6


»Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich tun muss«, murmelte ich genervt und betrachtete kritisch mein Spiegelbild. Nachdem Frederik mich auf dem Schreibtisch geschändet hatte, war ich ins Bad geflüchtet, um mich für die Party fertig zu machen.

Jetzt musterte ich die Haut um meine Augen, um zu sehen, ob sich irgendwo Mascara breit gemacht hatte, wo er nicht hingehörte.

»Falls es dich beruhigt, ich kann es auch nicht glauben«, bemerkte Frederik trocken und mir fiel mit einem Klappern der Mascara in das Waschbecken.

»Musst du dich so anschleichen?«, fragte ich vorwurfsvoll und sah ihn böse an.

»Klar, sonst läufst du mir davon. Und jetzt entspann dich endlich«, lachte er und kam näher.

Ich ließ es zu, dass er mir einen Kuss auf den Nacken gab, bevor ich gestand: »Ich kann mich unmöglich entspannen. Ich bin so müde und fertig, dass ich in der gleichen Sekunde einschlafen würde. Müssen wir wirklich auf diese Party?«, jammerte ich inbrünstig.

Seine Antwort lautete schlicht: »Es ist deine Familie, sag du es mir.«

Sofort kam mir wieder Elenas Drohung in den Sinn und ich ließ demotiviert den Kopf hängen. »Ja, müssen wir. Sonst versucht Elena wieder, mich zu verkuppeln und es hat lange genug gedauert, ihr das abzugewöhnen.«

Ich begegnete seinem Blick im Spiegel und ahnte, dass eine Frage folgen würde, die ich nicht hören wollte.

»Hm«, machte er leise und rieb sich über das Kinn. Dabei verursachten seine Bartstoppeln ein Geräusch, das meine Knie weich werden ließ. Herrgott, langsam war ich es wirklich satt, dass ich so stark auf ihn reagierte.

»Wieso scheust du eigentlich so extrem vor einer Beziehung?«, fragte er jetzt.

Statt einer Antwort zitierte ich Bertolt Brecht. »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen. Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« Sollte er daraus doch machen, was er wollte. Ich rauschte aus dem Bad. 

Dennoch konnte ich deutlich hören, wie er murmelte: »Wer hätte damit gerechnet.«

Im Schlafzimmer suchte ich nach meiner Strickjacke, konnte sie aber nicht finden. Ich hörte Frederik näher kommen, beachtete ihn aber nicht weiter. Erst, als ich das gewünschte Kleidungsstück in der Hand hielt, drehte ich mich um. Frederik betrachtete mich belustigt und sein Blick wanderte von mir zum Bett und sehr langsam zurück.

Ich schluckte schwer. »Auf keinen Fall! Wir kommen zu spät.«

»Du legst doch ohnehin keinen Wert auf gesellschaftliche Umgangsformen«, erwiderte er gelassen und sah wieder zum Bett. Er konnte doch unmöglich schon wieder Sex wollen. In mir breitete sich der Verdacht aus, dass er mich auf diese Weise in die Knie zwingen wollte.

»Ich gebe es nur ungern zu, aber ich habe doch ein wenig Angst vor meiner Zwillingsschwester und möchte deswegen pünktlich da sein.«

Frederik verschränkte die Arme. »Keine Sorge, mir geht es mit meinem Bruder genauso.« Er drehte sich um und verließ mein Schlafzimmer. Mit einem Mal hatte ich es sehr eilig, ihm zu folgen. »Du hast einen Bruder?«

»Ja, einen älteren.«

»Wohnt er auch hier?«, erkundigte ich mich neugierig und fragte mich im gleichen Atemzug, warum ich so nach Details aus Frederiks Leben gierte.

Er zögerte. »Das ist unterschiedlich.«

Seine Antwort irritierte mich zwar, aber ich hatte Blut geleckt. »Und was ist mit deinen Eltern? Wo wohnen sie?«

»Meine Eltern sind gestorben, als ich ein Teenager war.« Er griff nach seiner Jacke und ich blieb erstarrt stehen.

