13


Da wir noch ein paar Stunden hatten, bevor wir zu der kleinen Silvesterfeier bei Daniel aufbrechen mussten, fragte ich Frederik: »Ist es okay für dich, wenn ich noch ein bisschen arbeite?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte sowieso ein Nickerchen machen.«

Ach nein, damit hatte ich ja gar nicht gerechnet, so ausgestreckt wie er dort auf meiner Couch lag und sich mit der Cashmere-Decke zugedeckt hatte, die er mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Jetzt stellte sich wohl heraus, dass es ein absolut eigennütziges Geschenk gewesen war.

Ich lächelte ihn einfach nur an und griff nach meinen Kopfhörern. Besser ich arbeitete, als über die anstehende Party nachzudenken. Ich würde dort immerhin offiziell als Frederiks Freundin auftauchen – mein Magen prickelte immer noch, wenn ich mich so bezeichnete.

Ich wollte gerade das Textdokument öffnen, als plötzlich ein merkwürdiges Symbol auf meinem Bildschirm auftauchte. Hatte ich das Handy nicht richtig angeschlossen? Es war an der Zeit, meine Notizen und meinen Kalender wieder einmal zu synchronisieren. Kritisch warf ich einen Blick über den Bildschirm. Nein, das weiße Kabel steckte korrekt in der Buchse und auch am Handy. Ich ließ mich wieder in den Stuhl sinken und brummte. Was hatte das zu bedeuten?

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Frederik sich aufgerichtet hatte. Seine Lippen bewegten sich, aber ich hörte nichts. Dann fiel mir ein, dass ich die Kopfhörer trug.

»Alles in Ordnung?«, wiederholte er seine Frage, nachdem ich sie abgezogen hatte.

»Keine Ahnung, hier ist so ein komisches Symbol, aber ich habe gar nichts gemacht.« Etwas überfordert blickte ich wieder auf den Bildschirm.

Frederik schlug die Decke zurück. »Ist es eine Pizza?«

»Ja! Woher weißt du das?«, fragte ich verblüfft.

Schnell sprang er auf. »Mach nichts. Mach bloß nichts!« Dann griff er nach seinem Handy. 

Seine Miene machte mir Sorgen und ich fragte beunruhigt: »Was ist? Ist das ein Virus?«

»Schlimmer«, entgegnete er gequält. »Das ist mein Bruder.«

Mein Blick wanderte von Frederik zu meinem Bildschirm und wieder zurück. »Ähm? Bitte?«

Er schüttelte nur stumm den Kopf. Mit fest aufeinander gepressten Lippen, lauschte er in den Hörer. Dann nahm offensichtlich jemand ab. »Bertram! Hör sofort auf damit!« Wieder lauschte er. »Nein. Ja, aber-« Frederik seufzte tief. »Sie ist nicht komisch.«

Skeptisch zog ich die Augenbraue hoch und verstand noch immer nicht, was hier eigentlich gerade passierte. 

»Nein! Nein! Auf keinen Fall.« Frederik schien sich regelrecht aufzuregen und begann damit, durch das Wohnzimmer zu marschieren. »Ja, ich hätte es dir sagen sollen. – Nein, das halte ich für keine gute Idee.«

Ich verschränkte die Arme und ignorierte das ungute Gefühl, dass das Gespräch mit mir zu tun haben könnte.

Plötzlich blieb Frederik wie angewurzelt stehen. »Wunderbar«, brüllte er mit einem Mal in den Hörer und legte dann auf. Keine Sekunde später verschwand die Pizza von meinem Bildschirm.

»Sie ist weg«, verkündete ich leise. 

»Gut.« Frederik funkelte mich an. »Wir essen morgen mit meinem Bruder zu Mittag. Er will dich kennenlernen.«

»Okay. Ich freue mich«, entgegnete ich und verstand noch immer nicht, wo genau das Problem war.

»Ich mich nicht. Es wird grauenvoll werden.« Wieder hatte er angefangen, Kreise auf meinem Teppich zu ziehen.

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Mein Bruder ist- sagen wir- äh- besonders.« 

»Frederik?«, sagte ich mit meinem verführerischsten Tonfall.

»Ja?«

»Setz dich hin! Du machst mich wahnsinnig! Wie wäre es, wenn du mich einfach über deinen Bruder aufklärst?« Mein bohrender Blick machte ihm hoffentlich klar, dass er keine Wahl hatte. »Und erklär mir die Pizza«, fügte ich noch hinzu, bevor mir bewusst wurde, wie schwachsinnig das klang, wenn man es laut aussprach.

Frederik setzte sich zum ersten Mal in den Sessel. Er legte den Kopf in den Nacken, lehnte sich an und rieb sich kräftig über die Augen. »Das ist nicht so einfach. Mein Bruder ist komisch.«

Sofort wurde ich neugierig. »Jetzt spuck es schon aus. Du hast letztes Mal schon so merkwürdige Andeutungen gemacht.«

Der Mann seufzte und rieb sich zum wiederholten Male über den Hinterkopf. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Hm. In eurer Kindheit?«, schlug ich vor und hoffte, ihm damit nicht irgendwie zu nahe zu treten. 

Wieder ein schwerer Seufzer. »Mein Bruder ist echt speziell.«

Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. »Noch spezieller als ich?«

Frederik warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Sehr viel spezieller als du, deshalb kann ich es auch kaum erwarten, mit euch beiden in einem Raum zu sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr euch hassen werdet.«

Ich verschränkte pikiert die Arme. Was sollte das denn heißen? Ich war unter meiner rauen Schale ja wohl absolut bezaubernd und liebenswert! 

»Also Bertram ist etwas älter als ich und äh-« Mein neuer fester Freund brach ab und warf entnervt die Arme in die Luft.

»Okay, fangen wir simpel an. Was macht er denn beruflich?«, schlug ich vor, um Frederik das Gespräch zu erleichtern. Er stöhnte nur gequält auf.

»Du behältst alles für dich, was ich dir jetzt erzähle. Sonst kommen wir beide in Teufels Küche!«

Belustigt rollte ich mit den Augen. »Wieso? Ist das BKA hinter deinem Bruder her?«

»Unter anderem.«

Ich wollte lachen, doch so trocken wie Frederik geklungen hatte, blieb das Geräusch auf halber Strecke stecken und ich schluckte nur. 

