9


Entnervt ließ ich mich auf die Couch fallen. Das war mit Abstand die grauenvollste Woche seit Langem gewesen. Meine Laune war auf einem neuen Rekord-Tiefpunkt angekommen und ich konnte mich nicht einmal mit Frederik im Bett austoben, weil ich meine Tage hatte.

Seit dieser beknackten Party nervten mich alle damit, dass es ja ganz wunderbar sei, dass ich endlich einen Mann gefunden hatte. Ich konnte nicht einmal benennen, was mich daran am wütendsten machte. Erstens brauchte ich überhaupt keinen Mann – außer zum Vögeln – und zweitens war ich ja wohl nicht gerade verzweifelt auf der Suche gewesen. Zum Dank tat jetzt jeder so, als wäre Frederik eine Art Volksheld, der sich meiner ganz tapfer und selbstlos angenommen hatte. 

Vor allem dieser beknackte Frauenabend mit meiner Schwester und Mo hing mir noch in den Knochen. Was wussten die beiden schon von meinem Arrangement mit Frederik?

Ich versuchte, mich davon zu überzeugen, dass alles wunderbar funktionierte. Dabei brachte dieser unverschämte Kerl mein Leben verdammt durcheinander und ich hatte den Verdacht, dass er das mit Absicht tat. Er scherte sich einen Dreck um die Vorgaben, die ich am Anfang unseres Verhältnisses gemacht hatte und drängte sich immer mehr in mein Leben. Einmal hatte Frederik mich in der letzten Woche gefragt, ob etwas wäre. Ich hatte stumm den Kopf geschüttelt und dabei darüber nachgedacht, wie ich ihm erklären sollte, dass er war?

Was aber noch schlimmer war: Ich hatte entdeckt, dass es mich nicht so sehr störte, wie ich gehofft hatte. Genauso gut hätte ich kapitulieren können. Irgendwie schaffte ich es einfach nicht, mich gegen meinen Nachbarn durchzusetzen und genoss seine Nähe immer mehr.

Allerdings verspürte ich im Moment nicht die geringste Lust, mich überhaupt mit diesem Themenkomplex auseinanderzusetzen. Ich wollte Eiscreme, am liebsten eine schokoladige Sorte, außerdem war eine Flasche Bacardi wahrscheinlich auch nicht verkehrt. Dabei verspürte ich ein gewisses Verlangen nach Gyros, einem Grillhähnchen, Pommes und der Herrencreme meiner Oma. Seufzend griff ich nach der Fernbedienung. Vielleicht würde es helfen, wenn ich mich berieseln ließ.

Zwar hätte ich selbst nicht geglaubt, dass es überhaupt möglich war, aber sofort, als der Fernseher lief, sank meine Laune noch weiter. Jemand hatte die Programmreihenfolge geändert und ich hatte eine sehr plausible Theorie, wer das gewesen sein könnte.

Meine Zähne knirschten bereits, als ich an Frederiks Tür klopfte. Als er öffnete, strahlte er mich an. Zu seinem eigenen Glück konnte er meinen Aufzug richtig deuten und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Ich wusste selbst, dass ich keinen erbauenden Anblick bot. Meine Haare standen wirr um meinen Kopf und die Jogginghose hatte schon bessere Tage gesehen. Außerdem war ich mir nicht sicher, welchen Ausdruck ich gerade auf meinem Gesicht trug.

»Du hast meinen Fernseher kaputt gemacht«, knurrte ich leise und verschränkte die Arme.

Verblüfft blinzelte er. »Habe ich das?«

»Ja. Die Sender sind alle durcheinander!«, stieß ich hervor und es juckte in meinen Fingern, Frederik nur ein ganz kleines bisschen zu würgen. Danach würde es mir sicher besser gehen.

»Unsinn. Ich habe sie nur logisch sortiert. Abgesehen davon ist das bestimmt schon sechs Wochen her, so schlimm kann es also nicht sein, wenn es dir jetzt erst aufgefallen ist.« Er besaß tatsächlich die bodenlose Frechheit, mich anzugrinsen.

Wütend hielt ich ihm die Fernbedienung hin. »Bring das wieder in Ordnung!«, forderte ich ihn auf und drehte mich um. Ihm würde ganz schön etwas blühen, wenn er mir nicht sofort folgte. 