»Oh, das tut mir leid.«

Mit einem schiefen Grinsen, das leicht gequält wirkte, drehte er sich um. »Das muss es nicht – oder bist du Schuld an ihrem Tod?«

Natürlich schüttelte ich den Kopf. »Dann bist du bei deinen Großeltern aufgewachsen?« Warum war ich plötzlich nur so interessiert daran, mehr über den großen, blonden Mann zu erfahren, der vor mir stand und mich mit einem äußerst merkwürdigen Blick bedachte?

Er reichte mir meine Jacke. »Nein, Bertram, das ist mein Bruder, hat mich danach großgezogen.«

Er hielt mir die Tür auf und ich bohrte weiter. »Also ist er etwas älter als du, oder?«

Frederik lachte. »Das ist eine lange Geschichte, aber er war damals auch erst sechzehn Jahre alt. Und jetzt beweg deinen Hintern endlich vorwärts.«

Sofort versank ich in Grübeleien. Doch egal, wie ich es drehte und wendete, ich fand keine Lösung. »Aber er war doch noch minderjährig. Wie soll das funktionieren?«

Frederik seufzte tief. »Ich erzähle es dir ein anderes Mal.«

Sein Ton klang so endgültig, dass ich es nicht wagte, noch einmal nachzufragen. Deswegen folgte ich ihm einfach die Treppe hinab und versuchte die Puzzlestücke, die ich gerade erhalten hatte, in das Gesamtbild einzusetzen.

Instinktiv ging ich auf meinen kleinen Fiat 500 zu, doch Frederik schüttelte nur den Kopf.

»Ich fahre«, sagte er und deutete auf sein Auto.

»Warum?«, protestierte ich. »Ich kann sehr wohl selbst fahren.«

»Ich habe so viele Gründe, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Er tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Also: Erstens traue ich dir zu, dass du mich vergisst und irgendwann einfach fährst und zweitens ist es die Party deines Bruders – sollte es für dich zu schlimm werden, kannst du dich wenigstens betrinken. Das sind so ziemlich meine wichtigsten Gründe.«

»Hm.« Ich rümpfte die Nase, gab dann aber nach. »Von mir aus.« Eigentlich hatte ich nur nachgegeben, weil ich zu müde war, um mich zu streiten. Ich war fix und fertig und mir graute es vor der Party. Vorsichtig warf ich Frederik einen Seitenblick zu, dann lehnte ich mich im Sitz zurück. Es würde schon irgendwie schief gehen.


Daniel riss die Haustür praktisch auf und strahlte mich an. Er gab sich zwar Mühe, seine Neugier zu verbergen, aber es war eindeutig, dass er Frederik sehr interessiert musterte. Ich hatte meinen Nachbarn glücklicherweise darauf vorbereitet, dass er schon fast eine Zirkusattraktion war. Der Mann an Helens Seite – wie aufregend.

Mo schielte über Daniels Schulter und warf mir einen anerkennenden Blick zu. Ich biss mir auf die Unterlippe und sah zu Boden, da ich unfreiwillig grinsen musste. Wenigstens war Frederik hervorragend dazu geeignet, ihn in der Öffentlichkeit vorzuzeigen. Sofort musste ich wieder an die Verkäuferin denken, die sich fast den Hals dabei verrenkt hatte, Frederik auch ja ordentlich zu bedienen. Es hatte sie nicht einmal gestört, dass er in weiblicher Begleitung gekommen war. Nicht, dass ich eifersüchtig gewesen wäre, aber ich hatte die Dame doch als sehr unverfroren empfunden.

Irgendwann hatte ich genug. »Dürfen wir vielleicht hereinkommen?«

»Ich wusste es!«, stieß Daniel triumphierend aus. »Du bist doch ein Vampir und musst um Erlaubnis bitten!« Dabei hielt er Frederik die Hand hin und stellte sich vor. Mo kicherte.