Frederik räusperte sich. »Bertram ist- nun ja- geschickt im Umgang mit Computern. Schon immer gewesen. Manchmal glaube ich, er ist mit einer Tastatur unter den Fingern geboren worden. Er hat sich schon in Chatrooms herumgetrieben, als wir Normalsterblichen noch nichts vom Internet wussten. Als unsere Eltern gestorben sind, wollte er auf keinen Fall in ein Kinderheim und unsere Großeltern waren nicht in der Lage, zwei pubertierende Jungs aufzunehmen. Also hat mein Bruder uns sozusagen aus dem System gelöscht.«

Es dauerte ein bisschen, bis ich mit dieser Information etwas anfangen konnte. »Wie meinst du das? Ihr existiert nicht?«

»Doch, schon. Er hat nur für drei Jahre an unseren Geburtsdaten gedreht – oder so etwas in der Art. Ich bin mir nicht sicher und seit ich alt genug war, um das gesamte Ausmaß zu verstehen, wollte ich es gar nicht mehr genau wissen. Meine Devise ist sozusagen: Je weniger ich weiß, desto weniger muss ich im Ernstfall vor Gericht aussagen.«

»Du nimmst mich doch auf den Arm«, murmelte ich unsicher.

»Ich wünschte, es wäre so. Das kleine Programm, mit dem du jetzt jeden Monat deine Steuern machst? Rate mal, wo ich das herhabe.« Frederik grinste mich schwach an.

Ich schüttelte den Kopf. »Also ist dein Bruder ein Computerexperte. Und was macht er dann so – wenn er nicht deine Freundinnen ausspioniert?«

Frederik blinzelte langsam und bedachte mich anschließend mit einem merkwürdigen Blick. »Ich weiß es nicht – und will es nicht wissen. Aber wenn du ihn ärgerst, dann macht er dir echt das Leben schwer. Mir hat er früher regelmäßig das Konto oder das Handy gesperrt, wenn ihm meine Noten beispielsweise nicht gepasst haben. Am Anfang habe ich nicht verstanden, dass er dahinter steckt und bei der Bank angerufen, um mir sagen zu lassen, dass ich doch gar kein Kunde bei ihnen sei.«

Um meine Belustigung zu verbergen, hielt ich meine Hand vor den Mund und schüttelte nur ungläubig den Kopf. Dann wandte ich vorsichtig ein: »Aber vielleicht ist das eine gute Methode gewesen. Immerhin bist du recht anständig geraten.«

»Helen«, warnte Frederik mich, »nimm das nicht auf die leichte Schulter. Mein Bruder ist eine Nummer für sich und dazu noch leicht paranoid. Du findest, dass das gerade unterhaltsam klingt, aber dir sollte bewusst sein, dass es das nicht ist. Bertram weiß inzwischen vermutlich alles über dich, hat deine Emails und SMS gelesen, deinen Kontostand überprüft und deine Online-Käufe nachverfolgt. Es tut mir leid.«

Ich dachte nach. »Meinst du? Ich finde mich eher uninteressant, deswegen stört mich der Gedanke irgendwie nicht.«

Ungläubig sah Frederik mich an. »Wie kann dich das nicht stören, wenn jemand so bei dir herumschnüffelt? Du bist doch sonst so verschlossen.«

»Ja, aber das ist anders. Mir ist ohnehin klar, dass sich alles, was ich im Internet mache, irgendwie zurückverfolgen lässt. Er wird wohl kaum mein Konto leer räumen, oder?«

»Ich wünschte, das könnte ich dir versprechen. Sei morgen einfach nett zu ihm, okay?«

Verächtlich kräuselten meine Lippen sich. »Bin ich jemals nicht nett?«

Statt einer Antwort stand Frederik auf, legte die Hände um mein Gesicht und küsste mich sanft. Erst dann sagte er mit funkelnden Augen: »Natürlich nicht.«


Erleichtert lehnte ich mich zurück. Mein Bruder würfelte gerade und ich war erstaunt, wie harmonisch der Abend bisher verlaufen war. Als Elena vorgeschlagen hatte, Silvester gemeinsam zu feiern, war ich natürlich zunächst skeptisch gewesen. Aber da Frederik ganz vernarrt in meine Familie zu sein schien, hatte er so lange genervt, bis ich schließlich nachgegeben hatte.

Wir hatten recht ausgiebig den Fondue-Topf glühen lassen und dann eine geradezu epische Runde Monopoly gestartet. Scheinbar war ich allerdings die Einzige, die das Spiel nicht absolut ernst nahm. Mo und mein Bruder spielten, als hinge ihr Leben davon ab und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden ganz eigene Regeln dabei befolgten und Elena wollte sowieso immer gewinnen. Wenigstens Frederik und Stephan schienen halbwegs entspannt zu sein. 

Um Mitternacht hatten wir die Runde unterbrochen und die obligatorische Flasche Sekt geköpft. Dabei waren so viele Umarmungen ausgetauscht worden, dass ich kurzzeitig den Überblick verloren hatte, wen ich bereits gedrückt hatte und wen nicht. Glücklicherweise störte es Frederik nicht, dass ausgerechnet er zwei Umarmungen bekam, während Daniel noch immer schmollte, weil ich ihn vergessen hatte.

Eigentlich war ich schon ziemlich müde, aber so wie es aussah, würde sich diese Runde Monopoly noch bis Mitte Februar hinziehen, denn keiner wollte aufgeben. 

Ich schielte zu der Uhr über Mos Kopf und fragte mich, ob ich heute noch sehen würde, wie die Sonne aufging.

Plötzlich ertönte die Melodie von Britney Spears’ »Crazy«. Daniel grinste schief und kicherte wie ein kleines Mädchen. Mo sah ihn strafend an. »Hast du schon wieder meinen Klingelton geändert?«

Sie stand auf und fischte ihr Handy vom Wohnzimmertisch. »Frohes neues-« Weiter kam sie nicht, denn sie brach verwundert ab und reichte Daniel das Telefon. »Es ist Don und offenbar will er mit dir reden.« Verstimmt ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen.

Daniel kam auch nicht viel weiter mit seinen Neujahrswünschen, bis er abbrach und mit gerunzelter Stirn lauschte. Schließlich stand er abrupt auf und verließ den Raum. Zwar war seine Stimme gedämpft zu hören, aber egal, wie sehr wir alle neugierig die Ohren spitzten, es war unmöglich zu verstehen, worum es ging. Doch die Geheimnistuerei machte mich neugierig und ich konnte Elena an der Nasenspitze ablesen, dass es ihr nicht anders ging.