Ich hörte, wie seine Tür ins Schloss fiel und dann seine Stimme: »Ich nehme an, dass es keine gute Zeit ist, um auf Sex zu spekulieren?«

Ganz langsam drehte ich mich um und bedachte ihn mit einem Blick, der mehr als deutlich zum Ausdruck brachte, dass ich blutete und er jetzt besser die Klappe halten sollte, wenn er es mir nicht gleich tun wollte – und zwar aus der Nase!

Aber er hielt mir ungerührt stand und zuckte dann mit den Schultern. Mit einem Schnaufen ließ ich mich auf die Couch fallen und zeigte nur wortlos auf den Fernseher. Statt gefälligst direkt das Chaos zu beseitigen, das er angerichtet hatte, schob Frederik mich ein Stück zur Seite und pflanzte seinen Hintern auf meine Couch.

»Was wolltest du denn gucken?«, wollte er wissen.

»Keine Ahnung. Irgendwas, wofür ich nicht denken muss. QVC oder so«, nuschelte ich leise und überlegte, wie ich mich jetzt ausstrecken sollte, ohne ihm zu nahe zu kommen. Er roch schon wieder so gut. Ich sollte ihm verbieten, das zu tun.

Frederik schaltete den Fernseher ein und zwei Sekunden später flimmerte ein anderer Shoppingsender über den Bildschirm. 

»Willst du dich nicht lang machen?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Das ist nicht QVC«, erwiderte ich gereizt.

Frederik lachte leise und streckte die Hand nach meiner Schulter aus. Nachdem er sich scheinbar vergewissert hatte, dass ich ihn nicht beißen würde, zog er mich zu sich und bettete meinen Kopf auf seinem Schoß. Misstrauisch sah ich zu, wie er seine Füße auf meinen Couchtisch legte. Gerade, als ich protestieren wollte, begann er, meinen Kopf zu massieren. Meine Protest verwandelte sich auf halber Strecke in einen wohligen Seufzer und ich schloss die Augen.

 

Die Türklingel erschreckte mich fast zu Tode und ich fuhr mit klopfendem Herzen hoch. Verwirrt sah ich mich um. 

»Schon gut, bleib liegen. Ich gehe.« Sanft schob Frederik mich von seinen Beinen und stand auf.

»Wer ist das?«, fragte ich irritiert und bemerkte, dass meine Stimme heiser klang. Ich musste eingeschlafen sein – und zwar ziemlich fest.

»Nur das Essen«, antwortete er und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Ich setzte mich auf und wischte mir über das Gesicht. Ein Blick auf die Uhr versicherte mir, dass ich fast zwei Stunden geschlafen hatte. Statt QVC flimmerte irgendein Fußballspiel über den Bildschirm. Eigentlich wollte ich wütend werden, aber ich fühlte mich so entspannt. Hatte Frederik etwa die ganze Zeit meine Kopfhaut gekrault?

In diesem Moment kehrte er schon zurück und grinste mich an. »Hier, fang!«

Erschrocken quiekte ich auf, als er mir einen kleinen Gegenstand zuwarf. Obwohl ich sonst sehr ungeschickt war, schaffte ich es, das Objekt zu fangen, ohne es fallenzulassen. Es war eiskalt. Voller Freude betrachtete ich den kleinen Becher Ben & Jerry’s New York Super Fudge Chunk. Ich wusste, dass ich mich bedanken sollte – aber gleichzeitig fand ich es irgendwie gruselig, dass er gewusst hatte, dass ich Eis wollte.

»Gut?«, fragte er und setzte sich wieder neben mich. Dabei hielt er mir einen kleinen Löffel hin. Widerwillig nickte ich und schielte zu dem Pizzakarton, den er in der Hand hielt. 

»Was hast du da?«, wollte ich wissen.

»Wenn du lieb fragst, kannst du ein Stück haben«, neckte er mich und klappte den Deckel auf. Spinatpizza – sofort krampfte mein Magen sich zusammen. Ich hatte Hunger.

Aber es widerstrebte mir natürlich, ihn zu fragen. Selbstgerecht grinsend hielt er mir den Karton hin und ich griff sofort zu. 