Ich erdolchte sie fast mit meinem Blick. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum du ihn auch nur im Ansatz lustig findest.«

Daniel trat zur Seite. »Vermutlich, weil ich lustig bin, liebste Schwester.«

Ich begnügte mich damit, eine Grimasse zu schneiden und spähte bereits zur Couch. Nur zu gern würde ich mich hinsetzen. 

»Ah, Helen. Da seid ihr ja. Ich muss sagen, dass ich bis zuletzt Angst hatte, dass du kneifen würdest. Hallo, Frederik.« Meine Zwillingsschwester strahlte ihn an, als hätte er soeben Kinder aus einem brennenden Waisenhaus gerettet. Dann stellte sie ihm ihren Mann Stephan vor.

Frederik gab sich entspannt und gut gelaunt, blieb dabei stets an meiner Seite und selbst mir kam es irgendwann so vor, als würde es ihm gar nichts ausmachen, mich begleitet zu haben.

Schließlich war es Mo, die mir das Messer in den Rücken stieß und fragte: »Wie habt ihr euch denn kennengelernt? Du bist doch sonst so menschenscheu, Helen.«

Daniel legte einen Arm um seine Freundin und sagte stolz: »Ist Mo nicht großartig? Sie hat den Satz gebaut, ohne die Worte ›Misanthrop‹ und ›unfreundlich‹ zu benutzen.«

Mein Zähneknirschen war sicherlich noch in der nächsten Stadt zu hören, doch bevor ich antworten konnte, lachte Frederik mit diesem unnachahmlich tiefen Brummen. »Ich schätze, das ist wohl Günthers Schuld.«

Alle Augen richteten sich auf ihn und Stephan fragte verblüfft: »Weiß nur ich nicht, wer Günther ist?«

Frederik grinste und sagte: »Ich wusste auch nicht, wer Günther ist, aber scheinbar kann er Helen um den Finger wickeln.«

Wie beim Tennis schwangen alle Blicke zeitgleich zu mir. »Günther ist mein DHL-Bote.«

Mein Bruder zog eine Augenbraue hoch. »Du hast deinen eigenen Paketboten?«

»Sehr witzig. Günther hat mir ein Paket gebracht und mich gefragt, ob ich eins für Frederik annehmen wollte. Natürlich wollte ich nein sagen, aber er hat so treuherzig geguckt, dass ich nicht anders konnte.«

Tapfer hielt ich dem forschenden Blick meiner Schwester stand. »Wirklich?«, wollte sie wissen.

»Natürlich. Ich bin zwar unfreundlich, aber nicht so herzlos, dass ich das ablehne, wenn der arme Mann schon andauernd die steinschweren Kartons mit meinen Belegexemplaren bis vor meine Tür schleppt. Er ist immerhin schon älter, bestimmt schon sechzig.«

Elena und Daniel grinsten sich an. »Papa wird sich freuen zu hören, dass du das schon für alt hältst«, höhnte mein Bruder.

Frederik legte eine Hand auf meinen Rücken und streichelte mich beruhigend, worauf ich mich tatsächlich ein wenig entspannte. »Jedenfalls bin ich froh, dass Günther sich durchgesetzt hat«, grinste er in die Runde und ich war mir sicher, dass Elena in diesem Moment verträumt seufzte. Eigentlich überraschte es mich, dass ihre Pupillen noch nicht herzförmig waren. Ihre Seele bestand zur Hälfte aus einem ungezogenen, 18-jährigen Partygirl und zur Hälfte aus einer hoffnungslosen Romantikerin im mittleren Alter – keine gute Mischung.

Beruhigt nahm ich zur Kenntnis, dass Frederik ein wahrer Meister des Smalltalks war und verfiel in Schweigen. Das Gespräch bewegte sich weg davon, wie wir uns angeblich kennengelernt hatten und drehte sich nun darum, dass bald Halloween war und ob das ein Grund zum Feiern darstellte.