Mo verzog den Mund, als Daniel zurückkehrte und ihr wortlos das Handy reichte. »Willst du uns nicht sagen, worum es geht?«

»Ich kann und darf nicht. Don hat mich zu Stillschweigen verpflichtet.« Während er Mo entschuldigend ansah, fügte er noch hinzu: »Immerhin ist er mein Freund.«

»Aber ich bin deine Freundin! Meine Rechte gehen ja wohl sehr viel weiter als die meines Bruders«, stellte Mo fest und erdolchte Daniel fast mit ihrem stechenden Blick. Elena hatte mittlerweile fasziniert ihr Kinn auf ihrer Hand abgestützt und beobachtete den Schlagabtausch. Ich ahnte schon, dass sie Mo in wenigen Augenblicken zu Hilfe kommen würde. 

Dann durchbrach mein Klingelton die Stille und ich zog das Handy aus der Hosentasche. Verblüfft betrachtete ich das Display. »Es ist dein Bruder«, sagte ich zu Mo gewandt.

Sie warf die Arme in die Luft. »Toll! Don redet also mit jedem, aber nicht mit mir? Los, geh ran. Ich will wissen, worum es geht!« Sie wedelte bestimmend mit der Hand und ich drückte tapfer den grünen Hörer. 

»Hi Don.« Zwei Sekunden später hielt ich Frederik das Handy hin. »Ich bin verwirrt. Er will mit dir reden.«

Überrascht starrte mein Freund mich an, nahm dann aber zögerlich das Telefon. »Hallo?« 

Und schon wieder wurden wir Zeugen des gleichen Schauspiels. Frederik warf mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu Daniel, der recht schief grinste und stand dann ebenfalls auf, um den Raum zu verlassen.

»Wow. Also jetzt bin ich wirklich verdammt neugierig«, verkündete Elena. Mo starrte Frederik hinterher und ich verschränkte die Arme.

»Don weiß nicht, dass wir Silvester zusammen feiern, oder?«, fragte ich interessiert.

Mo schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Er hasst Silvester und entscheidet sich erst in letzter Minute, ob er überhaupt etwas macht. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, ihn überhaupt zu fragen.«

Frederik kam wieder und reichte mir das Handy. Sofort hob er abwehrend die Hand. »Bevor ihr fragt: Ich bin genau wie Daniel zu Stillschweigen verpflichtet worden und habe vor, mich daran zu halten.« Er sah kurz zu Daniel, der nachdrücklich nickte. 

Obwohl es mich nicht einmal sonderlich interessierte, kam ich in diesem Moment vor Neugier fast um.

»Ha!« Elena stieß diesen triumphierenden Laut aus. »Es geht um eine Frau, nicht wahr?«

Schuldbewusst blickten Daniel und Frederik zeitgleich auf den Tisch, weigerten sich aber beharrlich, etwas zu sagen. Mo runzelte die Stirn. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, es ist immerhin Don. Er hat doch wirklich genug Erfahrung – oder nicht?«

Daniel wich Mos forschenden Augen aus und tippte stattdessen auf das Spielbrett. »Helen, du schuldest mir Miete.«

Mit einem Seufzen begann ich, die bunten Papierscheine abzuzählen und ahnte schon, dass das Thema erledigt war. Wenig später gab auch Mo ihren Versuch auf, noch etwas aus den Männern herauszuholen.


Wir spazierten durch die kalte Nachtluft und ich hielt Frederiks Hand. Die Wirkung des Sekts hatte schon lange nachgelassen und mittlerweile war ich nur noch müde. Nachdem ich demonstrativ gegähnt hatte, fragte ich: »Wann kommt dein Bruder morgen?«

»Zum Mittagessen, gegen eins.«

»Was wollte Don?«, schloss ich nahtlos die nächste Frage an.

Frederik lachte und sein Griff um meine Hand wurde fester. »Was für eine elegante und geschickte Überleitung, Frau Autorin.«

»Ach komm, jetzt erzähl es mir schon! Ich sterbe vor Neugier«, bettelte ich.

Der Mann blieb stehen und sah mich eindringlich an. »Bedaure. Ich habe Don versprochen, meine Klappe zu halten und wenn ich ein Versprechen gebe, dann halte ich mich daran.« 

Ich blinzelte wie hypnotisiert durch Frederiks blauen Augen und murmelte nur: »Oh.« Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Ganz im Ernst, was gingen mich Dons Probleme an, wenn ich etwas sehr viel Besseres zu tun hatte?

Wie von selbst legte meine Hand sich um seinen Nacken und ich fühlte seine warme Haut unter meinen Fingerspitzen. »Frohes neues Jahr, mein fester Freund.«

Frederik grinste mich an und drückte einen kurzen Kuss auf meine Nasenspitze. »Dir auch ein frohes neues Jahr.«

Ich lächelte selig und wollte gerade weitergehen, doch Frederik hielt mich zurück. Der Schnee knirschte unter meinen Sohlen, als ich mich wieder zu ihm drehte. Unser Atem kondensierte in der kalten Nachtluft und obwohl es die Neujahrsnacht war, herrschte inzwischen Stille um uns herum.

»Helen, ich liebe dich«, sagte Frederik ganz ruhig.

Für einen Moment wogte die alte Panik in mir auf und ich spielte mit dem Gedanken, ihn niederzuschlagen und davonzurennen. Doch ich zwang mich, einmal tief durchzuatmen. Dann schob ich meine Hand in seine und verschränkte meine Finger mit seinen. »Ich dich auch.«

Zufrieden lächelte er mich an und nickte. 


»Helen, ich meine es ernst.« Frederik klang inzwischen erbost und ich rollte mit den Augen. 

»Ist ja gut. Ich verspreche es«, murrte ich und ließ mich recht unelegant auf das Sofa fallen. »Obwohl ich finde, dass du gnadenlos übertreibst.«

Ich hatte gerade das Versprechen abgeben müssen, seinen Bruder nicht zu verärgern. Dabei war ich doch grundsätzlich so charmant. Also wirklich. 

Schröder stolzierte langsam durch das Wohnzimmer und sprang neben mir auf die Couch. Erfreut streckte ich die Hand aus und wollte ihn streicheln, doch er wich mir natürlich aus. Innerhalb von Sekunden war er in die Küche geflitzt und ich folgte ihm. Im Türrahmen blieb ich stehen und sah zu, wie das Vieh um Frederiks Beine strich und dabei herzzerreißend miaute. 

