7


Mo wirkte genauso begeistert über die Aussicht auf einen Frauentag wie ich, als ich in das Auto meiner Schwester stieg, und umklammerte krampfhaft einen Kaffeebecher.

Elena ignorierte unsere Einsilbigkeit und während ich es mir auf dem Rücksitz gemütlich machte, hielt meine Zwillingsschwester einen Monolog über das Verheiratetsein. Ich war mir nicht sicher, ob Mo aus Smalltalk-Gründen danach gefragt hatte oder ob Elena uns beiden das Eheleben schmackhaft machen wollte, aber ich zog es vor, meine Klappe zu halten.

Plötzlich herrschte Schweigen im Wagen und ich blickte unsicher nach vorn, wo ich Elenas vorwurfsvollen Augen im Rückspiegel begegnete. »Du hast nicht zugehört«, stellte sie knapp fest.

Stumm schüttelte ich den Kopf und sah zu, wie sie eine Augenbraue hochzog und die Lippen aufeinander presste. Ich seufzte und wollte gerade fragen, worum es eigentlich ging, als Mo mich erlöste. »Elena hat gefragt, ob du irgendein Shoppingziel hast.«

»Unterwäsche«, antwortete ich ruhig und sah irritiert, dass Mo und meine Schwester einen belustigten Blick wechselten. Was war daran so lustig?

Offenbar bemerkte Elena meine Verstimmung, denn sie grinste: »Das hat nicht zufällig etwas mit einem gewissen Mann zu tun? Groß, attraktiv und blond?«

Ich murmelte meine Antwort nur, doch ich war mir sicher, dass mein »Leckt mich doch!« deutlich zu verstehen war.


Wie immer ignorierte Elena meine Übellaunigkeit, während Mo offenbar das Gefühl hatte, mich aufmuntern zu müssen. Wie Schröder es in Frederiks Wohnung tat, strich sie immer wieder um mich herum. Dabei machte sie schlechte Witze, während wir durch das Einkaufszentrum spazierten.

»Es ist alles okay, du musst mich nicht krampfhaft belustigen.«

Mo sah eingeschnappt aus. »Also ganz im Ernst? Zieh ein netteres Gesicht, du doofer Eremit.« Damit drehte sie sich schwungvoll nach vorne und stolzierte davon. Zuerst sah ich ihr verblüfft hinterher, dann musste ich grinsen. Ich mochte Daniels Freundin wirklich.

Als sie mit Elena in einer Parfümerie verschwand, eilte ich zum nächsten Coffeeshop und besorgte frischen Kaffee. Zumindest für Mo und mich, Elena bevorzugte aus einem unerfindlichen Grund Tee – doch ich weigerte mich schlicht, mich lächerlich zu machen, indem ich zwei extra starke Kaffee und einen Tee bestellte. Wenn Elena Wasser mit Geschmack wollte, sollte sie sich es gefälligst selbst besorgen. Stattdessen kaufte ich ihr eine Zimtschnecke.

Geduldig wartete ich vor dem Laden, bis die beiden mit ihren kleinen Tüten heraus spaziert kamen. Wortlos drückte ich Elena das Gebäck in die Hand, bevor ich vor Mo eine Verbeugung andeutete und ihr den Kaffeebecher hin hielt. »Extra stark mit einem zweiten Shot Espresso, aber nicht so stark wie das Zeug, das Daniel trinkt. Frieden?«

Mo musterte mich aus zusammengekniffenen Augen und ich zog übertrieben die Mundwinkel hoch, bis ich sicherlich aussah, als wäre ich aus einer schlecht gesicherten Irrenanstalt geflohen. Sie nickte knapp und schnappte sich dann den Kaffeebecher. »In Ordnung, Frieden.«

Elena knabberte bereits zufrieden an ihrer Zimtschnecke und fragte zwischen zwei Bissen: »Ich nehme an, es gab keinen Tee?«

Trocken schüttelte ich den Kopf. »War leider aus.«

Mo bekam sich vor lauter Lachen nicht wieder ein.


Stunden später ließ ich mich erschöpft auf die Bank in der Eingangshalle der Kosmetikerin sinken. Elena hatte mit ihrem Frauentag Ernst gemacht und uns eine gefühlte Ewigkeit durch das Einkaufszentrum gescheucht.

Nachdem ich meine gewünschte Unterwäsche gekauft hatte, war ich eigentlich mit der Ausbeute zufrieden und hätte den Rest des Tages gern mit Fantasien darüber verbracht, was für ein Gesicht Frederik wohl zog, wenn er mich in der Unterwäsche sah.

Stattdessen hatte der Freizeit-Feldwebel Elena mich genötigt, Schuhe, Hosen, Oberteile und Bikinis anzuprobieren. Schlussendlich hatte ich viel mehr gekauft, als ich eigentlich geplant hatte.

Mo ließ sich neben mich auf die Bank fallen – und das nicht gerade elegant. »Ich kann nicht mehr«, japste sie.

»Willkommen in meiner Welt«, brummte ich und grinste schief.

»Wir werden nie mehr nach Hause kommen«, verkündete sie mit Grabesstimme.

»Sobald ich auf der Massageliege liege, werde ich sofort einschlafen«, raunte ich ihr zu. Elena redete derweil hektisch auf die arme Rezeptionistin ein. 

