10


Nachdem ich dem Taxifahrer meine Adresse genannt hatte, bat ich ihn, durch den Hafen zu fahren.

»Sind Sie sicher, Fräulein? Das ist ein ganz schöner Umweg.«

Ich ließ ihm das Fräulein durchgehen, weil er alt genug war, um mein Großvater zu sein, und sagte nur knapp: »Ganz sicher.« Dann hüllte ich mich in Schweigen und starrte aus dem Fenster. Ich versuchte, die Lichter zu zählen, die ich unterwegs sah. 

Auf keinen Fall wollte ich darüber nachdenken, wie traurig ich jetzt war. Egal, wie oft ich mir versicherte, dass das die klügste Entscheidung war: Es fühlte sich einfach nicht so an.

Die böse Stimme in meinem Hinterkopf wies mich darauf hin, dass Frederik mir nicht einmal nach draußen gefolgt war. Ich ignorierte sie und starrte weiter in die Dunkelheit.

Völlig in Gedanken versunken bemerkte ich erst gar nicht, dass der Fahrer angehalten hatte. Ich gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, weil er den gewünschten Umweg gefahren war. Dann stieg ich aus und atmete die klare Nachtluft ein. Die Temperaturen lagen knapp über Null und sicherlich würde es bald das erste Mal schneien. 

Kurz vor der Tür erstarrte ich. Frederiks Wagen parkte auf dem Kies vor dem Haus – und ich hatte angenommen, er würde sich auf der Party ohne mich amüsieren. Egal. Ich konnte einfach leise in meine Wohnung schleichen. Er würde mir wohl kaum im Flur auflauern, immerhin hatte ich sehr erfolgreich den Eindruck erweckt, dass ich mit Simon hatte nach Hause fahren wollen.

Mit klopfendem Herzen spähte ich in den Flur und stellte erleichtert fest, dass er leer war. Das dumpfe Gefühl in meiner Brust ignorierte ich. Es würde vergehen – das wusste ich aus Erfahrung.

Als ich mit gestrafften Schultern hinter mir zuschloss, hatte ich plötzlich keine Energie mehr übrig. Ich schaffte es lediglich, meinen Mantel auszuziehen, dann ließ ich ihn auf den Boden fallen. Es wirkte einfach absurd, in diesem Moment etwas so simples zu tun wie Ordnung halten. Dabei sollte ich mich doch freuen! Es war immerhin meine Absicht gewesen, Frederik aus meinem Leben zu schneiden – wie der Fremdkörper, der er in meinen Augen war. Das war mir gelungen.

Hatte ich nicht noch Sekt im Kühlschrank? Das erschien mir jetzt genau das Richtige zu sein. Ich stand in der offenen Tür und starrte in das blasse Licht des Kühlschranks. 

Dass ich weinte, bemerkte ich erst, als meine Tränen auf den Boden tropften. Leise schniefend warf ich die Tür zu und beschloss, mich einfach auf das Sofa zu legen und so lange konzentriert an die Decke zu starren, bis die Tränen getrocknet waren. Dabei würde ich versuchen, möglichst wenig zu denken.

Langsam verstand ich den Anreiz, Drogen zu nehmen. Es musste wunderbar sein, wenn das Gehirn endlich einmal Ruhe gab. Meines war gerade weit davon entfernt, sich ruhig zu verhalten. Ich schaffte es bis in den Türrahmen zum Wohnzimmer, dann lehnte ich mich dagegen und rutschte langsam nach unten. Dabei heulte ich wie ein Schlosshund. Warum fühlte es sich so falsch an, wenn es das Richtige war?

Der Vollmond schien durch das Fenster und tauchte das Wohnzimmer in ein gespenstisches Licht. Ich legte den Kopf auf die Knie und versuchte, meine Atmung zu beruhigen. Schon lange hatte ich nicht mehr so viel und intensiv geheult. 

Als ich den Kopf hob, um mir die Nase abzuwischen, erstarrte ich. Ein langer Schatten fiel quer durch das Wohnzimmer auf mich. Unter Garantie war der gerade noch nicht da gewesen. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde war ich mit einem lebensbedrohlich hohen Puls aufgesprungen.