»Danke.« Mehr sagte ich nicht, denn wenn ich nicht aufpasste, würde ich den Satz beenden mit: ›dass du dich einfach in mein Leben drängst und komplett ignorierst, was ich sage.‹

Zwanzig Minuten später verging ich vor Selbsthass. In stummer Kapitulation guckte ich tatsächlich dieses beknackte Fußballspiel mit Frederik und löffelte dabei Eis aus dem Becher, während er mir den Rücken streichelte. Und zu allem Überfluss war ich auch noch vollkommen zufrieden dabei. So konnte das unmöglich weitergehen. Wieso wollte er bloß selbst dann Zeit mit mir verbringen, wenn ich schlecht gelaunt war und mir größte Mühe gab, ihn auf Abstand zu halten?

Gleichzeitig verachtete ich mich dafür, dass ich es toll fand, dass er sich um mich kümmerte. Ich war doch sonst so eigenständig. Grauenvoll! Ich kam mit meinen finsteren Gedanken weder vor noch zurück.


Die Falle konnte ich schon wittern, bevor ich Frederiks Grinsen überhaupt sah. Ganz entspannt lehnte er mit dem Arm am Türrahmen und zeigte mit dem Finger auf mich. »Heute ist dein Glückstag!«

Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch und wappnete mich innerlich dafür, dass jetzt unter Garantie etwas kam, das ich nicht hören wollte.

Frederik richtete sich auf und verschränkte die Arme. »Du siehst nicht angemessen begeistert aus.«

Als Antwort zog ich auch die zweite Augenbraue nach oben und schielte nach hinten zu meinem Computer. Ich würde jetzt viel lieber schreiben, als ein Frage-und-Antwort-Spiel zu spielen. 

Frederik schüttelte nur den Kopf. »Jetzt freu dich schon!«, verlangte er.

Ich rang mir ein sehr unmotiviertes »Juchu!« ab und wartete darauf, dass er mir endlich verriet, worum es denn ging. 

Mit einer großen Geste griff er in seine Jackentasche und präsentierte mir zwei Tickets.

»Was ist das?«, wollte ich wissen und ahnte schon, dass es wieder einmal darauf hinauslief, dass ich die Wohnung verlassen musste.

»Eine Kollegin hat mir die geschenkt, weil ihr Mann krank geworden ist und sie alleine nicht hingehen will. Zwei Karten für die letzte Reihe von Nadine Nehmaiers Kochshow – live, in einer Stunde in der Stadthalle.«

Ich legte den Kopf schräg und fragte mich, ob Frederik mir jemals zuhörte. »Ich hasse Nadine Nehmaier!«

»Ich weiß, aber du regst dich leidenschaftlich gern über sie auf. Also setzen wir uns jetzt gleich in die letzte Reihe und du darfst drei Stunden lang lästern, fluchen und dich über sie auslassen. Wie hast du sie letztens noch genannt? Gestörtes Suppenhuhn?«

Jetzt musste ich doch widerwillig grinsen und feststellen, dass ich die Idee gar nicht so schlecht fand. 

Da bemerkte ich Frederiks irritierten Gesichtsausdruck. »Hoffentlich hast du für den Anlass das passende schwarze T-Shirt im Schrank.«

»Idiot.« Ich stiefelte ins Schlafzimmer und rief dabei über die Schulter: »Warte hier!«

Als ich mich etwas ausgehtauglicher anzog, dachte ich darüber nach, dass Frederik sich offensichtlich merkte, was ich mochte und was nicht. Ich konnte mich daran erinnern, dass wir vor einiger Zeit beim Fernsehen auf die Kochsendung von der furchtbaren Nehmaier gestoßen waren und ich sofort verlangt hatte, dass Frederik umschaltete. Doch er hatte lieber dabei zugehört, wie ich mich aufregte und dabei gelacht. Das hatte mir irgendwie gefallen – ihn zum Lachen zu bringen.

Frederik hielt mir bereits die Jacke hin, als ich aus dem Schlafzimmer kam. 

»Und du hast wirklich nichts für die Karten bezahlt?«

»Nein. Ich wusste nicht einmal, dass die Frau überhaupt tourt. Ehrlich gesagt frage ich mich, ob das überhaupt funktionieren kann. Die Serie lebt ja davon, dass sie mehr anbrennen und fallen lässt, als letztendlich auf dem Tisch landet.«

Mein Grinsen wurde bei dieser Vorstellung noch breiter. »Finden wir es heraus.« Ich fühlte mich mit einem Mal so ausgelassen und von Vorfreude erfüllt, dass ich tatsächlich freiwillig Frederiks Hand ergriff. Glücklicherweise war er klug genug, das unkommentiert zu lassen.