Mo schüttelte den Kopf. »Wie macht sie das? Sie trinkt nur Tee und hat mehr Energie als du und Daniel zusammen.«

Ich rümpfte die Nase. »Pah, mein Bruder? Die Schlafmütze!«

Mos Wangen färbten sich zartrosa. »Also, ich formuliere es mal so: Viel Schlaf braucht er jetzt nicht unbedingt.«

Angewidert verzog ich das Gesicht. »Danke, keine weiteren Details mehr. Elena war schon als Kind so. Daniel und ich waren auf der Couch vor dem Fernseher absolut glücklich, Elena durfte man keine zwei Sekunden aus den Augen lassen.«

Mo schüttelte den Kopf und duckte sich tatsächlich, als meine Schwester sich vor uns aufbaute. »Ihr werdet ja wohl nicht schon schlapp machen? Wir haben noch viel vor uns!«

Mos Augen wurden groß und sie sah mich panisch an. Ich lachte. »Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es hier nach noch in eine Cocktailbar und Stephan kommt uns abholen.«

Elena nickte zufrieden und Mo sagte erleichtert: »Okay, beim Cocktailtrinken kann ich sitzen, das schaffe ich noch.«

Natürlich hatte Elena die Kosmetikerin so weit eingeschüchtert, dass der Tag nach ihrer Vorstellung durchgetaktet stattfand. Nachdem wir eine ausgiebige Gesichtsbehandlung über uns hatten ergehen lassen, erhörte endlich jemand Mos und meine Gebete und wir bekamen die gewünschte Massage.

Während Heidi – so hatte sie sich vorgestellt – sich an meinen verspannten Armen und Schultern zu schaffen machte, dachte ich darüber nach, dass ich mich unbedingt öfter massieren lassen sollte, wenn ich schon immer zusammengekrümmt vor meinem Computer hockte.

Über diesem Gedanken schlief ich völlig erschöpft ein.


Elena weckte mich, indem sie ungeduldig mit ihrer Schuhspitze auf den Boden klopfte. »Du bist noch nicht einmal angezogen?« Dazu rümpfte sie die Nase.

Ich rieb mir verschlafen die Augen und war froh, dass Heidi mich hatte schlafen lassen. Wer wusste schon, wann Elena uns wieder aus ihren Klauen entlassen würde.

In Rekordgeschwindigkeit zog ich mich an und verpasste mir alibihalber eine Schicht Mascara. Mein einziger Trost war, dass Mo genauso geschafft aussah wie ich. Bevor wir das Spa verließen, warf sie einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Bank im Eingangsbereich und seufzte schwer. 

Ob Elena das entging oder sie es ignorierte, wusste ich nicht. Meine Schwester nahm den Platz in unserer Mitte ein und hakte sich dabei bei uns unter. »Stellt euch nicht so an, es ist auch nicht mehr weit.«

»Gibt es da etwas zu Essen? Ich verhungere!«, murrte ich.

»Genau, ich will auch essen!«, stieg Mo gleich mit ein und Elena verdrehte die Augen. 

»Jaja, ihr Nervensägen. Natürlich essen wir was. Ich will ja nicht, dass ihr mir gleich in den Seilen hängt.«

Mo hustete alles andere als dezent und sagte: »Nach deinem Hochzeitstagsdebakel würde ich mich da lieber an deiner Stelle nicht so weit aus dem Fenster lehnen.«

Elena winkte mit rotem Gesicht ab und ich grinste nur. Mo war wirklich wunderbar.

In dem Moment, als das Essen vor mir stand, bemerkte ich Elenas neugierigen Blick. Sofort wappnete ich mich für das nächste Verhör. Sie legte ihr Besteck zur Seite und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Dann lass mal hören.«

Interessiert wanderte Mos Blick von Elena zu mir. Obwohl ich schon leichtes Herzklopfen hatte, zuckte ich mit den Schultern. »Was meinst du?«

Elenas Grinsen wurde merklich breiter. »Na, ich will wissen, wie du Frederik kennengelernt hast. Die Geschichte mit dem abgegebenen Paket stimmt doch nie im Leben.«

Ich musste mir auf die Zungenspitze beißen, um nicht lauthals zu fluchen. Dabei spürte ich bereits, wie das Blut sich in meinen Wangen sammelte. Scheiße. Scheiße. Scheiße.

»Warum sollten wir uns denn so eine banale Geschichte ausdenken?«, versuchte ich abzuwiegeln.

Statt mir zu helfen, schlug die Verräterin Mo sich auf die Seite meiner Schwester. »Na, weil die richtige Geschichte vermutlich sehr viel interessanter ist.«

Aus schmalen Augen sah ich Mo an. »Selbst wenn – dass du vor meinem Bruder gestrippt hast bevor ihr euch kanntet, ist wohl kaum zu überbieten.«

Mo hielt meinem Blick stand und wirkte nicht einmal sonderlich verlegen. »Wenigstens bin ich nicht zu feige, die Wahrheit zu erzählen.«

Mittlerweile war meine Zunge dermaßen zwischen meinen Zähnen eingeklemmt, dass sie schmerzhaft pulsierte. Ich zwang mich, durchzuatmen. »Vorher brauche ich einen Cocktail.«

Triumphierend blitzten Elenas Augen auf, während sie mir die Getränkekarte reichte. »Ich wusste es!«, zischte sie dabei zufrieden. 

Genervt vertiefte ich mich in die Karte. Ich brauchte dringend etwas mit mindestens 35 Prozent – je mehr, desto besser. Gott, wie sehr ich solche Gespräche hasste!

Erst als der Absinth Sour vor mir stand, war ich bereit, mich auf die Diskussion einzulassen. Elena würde ohnehin keine Ruhe geben, bis ich ausgepackt hatte. Wir hoben unsere Gläser und stießen an.