»Was zur Hölle? Bist du verrückt geworden?« Einer Furie gleich warf ich mich auf Frederik und schlug auf ihn ein. Wie konnte er mir nur so einen Schreck einjagen?

Gelassen fing er meine Arme ab und zog mich an sich. Widerwillig ließ ich mich gegen ihn sinken. Entsetzt spürte ich das Schluchzen in meiner Kehle aufsteigen. Ich wollte so viel sagen und hatte gleichzeitig auch eine Menge Fragen – doch ich war gelähmt und sprachlos.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Frederik streichelte meinen Rücken und hielt meinen Kopf umfasst, mein Gesicht lag in der Kuhle zwischen seiner Schulter und seinem Hals. Das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Puls jagte.

Ich protestierte nicht einmal, als Frederik mich langsam ins Schlafzimmer bugsierte. Er platzierte mich auf dem Bett, legte sich daneben und zog die Decke über uns. Meine Nase war so verstopft, dass ich kaum Luft bekam.

»Wie zum Teufel bist du hier reingekommen, du Mistkerl?«, stieß ich empört hervor. Meine wütende Frage wurde leider durch den nasalen Tonfall erheblich abgeschwächt.

»Elena hat mir schon vor Wochen den Schlüssel gegeben«, antwortete er ruhig und ließ nicht zu, dass ich mich aus seiner Umarmung löste.

»Miese Verräterin. Wozu? Damit du mich im Schlaf ermorden kannst?« Ich sträubte mich noch immer und versuchte, Abstand zwischen uns zu bringen, während ich nach Luft schnappte.

»Nein. Deine Schwester hat ganz treffend vermutet, dass du irgendwann etwas Bescheuertes machen würdest, um mich aus deinem Leben zu werfen. Deswegen hat sie mir den Schlüssel gegeben und gesagt, dass ich dich notfalls zu deinem Glück zwingen soll.«

Erstickt keuchte ich auf. »Grenzwertig.« Mehr brachte ich nicht hervor, bevor ich erschöpft auf die Matratze sank. 

Sofort schmiegte Frederik sich an mich. »Möchtest du mir jetzt vielleicht erklären, was genau das Problem ist, Helen? Du wirst mich so schnell nicht los, also könntest du einfach damit rausrücken.«

Seine Worte lösten – warum auch immer – einen neuen Weinkrampf bei mir aus. Unendlich geduldig wartete er, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte und entließ mich dabei nicht aus seiner Umarmung. Sein Atem strich über mein Haar und irgendwann ebbte mein Schluchzen ab. 

Zitternd holte ich tief Luft und sagte so fest es mir möglich war: »Es tut mir leid. Das war einfach nur dumm. Ich weiß nicht einmal, was ich mir dabei gedacht habe.«

Das Schlafzimmer wurde nur von der kleinen Lampe auf meinem Nachttisch beleuchtet und ich musste den Kopf weit in den Nacken legen, um Frederik aus meiner Position in die Augen sehen zu können. Sein Blick wanderte über mein Gesicht und ich konnte den fragenden Ausdruck erkennen. Schnell kuschelte ich mich wieder an seine Brust, bevor ich ihm gestand, was für ein erbärmlicher Versager ich war. »Da ist nichts gelaufen.«

Er besaß die Frechheit, einfach zu lachen. Die Vibrationen durchdrangen seinen Brustkorb. »Das hätte mich auch gewundert. Ich glaube nicht, dass Simon den Versuch dich zu küssen, tatsächlich überlebt hätte.«

»Vielleicht hätte ich ihn ja von mir aus geküsst!« Ich verstand nicht, was daran so abwegig sein sollte. 

»Ach ja?«, neckte Frederik mich. »Zeig mal!«

Ich strampelte die Decke zur Seite und stemmte die Hände in die Matratze, um mich aufzurichten. »Das kommt gar nicht in die Tüte, ich muss erst einmal duschen.« Vorsichtig schielte ich zu ihm. »Bist du sehr sauer?« 

»Ich fürchte, ich bin primär sehr eifersüchtig und ich glaube, das verträgt sich gar nicht mit deinen Richtlinien für unser äußerst merkwürdiges Verhältnis.«

Mein Herz schlug schneller und spürbar hinten in meiner Kehle. Schnell leckte ich mir mit einer nervösen Geste über die Lippen. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und senkte den Kopf, als ich mit leiser Stimme vorschlug: »Vielleicht kannst du dir ja neue Richtlinien überlegen, während ich dusche.«

Entspannt lehnte er sich auf dem Bett nach hinten und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Das ist interessant. Ich hatte fest mit der Todesstrafe für meine ungebührlichen Gedanken gerechnet.«

»Hm.« Sollte er sich nur weiter auf meine Kosten amüsieren, dann würde ich ihm halt nicht sagen, dass ich mittlerweile ganz offensichtlich eine gewisse Zuneigung für ihn entwickelt hatte. Blödmann.