Als ich in die Küche kam, wäre ich am liebsten wieder rückwärts hinausgegangen. Mo guckte sofort schuldbewusst, während meine Schwester zufrieden die Arme verschränkte. Ich würde um das Verhör ohnehin nicht herumkommen, also sah ich Mo an. »Ihr habt über mich geredet?«

Ihre Wangen färbten sich zartrosa und sie wies stumm auf meine Schwester. Elena grinste mich offen an. Warum dachte nur jeder, dass ich die Schlimmere von uns beiden war? Elena war einfach ein durchtriebenes Luder, das viel besser als ich langweilig und unbedarft aussehen konnte.

»Ich habe nur gerade wohl überlegt, wie gut Frederik im Bett sein muss, dass du deinen Schutzpanzer aufgegeben hast«, klärte meine Schwester mich auf.

Nachdem ich die Augen verdreht hatte, wandte ich mich zu Mo: »Ach, und wie ist deine Theorie dazu?«

Abwehrend zeigte sie mir ihre Handflächen. »Ich habe dazu gar nichts gesagt. Bei meinem Glück wäre in dem Moment Daniel neben mir aus dem Boden gewachsen.«

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, wie sie das meinte, bevor ich Elena anfunkelte. »Und du? Sind das Gedanken, die für eine verheiratete Frau angemessen sind?«

Ihr belustigtes Grinsen vertiefte sich nur noch weiter. »Du hast noch gar nicht geflucht.«

Um mich zu beherrschen, presste ich meine Lippen fest aufeinander und holte durch die Nase tief Luft. Dann begutachtete ich das Büffet. Mein Bruder war einfach die geborene Hausfrau – ich wusste, dass Mo nicht kochen konnte. Also musste das hier alles von Daniel gemacht worden sein.

»Es ist wirklich wahr. Auch Helen hat endlich einen Typen abbekommen. Soll ich Mama eigentlich jetzt schon anrufen oder noch bis morgen warten?« Daniels Stimme klang so unerträglich belustigt, dass ich ihm am liebsten meine Faust in den Magen gerammt hätte.

Stattdessen lächelte ich ihn süßlich an und überlegte, wie ich mich am besten würde rächen können. 

Elena stieß meinen Bruder an. »Ich mache mir Sorgen. Sie hat heute noch gar nicht geflucht.«

Daniel machte ein schockiertes Gesicht, stellte sein Glas ab und legte mir eine Hand auf die Stirn. »Hm, ihre Körpertemperatur liegt aber wie immer unter null Grad.«

Mo lachte lauthals und ich wischte wütend Daniels Arm weg. Gerade als ich zu einer gepflegten Runde Beleidigungen ansetzen wollte, tauchte Frederik in der Küchentür auf und verkündete: »Das ist irgendwie lustig, wie hier jeder auf dir herumhackt. Ich glaube, ich komme jetzt öfter mit.«

Ich wirbelte herum und warf ihm einen tödlichen Blick zu. Plötzlich hatte ich so viel Auswahl, dass ich gar nicht wusste, wen ich zuerst beschimpfen sollte. Bestimmt würde ich vor lauter Bluthochdruck gleich anfangen, aus den Ohren zu bluten. Mit größter Mühe schaffte ich es, meine Fäuste wieder zu öffnen. 

Frederik wies hinter sich und sagte zu Daniel. »Guter Büchergeschmack. Hat Helen dir schon ihr neues gegeben?«

Sofort trafen mich die empörten Augen meines Bruders. »Ich dachte, du hast deine Belegexemplare noch nicht.«

»Als du gefragt hattest, hatte ich sie auch noch nicht«, warf ich ein und verschränkte genervt die Arme.

»Hast du mir denn jetzt eins mitgebracht?«, fragte er mit seiner typischen Kleiner-Bruder-Stimme.