Wir stolperten lachend aus dem Saal und ich wischte mir zum wiederholten Male Tränen aus den Augenwinkeln. »Wow, ich hatte gehofft, dass es lustig wird – aber nicht, dass es zum Schreien komisch sein würde!«

Ich hatte allen Ernstes Seitenstechen und konnte kaum mit Frederiks großen Schritten mithalten. Er strich sich über das Gesicht und sagte: »Das hätte ich auch nicht gedacht. Es hat sich wirklich gelohnt. Wobei ich glaube, dass das irgendwie alles gestellt gewesen sein muss.«

Wir eilten bereits zum Parkhaus, um vor allen anderen auf der Straße zu sein, bevor wir hinter einem dieser Autos feststeckten, das mit dem Wendekreis eines Panzers ausparkte und damit einen Stau verursachte. Die gleichen Fahrer waren es meistens auch, die dann an der Schranke merkten, dass sie vergessen hatten, das Ticket zu bezahlen.

Entspannt glitt ich auf den Beifahrersitz, das – bezahlte – Ticket gezückt und dachte nach. »Ich glaube, da könntest du recht haben. Allerdings habe ich noch nie so laut gelacht wie in dem Moment, als die brillante Superköchin aus Versehen das gefrorene Hähnchen in Brand gesteckt hat. Wie ist so etwas überhaupt möglich?«

»Keine Ahnung, wie bekommt man aus zu wenig Milch und zu viel Puddingpulver eine dünnflüssige Pampe hin?«, erwiderte Frederik und lachte schon wieder.

»Hat es dich eigentlich gestört, dass wir die einzigen waren, die gelacht haben?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf und warf dabei einen Blick über die Schulter, bevor er die Spur wechselte. »Nein. Aber ich denke, wir haben nicht alleine gelacht. Wir waren nur sehr viel lauter als alle anderen.«

»Ich hätte auch nichts zu lachen gehabt, wenn wir statt in der letzten in der ersten Reihe gesessen hätten«, kicherte ich.

Frederik stöhnte gequält. »Allein die Vorstellung, plötzlich mit Bratensauce bespritzt zu werden.« Er schüttelte sich. »Wobei, so lange, wie der Topf mit der Sauce auf dem Herd stand, ist es wirklich ein Wunder, dass die Leute meinten, die Sauce sei kalt und klumpig gewesen.«

»Unbezahlbar«, sagte ich mit einem Murmeln. »Ich hatte wirklich sehr viel Spaß.«

»Das freut mich. Vielleicht sollten wir öfter mal rausgehen.«

»Ja, das sollten wir«, antwortete ich und kuschelte mich tiefer in meinen Sitz. Langsam wurde ich ein Fan von Frederiks Auto, denn seine Sitzheizung wärmte im Gegensatz zu meiner nicht nur den Popo ganz wunderbar, sondern direkt den ganzen Rücken. So ließ ich mich natürlich gern durch die Gegend befördern.

Fast hätte ich wehmütig geseufzt, als wir zuhause ankamen. Ich verkniff es mir aber, denn Frederik hätte dann nur noch ein Argument mehr gehabt, warum besser er fahren sollte. Dabei argumentierte ich schon gar nicht mehr mit ihm, sondern gab einfach nach. 

Noch im Flur drehte ich mich um und fragte: »Kommst du morgen auch vorbei?«

Frederik streckte einen Finger aus und tippte sanft an meine Nasenspitze. Sein Grinsen ähnelte dabei dem eines kleinen Jungen. Seine Augen funkelte, während er sagte: »Siehst du?«

Ich zog meine Stirn kraus und kramte in meinem Gedächtnis, da seine Worte irgendetwas in mir auslösten. Plötzlich fiel es mir wieder ein.

»Eines Tages werde ich sagen: ›Siehst du?‹ – Und dann wird es dir wie Schuppen von den Augen fallen.« Das hatte er gesagt, als ich ihn vor einiger Zeit gefragt hatte, was er eigentlich vorhatte. Gut, eigentlich war meine Frage so gemeint gewesen, dass ich wissen wollte, ob er irgendwelche Absichten verfolgte. Gleichzeitig hatte ich mir aber auch einen Rat erhofft, der mir beantwortete, was ich da eigentlich tat.

Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus und mein Rücken versteifte sich leicht, als die Erkenntnis mich mit voller Wucht traf. Ich fühlte mich, als hätte ein LKW mich mit voller Fahrt gerammt. Das hatte Frederik gemeint. Das volle Ausmaß seiner Strategie lag plötzlich offen vor mir und spiegelte sich in seinen verdammten blauen Augen wider.

Ich hatte ihn gerade eingeladen. Ich hatte ihn gefragt – nicht er mich. Obwohl ich von Anfang an darauf bestanden hatte, dass es eine rein körperliche Angelegenheit zwischen uns blieb, war ich diejenige gewesen, die ihn immer wieder gefragt hatte. Er hatte sich auf den Sex beschränkt und mich nicht weiter gedrängt. Dieser verflucht schlaue Mistkerl hatte mich eingewickelt, indem er genau das getan hatte, was ich gefordert hatte. 

Das war sein Plan gewesen? Wie hätte ich denn vorhersehen sollen, dass er so charmant und nett war, dass ich ihn andauernd um mich herum haben wollte? Von seinen Kochkünsten, dem Gestreichel und seinen Fähigkeiten als Liebhaber einmal abgesehen.

Mehrfach musste ich meine Mundwinkel anweisen, sich nach oben zu bewegen. Leichter gesagt als getan, so wie es gerade in mir aussah. Statt Frederik aus meinem Leben zu halten, hatte ich ihn eingeladen, aktiv daran teilzunehmen. Ich kam mir so unglaublich dumm vor. Dabei hatten Elena und Mo noch versucht, mich zu warnen – selbst bei dem Gespräch mit Don hätten eigentlich meine Alarmglocken wie verrückt läuten müssen. 

Aber nein. Ich war ja stur und ach so klug. Scheiße. Scheiße. Scheiße!

Frederiks Hand legte sich wie selbstverständlich um meine Wange und er hauchte einen flüchtigen Kuss auf meine Lippen. Im letzten Moment konnte ich mich daran hindern, ihm den Kopf entgegen zu heben und den Kuss zu vertiefen.

»Denkst du an die Weihnachtsfeier?«, fragte er gelassen. Gerade so, als hätte er mich nicht soeben vorgeführt wie ein naives Schulmädchen.

»Natürlich«, entgegnete ich und fühlte, wie sich mit einem Mal eine eisige Kälte in meinem Inneren ausbreitete. Was auch immer zwischen mir und Frederik war: Es musste enden – und zwar bald. Zusammen mit der Kälte kam ein eiserner Ring, der sich um meine Rippen legte und mir das Atmen beinahe unmöglich machte. Mit purer Willenskraft zwang ich mich dazu, ruhig zu bleiben. Ich fühlte mich wie unter Wasser, schien einfach nicht genug Sauerstoff zu bekommen.

»Wunderbar. Ich hole dich gegen 18 Uhr ab. In Ordnung?«, strahlte er mich an. Sein Daumen streichelte noch immer meine Wange. Hoffentlich spürte er nicht, wie kalt meine Haut sich anfühlte. Aber vermutlich bildete ich mir das ohnehin nur ein.

Einen kurzen Kuss später schlossen wir jeweils unsere eigenen Wohnungstüren auf und ich war froh, dass ich ihm den Rücken zuwenden konnte. In meinen Augen brannte es und ich fürchtete, dass die Tränen nicht mehr lange auf sich warten lassen würden.


Als ich in dem schwarzen Cocktailkleid die Tür öffnete, breitete sich ein Grinsen auf Frederiks Gesicht aus. Ich hingegen ignorierte krampfhaft den harten Knoten in meinem Bauch, der mit dem Verlangen einherging, mich zu übergeben. Irgendwie rang ich mir ein Lächeln ab und griff nach meiner kleinen Tasche.

Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Frederik drängte sich immer mehr in mein Leben und ich hatte nicht die geringste Lust, in wenigen Wochen die Scherben meines Herzens aufzusammeln. Irgendwie musste ich ihn heute Abend so wütend machen, dass er unser Verhältnis beenden würde – ich selbst war leider ein Waschlappen und zu schwach dafür. 