Als ich unter der Dusche stand und endlich das Gefühl hatte, keinen Schnodder mehr ungünstig in meinem Gesicht platziert zu haben, atmete ich auf. Meine Gefühle waren komplett im Chaos versunken und in meinem Kopf herrschte das reinste Durcheinander. 

Zu allererst hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie es zwischen mir und Frederik jetzt weitergehen sollte. Ich hatte mich heute Abend gründlich daneben benommen und war es ihm schuldig, dass er jetzt entscheiden konnte, wie wir verblieben – obwohl der Gedanke daran mir weiche Knie verursachte.

Ich erstarrte, als die Badezimmertür geöffnet wurde und warf einen Blick über die Schulter. Frederik grinste mich dreist an und war bereits nackt. Alles, was mir dazu einfiel, war: »Oh.«

Dann trat er auch schon zu mir in die Kabine. Ich stand mit dem Rücken zur Wand und er stützte seine Hände rechts und links neben meinem Kopf ab. 

Krampfhaft bemühte ich mich, gelassen zu wirken. »Und? Hast du irgendwelche Vorschläge?«

Statt einer Antwort presste er seine Lippen auf meine und ich kam ihm willig entgegen. Mehr als ein Dutzend dreckiger Gedanken schossen durch meinen Kopf. Je länger der Kuss dauerte, desto mehr überkam mich das Gefühl, dass meine Lunge nicht mehr richtig arbeitete. Verzweifelt klammerte ich mich an Frederik, schlang die Arme um seinen Nacken. Seine Zunge fuhr über meine Unterlippe und kostete von mir.

Schließlich blieb ich atemlos zurück und sah zu ihm auf. »Hm.« Meine Brüste pressten sich gegen seinen Oberkörper, meine Schenkel berührten seine und das Verlangen durchzuckte mich – gemeinsam mit der Erleichterung, dass er offensichtlich nicht plante, einfach zu gehen. Dabei hätte ich ihm das nicht einmal verübeln können. Lag ihm wirklich so viel an mir?

Frederik betrachtete mich abwägend. »Wir sollten für den Anfang vielleicht bei deinen Richtlinien bleiben.«

Verwirrt suchte ich in seinem Gesicht nach einem Hinweis, dass er scherzte. Ich hatte eher damit gerechnet, dass er mich bei dieser günstigen Gelegenheit mit Handschellen an sich ketten würde. Seine Worte beunruhigten mich auf eine merkwürdige Art und Weise. Bevor ich allerdings etwas entgegnen konnte, umfasste er mein Kinn und küsste mich, erstickte jeden Protest im Keim.

Einen Wimpernschlag später wusste ich mit Mühe und Not noch meinen Namen und nicht einmal, worüber wir geredet hatten. Frederik drehte mich herum und presste sich von hinten gegen meinen Körper, ich konnte seine Erektion deutlich spüren und erschauerte. 

Mit einem einzigen Stoß glitt er in mich und legte die Hand auf meinen Bauch. Es fühlte sich unbeschreiblich an und ich flüsterte seinen Namen. 

Seine Lippen liebkosten meinen Nacken und ich hatte trotz des heißen Wassers, das von oben auf uns herab prasselte, das Gefühl, am ganzen Körper eine Gänsehaut zu haben. Meine Nippel prickelten und zogen sich noch fester zusammen. 

Immer wieder trieb Frederik seinen Schwanz in mich und das Pochen in meinem Schoß steigerte sich zu einem verlangenden Brennen, brachte mich schnell an den Rand des Höhepunkts. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, mich tatsächlich fallen lassen zu können und schloss erleichtert die Augen.