Natürlich nippte ich so lange wie möglich an meinem Glas, um das Geständnis hinauszuzögern. Schließlich gab ich nach und stellte den Cocktail ab. »Aber ihr müsst beide versprechen, Daniel nichts davon zu erzählen. Frederik hat gesagt, dass das keine Geschichte ist, die Väter und Brüder sonderlich begeistert.«

Mo gab ein ersticktes Geräusch von sich. »Junge, Junge! Das wird ja immer besser! Trotzdem leben wir nicht mehr im 17. Jahrhundert.«

Elena hingegen grinste. »Keine Sorge, ich halte dicht. Die Geschichte mit Stephan ist ja auch nicht unbedingt brüdertauglich.«

Erleichtert nahm ich den interessierten Ausdruck in Mos Augen zur Kenntnis, die sich prompt zu meiner Schwester wandte. »Wieso? Ich dachte, ihr habt euch auf der Arbeit kennengelernt.«

Jetzt kicherte ich zufrieden und verschränkte die Arme, während Elena verlegen auf die Tischplatte sah. »Ach, die Geschichte«, winkte sie schwach ab.

Doch so leicht war Mo nicht abzuschütteln. »Gleiches Recht für alle! Das will ich jetzt hören.«

Elena zeigte mit dem Finger auf sie. »Dann gilt aber, dass du Daniel nichts davon erzählst.«

Mo nickte so eifrig, dass ich unfreiwillig noch mehr grinsen musste. Vielleicht hatte ich Glück und würde davonkommen, ohne meine Geschichte erzählen zu müssen.

»Also, ich kannte Stephan natürlich vom Sehen, aber das war es im Grunde. Bis zur Weihnachtsfeier vor einigen Jahren.« Elena machte eine bedeutungsschwangere Pause, die im Grunde überflüssig war, denn die Freundin unseres Bruders hing ihr bereits gebannt an den Lippen. »Irgendjemand hat die unschuldige Bowle, die es an dem Abend gab, mit reichlich Wodka nachgerüstet und so wurde es ruckzuck eine Party mit unnachahmlicher Stimmung.«

Ich hüstelte und warf dezent ein: »Und bis heute weiß natürlich niemand, wer den Wodka mitgebracht hat – nicht wahr, Schwesterherz?«

Mo verstand sofort, dass es meine unverbesserliche Zwillingsschwester gewesen war, die die lahme Betriebsfeier angeheizt hatte.

Elena wedelte mit der Hand. »Egal. Stephan und ich fingen an zu flirten und nach zwei weiteren Gläsern Bowle kam mir die brillante Idee, ihn mit nach Hause zu nehmen.«

Ich reckte meinen Daumen in die Höhe. »Genau, Sex unter Kollegen, immer eine super Idee!«

Elena ignorierte mich mit stoischer Gelassenheit. »Es war nicht unbedingt schwer, ihn davon zu überzeugen, mit zu mir zu kommen – obwohl ich zugeben muss, dass er vorher natürlich ähnlich argumentiert hat wie meine liebste Schwester hier. Am nächsten Morgen hat er sich verabschiedet, was mir ganz gelegen kam, denn ich hatte den Kater meines Lebens.«

Mo saugte wie ein Schwamm jedes Wort in sich auf und mit einem Mal fand ich, dass meine Geschichte gar nicht so grenzwertig war wie Elenas. Na ja, immerhin hatte der Mann sie geheiratet – das war allerdings ganz sicher nicht mein Ziel mit Frederik.

»Ich liege also auf der Couch, habe einen nassen Lappen auf der Stirn und bemitleide mich ordentlich für den Kater. Mein einziger Trost war in diesem Moment, dass der Sex einfach bombastisch war«, schwärmte Elena und Mo hatte einen dermaßen verträumten Gesichtsausdruck, dass ich mir sicher war, dass sie die Geschichte unfassbar romantisch fand. Was für ein komisches Mädchen.

Elena nippte an ihrem Cocktail, bevor sie weiter erzählte: »In meinem Kopf hämmert es und mein Magen verkrampft sich alle paar Sekunden, da klingelt es an der Tür. Mittlerweile ist es schon früher Abend – ein Samstag übrigens – und ich schleife meinen müden Hintern zur Tür. Davor steht Stephan, eine Tüte mit Einkäufen in der Hand.«

Mo schlug die Hand vor den Mund. »Im Ernst?«

Gelassen nickte meine Schwester. »Ich stehe da, total verkatert, ungeduscht und höre mir an, wie er mir erklärt, wie schrecklich unangenehm es ihm ist, dass er gestern so betrunken war und mich sicherlich nicht einmal anständig befriedigt hat. Das sei einfach kein annehmbarer Zustand, immerhin sei ich eine umwerfende Frau und um mich müsse man sich viel besser kümmern.«

Ich lächelte bei ihrer Erzählung, denn sie machte mir immer gute Laune. Insgeheim bewunderte ich Stephan noch heute für seinen Auftritt, zumal er Elena damit zutiefst beeindruckt hatte – etwas, das wirklich nicht leicht war.

»Und dann?«, fragte Mo atemlos.

»Nachdem mein Herz wieder angefangen hatte zu schlagen, bin ich im Eiltempo duschen gegangen, habe mich füttern lassen und ja… Lass es mich so formulieren: Du kannst es dir sicherlich denken.«

Mo schüttelte den Kopf. »Ihr seid echt eine unglaubliche Familie. Dagegen wirken meine Brüder fast schon heilig.«

Elena winkte den Kellner für eine weitere Runde Cocktails heran und sagte dabei: »Für mich war der aufregendste Teil daran, dass ich den ganzen Tag auf der Couch über diesen überirdisch guten Sex nachgedacht habe. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass ich vermutlich niemals wieder so fantastischen Sex haben würde und dann steht er vor meiner Tür, um mir im Grunde mitzuteilen, dass er mit seiner Performance überhaupt nicht zufrieden war. Für einen Moment habe ich ernsthaft gedacht, ich würde ohnmächtig werden.«