Auch jetzt, als ich sein Lächeln betrachtete, breitete sich ein verräterisch warmes Gefühl in meinem Bauch aus, das hart mit dem Knoten kollidierte, der sich dort ebenfalls befand.

»Muss ich irgendetwas wissen, bevor ich bei der Feier irgendwem auf den Schlips trete? Büro-Affären oder solche Dinge?« Meine Stimme klang glücklicherweise gefasst und ließ keinerlei Rückschluss darauf zu, was in mir vorging. 

»Eigentlich nicht. Pass nur auf, dass mein Chef dir nicht andauernd in den Hintern kneift, wenn er den ersten Glühwein getrunken hat. Dafür ist er in der weiblichen Belegschaft berüchtigt.«

Wir gingen nebeneinander die Treppe hinunter. »Würde dich das denn stören?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Natürlich. Schließlich bist du meine bezaubernde Begleitung.«

Noch ein weiteres Kompliment und ich würde wie Butter in der Pfanne schmelzen. Das durfte einfach nicht passieren – insgeheim war Frederik sicherlich nicht besser als Ole, mein Ex-Freund. Oder doch?

Während wir durch die dunklen Straßen fuhren, die nur von den Laternen und der Weihnachtsbeleuchtung erhellt wurden, grübelte ich, wie ich am besten vorgehen sollte. Wenn Frederik wirklich eifersüchtig war, könnte ich damit sicherlich arbeiten. Ich erinnerte mich, dass das bei Don ja ebenfalls wunderbar funktioniert hatte.

Warum fühlte ich mich nur trotz dieser Erkenntnis nicht besser?

Wir waren viel schneller da, als mir lieb war und mit einem mulmigen Gefühl sah ich an dem großen Gebäude hoch. Mein Magen rebellierte mittlerweile kräftig und ich würde mir gleich vermutlich ordentlich Mut antrinken müssen.

Ich zuckte kurz zusammen, als Frederik meine Hand nahm und starrte entsetzt auf unsere verschränkten Finger.

»Ist das okay für dich?« Er grinste mich an und gab mir damit zu verstehen, dass ihm die Antwort ohnehin egal wäre.

Mit so fest zusammengepressten Zähnen, dass ich fürchtete, sie würden gleich knirschen, nickte ich und folgte ihm zu dem erleuchteten Eingang. Warum konnte ich nicht einsam und zufrieden auf meiner Couch liegen, statt Ende November zu einer Weihnachtsfeier zu gehen, auf der ich eigentlich gar nichts zu suchen hatte?

Ich wurde auf Schritt und Tritt von meinem schlechten Gewissen begleitet, das mir unablässig versicherte, dass meine Idee nicht die beste war. Allerdings wurde mein Gewissen rücksichtslos von meinem Selbsterhaltungstrieb niedergekämpft, der mir immer wieder eindringlich zuflüsterte, dass Männer alle gleich waren und ich unbedingt einen sauberen Schnitt brauchte.

Wie durch einen Filter nahm ich wahr, dass Frederik mich seinem Chef und einigen Kollegen vorstellte, dabei vermied er mir zuliebe allerdings eine genauere Beschreibung meiner Funktion in seinem Leben. Flüchtig fragte ich mich, als was er mich überhaupt sah: Liebhaberin? Affäre? Freundin? Kumpel? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.

Als sein Chef mir einen Glühwein brachte und dabei auffällig dicht neben mir stand, warf Frederik mir einen eindringlichen Blick zu. Gegen meinen Willen und meiner inneren Unruhe zum Trotz musste ich grinsen und ging auf Abstand.

Kurze Zeit später wurde Frederik von ein paar Kollegen in ein Gespräch verwickelt. Er warf mir einen fragenden Blick zu und ich signalisierte mit einem Nicken meine Zustimmung. So lange ich mich von seinem Chef fern hielt, konnte ich sicherlich ein paar Minuten alleine hier herumstehen. Fast sofort zog die Truppe davon und ich schlenderte zum Büffet, um mir noch einen Glühwein zu genehmigen.

Vom Rand aus betrachtete ich das Treiben auf der freigeräumten Fläche, wo sonst die Schreibtische standen – zumindest hatte Frederik es so beschrieben. Der DJ spielte bereits das unvermeidliche »Last Christmas« und ich verdrehte die Augen. Weihnachten war einfach die reinste Ansammlung von Klischees und alle fanden es toll. 