Offenbar harmonierten wir perfekt miteinander, denn gerade, als ich glaubte, zerspringen zu müssen, beschleunigte er sein Tempo und bescherte mir so einen unglaublichen Orgasmus. Während ich in seinen Armen zitterte und bebte, kam auch Frederik und presste sich dabei fest an mich.

Als ich mich mit dem Handtuch abrubbelte, sah ich, wie Frederik seine Kleidung vom Boden aufsammelte und runzelte die Stirn. Nervös suchte ich nach den richtigen Worten. »Würdest du hier bleiben?«

Überrascht blickte Frederik mich an. »Was meinst du damit?«

Ich holte tief Luft, meine Finger verkrampften sich im weichen Frottee. »Über Nacht, bei mir.« Mehr brachte ich beim besten Willen nicht hervor und schon jetzt spürte ich, dass mein gesamtes Gesicht sicherlich rot leuchtete.

»Ich denke, das könnte ich über mich bringen«, verkündete der Mann zufrieden. Wieso überkam mich gerade nur das Gefühl, dass er genau gewusst hatte, dass ich ihn fragen würde? 

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete ich ihn. »Hm.«

Wortlos eilte ich voraus ins Schlafzimmer, bevor ich noch meine Meinung änderte oder er möglicherweise seine.

Frederik folgte mir mit einigem Abstand und blieb skeptisch im Türrahmen stehen. »Und mich trifft kein Blitz, wenn ich diesen Raum betrete?«

Ich verdrehte nur die Augen und zog mir die Decke über den Kopf. Er kostete diesen Moment für meinen Geschmack viel zu sehr aus. Die Matratze sank ein und ich versteifte mich kurz. Dann genoss ich es erstaunlicherweise, dass er den Arm um meine Taille legte und sich von hinten an mich schmiegte. Er presste einen zarten Kuss auf meine Halsseite und streckte die Hand aus, um das Licht zu löschen.

Obwohl ich fest damit gerechnet hatte, in seiner Gegenwart nicht schlafen zu können, spürte ich fast unmittelbar, wie meine Lider schwer wurden. »Es tut mir leid, Frederik«, murmelte ich leise.

Der Griff um meine Mitte verstärkte sich. »Ich weiß.«

Mehr sagte er nicht und bevor ich darüber nachdenken konnte, ob mich das beunruhigen sollte, war ich eingeschlafen.


Als ich die Augen aufschlug, war ich sofort hellwach. Die andere Bettseite war leer und für einen Moment durchzuckte mich die absurde Angst, dass Frederik doch gegangen sein könnte. Zumindest versuchte ich mir einzureden, dass die Angst absurd war, denn im Grund war es mir egal, was Frederik tat – oder?

Trotzdem erfasste mich eine nervöse Unruhe. Ich ignorierte die Tatsache, dass ich nur ein Höschen trug und kletterte aus dem Bett. Der Boden fühlte sich kalt unter meinen Füßen an, der Winter war definitiv da.

Ich fand den Mann schließlich in der Küche, wo er sich abmühte, die Kapseln in die Kaffeemaschine einzulegen. Für einen Moment blieb ich in der Tür stehen und musterte seinen schönen Rücken. Seine Haare standen strubbelig vom Kopf ab und ich bemerkte, dass ich es kaum erwarten konnte, wieder mit ihm im Bett zu verschwinden – um zu kuscheln. Der beinahe schon widerwärtige Gedanke erschreckte mich zu Tode.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich belustigt.

Frederik drehte sich um und betrachtete eingehend meinen fast nackten Körper. »In der Tat.«

Ich ging zu ihm hinüber, für seine Verhältnisse war er gerade regelrecht schweigsam. »Hier, siehst du diese Lasche? Die muss nach hinten.« Während ich ihm erläuterte, wie mein eigentlich gar nicht so komplizierter Kaffeeautomat funktionierte, schnupperte ich unauffällig an ihm. Sein warmer Körper roch nach ihm und meinem Bett – eine verlockende Mischung.

Als der Kaffee endlich in die Becher lief, seufzte Frederik erleichtert. »Hast du irgendetwas Essbares hier? Im Kühlschrank herrscht gähnende Leere.«

Verlegen senkte ich den Blick. »Ich hatte gestern keinen Nerv einkaufen zu gehen, weil ich- äh- irgendwie abgelenkt war.« Ich sparte es mir, hinzuzufügen, dass dafür mein beknackter Plan, diesen wunderbaren Mann loszuwerden, verantwortlich gewesen war.

