver. Wütend ballte er die Faust und kippte ihn um. Zischend entfuhr ihm eine grüne Schlange. Ein Fuß des Gottes Abraxas? Nein, das war lediglich das Symbol der Eifersucht.
Er wußte nicht ein noch aus. Die Hitze verwandelte sich in fröstelnde Kühle. In was war er da hineingeraten? „Warum bist du eigentlich so selbstsicher?“ fragte Bruder Paul. „Wenn es mir so dreckig geht und ich verwirrt bin. Das ist nicht fair!“
Therion blickte auf. „Ich bin zufrieden, weil ich meine wahre Natur kenne“, sagte er. „Ich weiß, was ich bin und wem ich diene. Ich bin im Frieden mit mir selbst. Kein Sieg, Reichtum oder eine Frau kommt dagegen an. ‚Tu, was du willst’ lautet das ganze Gesetz.“
„Dann zeig mir, wie ich meine wahre Natur begreife“, rief Bruder Paul. „Da liegt der Schlüssel zur größten Macht.“
„Du mußt sie in dir selber suchen und dich selber aus dem Gefängnis deiner Sinne befreien“, entgegnete Therion. „Meditation, wie es Yoga befürwortet …“
„Nein! Darauf kann ich nicht warten. Ich will es jetzt!“
„Dann nimm die Abkürzung.“ Therion hielt eine kleine Kapsel hoch. „LSD.“
Bruder Paul schnappte danach und schluckte sie hinunter.
Es war ein Kopfsprung in einen Mahlstrom. Aus allen Richtungen strömte es auf ihn ein und schien ebenso von ihm auszuströmen: Bilder, Geräusche, Gerüche, Aromen und Berührungen. Er sah den Raum. Das Mädchen lag immer noch mit offenem Mund auf dem Flur. Therion kauerte immer noch über ihr. Er sah die Möbel. Den Sonnen fleck vom Fenster. Er hörte den Wind um den Abgrund pfeifen, ein Tier in der Ferne heulen, eine unsichtbare Uhr ticken. Er roch die Ledercouch und das Metall von der Innenseite des großen Kelches, den Staub vom Boden und den schwachen süßlichen Duft einer Blume irgendwo draußen. Er spürte die Überreste der Kapselflüssigkeit, das Streicheln einer sanften Brise über seinen nackten Körper. Ablenkungen, mit denen er fertig werden mußte.
Er zwang seine Wahrnehmung zur Konzentration, schloß alle äußeren Stimuli aus. Nun sah er Licht hinter den Augenlidern, denn sie waren nicht dick genug, um ihm totale Dunkelheit zu gewähren. Er hörte seinen eigenen Atem und Herzschlag. Er roch seinen Atem mit einem Hauch Whiskey dabei. Whiskey? Oh, von diesem ersten Schluck bei der Versuchung. Seine Zunge schmeckte leicht bitter. Er fühlte die Spannung seiner Muskeln, die sich verkrampften, um ihn aufrecht zu halten.
Es gab übrigens mehr als nur fünf Sinne, doch die meisten namenlosen konnte man unter ‚Berührung’ subsumieren: unbehagliches Gefühl, Muskelspannung, Orientierung. Ablenkungen.
Er setzte sich auf den Boden und nahm die Stellung mit gekreuzten Beinen ein, die am besten für Meditation geeignet ist. Ganz bewußt entspannte er sich. Allmählich verflog die Körperspannung und gab seine Gedanken frei.
Es war, als flöge er in niedriger Höhe über eine Landschaft auf den Sonnenuntergang zu. Seine halbgeordneten Gedanken flogen vorbei wie Wolken in Technicolor, einige formlos, andere wunderschön, einige bedrohlich. Unter ihm lag das Schloß mit der Priesterin wie einem Dornröschen darin, das auf den Kuß wartet, der ihr das Bewußtsein zurückbringen soll. Nur, daß es eine Reinigung bedeutete. Es war wirklich der Sexualakt, der sie zum Aufstehen bringen würde, der ihr Leben wieder erwecken würde. Allerdings konnte man das Kindern nicht erzählen (warum zum Teufel eigentlich nicht?), und in diesem Fall hatte sie der Akt statt dessen zum Schlafen gebracht. Priesterin des Abraxas? Was war eine solche Tempelverehrung anderes als ritualisierte Prostitution? Prostitution, der älteste Beruf der Frau. Er würde so lange existieren, solange Männer Geld und einen Trieb hatten und die Frau beides nicht. Welche Ironie, daß er mit der Religion verbunden wurde. Doch die Religion hegte eine ebenso große Affinität zu den Lastern der Menschen wie viele andere Institutionen.
Die Droge intensivierte alles und verschaffte ihm eine phänomenale visuelle, auditive und taktile Erfahrung. Der Drache der Versuchung griff ihn an, wurde aber aufgeblasen wie ein Wasserstoffballon, bis er mit harmlosem Flämmchen verbrannte. Therion würde sagen, er habe sich zu Tode gefurzt. Dann wieder die Priesterin von I A O, die ihm ihren lieblichen Körper öffnete und schrie: „Ich bete dich an, I A O!“, aber es erregte ihn nicht mehr. Die Farben des Tarot: Symbole flogen um ihn her wie die Karten in Alice im Wunderland: Männliche Stäbe und Schwerter durchbohrten weibliche Kelche und Scheiben. Rasch, innerhalb weniger Sekunden, schaffte er sich diese störenden Gedanken vom Leib. Allmählich orientierte er sich an seinem Ziel: seiner eigenen wahren Natur.
Jetzt konnte er in der Ferne das erste Glühen wahrnehmen – die Strahlung des Grals. Wie bei Anbruch der Dämmerung verstärkte sich dieses wunderbare Licht, während er darauf zuschoß. Die störenden, überflüssigen Gedanken verschwanden und leuchteten in Pastelltönen vor der strahlenden Sonnenscheibe; er flog an ihnen vorbei und enthüllte den Weg nach Nirwana.
Endlich tauchte der glühende Rand auf, großartiger als jede Vision, die er sich zuvor auch nur vorgestellt hatte. Weiter flog er, bekam mehr zu Gesicht: die prachtvolle Rundung des heiligen Grals, der perfekt vom Himmel hing.
Nun sah er, daß der Kelch selber glühte, so wie damals, als er an den erstaunten Rittern von König Arthurs Tafelrunde vorbeigeschwebt war. Dies war ein schwaches Glimmern, verglichen mit dem ursprünglichen Funkeln. Dieser Schein entstand durch den Inhalt – die tief verschleierte Gestalt, deren Licht sich zwischen Baldachin und Rand ergoß. Die Gestalt seiner Essenz!
Neugierig bewegte er sich darauf zu, nun gewiß, daß er die Pracht, die seine Seele war, erblicken würde. Welche Gestalt würde sie annehmen, jene göttliche Offenbarung? Ein riesiger, edler, leuchtender Kristall mit Myriaden von Facetten, eine myriadeneckige Reflektion? Eine gottähnliche Strahlung, die das sterbliche Auge blenden würde? Eine unberührbare Aura reinen Wunders?
Er gelangte zu dem riesigen Gefäß, jenem Kelch Jesu, der Quintessenz von Ambition, und spähte unter die strahlende Abdeckung. Er spürte einen schrecklichen, unangemessenen Geruch, doch er ignorierte ihn. Hier schließlich lag die Wahrheit, die Seele!
Es war ein riesiger, halb gerollter, halb zerbröselnder, dampfender menschlicher Kothaufen.