Sofort bückte der Mann sich und kraulte Schröder hinter den Ohren. »Na, hast du Hunger, mein Lieber?«

Ich verdrehte die Augen und sparte mir einen Kommentar. Der Kater hatte Frederik total im Griff und mein Freund merkte nicht einmal, was für ein durchtriebenes Tier er beherbergte. 

Vorwurfsvoll schaute Frederik mich an. »Du könntest ihn ruhig gelegentlich mit Streicheleinheiten belohnen. Er beißt doch nicht.«

Auch Schröder sah mich an, als würde er Frederik zustimmen, dabei wussten wir beide es besser; immerhin war es keine Minute her, dass ich ihn hatte streicheln wollen. Also nickte ich nur ergeben, damit Frederik nicht noch schlechtere Laune bekam.

Frederiks Blick glitt zu der Digitaluhr, die in seiner Küche stand. Es war 12:59 Uhr. Er nickte in Richtung Uhr. »Schnell, sieh hin.«

Konzentriert starrte ich die Uhr an und fragte mich, was ich hier gerade beobachtete. Die Uhr sprang auf 13:00 Uhr und es klingelte an der Tür. Überrascht rief ich: »Du willst mich verarschen!«

Frederik grinste schief. »Ich habe doch gesagt, dass Bertram speziell ist.«

»Hat er jetzt wirklich so lange vor der Tür gestanden?«, wollte ich wissen.

»Vermutlich. Aber in der Regel ist sein Timing recht gut. Er wird also nicht lange in der Kälte gewartet haben. Benimm dich, Helen.«

Prompt klopfte es an der Tür und ich stand pflichtbewusst auf. Frederik öffnete und sein Bruder spazierte ohne die geringste Begrüßung hinein. Einen letzten mahnenden Blick warf mein Freund mir zu, dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf seinen Bruder. Es war sofort deutlich, dass sie Geschwister waren. Die Ähnlichkeit war beeindruckend – und meine Messlatte lag dabei wirklich hoch, immerhin hatte ich eine Zwillingsschwester. Die gleichen Haare, die gleiche Nase und sie waren sogar fast gleich groß. Der einzige Unterschied war, dass Bertram etwas älter aussah und ganz offensichtlich zu wenig schlief. 

Skeptisch betrachtete er meine ausgestreckte Hand und ignorierte sie, während er an mir vorbei spazierte und damit begann, das Besteck auf dem Esstisch in Augenschein zu nehmen. Frederik betrachtete mich besorgt, doch ich grinste nur. Wie diplomatisch er war – er hätte mir doch einfach sagen können, dass sein Bruder wie ich war.

Bertram hatte seine Inspektion beendet, zog den Stuhl am Kopfende zurück und nahm Platz, bevor er mit akribischer Genauigkeit die Serviette auf seinem Schoß ausbreitete. Offenbar war jetzt Essenszeit. Frederik verschwand in der Küche und ich setzte mich zu seinem Bruder.

»So, Bertram. Mit Höflichkeit hast du es wohl nicht so«, sagte ich gelassen und schenkte ihm dazu ein herzliches Lächeln. Frederik gab in der Küche ein ersticktes Geräusch von sich.

Bertram legte den Kopf schief, sah mich an und blinzelte langsam. »Du gibst neuerdings sehr viel Geld für Unterwäsche aus.«

Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Frederik sich bestürzt an der Arbeitsplatte festhielt, doch ich zuckte nur lässig mit den Achseln. »Was soll ich machen? Ich möchte eben deinem Bruder gefallen.«

»Helen!«, rief Frederik aufgebracht aus der Küche.

Da bemerkte ich etwas Interessantes: War das möglicherweise ein leichtes Lächeln, das dort um Bertrams Mundwinkel spielte?

»Das ist gut«, bemerkte er und richtete erneut das Besteck aus. »Du schreibst sehr viel.«

»Ich weiß«, entgegnete ich trocken und griff nach meinem Wasser. Das Weinglas war leider noch leer.

»Warum hast du nichts unternommen, als Ole Bochers dir das Manuskript gestohlen hat?« Wieder blinzelte er langsam – wie eine Amphibie.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem ich dir jetzt nicht mit der Gabel ins Auge steche: Ausgezeichnete Selbstbeherrschung.«

Bertram sah fragend zu Frederik, der inzwischen am Tisch Platz genommen hatte und verzweifelt wirkte. 

»Woher weißt du davon?«, fragte ich Bertram jetzt.

»Überprüfung.«

»Aha«, erwiderte ich sarkastisch und nahm mein Messer in die Hand. »Ein paar mehr Worte dazu wären nett.«

Bertram strich sich nachdenklich über das Kinn. »Nach dem Essen. Klöße werden so schnell kalt.«

Fassungslos sah ich zu, wie Frederiks älterer Bruder begann, seine Klöße in exakt gleich große Stücke zu zerteilen und diese allesamt mit der gleichen Menge an Sauce begoss. Frederiks Miene drückte aus, dass er mich in aller Deutlichkeit vorgewarnt hatte.

Es folgte das vermutlich merkwürdigste Familienessen, an dem ich jemals teilgenommen hatte. Frederik unterhielt sich mit mir, als wäre sein Bruder nicht anwesend. Als ich versuchte, Bertram irgendwie mit in das Gespräch einzubeziehen, erläuterte Frederik mir schlicht, dass sein Bruder beim Essen nicht redete. Dafür lauschte er allerdings interessiert unserem Geplänkel und sah wie beim Tennis zwischen uns hin und her. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit dem Kopf zu schütteln.

Nach dem Essen fragte Frederik: »Kaffee?«

Ich nickte und Bertram sagte: »Wie immer.«

»Was bedeutet das?« 

Obwohl ich Bertram ansah, antwortete Frederik: »Eine halbe Tasse Kaffee, einen Teelöffel Zucker, einen Esslöffel Milch und zwar genau in dieser Reihenfolge.«

Ich wollte fragen, aber ich ahnte schon, dass das kein Scherz war. Bertram stand auf, nahm die schwarze Tasche, die er mitgebracht hatte, und hockte sich auf die Couch – aber erst, nachdem er die Kissen sorgfältig aufgeschüttelt und ausgerichtet hatte. Der Mann machte mich wirklich fertig.