Ich nahm meinen zweiten Absinth Sour in Angriff und dachte darüber nach, dass mein Geständnis schon nicht so schlimm werden würde. Wie auf Kommando drehten die beiden Geier mir die Köpfe zu und sahen mich erwartungsvoll an. Nach einem großen Schluck, der in meiner Kehle brannte, seufzte ich und setzte an: »Du erinnerst dich an deine Hochzeit?«

Elena nickte knapp und sagte voller Sarkasmus: »So gerade eben.«

»Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich leider festgestellt, dass die Umsatzsteuervoranmeldung fällig ist und bei Karl geklopft, um seinen Computer zu benutzen. Allerdings hat sich ziemlich schnell herausgestellt, dass dort ein neuer Mieter eingezogen war. Frederik hat mir mit dem Computer geholfen und daraufhin habe ich ihm angeboten, mit ihm zu schlafen.«

Mo und Elena starrten mich entsetzt an. Es dauerte einen Moment, bis Elena sich räusperte: »Bitte, ich flehe dich an; sag mir, dass du nicht jedem Mann auf diese Art für Computerhilfe dankst!«

»Natürlich nicht«, entgegnete ich entrüstet. »Aber falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, Frederik ist ziemlich attraktiv und abgeneigt war er auch nicht. Wo ist der Unterschied zwischen mir und dir? Stephan war schließlich auch nur ein One-Night-Stand – oder hättest du etwas unternommen, wenn er nicht vor deiner Tür gestanden hätte?«

Elena schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Vermutlich nicht. Aber wie hast du ihn denn dann dazu bekommen, dich nach einem One-Night-Stand zu der Party zu begleiten?«

Zufrieden grinste ich. »Ich habe ihm am nächsten Tag angeboten, auf regelmäßiger Basis mit ihm zu schlafen. Ein simples Arrangement, das sich nur um Sex dreht.«

Elena verschluckte sich an ihrem Cocktail, während Mo lauthals loslachte. »Ich sehe die Zeitungsanzeige förmlich vor mir. Sex auf regelmäßiger Basis! Helen, du bist echt die Härte!«

Meine Schwester bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick. »Du glaubst den Quatsch doch nicht wirklich, oder?«

Störrisch verschränkte ich die Arme. »Was verstehst du unter Quatsch?«

»Na, dass Frederik sich nur mit Sex zufrieden geben wird«, erläuterte meine Schwester.

Meine Finger verkrampften sich um das Glas und ich brauchte meine gesamte Selbstbeherrschung, damit ich es nicht aus Versehen in meiner Hand zerbrach. »Natürlich. Wir haben darüber gesprochen.«

Ich brauchte kein Genie zu sein, um Mos plötzlichen Hustenanfall als Versuch zu durchschauen, ihr Lachen zu vertuschen. Diese Mühe machte meine Schwester sich gar nicht erst, sie grinste nur breit.

Nachdem Mo wieder Luft bekam, sah sie mich eindringlich an. »Helen, ich hoffe, du weißt, was du da tust. Ich glaube nicht, dass Frederik sich auf Dauer nur mit Sex zufrieden geben wird.«

Meine Laune bewegte sich rasend schnell nach unten. »Doch.«

Elena streckte die Hand aus und tätschelte meine Schulter. »Du machst dir wirklich was vor. Frederik hat dich bei der Party die ganze Zeit im Auge behalten-«

Aufgeregt fiel Mo ihr ins Wort: »Im Auge behalten? Du meinst wohl angesehen, wie ein Löwe die Antilope anstarrt.«

Mein finsterer Blick ließ Mo aus unerklärlichen Gründen denken, dass ich ihren absurden Vergleich nicht verstanden hatte und sie fuhr fort: »Wie der Jäger das Freiwild, ein Verhungernder ein All-You-Can-Eat-Buffet, wie ein Angler den Fisch, wie ein Vampir den entblößten Hals!«

Statt ihr Gequatsche als Unsinn abzutun, nickte Elena energisch. »Recht hat sie und das ist nicht nur mir aufgefallen.«

»Wie Frederik Don angefunkelt hat, als er mit dir geredet hat. Er ist eindeutig ein eifersüchtiger Typ«, fügte Mo noch hinzu.

Ich legte meine Hände ausgestreckt auf den Tisch und zählte meine Atemzüge. »Nein, das ist ausgeschlossen. Frederik war so nett, mich zu begleiten und das ist das Ende der Geschichte. Es ist nur Sex.« Den letzten Satz presste ich leise zwischen meinen Zähnen hervor.

Elena zog eine Schnute. »Hm, Frederik hat dir das versichert? Kannst du dich zufällig an seinen genauen Wortlaut erinnern? Ich male nur ungern den Teufel an die Wand, aber das wäre nicht unbedingt das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass ein Mann zu seinem Vorteil lügen würde, nicht wahr?«

»Es. Ist. Nur. Sex.« Entnervt stürzte ich den Rest meines Drinks hinunter.

Mo besaß die Frechheit, den Kopf zu schütteln. »Nein, Helen. Er will dich und du ignorierst das absichtlich.«

Ganz langsam blinzelte ich und dachte darüber nach, was Frederik gesagt hatte, was meine Schwester und Mo gerade behaupteten und was ich eigentlich wollte.

Mo bestellte mit einer Handbewegung noch eine Runde und Elena sagte über mein Schweigen hinweg: »Ich schätze, wir werden einfach abwarten.«


Es war nicht einmal acht Uhr abends, als ich betrunken aus Stephans Wagen kletterte. Mo und Elena winkten mir vergnügt zu und ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. 