Frederik ignorierte mein Stammeln und nippte an dem Kaffee. »Dann gehen wir gleich frühstücken und danach einkaufen, würde ich sagen.«

Ich nickte begeistert – so groß war meine Erleichterung, dass er offensichtlich nicht sauer auf mich war. Mit den Kaffeebechern in der Hand bedeutete er mir mit einer Kopfbewegung, ins Schlafzimmer vorauszugehen. 

Als ich mich wieder unter die Decke kuschelte, konnte ich mir die kleine Spitze nicht verkneifen: »Ich hätte nie gedacht, dass du ein Morgenmuffel bist.«

Er sagte nichts, sondern warf mir nur einen finsteren Blick zu. Nach einer Weile murmelte er leise: »Woher auch? Das ist im Grunde ja erst unsere zweite gemeinsame Nacht.« Dabei ließ er den Kopf wieder auf das Kissen sinken und schloss die Augen.

Schnell rechnete ich nach: Wir kannten uns seit Anfang September und wie oft wir inzwischen gevögelt hatten, konnte ich kaum zählen. Wenn man die erste Nacht mitrechnete, in der ich ihn trotzdem hinausgeworfen hatte, war es tatsächlich erst das zweite Mal gewesen, dass wir zur gleichen Zeit in einem Bett geschlafen hatten – und ich wusste, dass das an mir lag und nicht an Frederik. 

Sofort meldete sich wieder das schlechte Gewissen – ich hatte es ihm wirklich nicht leicht gemacht. In einem Anflug von Dankbarkeit stellte ich meinen Becher ab und kuschelte mich freiwillig an seine Seite. Mit einem Brummen legte er den Arm um meine Schulter.

Ich konnte kaum fassen, wie gemütlich und entspannend ich diese Situation fand. Es war wirklich lange her, dass ich mich so gefühlt hatte. »Warum bist du Single?« Plötzlich interessierte diese Frage mich brennend.

»Was?«, murmelte Frederik schlaftrunken.

»Wie kannst du nur so müde sein?«, fragte ich fassungslos und bohrte ihm einen Finger in die Seite.

Unwillig drehte er sich um und schob mich dabei von sich. »Ist dir eigentlich klar, wie wenig Schlaf ich in den letzten Wochen deinetwegen bekommen habe? Kann ja sein, dass es deinem Computer egal ist, wann du arbeitest – aber ich musste jeden Morgen in der Firma antanzen.«

Er vergrub sein Gesicht tiefer im Kissen und ich betrachtete ihn schuldbewusst. »Oh. Dann schlaf noch ein bisschen.« Ehe mir klar war, was ich da tat, streckte ich die Hand aus, zog die Decke höher und streichelte über seinen Kopf. Seine Haare fühlten sich ganz seidig unter meinen Fingern an.

Ich wartete, bis er gleichmäßig atmete, dann kletterte ich aus dem Bett. Um die Ecke gab es einen kleinen Tante-Emma-Laden, dorthin würde ich schnell huschen. Nahezu geräuschlos suchte ich mir ein Outfit zusammen und zog mich vor der Schlafzimmertür an.

Nachdem ich mir eine Ladung Wasser ins Gesicht geworfen und die Zähne geputzt hatte, griff ich nach meinem Portemonnaie und meiner Jacke. Ich hatte tatsächlich Herzklopfen bei dem Gedanken, Frederik mit einem Frühstück zu überraschen. Da ich einiges gut zu machen hatte, konnte ich gleich damit anfangen.

Da es noch relativ früh war, war es in dem kleinen Laden leer. Ich kaufte Milch, Eier, Käse und Brötchen – sowie einen Leinenbeutel, um die Sachen nach Hause zu schaffen, weil ich in meiner Eile natürlich nicht daran gedacht hatte, einen mitzunehmen.

Ich würde einfach warten, bis Frederik sich regte und dann Frühstück machen. Innerlich beglückwünschte ich mich zum wiederholten Male zu meinem brillanten Plan.