Er öffnete den Reißverschluss der Tasche und zog einen Laptop hervor. Mich wunderte, dass er sich vorher keinen Hut aus Alufolie aufgesetzt hatte, ich verkniff mir diesen Kommentar allerdings wohlweislich. 

Bertram klappte den Laptop auf und dann flogen seine Finger über die Tastatur. Beeindruckt starrte ich ihn an. Ich wusste wirklich, dass ich schnell tippen konnte, aber Bertram hätte einen Roman sicherlich in einer Woche komplett fertig. 

Er drehte den Bildschirm und zeigte mir einen Ordner mit meinem Namen. »Überprüfung.«

»Warum hast du mich denn überprüft, mein Lieber?«

Zum ersten Mal schien ich Bertram aus dem Konzept gebracht zu haben und er blinzelte zweimal ganz schnell. »Um Bescheid zu wissen.«

»Du hättest mich einfach fragen können.«

»Statisch gesehen ist es unwahrscheinlich, dass du die Wahrheit gesagt hättest.«

Ich dachte kurz nach und nickte: »Auch wieder wahr.«

Damit hatte der Gute offenbar nicht gerechnet, denn er reckte den Kopf und rief aufgebracht: »Frederik, du hast gesagt, sie sei nicht merkwürdig.«

Mein Freund erschien in der Küchentür. »Wie du gerade so schön mit deiner Statistik belegt hast: Ich habe gelogen.«

Leise lachte ich und Bertram betrachtete mich verwundert. Frederik reichte erst mir, dann seinem Bruder eine Kaffeetasse und fragte dann: »Was hat deine Überprüfung denn ergeben? Wird Helen uns eines Tages alle umbringen?«

Bertram wägte seine Antwort ab. »Schwer zu sagen, bei einer Wahrscheinlichkeit von 32,7 Prozent kann alles passieren.« Mein Mund klappte auf und Frederik zwinkerte mir belustigt zu. Doch Bertram redete weiter: »Eine Heirat würde sich für dich lohnen, Helen hat mehr Geld als du und gibt verhältnismäßig wenig aus. Außerdem telefoniert sie im Schnitt nur 26 Minuten pro Monat. Statistisch gesehen wenig für eine Frau.«

Vielleicht hätte ich mich aufregen sollen, aber ich fand irgendwie, dass ich bei dieser Überprüfung bisher ganz gut davongekommen war. »Von mir aus – aber woher weißt du von Ole?«

Bertram lächelte jetzt sehr zufrieden und lehnte sich zu mir. Nicht weit, nur ein paar Zentimeter, sodass wir uns auf keinen Fall berührten und raunte: »Ich bin gut.«

Weil ich beim besten Willen nicht hätte antworten können, ohne laut loszulachen, nickte ich nur stumm. 

Wieder flogen seine Finger über die Tasten und der Bildschirm wurde kurz schwarz, bevor eine beeindruckende Animation erschien. Meine Bücher waren zu sehen, sie klappten auf, die Seiten wurden durchgeblättert und immer wieder schwebten Worte über das Display.

Schließlich gipfelte das Ganze in einem komplizierten Diagramm mit unzähligen Spalten. Bertram erläuterte: »Ich habe deine Bücher analysiert und dabei eine deutliche Übereinstimmung mit der Wortwahl in diesem Buch festgestellt. Das erschien mir statistisch gesehen doch sehr unwahrscheinlich.«

Für mich stand fest, dass ich laut schreien würde, sollte ich heute noch einmal das Wort »statistisch« hören.

Frederik betrachtete seinen Bruder jetzt aufmerksam. »Was hast du gemacht?«

Tatsächlich zuckte Bertram leicht zusammen und sah schuldbewusst nach unten. »Nichts Schlimmes.«

Frederik stöhnte auf und rieb sich über das Gesicht. »Dass es für dich nichts Schlimmes ist, bedeutet noch lange nicht, dass wir das genauso sehen. Also erzähl es uns lieber.«

»Die einfache Version?«, fragte Bertram kleinlaut und sein Bruder nickte.

Ich legte Frederik eine Hand auf die Schulter. »Was unterscheidet die einfache von der komplizierten Version?«

Mein Freund winkte ab. »Unverständliches Kauderwelsch, das rein gar nichts mit den Informationen zu tun hat, die wir gern hätten.«

Bertram teilte die Ansicht seines Bruders ganz offensichtlich nicht und rümpfte pikiert die Nase. »Ich habe Oles Festplatte durchsucht und sogar noch das Originaldokument mit Helens Namen gefunden. Die Chancen für eine erfolgreiche Klage liegen bei 97 Prozent.«

Da er offenbar glaubte, dass ich ihn anstarrte, weil ich ihn nicht verstanden hatte, fügte er noch gutmütig hinzu: »97 Prozent bedeutet, dass es statistisch gesehen sehr gute Chancen sind, Helen.«

Ich musste mir ernsthaft auf die Zungenspitze beißen. 

Den Rest der Zeit saß ich da und meine Gedanken ratterten. Immer wieder ertönten Bertrams Worte in meinem Kopf – er konnte beweisen, dass Ole mein Buch gestohlen hatte. Besser noch, er hatte es herausgefunden, ohne dass er überhaupt gewusst hatte, dass mir ein Roman gestohlen worden war.

Ohne Vorankündigung stand Bertram auf und zog die Mundwinkel hoch – offenbar seine Versions eines Lächelns. »Bis nächstes Jahr.« 

Er nickte Frederik und mir zu, dann packte er in Rekordgeschwindigkeit seinen Laptop ein. Bevor ich reagieren konnte, war er bereits zur Tür hinaus und ich wandte mich verblüfft an Frederik: »Bis nächstes Jahr? Meint er das ernst?«

Frederik nickte. »Er bleibt nie lange an einem Ort. Ehrlich gesagt habe ich nicht einmal seine Adresse, nur ein Emailpostfach, falls etwas sein sollte und für ganz dringende Fälle eine Handynummer, die sich alle paar Wochen ändert. Allerdings ist Bertram so nett, sie in meinem Handy aktuell zu halten.«

»Du machst Witze.« Ich strich mir durchs Gesicht. »Wow. Du hast tatsächlich nicht übertrieben, als du gesagt hast, dass er besonders ist.«

»Natürlich nicht. Aber er legt Wert darauf, dass wir uns mindestens einmal im Jahr sehen. Er sagt, es sei am unauffälligsten zu solchen Stoßzeiten zu reisen.«