Wunderbar. Ich hätte bestimmt dran gedacht, ihm eins mitzubringen, wenn jemand mich nicht auf meinem Schreibtisch gevögelt hätte. Kleinlaut schüttelte ich den Kopf.

Zu meiner Verwunderung winkte ausgerechnet Elena ab. »Das kann sie Mo mitgeben.«

Wenigstens wirkte die Freundin meines Bruders genauso verwirrt wie ich. Sie räusperte sich schließlich und Elena grinste breit, bevor sie erklärte: »Na, jetzt lohnt sich doch ein Frauenabend so richtig. Ihr wisst schon, das volle Programm mit Shoppen, Kosmetikerin und Cocktails trinken gehen.«

Mir erschloss sich die Logik hinter Elenas Worten nicht und offenbar sahen Mo und ich gleichermaßen schockiert aus, denn Daniel lachte lauthals los. Frederik begnügte sich mit einem Grinsen, wich aber wissentlich meinem Blick aus.

»Ja, dann bringt Mo mir wohl das Buch mit«, hüstelte Daniel schließlich und fragte Frederik irgendetwas, was ich nicht verstand, weil Stephan in diesem Moment vor mir auftauchte.

»Na, Schwägerin? Jetzt, wo du auch in festen Händen bist, können wir ja mal zu sechst ausgehen.« Er legte den Arm um meine Schulter und begann Pläne zu schmieden, bei denen mir schwindelig wurde. 

Was hieß denn hier »in festen Händen«? Der Boden unter meinen Füßen schwankte für einen Moment gefährlich und ich bemerkte, dass Frederik mich ansah, kurz bevor er mit Daniel die Küche verließ. Allerdings wirkte er vollkommen neutral und verzog keine Miene. Dabei konnte er unmöglich überhört haben, was Stephan gesagt hatte. Hatte denn niemand zugehört, als ich Frederik als meinen Nachbarn vorgestellt hatte?


Froh, endlich den Klauen meiner Schwester entkommen zu sein, versteckte ich mich halb neben dem Bücherregal und beobachtete Frederik. Er unterhielt sich noch immer angeregt mit meinem Bruder und hinter meiner Stirn pochte ein leichter Schmerz, während ich mich fragte, worüber zum Teufel die beiden sich so amüsierten.

»Hm«, brummte jemand neben mir.

Ich zuckte zusammen und sah nach rechts. Don war unbemerkt neben mir aus dem Boden gewachsen und folgte meinem Blick zu Daniel und Frederik. »Fragst du dich, worüber sie reden?«

Stumm nickte ich. Als ich nun noch begann, darüber nachzudenken, was Don wohl schon wieder von mir wollte, schwoll der Schmerz in meinem Kopf an. Ich musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass der Tag mich vollkommen geschafft hatte – woran Frederik nicht ganz unschuldig war, so oft, wie er heute über mich hergefallen war. Langsam fragte ich mich, ob genau das seine Absicht gewesen war. 

Daniels Lachen klang zu uns hinüber und ich drehte mich zu Don, musterte sein attraktives Gesicht. Vielleicht wäre er doch die bessere Wahl gewesen – er schien zumindest unkomplizierter als Frederik zu sein. Allerdings löste er nicht dieses verfluchte Prickeln in mir aus, das ich permanent in der Gegenwart meines Nachbarn verspürte.

»Ich habe eine Frage«, sagte Don ruhig und hielt meinem finsteren Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich kaufe euch zwar kein Wort der netten Kennenlern-Geschichte ab, aber darum geht es mir gar nicht. Wie hat Frederik dich herum bekommen?«

Gelassen zählte ich lautlos bis drei, bevor ich mich räusperte und fragte: »Herum bekommen?« Ich bildete mir ein, dass meine Stimme einen warnenden Unterton unterhielt, aber das interessierte Don nicht.