Zwei Stunden später fand ich mein Vorhaben schon nicht mehr so überragend. Ein Frühaufsteher war der Mann wirklich nicht. Ich hatte inzwischen mit meinem Laptop auf der Couch Stellung bezogen und ein wenig gearbeitet. Langsam meldete sich mein Magen aber und ich beschloss, dass ich jetzt einfach die Rühreier machen würde. Wenn er nicht aufgewacht war, bis ich fertig war, würde ich ihn eben wecken.

Doch das war gar nicht nötig. Kaum zog der Duft der zweiten Runde Kaffee und der Eier durch die Wohnung, hörte ich, wie er sich im Schlafzimmer rührte.

Kurze Zeit später stand Frederik in der Küche und sah endlich einmal angemessen beeindruckt aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass du weißt, wie der Herd angeht.« Dazu hielt er sich die Hand vor den Mund, um sein herzhaftes Gähnen zu verstecken. Dann schlurfte er zum Tisch und hielt sich dankbar am Kaffeebecher fest.

»Dieser Service kommt erst im Rahmen einer Übernachtung, genau wie der Genuss meiner Kochkünste. Eigentlich kann ich ganz passabel kochen«, sagte ich, während ich die Rühreier auf den Tellern verteilte.

»Das lasse ich dich gern unter Beweis stellen. Danke.« Er nahm mir den Teller ab und beäugte ihn kritisch. »Wo hast du die Sachen eigentlich jetzt hergezaubert?«

Meine Wangen färbten sich rot. »Ich war kurz beim Laden.«

Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. 


Nach einem halben Streit darüber, mit welchem Auto wir zum Supermarkt fahren sollten, schafften wir es endlich, loszufahren. Ich war erstaunlich nervös – dabei ging es um so etwas alltägliches wie Einkaufen. Bedeutete das jetzt, dass wir so eine Art Paar waren? Eine Beziehung führten? Unwillkürlich krampfte mein Magen sich zusammen.

»Worüber denkst du nach?«

Scheiße. Scheiße. Scheiße. Hatte der Mann eigentlich ein Radar für solche Momente?  Schon wünschte ich mir den verschlafenen Morgenmuffel zurück. Scheinheilig antwortete ich: »Nichts.«

»Soso. Warum guckst du dann so verkniffen? Damit meine ich: Verkniffener als sonst?« Er grinste breit und war sich offenbar ziemlich sicher, dass er mich durchschaut hatte.

»Ich gucke also verkniffen? Das muss aber ein merkwürdiger Fetisch sein, wenn du das trotzdem anziehend findest.« Empört verschränkte ich die Arme.

»Du lenkst ab, Helen. Und meistens guckst du nur so, wenn man dir auf die Schliche kommt.« Frederik blieb immer noch ruhig.

»Du meinst wohl, wenn du mir auf die Schliche kommst! Niemand sonst ist dermaßen unverfroren!«

»Also gibst du zu, dass ich dich durchschaut habe?« Äußerst zufrieden bog Frederik auf den Parkplatz des Supermarkts ein.

Was? Wie bitte? Ich hatte mich ganz offensichtlich in eine Sackgasse manövriert. Entnervt warf ich die Arme in die Luft, nachdem ich mich abgeschnallt hatte. »Na gut. Möglicherweise habe ich darüber nachgedacht, was das hier jetzt ist.« Mit einer undeutlichen Geste, die alles hätte bedeuten können, wedelte ich zwischen uns hin und her. 

Seine Mundwinkel zuckten und er schüttelte nur den Kopf. »Du bist nicht glücklich, wenn du nicht gleich Nägel mit Köpfen machen kannst, oder?«

Wortlos ließ ich ihn stehen und rammte wütend den Chip in die Vorrichtung am Einkaufswagen, bevor ich in den Supermarkt rauschte. Leider vergaß ich, dass Frederik mühelos mit mir Schritt halten konnte.

Allerdings störte es ihn wie immer nicht, dass ich ihn ignorierte. Belustigt beobachtete er, wie ich frisches Obst und Gemüse in den Einkaufswagen stapelte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel Verderbliches kaufen willst. Du kannst doch gar nicht kochen«, warf er ein und legte selbst einen Sechserpack Äpfel in den Wagen.