Geschafft sank ich wieder tiefer in das Polster der Couch. »Ich glaube, das muss ich erst einmal verdauen.«

Frederik setzte sich neben mich, griff nach meiner Hand und streichelte sie. »Du schlägst dich sehr tapfer, wenn man bedenkt, was Bertram gemacht hat. Ich glaube nicht, dass viele Leute so ruhig bleiben würden, wenn jemand in ihren persönlichen Daten geschnüffelt hätte.«

»Er will dich doch nur beschützen und ich finde es beruhigend, dass ich nur zu 32,7 Prozent übergeschnappt bin. Ich hätte schwören können, dass es mehr ist.«


Am nächsten Nachmittag klopfte ich bei Frederik, weil ich ihn aus einer spontanen Laune heraus fragen wollte, ob wir gemeinsam laufen gehen sollten. Allerdings stand ich vor einer verschlossenen Tür und bekam keine Antwort. Leicht verstimmt, weil mein Angebeteter nicht zu Hause war, beschloss ich, alleine in den Park zu gehen.

Auf dem Weg durch das Treppenhaus überlegte ich, dass es gewisse Vorzüge haben könnte, mit Frederik zusammen zu wohnen. So müsste ich mir dann zum Beispiel nicht mehr vor seiner Tür die Beine in den Bauch stehen, weil ich nicht wusste, dass er nicht zu Hause war. Er bestand doch ohnehin darauf, dass ich ständig bei ihm schlief. Neuerdings schleppte ich sogar schon meine Zahnbürste mit.

Der Gedanke, noch mehr Zeit mit Frederik zu verbringen, besserte meine Laune schlagartig und ich trabte entspannt los. Wie sollte ich ihm die Idee nur unterjubeln? Am besten wäre es vermutlich, wenn ich es irgendwie so drehen könnte, dass er glaubte, es wäre sein Einfall gewesen. Oder ich würde es so machen, dass ich nach und nach meine Sachen in seiner Wohnung unterbrachte und ihn überrumpelte.

Diese Variante gefiel mir sogar noch besser – so oft, wie Frederik mich bisher ausgetrickst und aus dem Hinterhalt überfallen hatte, würde ihm das recht geschehen.

Die Frauenstimme in meinem Ohr informierte mich darüber, dass ich bereits anderthalb Kilometer zurückgelegt hatte, so sehr war ich mit Phantasieren beschäftigt gewesen. 

Die Sonne stand recht tief am Himmel und blendete ein wenig. Trotz der frischen Temperaturen waren viele Leute im Park unterwegs. Auch den einen oder anderen Läufer konnte ich ausmachen. Die Frau gab mir weiter meine Statistiken durch und ich stellte fest, dass ich vor lauter schwerwiegender Gedanken langsamer lief als sonst. 

Also konzentrierte ich mich auf das Laufen und versuchte, so gleichmäßig wie möglich zu atmen. Dann erregte ein Läuferpaar meine Aufmerksamkeit. Die bunte Jacke des Größeren kam mir doch reichlich bekannt vor. Meine Augen glitten nach unten – was für ein Zufall: Die Schuhe kannte ich auch.

Das war ja die Höhe! Frederik ging nicht mit mir, sondern mit jemand anderem laufen. Ich war sofort beleidigt und legte einen Zahn zu. Das wollte ich mir aus der Nähe ansehen. Je näher ich kam, desto aufgeregter wurde ich. Zumindest bis ich beruhigt feststellte, dass es sich bei dem zweiten Läufer auch um einen Mann handelte. 

Die beiden trabten in einem gemütlichen Tempo vor mir her und ich konnte sehen, dass sie sich angeregt unterhielten. Ich musste tatsächlich sehr viel langsamer werden, um sie nicht zu überholen. Du meine Güte, die beiden konnten einem Seniorenlaufverein beitreten!

Ich zerrte die Kopfhörer aus meinen Ohren und erkannte die zweite Stimme auf Anhieb, weil sie meinem Bruder gehörte. Fassungslos umrundete ich die beiden und blieb vor ihnen stehen, die Arme stilecht in die Hüften gestützt. Dazu rümpfte ich die Nase. Badehosen! Die beiden Männer schlichen im Zeitlupentempo durch den Park und redeten über Badehosen – war das zu glauben? Und ich musste meine Runde alleine drehen.

Sich keiner Schuld bewusst grinsten sie mich an. »Hi!«

Frederik beugte sich vor und wollte mir einen Kuss geben, doch ich drehte mit einem verächtlichen Geräusch den Kopf weg. 

»Nur zu deiner Information. Ich habe gerade ganz verzweifelt und einsam an deiner Tür geklopft, weil ich mit dir laufen wollte«, rief ich anklagend und mein Bruder gab sich nicht einmal die Mühe, sein Grinsen zu unterdrücken.

»Ach? Interessant. Ich habe dich heute Morgen gefragt, ob du laufen gehen willst«, stellte Frederik belustigt fest und tauschte einen Blick mit Daniel.

Empört schnipste ich mit den Fingern vor seiner Nase. »Das stimmt doch überhaupt nicht!«

»Klar! Zugegeben: Ich bin vermutlich selbst Schuld, denn immerhin war dein Computer an und du hast kaum vom Bildschirm aufgesehen.« Wieder sah er zu meinem Bruder.

»So ein Unsinn!«, protestierte ich aufgebracht.

»Doch, es ist die Wahrheit«, widersprach mein Freund mir. »Ich habe mit dir gesprochen und du hast diese Handbewegung gemacht.«

»Was für eine Handbewegung?«, wollte ich wissen und spürte, wie sich Falten auf meiner Stirn bildeten.

»Oh, warte. Die kenne ich!« Mein Bruder wedelte mit seinem Arm, als würde er einen Schwarm Mücken vertreiben wollen.

»Das mache ich nicht«, behauptete ich und verschränkte die Arme. Langsam wurde es mir nämlich zu bunt.

»Doch, hast du. Ich war dabei«, sagte Daniel jetzt und grinste breit dabei.

»Wie bitte? Daran könnte ich mich ja wohl erinnern!« Meine Stimme klang fest, aber wirklich sicher war ich mir nicht. Wenn ich arbeitete, neigte ich durchaus dazu, unaufmerksam zu sein. Doch es wäre mir sicherlich aufgefallen, wenn mein Freund und mein Bruder zur gleichen Zeit vor meinem Schreibtisch gestanden hätten. Oder? Ein Hauch von Unwohlsein wogte in mir auf.