»Ja, herum bekommen. Du weißt genau, was ich meine. Das hat auch nichts mit meinem leicht angekratzten Ego zu tun, dass ich das sage, aber leicht zugänglich bist du nicht gerade.«

Gegen meinen Willen musste ich bei seinen Worten grinsen und sah wieder zu Frederik. Don hatte ja so recht. Warum akzeptierte das jeder, nur mein Liebhaber nicht?

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung«, sagte ich gedehnt und strich meine Haare nach hinten. »Mein bester Tipp ist, dass Frederik auf beiden Ohren taub ist, sobald ich die Wörter ›Nicht‹ oder ›Nein‹ benutze.«

Bevor ich das weiter ausführen konnte, versteifte Don sich neben mir. Er beugte sich näher zu mir, sah mir direkt in die Augen und fragte: »Ich hoffe, du meinst damit nicht, dass er dich zu irgendwelchen Sachen zwingt?«

Ein wenig gerührt durch Dons Besorgnis winkte ich sofort ab. »Um Himmels Willen! Auf keinen Fall! Ich habe das etwas unglücklich formuliert. Was ich meinte sind Situationen, wenn er mich beispielsweise fragt, ob ich Essen gehen will. Ich sage nein und wie auch immer das funktioniert, aber eine halbe Stunde später sitze ich in einem Restaurant. Oder ob ich Fernsehen gucken will – gleiches Spiel, ich verneine und sitze prompt auf meiner Couch und gucke irgendetwas, was ich eigentlich gar nicht sehen will.« Genervt verzog ich das Gesicht.

Don sprach die Frage laut aus, die mir im gleichen Moment durch den Kopf ging. »Wie zum Teufel bringt er das fertig?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung und es nervt tierisch.«

Wieder machte Don »Hm«, bevor er sich mit der Hand nachdenklich im Nacken kratzte. »Aber warum hast du ihn noch nicht zurechtgewiesen, verprügelt oder rausgeworfen?«

Vermutlich, weil ich ein schwaches Frauenzimmer war, das einem gut aussehenden Mann verfallen war – die älteste Geschichte der Welt.

»Glaub mir, wenn ich das wüsste, dann würde ich etwas unternehmen. So befürchte ich, dass der Sex einfach zu gut ist.«

Don legte eine Hand auf meine Schulter. »Helen, du machst mich fertig.« Er schüttelte den Kopf und ging dann davon. Dabei wirkte er, als würde er angestrengt darüber nachgrübeln, was ich gerade gesagt hatte. Er war schon in der Küche verschwunden, bevor ich überhaupt auf die Idee kam, dass ich ihn hätte fragen können, warum ihn das überhaupt interessierte.

Stattdessen lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Bruder und meinen Liebhaber. Wow, die Erkenntnis, dass sich niemals zuvor einer meiner Männer und mein kleiner Bruder im gleichen Raum befunden hatten, überrollte mich. Warum war Frederik nur so anders?

In diesem Moment trafen Frederiks Augen meine und ich lächelte. Er zog kurz die Mundwinkel hoch, doch wirklich als Lächeln ging dieser Gesichtsausdruck nicht durch. Stattdessen warf er mir einen seltsamen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, bevor er sich wieder meinem Bruder zuwandte.

»Da bist du ja!« Leicht atemlos blieb Mo neben mir stehen. »Ist Elena immer so anstrengend?«

Abwesend nickte ich und versuchte zu ergründen, was Frederik dachte, indem ich Löcher in seinen Rücken starrte. »Dein Bruder ist komisch«, murmelte ich abwesend und Mo kicherte.

»Erstens ist dein Bruder auch komisch und zweitens kam Don gerade in die Küche und hat das Gleiche über Frauen im Allgemeinen und dich im Speziellen gesagt.«

»Was?« Verwirrt sah ich Mo an.