In diesem Moment bog Frederik um die Ecke und gab mir die Möglichkeit, seine prächtigen Oberschenkelmuskeln in der engen Laufhose zu betrachten. Warnend warf ich einen bösen Blick zum Auto, doch Mo und Elena, beide genauso betrunken wie ich, spitzten ihre Lippen und machten Kussmünder. Ich konnte die schmatzenden Geräusche leise hören und verdrehte entnervt die Augen.

Frederik kam schwer atmend auf mich zu und löste so in meinem alkoholisierten Kopf direkt Sexfantasien aus. 

»Hey, hattet ihr einen schönen Tag?«

Finster schüttelte ich den Kopf und starrte Stephans Kombi hinterher, während er vom Hof fuhr. »Mo und meine Schwester haben mir eine Menge überflüssige Beziehungstipps gegeben, die ich nicht brauche. Außerdem wollten sie mich davon überzeugen, dass ich eine Antilope bin.«

Frederik lachte und hielt mir die Hand hin. »Ich nehme an, das waren eine Menge Cocktails.«

Skeptisch musterte ich die ausgestreckte Hand. Nach Mos Gequatsche erwartete ich eine versteckte Falle. Außerdem verstand ich nicht ganz, was er an meiner Aussage so lustig fand. Ich hatte ihm doch eindeutig erklärt, was die beiden Frauen mir weiszumachen versucht hatten.

»Was ist so witzig?«, wollte ich wissen.

»Nichts, meine kleine Antilope. Vorsicht, schön einen Fuß vor den anderen setzen.« Frederik umfasste meine Hand fester und lotste mich die Treppe hinauf. Ich mochte seinen festen Griff und lächelte ihn versonnen an. Vermutlich war ich viel betrunkener, als ich gemerkt hatte.

Auf dem Treppenabsatz blieb ich stehen, drehte mich um und bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Sie haben gesagt, dass ich eine Antilope bin und du ein Vampir.« 

Frederik zog überrascht eine Augenbraue hoch und ich forschte in meinem Kopf, weil es irgendwie falsch geklungen hatte, was ich gerade gesagt hatte. »Nein, warte. Ich bin eine Antilope und du ein Löwe.«

Triumphierend sah ich zu ihm und wartete auf eine Reaktion, doch er verzog keine Miene. »Das macht zumindest mehr Sinn«, lautete sein trockener Kommentar, bevor er mich weiter die Treppe hochschob.

Vor meiner Tür ließ ich mich mit einem erschöpften Schnaufen gegen die Wand sinken und präsentierte Frederik stolz die Tüte des Unterwäscheladens. »Möchtest du es sehen? Es ist schwarz und winzig.«

»Sehr gerne, aber ich glaube, bis ich aus der Dusche raus bin, schläfst du längst selig.«

Empört blinzelte ich ihn an. »Was? Warum? Für mich musst du nicht duschen.« Ich lächelte einladend und fand mich dabei sehr großzügig.

Frederik grinste mich kopfschüttelnd an. »Komm, gib mir mal deinen Schlüssel.«

Seufzend hielt ich ihm meine Handtasche hin. »Eigentlich wollte ich gar nicht so viel trinken, aber Elena und Mo können einen wirklich zum Alkoholiker machen.«

»Aufgrund der schlimmen Gespräche über Männer?«, erkundigte Frederik sich gespielt betroffen.

Ich nickte. »Genau, es war grauenvoll. Wie ein Verhör.«

Frederik schob mich in die Wohnung. Hatte er meinen Schlüssel etwa schon gefunden? Er nahm mir die Tüten aus der Hand und drängte mich dann sanft ins Schlafzimmer. Vorfreude erfüllte mich und ich war mir sicher, dass er mich vögeln würde.

Stattdessen wartete er, bis ich mir die Schuhe ausgezogen hatte und auf dem Bett lag. Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich komme gleich wieder, okay?«

Meine Lider waren schon ziemlich schwer, doch ich murmelte: »Na gut, aber wehe du brauchst zu lange. Ich warte hier.«


Am nächsten Morgen hämmerte der Schmerz hinter meiner Stirn und als ich die Augen aufschlug und Frederik nirgendwo entdecken konnte, spürte ich tatsächlich einen leichten Stich der Enttäuschung.

Langsam setzte sich das Bild der letzten Nacht zusammen und ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund. Hatte ich mich wirklich wiederholt als Antilope bezeichnet? Ich rieb mir über das Gesicht und beschloss, dass ich eine Dusche, einen Kaffee und eine Familienpackung Kopfschmerztabletten brauchte – und zwar exakt in dieser Reihenfolge.

Eine halbe Stunde später saß ich an meinem Küchentisch. Ich fühlte mich schon wesentlich besser, ein Highlight war die gestrige Begegnung mit Frederik trotzdem nicht gewesen. Hoffentlich wollte er jetzt nicht mit mir darüber reden. Hätte ich nicht so viele Cocktails gehabt, hätte ich vermutlich gar nichts auf das Geschwätz von Mo und Elena gegeben. Stattdessen kam ich betrunken nach Hause und faselte von Antilopen und Vampiren. Bestimmt dachte mein Nachbar, dass ich den Verstand verloren hatte. 

Wenn ich mir allerdings die Geschehnisse der letzten Wochen vor Augen führte, war ich mir gar nicht einmal so sicher, ob ich nicht vielleicht wirklich den Verstand verloren hatte. Immerhin hatten die beiden mich gestern Abend fast davon überzeugt, dass Frederik mehr von mir wollte als Sex – was für eine absurde Vorstellung.

Erleichterung durchflutete mich, als die Kopfschmerztabletten endlich wirkten. Es war die reinste Wohltat. Mit geschlossenen Augen genoss ich das Gefühl, wie der dumpfe Nebel sich aus meinem Kopf verzog.