Dann sah ich das verschwörerische Blinzeln, das die beiden tauschten und rief triumphierend: »Ha! Ich wusste es, ihr versucht nur, mich zu ärgern.«

Ernst sah Frederik mich an. »Bist du dir da sicher?«

Schnell nickte ich und versuchte dabei, nicht allzu schuldbewusst auszusehen.

»Wie sicher bist du dir denn?«, hakte mein blöder Bruder nach und ich überschlug im Kopf die Prozentzahlen.

Mit hängenden Schultern gab ich schließlich zu: »So ungefähr vierzig Prozent?«

»Das heißt«, analysierte Daniel knapp, »dass es so passiert sein könnte, wie Frederik und ich sagen – weil du das Gegenteil nicht beweisen kannst.«

Aus schmalen Augen funkelte ich die beiden an. Sie besaßen tatsächlich noch die Frechheit, einen High Five auszutauschen. Ich versuchte das Beste daraus zu machen: Die beiden verstanden sich. Das war doch immerhin etwas.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand mich beachtete und ich keine Omas oder Kinder schockieren konnte, zeigte ich Frederik und Daniel den Mittelfinger.

Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief los, schob mir wieder den Kopfhörer ins Ohr. Die Frau informierte mich, dass meine Zeit unter der Pause gelitten hatte. Wütend beschleunigte ich mein Tempo. 

Nach einer Weile warf ich einen Blick über die Schulter und stellte mit Entzücken fest, dass die Männer ihre liebe Mühe hatten, mit mir mitzuhalten – besonders bei meinem Bruder, dem doofen Triathleten, freute mich das immens. Sofort verlieh das Wissen mir den nötigen Motivationsschub, um noch schneller zu laufen.

Lässig stand ich vor der Haustür und wartete geduldig, bis Frederik und Daniel endlich auftauchten. »Na, wart ihr noch einen Kakao trinken?«

Daniel warf mir einen finsteren Blick zu. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das Tempo hältst, Schwesterherz.«

Frederik lächelte nur und kam auf mich zu. Dieses Mal erlaubte ich ihm, mir einen Kuss zu geben. Dann drehte er sich zu Daniel um. »Also dann Donnerstag um 17 Uhr?«

Mein Bruder nickte aufgeregt und ich konnte es nicht fassen. »Schon wieder eine Verabredung?«

Daniel strahlte mich an. »Wir gehen schwimmen.« Dabei leuchteten seine Augen förmlich. Wunderbar. Wenigstens hatte er endlich jemanden gefunden, mit dem er seiner Sportsucht frönen konnte! Er hatte es ja lang genug bei Stephan, unserem Schwager, versucht. Aber genau wie für den Sportmuffel Elena bestand für Stephan das Höchste der Gefühle darin, samstags auf der Couch Fußball zu schauen. 

Ich wiederum würde mir lieber den Fuß abhacken, als mich gefühlte 18 Mal in der Woche mit meinem kleinen Bruder zu treffen und Sport zu treiben. Ein bisschen freute ich mich ja für ihn, dass er jemanden gefunden hatte – aber musste es unbedingt mein Freund sein?

Ich überlegte gerade, wie ich meine Drohung sanft verpacken konnte, dass ich Daniel dafür verantwortlich machen würde, wenn Frederik demnächst zu müde war, um Sex zu haben. In diesem Moment verabschiedete sich mein Bruder schon.

Frederik hielt mir die Haustür auf und ließ mir den Vortritt. Ich stiefelte die Treppe hinauf und fragte dabei: »Starrst du mir schon wieder auf den Hintern?«

»Jepp.«

»Gut, dann versuch am besten, dir das Bild genau einzuprägen. Bis du mir verrätst, ob du und Daniel heute wirklich in meiner Wohnung wart, gibt es nämlich keinen Hintern mehr für dich.«

Frederik machte ein betroffenes Geräusch und ich nickte zufrieden. 

»Heißt das, dass ich jetzt bei mir duschen muss?«, wollte der Mann wissen und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er meine Drohung nicht für voll nahm.

Ich drehte mich um und wollte ihm klar machen, dass es genau das bedeutete. Doch ich erschrak, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass er so nah hinter mir stand. Sofort umfasste er meine Taille und drängte mich nach hinten gegen meine eigene Wohnungstür. Sein Kuss war alles andere als zurückhaltend und ich schmolz sofort dahin – was mich nur noch wütender machte.

Energisch legte ich meine Hand auf seine Brust und wollte ihn von mir schieben, stattdessen stibitzte Frederik mir den Schlüssel aus den Fingern. Er schob ihn ins Schloss und ich klammerte mich panisch an meinen Freund, als die Tür hinter mir aufschwang und ich Gefahr lief, einfach ins Leere zu fallen.

»Danke für die Einladung«, raunte Frederik an meinen Lippen und schob mich in die Wohnung. Hinter uns stieß er die Tür mit der Ferse zu, während ich nicht einmal dazu kam, Luft zu holen. 

Seine Zunge drang wieder zwischen meine Lippen und spielte aufreizend mit meiner. Ich unterdrückte mein Stöhnen und tastete nach dem Saum von Frederiks Laufjacke. Meine Hände glitten unter den Stoff und ich erschauerte, als meine Fingerspitzen auf seine heiße Haut trafen.

Erst als ich mit dem Rücken gegen die Badezimmertür stieß, fand ich die Kraft, mich von ihm zu lösen. Er trat zurück und zog seine Schuhe aus. Ich sah auf ihn herab und überlegte, ob ich jetzt eine Diskussion darüber anfangen sollte, dass ich eigentlich nein gesagt hatte. Die Mühe konnte ich mir sparen – immerhin wussten wir beide, dass ich es nicht ernst gemeint hatte. Als Frederik sich wieder aufrichtete, war ich bereits nackt und hatte das Licht im Bad eingeschaltet.

Er warf einen Blick auf seine Pulsuhr. »Erstens: Das ist eine neue Rekordzeit für dich. Zweitens: Mein Puls ist zu hoch.«

Ich lachte und packte seine Hand, um ihn mit mir in die Duschkabine zu ziehen. Unterwegs streifte er sich das Shirt ab und zog die Uhr aus. Ich half ihm mit der Hose und schlüpfte dann unter die Dusche. Als er endlich nackt war, stieg er zu mir und hob sein Gesicht dem Wasserstrahl entgegen.