»Ich habe zwar keine Ahnung, worüber ihr zwei geredet habt, aber Don zweifelt gerade an der Urteilskraft der weiblichen Weltbevölkerung. Möchtest du mich aufklären?«

Stumm schüttelte ich den Kopf. »Was glaubst du, worüber Daniel und Frederik sich unterhalten?«

Mo warf einen Blick zu den beiden Männern und erwiderte gelassen: »Warum gehst du nicht hin und findest es heraus?«

»Hm.« Gar nicht mal so blöd ihr Vorschlag. 

Sie lachte und klopfte mir wohlwollend auf den Rücken. Mit hochgezogener Augenbraue sah ich zu, wie sie vollkommen entspannt auf meinen Bruder zu spazierte. Menschen waren wirklich anstrengend, aber viele Menschen auf einem Haufen waren das Schlimmste.

Plötzlich hörte ich Elena und bevor sie mich ein weiteres Mal in ein Verhör nehmen konnte, folgte ich Mo und stellte mich neben Frederik. Erleichtert sanken meine Schultern nach unten. Das Gespräch drehte sich um Sport – was hatte ich erwartet? 

Ich schaltete auf Autopilot und so entging mir, dass Frederik den Arm um meine Schulter legte. Es fiel mir erst auf, als er bemerkte, dass es langsam Zeit wurde, nach Hause zu fahren. Überrascht sah ich auf meine Armbanduhr: Es war kurz vor Mitternacht. 

Gequält verzog ich das Gesicht, was meinem Bruder natürlich nicht entging und er begann sofort, gnadenlos auf mir herumzuhacken: »Was ist denn, Helen? Kommst du zu spät nach Hause? Ist ja schon nach elf, nicht wahr? Jetzt können wir endlich mal zusehen, wie du dich in einen Kürbis verwandelst.«

Mo stieß ihm zwar den Ellenbogen in die Seite, doch auch sie konnte sich ihr Grinsen nicht verkneifen. 

Elena schüttelte betrübt in den Kopf. »Mensch, Daniel! Wenn schon, dann auch richtig: Nicht Aschenputtel verwandelt sich in den Kürbis, sondern ihre Kutsche.«

Frederiks Lachen vibrierte durch meinen Körper. »Ich denke, mein Auto ist noch in seiner ursprünglichen Form und ich glaube nicht, dass die böse Hexe sich überhaupt an Helen heranwagt.«

Toll! Statt mich zu verteidigen, sorgte mein Begleiter für noch lauteres Gelächter. Selbst Don, der in der Küchentür stand und dem ich einen flehenden Blick zuwarf, grinste nur. 

Ich sah Frederik strafend an, jedoch war er damit beschäftigt, Don zu mustern. Offenbar war er meinem Blick gefolgt. Dann drückte er meine Schulter und sagte: »Komm, wir gehen – oder möchtest du noch bleiben?«

So höflich, wie es mir in dem Moment möglich war, antwortete ich: »Nein, ich bin müde.«

Elenas Grinsen besagte, dass sie mir nicht ein Wort glaubte – aber sie wusste ja nicht, was für einen Tag ich hinter mir hatte!

Vor der Tür kam ich nicht darum herum, Elena und Mo zu umarmen, während wir uns verabschiedeten. Dann beobachteten sie ganz gebannt, wie ich in Frederiks Auto stieg. Der krönende Abschluss eines Tages, an dem ich mich ohnehin schon wie die Hauptattraktion im Zoo fühlte.

Deswegen konnte ich mir ein erleichtertes Stöhnen nicht verkneifen, nachdem wir endlich losgefahren waren.

»Deine Familie ist nett«, bemerkte Frederik.