Mit funkelnden Augen drehte ich mich um und bohrte ihm einen Finger in die Brust, dabei hatte ich noch einen Beutel mit Blattspinat in der Hand. »Zum wiederholten Mal, ich kann kochen. Es gibt zwei Versionen von mir: Die eine steht kurz vor der Fertigstellung eines Buches und isst sehr unregelmäßig, die andere hat Anfangsschwierigkeiten beim Schreiben und kocht gern etwas ausschweifender.«

Frederik beäugte den Inhalt des Einkaufswagens und murmelte: »Das mit dem Kochen glaube ich erst, wenn ich live dabei war.«

Mit einem verächtlichen Geräusch schob ich den Wagen und versuchte, mich zu orientieren. 

Wenig später sah ich, dass Frederik immer wieder in den Gang mit den Süßigkeiten schielte und beschloss sofort, dass ich ihn damit aufziehen musste. »Wer hätte nur gedacht, dass du eine Naschkatze bist?«

Ertappt zuckte er zusammen und warf mir einen kurzen, aber eindeutig bösen Blick zu. »Ich habe es eigentlich ganz gut im Griff.«

Haha, der elende Lügner. Ich konnte eindeutig sehen, dass er schwer mit sich kämpfte. Also nahm ich ihm die Entscheidung ab und griff nach der Packung Toffifee, mit der er gerade vor meinen Augen praktisch Sex hatte.

Er stieß ein ersticktes Geräusch aus und sagte vorwurfsvoll: »Das machst du nur, um mich in deine Wohnung zu locken.«

Ich winkte ab. »Als ob ich das nötig hätte. Eigentlich wollte ich eine Spur in den Wald legen, genau bis zum Haus der Hexe.«

Frederik legte einen Arm um meine Schulter und grinste breit: »Sag’ ich doch: Deine Wohnung.«

 Als hinter mir mein Name gesagt wurde, zog ich gerade eine Grimasse und wollte Frederik in die Seite boxen.

»Helen?«

Ich erkannte die Stimme auf Anhieb und spürte, dass mein Gesicht einfror, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können. Das Blut schien aus meinem Körper zu weichen und ich hörte nur noch meinen eigenen Herzschlag – wie in Zeitlupe. Meine Fäuste ballten sich und die Schritte kamen näher.

»Helen, bist du das wirklich?« Ole hatte die Ruhe weg, einfach so zu klingen, als wäre die Welt völlig in Ordnung.

Frederik hatte bemerkt, dass ich zur Salzsäule erstarrt war und sah gefasst zu dem Mann, der mich gerade angesprochen hatte. Ich hingegen hatte nicht das geringste Verlangen, mich umzudrehen und das Gesicht meines einzigen Ex-Freundes vor mir zu haben.

Allerdings war ich auch nicht feige genug, um die Flucht zu ergreifen. Hoffentlich klang mein Atem nicht so rasselnd, wie er mir erschien, als ich tief Luft holte. Ich bekam nicht einmal die Zähne auseinander, um etwas zu sagen. 

Stumm starrte ich Ole an und verspürte nicht zum ersten Mal das Verlangen, ihm richtig weh zu tun.

Er stand vor mir, die Arme voller Einkäufe und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Dass ich noch nicht ein Wort gesagt hatte, schien ihn überhaupt nicht zu stören. Als wäre nie etwas passiert, plapperte er los: »Was für ein Zufall, dass ich dich hier treffe. Ich bin gerade erst wieder hierher gezogen. Wie geht es dir?«

Bis vor zwei Minuten war es mir ziemlich blendend gegangen – gerade überlegte ich, wo hier die Messer hingen. Irgendwo gab es sicher einen Gang, in dem Küchenzubehör verkauft wurde. Ein scharfes Messer, mehr brauchte ich sicher nicht. Ehrlich gesagt hielten mich nur Frederiks Anwesenheit und die Tatsache, dass sich an diesem Samstag eine Menge Kinder hier tummelten, davon ab, ein Massaker in Gang sieben anzurichten.

Stattdessen konzentrierte ich meine gesamte Willenskraft darauf, regelmäßig Luft zu holen – was gar nicht so einfach war.