»Ich habe irgendwie den Eindruck, dass ich heute die ganze Zeit herumstehe und auf dich warte«, zog ich ihn auf und ließ meinen Fingernagel um seine harte Brustwarze kreisen.

»Dann sollte ich dich wohl nicht länger warten lassen…«, sagte er und legte seine Hände um meine Hüften.

Für einen Moment wollte ich protestieren, dass ich zu schwer wäre, doch Frederik hob mich einfach hoch. Die kalten Fliesen hinter meinem Rücken ließen mich nach Luft schnappen, machten jeden Einwand unmöglich. 

Meine Beine waren weit gespreizt und er drängte sich unmittelbar dazwischen, presste mich dabei gegen die Wand. Ich schlang die Arme um seinen Nacken, die Beine um seine Taille und im gleichen Moment glitt Frederik in mich.

Ich wollte ihm sagen, wie unglaublich sexy ich ihn fand, wie gut der Sex mit ihm war, wie gern ich ihn nackt sah – doch als ich den Mund öffnete, brachte ich nichts als ein heiseres Keuchen hervor.

Meine Fersen drückte ich gegen ihn; versuchte auf diese Weise, ihn noch tiefer in mich hineinzuziehen. Dann beugte ich mich vor und küsste seine Schulter. Seine Muskeln zeichneten sich deutlich ab und sahen unter dem prasselnden Wasser noch verlockender aus als ohnehin schon. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich jeden einzelnen Wassertropfen mit meinen Lippen weggeküsst.

Ein feines Prickeln durchströmte meine Nippel, die bei jedem Stoß seiner schmalen Hüften über seine Brust rieben. Endlich konnte ich meine Lust zum Ausdruck bringen und stöhnte ganz leise dicht neben seinem Ohr: »Oh Gott!«

Frederiks Bewegungen wurden unmissverständlich schneller und ich ließ meine Hand zwischen unsere Körper gleiten, reizte mit kurzen, beinahe ruppigen Berührungen meine empfindliche Klit. Tief in meinem Unterleib zuckte es und meine Pussy zog sich zusammen, umklammerte Frederiks Schwanz. 

Als ich schließlich kam und meine Lippen wieder auf Frederiks Haut presste, um den Schrei zu unterdrücken, dauerte es nur noch ein paar Sekunden, bis er mir folgte und ich das heiße Pulsieren seines Schafts in mir spürte.

Zögerlich hob ich den Kopf, mein Herz raste noch immer und meine Beine fühlten sich weich an. Wenn Frederik mich gleich herunterließ, musste ich aufpassen, dass die Knie nicht nachgaben wie bei einem jungen Fohlen. Oder bei einer betrunkenen Antilope…

Endlich gab Frederik mich langsam frei und ich sah ihn an. Die Intensität der Gefühle, die sich in seinen Augen spiegelte, überraschte mich. Wie hatte er sie so lange verbergen können? Seit er mir Silvester gesagt hatte, dass er mich liebte, erwischte ich ihn immer wieder dabei, dass er mich eindringlich musterte. Doch ich wagte es nicht, mich danach zu erkundigen. 

Ich war tief im Inneren noch immer ein kleines verängstigtes Mädchen, das einmal verletzt worden war und der ganze Gefühlskram jagte mir eine Menge Angst ein. Aber ich arbeitete daran – das tat ich wirklich.


»Pst«, flüsterte Frederik leise neben meinem Ohr und ich öffnete schlaftrunken ein Auge und nahm verschwommen das blaue Flimmern des Fernsehers wahr. Abgesehen von der kleinen Stehlampe in der Zimmerecke war es dunkel. 

Der Fuß der Lampe wurde immer leicht warm und so war es nicht verwunderlich, dass Schröder dort zusammen gekringelt lag. Seine Augen waren schmal und auf ungeübte Betrachter – sein Herrchen trotzdem eingeschlossen – wirkte es sicherlich so, als ob der Kater vollkommen entspannt dort lag, aber ich wusste es besser. Wie schon seit Tagen behielt Schröder mich auch in diesem Moment im Auge. Jeder Top-Spionage-Agent wäre stolz auf die zurückhaltende Methode des Haustiers gewesen. Aber ich ahnte, dass Schröder nur darauf wartete, mich anzufallen und mir dann wieder die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Wie das eine Mal, als er an meiner Nase geleckt hatte – Frederik wollte mir bis heute nicht glauben. 

»Worüber denkst du nach?«, erkundigte Frederik sich nun und mir fiel auf, dass ich seit bestimmt zwei Minuten den Kater aus nur einem Auge anstarrte und dabei nicht einmal geblinzelt hatte. Doch Schröder hielt meinem Blick mühelos stand.

»Nichts«, murmelte ich.

»Komm, kleine Schriftstellerin, es ist Zeit fürs Bett.« Frederik hielt seine Stimme immer noch gesenkt und ich war dankbar dafür.

Ich nuschelte: »Okay«. Dann schob ich die Decke von mir und fröstelte sofort. Das blaue Flimmern verschwand, als Frederik seinen Fernseher ausschaltete und ich hievte mich mühsam von der Couch. Langsam trottete ich zur Wohnungstür und gähnte dabei. Meine Hand lag schon auf der Klinke, als der Mann von hinten einen Arm um mich schlang. Sein warmer Körper fühlte sich so dicht hinter mir wirklich unverschämt gut an und ich seufzte leise.

Sein Atem kitzelte mein Ohr, als er belustigt fragte: »Wo willst du denn hin?«

Verwirrt sah ich an mir herunter und kniff die Augen zusammen. Ich hatte meinen Schlafanzug und dicke Socken an. »Ins Bett?«, schlug ich vor.

»Gute Idee«, sagte Frederik und zog mich mit sich. Er stieß die Schlafzimmertür auf und schob mich in den Raum. Dankbar kletterte ich in das Bett. Richtig, ich hatte vor lauter Müdigkeit ganz vergessen, dass ich neuerdings andauernd bei ihm schlief.

»Schlaf gut«, raunte der Mann mir zu und drückte einen Kuss auf meine Schläfe.

Meine Antwort war so leise und ich nuschelte dermaßen müde, dass ich selbst nicht verstand, was ich entgegnete, bevor ich sofort einschlief.