Da klopfte es an der Tür; unwillkürlich zuckte ich zusammen. Widerwillig stand ich auf und warf einen Blick durch den Türspion. Wenn man vom Teufel sprach – es war Frederik höchstpersönlich. 

Eine ganze Weile erwog ich, einfach nicht zu öffnen. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. Ich war verkatert und konnte nicht bestreiten, dass Elena und Mo mich mit ihrem Gequatsche beunruhigt hatten.

»Mach auf, Helen.« Frederik klang gut gelaunt. Mit einem Seufzen drehte ich den Schlüssel im Schloss.

Er streckte mir einen Kaffeebecher hin und schob sich dann an mir vorbei in meine Küche. Als ich mich wieder umgedreht hatte, wunderte es mich nicht im Geringsten, dass er bereits auf dem Küchenstuhl saß. »Wie geht es deinem Kopf?«

»Bis gerade gut«, stieß ich genervt hervor und ließ mich ebenfalls auf einen Stuhl sinken. Ich würde mir heute definitiv frei nehmen und die Welt von meiner Couch aus hassen. Frederik würde ich auch hassen – allein, weil er so frisch und wach aussah. Außerdem war er schon unterwegs gewesen und hatte mir Kaffee mitgebracht. Dieser miese Mensch!

»Steht das Angebot mit der Unterwäsche noch?«, erkundigte er sich amüsiert.

Zuerst sah ich ihn nur an, dann nickte ich knapp. »Aber nicht jetzt. Ich fühle mich noch sehr wacklig.«

Ich wartete, dass er darauf einging, was ich gestern Abend für einen Unsinn erzählt hatte, doch er sagte nur ruhig. »Ich bin heute ohnehin schon verabredet. Vielleicht morgen?«

Ich blinzelte langsam. »Verabredet?«

Frederik nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. »Ob du es glaubst oder nicht, es soll Leute geben, die sich nicht den ganzen Tag in ihrer Wohnung einschließen.«

Mir lag die Frage auf der Zunge, mit wem er sich traf, doch ich bezwang das Verlangen, nachzuforschen. »Also morgen?«

Zustimmend nickte er, dann nahm er seinen Becher vom Tisch und stand auf. Er würde jetzt wirklich einfach gehen und nicht ein Wort über gestern Abend verlieren? Das kam mir fast verdächtig vor, wenn ich bedachte, wie gern er sonst redete.

Er stand bereits an der Tür und mein Mund plapperte drauf los, bevor mein Gehirn seine panische Warnung hervorstoßen konnte. »Nicht einmal einen Kuss bekomme ich?«

Frederik strich sich eine seiner blonden Strähnen aus der Stirn. »Du willst einen Kuss? Ohne Sex? Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

Ich verdrehte die Augen und platzierte mich vor ihm. Weil er nun einmal viel größer war als ich und keinerlei Anstalten machte, mir entgegen zu kommen, legte ich die Hände auf seine Brust und stellte mich auf die Zehenspitzen. Seine Lippen fühlten sich weich an und ich konnte den wohligen Seufzer gerade noch unterdrücken.

Insgeheim hatte ich gehofft, dass der Kuss ihn vielleicht dazu verleiten würde, noch etwas zu bleiben, doch stattdessen zwinkerte er mir zu und schon starrte ich nur noch meine geschlossene Wohnungstür an, durch die er hinaus geschlüpft war.


Nachdem ich ein Nickerchen auf der Couch gehalten hatte, beschloss ich, dass es wieder Zeit für eine gute Tat war. Das Wetter war schön und die frische Luft würde mir vermutlich gut tun; außerdem war Frederik ausgeflogen und würde nicht mitbekommen, was ich tat.

Ich zog mich dem herbstlichen Wetter entsprechend an und steckte nur das Nötigste ein. Niemand in meiner Familie wusste davon, aber manchmal überkam sogar mich das Verlangen ein netter Mensch zu sein – zumal ich mich nicht beklagen konnte, weil es mir relativ gut ging. Ich arbeitete in meinem Traumjob zu meinen Bedingungen und war darin erfolgreich, was mir ein sorgenfreies Leben ermöglichte. 

Aber immer, wenn ich sozial interagiert und das Gefühl hatte, mich irgendwie daneben benommen zu haben, leistete ich auf meine Weise Buße. 

Schon nach dem etwa zwanzigminütigen Spaziergang zum Supermarkt fühlte ich mich deutlich frischer im Kopf. Die Hände hatte ich in den Taschen meiner Steppweste vergraben und war froh, dass ich mich für den dicken Kapuzenpulli und den zusätzlichen Schal entschieden hatte.

Wie immer kaufte ich eine Menge haltbarer Lebensmittel, die nicht gekühlt werden mussten, Obst und Gemüse und ließ mir mehrere Plastiktüten dafür geben. 

Vom Supermarkt aus waren es keine zehn Minuten, bis ich das Rondell im Stadtpark erreicht hatte. Ich näherte mich dem kleinen Pavillon deutlich hörbar und lächelte dabei friedlich. Der heimatlose Hans blinzelte mich an, bevor er aufstand und seine Hose abklopfte.