»Sie gehören aber nicht in unsere Firma.«

Irritiert sah ich nach rechts und lächelte aus einem merkwürdigen Reflex heraus höflich. Mir stand ein attraktiver Mann gegenüber, den ich dummerweise in meinem Kopf mit Frederik verglich. Nein, da konnte mein Gegenüber definitiv nicht mithalten, auch wenn er einen gewissen Charme versprühte. Andererseits war es mein fabelhafter Plan – mein Magen verkrampfte sich erneut –, Frederik zur Weißglut zu treiben. Ich umfasste den Tassenhenkel fester, als könnte ich mich so beruhigen, und zeigte ein einladenderes Gesicht. 

Sofort fühlte er sich ermutigt: »Ich bin Simon.«

»Helen.«

»Hallo, Helen.« Sein Lächeln vertiefte sich und er machte keine Anstalten, wieder zu gehen. Auch er hatte einen Becher Glühwein in der Hand und studierte nun mein Gesicht. »Sie sind mit jemandem hier, oder? Ihr hübsches Gesicht wäre mir sicherlich in Erinnerung geblieben, wenn sie hier arbeiten würden.«

Seine Fragen machten mich nervös – wenn ich die Wahrheit sagte, würde er die Flucht ergreifen und lügen wollte ich nicht. 

Kurzentschlossen stellte ich meine Tasse auf den Tisch und fragte: »Möchten Sie vielleicht tanzen? Ich langweile mich ein wenig.« Hoffentlich klang meine Stimme nicht so atemlos, wie sie mir erschien.

Simon war sofort Feuer und Flamme, stellte seinen Becher neben meinen und führte mich auf die Tanzfläche. Glücklicherweise war es eine Weihnachtsparty und mein Angebot kam mir noch recht harmlos vor. Neben uns tanzten eine Menge angeheiterte Sekretärinnen mit blinkenden Nikolausmützen und Rentiergeweihen – dabei würden wohl kaum sonderlich romantische Gefühle aufkommen.

Das Lied verklang gerade, als ich Frederik am Rand der Tanzfläche erspähte. Mein Herz machte einen Satz, als ich erkannte, dass er mich natürlich suchte. Vielleicht war mein Plan doch nicht so gelungen. Doch die Stimme in meinem Hinterkopf war laut genug, um meine Zweifel zu übertönen und machte mir eindringlich klar, dass meine Freiheit und mein Seelenfrieden auf dem Spiel standen. Ich erlaubte es mir nicht, die fadenscheinigen Argumente der Stimme genauer unter die Lupe zu nehmen und grinste Simon an. 

Es war gar nicht so einfach, ihm so viel Augenkontakt zukommen zu lassen, dass er sich gut fühlte, aber gleichzeitig nicht so viel, dass er nicht dachte, ich würde gleich hier mit ihm schlafen wollen. Ich befürchtete nämlich, dass das seine Absicht war.

Queen tönte aus den Boxen – »Thank God It’s Christmas«. Für Simon fiel das Lied offensichtlich unter Balladen, denn ehe ich mich versah, lagen seine Arme um meine Taille und wir tanzten enger miteinander. Nicht so eng, dass es mir unangenehm gewesen wäre, aber jetzt war vermutlich der geeignete Zeitpunkt, ihm mitzuteilen, dass ich mit einem seiner Arbeitskollegen zu der Party gekommen war.

Eine Umdrehung später sah ich Frederik, der mit verschränkten Armen und hochgezogener Augenbraue an der Wand lehnte. Er wirkte alles andere als erfreut. Mein schlechtes Gewissen kreischte auf, die gehässige Stimme protestierte.

Obwohl ich in diesem Moment kurz davor stand, mich zu übergeben, beugte ich mich näher zu Simon und sagte: »Gibt es hier vielleicht einen Ort, an dem man«, ich wartete die wohl platzierte Pause ab, »etwas ungestörter ist?«

Sein erfreutes Lächeln war Antwort genug. Er führte mich von der Tanzfläche und aus dem Augenwinkel konnte ich Frederiks fassungsloses Gesicht sehen. Schnell wandte ich das Gesicht ab und fragte mich, wieso es sich nur so schrecklich falsch anfühlte, was ich tat.