Jetzt fiel ihm auf, dass ich nicht einmal gesprochen hatte und sein widerliches Grinsen wurde etwas schwächer. Zum ersten Mal schwenkte sein Blick zu Frederik, der noch immer tapfer meinen Rücken tätschelte. Dabei konnte ich das Fragezeichen praktisch über seinem Kopf schweben sehen. Aber ich konnte nichts sagen. Zu groß war meine Angst, dass nur unverständliches Gekreische herauskommen würde.

»Ich bin übrigens Ole, Helens Ex-Freund«, erläuterte Ole jetzt mit einer Ruhe, die ich nur bewundern konnte.

Frederiks Hand verharrte kurz an Ort und Stelle, doch ich hatte ja schon öfter miterlebt, dass er sich bemerkenswert schnell wieder fangen konnte. Ich platzte fast vor Stolz, als er einen wunderbar abschätzenden Blick aufsetzte und vollkommen trocken bemerkte: »Na, das erklärt natürlich einiges.«

Irritiert trat Ole einen Schritt zurück. Was hatte er denn erwartet? Dass Frederik ihn wie einen lang verschollen geglaubten Bruder begrüßen würde? Was für ein Idiot – Ole, nicht Frederik!

In meiner Kehle stieg ein hysterisches Lachen auf – so lustig war Frederiks Entgegnung allerdings überhaupt nicht gewesen und ich erkannte, dass ich kurz vor einer ausgewachsenen Panik-Attacke stand. Und ich hatte ernsthaft gedacht, Frederik mit zu meiner Familie zu nehmen wäre der schlimmste Teil gewesen!

Die Sekunden verstrichen und dehnten sich endlos aus, da wir nun alle schwiegen. Ich hatte kein Problem damit, das durchzuhalten und Frederik war vermutlich damit beschäftigt, zu grübeln – aber Ole wurde nervös. 

Schließlich stieß er hervor: »Nun ja, wir können ja mal telefonieren, Helen. Man sieht sich.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand endlich. 

Mit einem Zischen atmete ich erleichtert aus und Frederik löste sich aus seiner Starre. »Wow«, sagte er nur und schob den Wagen weiter. Allerdings ahnte ich bereits, dass es nicht bei dieser Wortlosigkeit seitens Frederik bleiben würde.


Ich stellte die beiden großen Tüten mit den Lebensmitteln auf meinen Küchentisch und redete mich dabei immer noch um Kopf und Kragen. Im Verlauf des Einkaufs und der Heimfahrt war ich zu einer wahren Smalltalk-Meisterin mutiert und hatte es krampfhaft vermieden, darüber nachzudenken, dass Frederik verdächtig einsilbig bis gar nicht geantwortet hatte.

Ich erzählte gerade irgendwelche interessante Fakten über Kartoffeln, als Frederik die Nerven verlor, meinen Oberarm packte und mich herumzog. Seine Augen bohrten sich in meine. »Bekomme ich vielleicht eine Erklärung?«

Ich presste meine Lippen aufeinander. Weder wusste ich, wo ich mit meinem Bericht beginnen sollte, noch wollte ich überhaupt darüber reden. Ich hatte noch nie mit irgendwem darüber gesprochen. Nicht einmal Elena wusste von Oles Existenz. Tapfer erwiderte ich Frederiks Blick und schüttelte langsam den Kopf.

Seine Augen wurden schmal und auf der Stirn erschien die steile Falte, die ich bisher erst ein Mal gesehen hatte. »Weißt du was? Es ist mir egal. Ich habe wirklich die Nase davon voll, dass außer für dich in deinem Leben für niemanden Platz ist, Helen.«

Entsetzt sah ich ihn an, doch er wirbelte herum und schlug tatsächlich die Tür hinter sich zu. Ich zuckte zusammen. Das hatte ich ja noch nie erlebt, er war doch immer so kontrolliert und gelassen. Dann zuckte ich noch ein zweites Mal zusammen, als er auch seine Wohnungstür hinter sich zuwarf.

Einen Moment stand ich wie betäubt in der Küche und dachte nach. In mir keimte langsam aber sicher der leise Verdacht auf, dass ich vielleicht wirklich das Problem sein könnte. 

Ein unbestimmtes Gefühl lief durch meinen Körper. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich erkannte, dass es Angst war. Angst, dass ich den Bogen überspannt hatte und Frederik nichts mehr von mir würde wissen wollen. Ein Plan musste her – und zwar schnell.