»Judith, Mädchen, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.« 

Ich zuckte mit den Schultern und hielt ihm die Einkaufstüten hin. Obwohl ich seinen dankbaren Blick schon sehen konnte, winkte der heimatlose Hans zuerst wieder ab. »Das brauchst du doch nicht machen, Mädchen.«

Jedes Mal das gleiche Spiel. Ich trat einen Schritt näher und sagte: »Aber ich mache es gern. Und langsam werden meine Arme schwer.«

Der heimatlose Hans beeilte sich, mir die Tüten abzunehmen und stellte sie sorgsam ab. Dann hockte er sich wieder auf die niedrige Mauer und klopfte neben sich. »Ruh dich aus, Judith.«

Er hatte mich von Anfang an Judith genannt und irgendwann hatte ich aufgegeben, ihn zu korrigieren. Kennengelernt hatte ich den heimatlosen Hans vor ungefähr drei Jahren. Nachdem ich den ganzen Tag geschrieben hatte, war ich mitten im Winter auf die glorreiche Idee gekommen, noch eine Weile laufen zu gehen. Leider hatte ich Idiotin nicht einmal einen Blick auf die Uhr geworfen, bevor ich losgerannt war. Als ich begann, mich zu wundern, dass es sehr dunkel und sehr ruhig war, hatte ich schon den Stadtpark erreicht.

Nachher hatte ich festgestellt, dass es bereits nach Mitternacht gewesen war. Der Stadtpark war nicht unbedingt gut beleuchtet und obwohl ich ein mulmiges Gefühl dabei gehabt hatte, hatte ich nicht kneifen, sondern meine Runde beenden wollen.

Leider waren außer mir noch zwei Männer im Park gewesen, die sich mir in den Weg gestellt hatten. Bevor jedoch überhaupt etwas passiert war – und ich war mir sicher, dass etwas passiert wäre –, war der heimatlose Hans aufgetaucht und hatte einen dicken Ast in seinen Händen geschwungen. 

Während ich wie angewurzelt auf dem schmalen Weg gestanden hatte, hatten die Männer die Flucht ergriffen. Der heimatlose Hans hatte mich mit einem vorwurfsvollen Blick bedacht und dann mit einem Kopfschütteln gesagt: »Also wirklich, Mädchen, das geht so nicht.«

Zuerst hatte ich nicht begriffen, dass er ein Obdachloser war. Erst, als er mich aus dem Park begleitete und wir in den Schein einer Straßenlaterne kamen, fiel es mir auf. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte er mich konsequent Judith genannt und bevor ich mich richtig bedankt hatte, war er wieder im Park verschwunden.

Die Nacht über hatte ich schlaflos im Bett gelegen und darüber nachgedacht, wie ich mich angemessen bedanken könnte. Zusätzlich hatte mein überreiztes Gehirn mich für meine Dummheit bestraft und immer wieder Horrorszenarien durchgespielt, was alles hätte passieren können, wenn Hans nicht aufgetaucht wäre. Den Zusatz »heimatlos« hatte ich ihm später verpasst, nachdem er mir seinen Namen verraten hatte.

Am nächsten Tag war ich das erste Mal für ihn einkaufen gegangen. Damals hatte ich nicht nur Lebensmittel gekauft, sondern auch einen Pullover, eine Jacke und eine Decke. Er war sehr skeptisch gewesen, hatte sich dann aber dazu herabgelassen, die Sachen anzunehmen und mit mir zu reden.

Seitdem besuchte ich ihn regelmäßig, im Winter öfter als im Sommer. Aber es kam auch durchaus vor, dass er ein paar Wochen verschwunden war. Ich versuchte dann immer, mir nicht zu viele Gedanken zu machen.

»Sag, Mädchen, was macht das Leben?«, fragte er nun und schälte dabei eine Banane.

Ich rieb mir über das Gesicht. »Das ist eine verdammt gute Frage.«

Der heimatlose Hans warf mir einen kritischen Seitenblick zu. Ich vergaß immer, dass er es nicht mochte, wenn ich fluchte. Abschätzend schnalzte er mit der Zunge, bevor er sich wieder der Banane zuwandte.

»Entschuldige. Die Arbeit läuft gut, aber-« Ich brach ab und suchte nach den richtigen Worten.

»Aber da ist ein Mann«, vervollständigte er den Satz für mich und verblüffte mich wieder einmal komplett. Ich wusste nur, dass der heimatlose Hans seit Jahren auf der Straße lebte und eine unglaubliche Beobachtungsgabe besaß. Ich hatte zwar versucht, aus ihm herauszubekommen, was er früher gemacht hatte – doch da biss ich auf Granit. Im Grunde blieb mir nichts übrig, als das zu akzeptieren, zumal es mich eigentlich nichts anging. 

Jedenfalls hatte er mir bei jeder Nachfrage wilde Märchen aufgetischt: Er war bei einem Kreuzzug dabei gewesen, hatte etlichen Hexenverbrennungen beigewohnt und das Richtfest der Sphinx live miterlebt. Außerdem war er in Atlantis nur knapp einer Horde Kannibalen entkommen und hatte Troja fallen sehen.

Das Einzige, was ich mir bisher aus seinen Erzählungen zusammengereimt hatte, war, dass er vermutlich etwas mit Geschichte zu tun gehabt hatte – oder er besaß ein verdammt gute Allgemeinbildung. Ich musste gestehen, dass mir die detaillierten Schilderungen seiner Abenteuer aber gefielen und sehr unterhaltsam waren.

»Wieso ein Mann?«, fragte ich jetzt und zog einen Apfel aus meiner Westentasche, den ich für mich gekauft hatte.

Der heimatlose Hans wies auf das Obst. »Deine Wangen sehen genauso aus.«

Ich betrachtete die rote Frucht und räusperte mich. »Das könnte daran liegen, dass nur knapp fünf Grad sind.«

Der heimatlose Hans grinste mich breit an. »Du warst schon oft hier, wenn es kälter war, Judith, und da warst du trotzdem blass wie eine aufgequollene Wasserleiche.«

Angesichts des charmanten Kompliments zuckte ich zusammen. »Gut, mal angenommen, da wäre ein Mann.« Ich machte eine kleine Pause, um meine Gedanken zu ordnen. »Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.«

Der heimatlose Hans kaute noch immer seine Banane. »Zerbrich dir nicht so viel den hübschen Kopf. Ist er ein schlechter Mann?«

Energisch schüttelte ich den Kopf. »Auf keinen Fall.«

Hans zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Dann gibt es auch kein Problem. Du denkst zu viel. Wie geht es Kommissar Andersson?«

Und einfach so war das Thema Mann beendet und auf eine sehr treffende Art hatte Hans mir klargemacht, dass ich vielleicht wirklich zu viel grübelte. Er hatte so eine schlichte Methode, mir das vor Augen zu führen. Worüber machte ich mir schon Sorgen?