Wir waren gerade im Treppenhaus angekommen, da entwand ich ihm meine Hand. »Tut mir leid. Ich glaube, das ist keine gute Idee. Gibt es im Stockwerk über uns Toiletten?« 

Simon sah sehr enttäuscht aus. »Ja, aber-«

Ich winkte ab und ergriff sofort die Flucht, sein Protest interessierte mich nicht. Jetzt musste ich erst einmal einen Moment allein sein. Sobald ich mir sicher war, dass ich lang genug von Frederik weg gewesen war, würde ich nach unten schleichen und mir ein Taxi rufen. Frederik würde seine eigenen Schlüsse ziehen, danach würde er sicherlich nie wieder mit mir reden wollen. Warum ließ der Gedanke nur Tränen in mir aufsteigen?

Als ich aus der Damentoilette trat, lehnte Frederik an der Wand gegenüber und funkelte mich an. Ich musste ein Seufzen unterdrücken – er sah in dem schwarzen Jackett einfach verboten gut aus. 

»Würdest du vielleicht die Güte besitzen, mir zu erklären, was das soll?« Seine Stimme war leise, aber ich konnte die Wut mitschwingen hören.

»Ich weiß nicht, was du meinst. Das war nur ein Tanz.« Ich wollte mich an ihm vorbeischieben, aber Frederik stellte sich vor mich und blockierte den Weg zur Treppe.

»Bei jeder Anderen wäre das sicherlich so, aber wie wir schön öfter festgehalten haben, bist du nicht wie andere Frauen, Helen. Also?«

Störrisch wich ich seinem Blick aus, das klare Blau seiner Augen brannte förmlich auf meiner Haut und er musterte mich viel zu eindringlich. 

Er machte einen Schritt auf mich zu, doch ich wich nicht zurück. Stattdessen sagte ich leise: »Ich wusste nicht, dass das zwischen uns etwas Exklusives ist. Das hier ist eine Weihnachtsfeier, ich dachte, da ist alles locker und ausgelassen.«

Frederik holte tief Luft. »Willst du mich verarschen? Dir ist schon klar, dass du mit mir hierhin gekommen bist?«

Gelangweilt zuckte ich mit den Schultern, obwohl es fast meine gesamte Kraft kostete.

»Helen, was ist denn plötzlich los?« Ganz nah stand er vor mir und sah auf mich herab.

Als ich nicht antwortete, legte er die Finger unter mein Kinn und wollte es anheben, doch ich hielt dagegen. Schließlich umfasste er mein Kinn und zwang mich, den Kopf in den Nacken zu legen. »Erklär mir, was los ist und was das sollte.«

Unwillig schüttelte ich den Kopf und trat nach hinten, löste mich von seiner Berührung und brachte Abstand zwischen uns. »Ich bin dir keine Erklärung schuldig. Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, war ich volljährig und durchaus in der Lage, das zu tun, was ich will.«

Bevor er noch etwas sagen konnte, schlüpfte ich an ihm vorbei und rannte die Stufen nach unten. Im Vorbeigehen griff ich nach meinem Mantel und steuerte auf den Ausgang zu.

 Auf meiner Flucht stolperte ich genau in Simons Arme, der vor der Tür eine Zigarette rauchte. 

»Hey, kannst du mir ein Taxi rufen?«, fragte ich ihn mit einem Lächeln. Ich hatte das »mir« extra betont, damit er gar nicht erst auf irgendwelche Ideen kam.

Meine Frage verschlechterte seine Laune offenbar, aber er war gut erzogen und griff in seine Jackentasche, aus dem er ein Handy zauberte. Über seine Schulter sah ich, wie Frederik in die Halle trat und sich umsah. Unsere Blicke trafen sich durch die große Glasscheibe und er ballte die Hände zu Fäusten.

Das ungute Gefühl in meinem Magen verstärkte sich und ich drehte mich um. Mein Atem kondensierte vor meinen Lippen und die Tränen brannten in meinen Augen. Aber ich wusste, dass dieser Schmerz nichts im Vergleich zu dem war, der kommen würde, wenn Frederik mich erst einmal verletzte.

Als ich einen verstohlenen Blick über die Schulter warf, fühlte ich mich gleichzeitig bestätigt und enttäuscht – von Frederik war nichts mehr zu sehen.