Ich schnaubte nur. »Zu dir vielleicht.«

Selbst in der Dunkelheit konnte ich sein Grinsen erkennen, bevor er wieder einen neutralen Gesichtsausdruck zeigte. »War das eigentlich der Typ, den ich letztens am Telefon hatte?«

»Ja, das ist Don, Mos Bruder – weitere Begegnungen sind also nicht ausgeschlossen. Aber er ist in Ordnung«, erklärte ich und schloss erleichtert die Augen. Jetzt hier im Auto ließen meine Kopfschmerzen merklich nach. Ich hatte es schon immer gewusst: Ich hatte einfach eine Allergie gegen Menschen. Wenn ich nur einen Arzt dazu bekommen würde, mir das zu attestieren, wäre ich glücklich bis ans Ende meiner Tage.

»Hat Don denn auch verstanden, dass du nicht an ihm interessiert bist?« 

Zwar trug Frederik die Frage entspannt vor, aber ich wurde hellhörig. Ich hatte schon geahnt, dass er anders an unser Arrangement heranging als ich.

»Wer sagt denn, dass ich nicht an ihm interessiert bin?« Ich dachte, ich würde Frederik damit reizen können und ihm gleichzeitig klarmachen, dass er keinerlei »Besitzansprüche« auf mich hatte.

Stattdessen lachte er nur trocken. »Du hast ja schon mich nicht im Griff. Willst du mir jetzt weismachen, dass du mit zwei Kerlen klarkommst?«

»Arschloch.« Wütend verschränkte ich die Arme und presste mich tiefer in den Sitz. Also von mir würde er heute keinen Sex mehr bekommen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Verstehst du den Sinn von Schimpfwörtern eigentlich nicht?«, wollte ich im Gegenzug von ihm wissen.

»Natürlich tue ich das. Aber aus deinem Mund ist das etwas anderes.« Seine Stimme klang widerlich zufrieden.

Ich verschränkte meine Arme fester und fragte angriffslustig: »Ist das so?«

Er nickte und warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er wieder auf die Straße sah. »Ich denke, deine Beleidigungen sind ein Zeichen von Zuneigung. Denn falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Mit Leuten, die du nicht magst oder die dir egal sind, redest du nicht einmal.«

Mir blieb nur betroffenes Schweigen.


Als der Kies der Auffahrt unter den Reifen knirschte, riss ich die Augen auf. Frederik schmunzelte und manövrierte den Wagen in seine Parklücke. »Du hast mich so intensiv angeschmollt, dass du eingeschlafen bist – ist das zu glauben?«, sagte er leise zu mir.

Ich hielt mir die Hand vor den Mund und versteckte mein Gähnen. »Es war ein langer Tag für mich«, erläuterte ich ihm, als wäre er nicht dabei gewesen.

»Das kann ich mir vorstellen«, raunte er und selbst im Dunkeln konnte ich seine Augen glitzern sehen. Er beugte sich vor, legte eine Hand um meine Wange und küsste mich auf den Mund. »Dann wollen wir dich mal ins Bett bringen.«

Mein Magen machte einen Satz. Redete er von Sex? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich dabei einschlafen würde.

Mit müden Beinen stieg ich die Treppe nach oben, Frederik dicht hinter mir. Ich überlegte, was ich sagen sollte, um ihm klarzumachen, dass ich wirklich gern mit ihm Sex hatte, aber jetzt einfach zu geschafft war und blieb vor meiner Tür stehen. Mir fielen einfach nicht die richtigen Worte ein.

In diesem Moment schob Frederik seinen Schlüssel ins Schloss und sagte: »Gute Nacht, Helen. Schlaf schön.«

Ich stammelte gerade noch: »Danke, du auch.« 

Dann fiel die Tür hinter ihm zu und ich hörte, wie der Schlüssel von innen herumgedreht wurde. Verblüfft betrachtete ich einen Moment die geschlossene Tür, dann trat ich den Rückzug in meine Wohnung an. Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Frederik sich irgendwie den Zugang in mein Bett erschleichen und dann die Nacht bei mir verbringen würde.

War es nun ein gutes oder schlechtes Zeichen, dass dieser Mann absolut unvorhersehbar war?