»Gut – also eigentlich eher nicht. Ich schätze, er wird im nächsten Buch einen Finger verlieren.« Die Frage nach meiner Arbeit lenkte mich sofort ab.

Der heimatlose Hans verzog das Gesicht und holte die nächste Banane aus der Einkaufstüte. »Aber nicht den Daumen. Das wäre zu brutal.« Dann versank mein obdachloser Kumpel in der Betrachtung seiner Hände und bewegte seine Finger. »Nein, das wäre gar nicht gut.«

»Keine Sorge, ich hatte eher an den Ringfinger gedacht. Aber irgendwie fehlt mir die richtige Methode. Eine Gartenschere?«

Hans kicherte und schüttelte den Kopf. 

Ich dachte nach. »Ein Skalpell?«

Abwägend spitzte Hans die Lippen und sagte mit vollem Mund: »Schon eher. Oder er wird mit so vielen Nägeln angenagelt, bis der Finger ab ist.«

»Bah!«, stieß ich angewidert hervor. »Das ist total ekelhaft!« Dann zog ich mein Handy hervor. »Und irgendwie gut. Ich notiere mir das mal kurz.«

Insgesamt blieb ich noch eine gute Dreiviertelstunde, bevor ich mich von der niedrigen Mauer erhob. Ich fühlte mich viel besser als die letzten Tage und war wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Wer brauchte schon einen Psychiater? Ich hatte einen Freund, der auf der Straße lebte und dabei erstaunlich philosophisch sein konnte.

Mein Hintern war fast taub und ich musste mir die mitleidigen Gedanken verkneifen, weil ich jetzt in meine warme Wohnung spazieren würde und Hans hier draußen blieb.

»Brauchst du irgendetwas, das ich besorgen kann?« 

Genauso gut konnte ich mir diese Frage sparen, denn er verneinte jedes Mal. Trotzdem betrachtete ich ihn aufmerksam und nahm mir vor, ihm Schuhe und Handschuhe zu kaufen. Seine Schuhgröße hatte ich ihm bereits einmal entlockt und mir notiert.

»Judith?«

»Ja?«, fragte ich und warf einen letzten Blick über die Schulter.

»Bringst du das nächste Mal dein neues Buch mit und liest mir ein bisschen vor?« Der heimatlose Hans klang beinahe schüchtern. So kannte ich ihn eigentlich nicht.

Ich nickte. Natürlich würde ich ihm die Freude gern machen – allerdings wunderte ich mich über seine Frage, denn ich war mir sicher, dass er lesen konnte und nur vorgab, es nicht zu können. Ich hatte ihm einmal eins meiner Bücher mitgebracht und er hatte es strikt abgelehnt, es anzunehmen. 

»Bis dann.«

»Bis dann. Danke, Mädchen.« Er warf mir einen liebevollen Blick zu, bevor er mit einem Schnaufen wieder auf der Mauer Platz nahm.

Als ich auf den Ausgang des Parks zuging, erstarrte ich. Frederik lehnte mit verschränkten Armen an einem Baum und sah mich an.

Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Pavillon von hier aus sichtbar war. Innerlich wappnete ich mich für Vorwürfe, Fragen und was auch immer er noch auf Lager hatte.

Stattdessen sagte er trocken: »Soll ich dich nach Hause begleiten?«

Nach einem kurzen Moment nickte ich und lief weiter.

Frederik brach schließlich das Schweigen. »Ich muss zugeben, dass ich beruhigt bin, dass es doch Menschen gibt, mit denen du tatsächlich redest.«

Unfreiwillig musste ich lachen.

Er brummte. »Ich habe im ersten Moment ja gedacht, dass ich nicht richtig sehe. Es ist reiner Zufall, dass ich hier vorbeigekommen bin und ich war total in Gedanken versunken. Ah, da sitzt Helen und scherzt mit einem Obdachlosen. Nach fünf Metern bin ich abrupt stehengeblieben und habe zurückgespult, was ich da gerade gedacht habe.«

»Und jetzt hältst du mich für merkwürdig«, schlussfolgerte ich schlicht.

»Dass du ein kleiner Freak bist, habe ich gleich zu Anfang festgestellt«, korrigierte er mich und ignorierte meinen bösen Blick. »Ich nehme nicht an, dass jemand außer mir weiß, dass du doch eine Seele hast, oder?«

Als Antwort stieß ich lediglich ein verächtliches Geräusch aus und ließ im gleichen Moment zu, dass Frederik meine Hand nahm. Er verschränkte seine Finger mit meinen und drückte einen kurzen Kuss auf meinen Handrücken. Vor lauter Entsetzen wäre ich fast vor eine Straßenlaterne gelaufen.

Dabei war ich nicht schockiert darüber, dass Frederik sich so benahm – daran hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Ich war primär fassungslos, weil ich mich nicht gewehrt hatte. Schlimmer noch: Es gefiel mir möglicherweise. Das warme Gefühl in meiner Brust könnte ein Hinweis darauf sein, dass ich etwas für ihn empfand. Oder es war eine schwere Bronchitis. Ich hoffte auf den zweiten Fall.