22. KAPITEL

Michael liebte den Frühlung und das Erwachen der Natur. Er stand auf der Veranda, die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans geschoben, und lauschte dem Heulen der Kojoten, tiefe, seelenvolle Laute, die ihn bewegten. Kojoten lebten in Paaren. Seine Einsamkeit deprimierte ihn. Nach Monaten der Trennung hatte er geglaubt, Charlotte vergessen zu können. Doch sie hatte sich in seinem Herzen eingenistet.

Den Winter über hatte er ständig ihr Gesicht gesehen: in Zeitungen, in Talkshows, auf Reklametafeln für ihren neuen Film. Sie war als beste Schauspielerin für ihre Rolle der Marguerite in Camille nominiert worden, und das Studio richtete die Werbung danach aus.

Er sah sich den Film an, obwohl das verrückt war. Er konnte nicht anders. Das geliebte Gesicht auf der Leinwand zu sehen quälte ihn. An guten Tagen stimmte er mit den Kritikern überein, dass Charlotte in ihrer Rolle brillierte. Wenn seine Verbitterung die Oberhand gewann, fand er, dass ihr die Rolle der lügenden, manipulativen Schönheit auf den Leib geschneidert war. Eine Textzeile, die Marguerite zu Armand sagt, ging ihm nicht aus dem Sinn: „Ich bin nicht immer aufrichtig. Das kann man nicht sein in dieser Welt.“

Ha! Wie leicht mussten ihr diese Worte gefallen sein. Er fühlte sich betrogen wie Armand. Auch nach all der Zeit war jede plötzliche Erinnerung an Charlotte mit einem Stich im Herzen verbunden.

Und immer wieder wurde er mit ihrem Gesicht konfrontiert. Dabei fiel ihm auf, dass sie in Interviews oder auf Fotos selten lächelte. Das mochten die meisten als ihre kühle Distanziertheit abtun, doch er wusste es besser. Er erkannte die kleinen Signale des Kummers: das feste Falten der Hände, ein leichtes Zucken der Lippen, die Neigung des Kopfes. Meistens schaltete er den Fernseher aus, sobald sie erschien. Manchmal jedoch verfiel er in eine Art Trance, sah sie an, lauschte und fragte sich besorgt, warum sie so traurig war. Diese Augenblicke waren besonders schwer. Er war eitel genug zu glauben, dass sie ihn vielleicht vermisste und den Bruch ihrer Beziehung bedauerte, vielleicht sogar bereute.

Manchmal betrachtete er sie und fragte sich, ob es ihm etwas ausmachte, wenn sich dieses Gesicht veränderte. Einmal, bei einem Interview mit Jay Leno, war er zum Fernseher gegangen und hatte den unteren Teil ihres Gesichtes bedeckt. Da waren nur noch ihre Augen zu sehen gewesen, und die waren dieselben geblieben.

Das Kojotengeheul durchdrang die milde Nacht. Michael blickte zu den Bergen, von denen Nebel herüberzog. Hätten wir unsere Differenzen beilegen können? Allein die Frage tat weh.

„Beeilung, mi’jos“, rief Luis, als er, in der dunklen Kabine des Lieferwagens über das ganze Gesicht strahlend, vor der Hütte vorfuhr. „Diese herrlichen Vögel werden heute Nacht Männer aus euch machen!“

Michael lehnte sich über die Verandabrüstung und winkte seinem Vater zu. Luis hatte darauf bestanden, seine Söhne zu einem Männerabend mitzunehmen, um nach einem langen Winter des Schweigens und Ausweichens die Bindung untereinander wieder zu festigen. Frauen waren dabei nicht gestattet. Schließlich waren sie der Anlass für alle Probleme, wie er glaubte.

Michael fand es interessant, dass er sich ausgerechnet einen Hahnenkampf als Friedensstifter ausgesucht hatte. Letztlich war er aber froh, aus dem Haus zu kommen, und wäre fast überallhin gegangen, um nicht schwach zu werden und sich die Berichte über die Oscar-Verleihung anzusehen.

Charlotte würde hinreißend gekleidet im Blitzlichtgewitter, von Fans umjubelt dastehen und vermutlich einen Oscar gewinnen. Er bezweifelte, dass er die Kraft hatte, sich anzuhören, wie sie mit der Statue in der Hand vielleicht ausgerechnet Freddy Walen dankte. Zwei Kampfhähnen bei ihrem blutigen Handwerk zuzusehen war vermutlich einfacher zu verkraften als Charlottes Anblick.

„Und die Gewinnerin ist … Charlotte Godfrey für Camille.“

Das Publikum tobte, und Charlotte spürte ihr Herz hämmern. Die Kameras zeigten in Nahaufnahme, wie sich auf ihrem Gesicht spontan ein strahlendes Lächeln ausbreitete.

In solchen Momenten schien die Zeit wie in Zeitlupe zu vergehen. Das Orchester spielte, das Publikum jubelte, und neben sich hörte sie Freddys eindringliches: „Steh auf! Steh auf!“

Sie erhob sich mit dem Gefühl, die Knochen seien aus Blei, die Schuhe falsch herum angezogen und das Lächeln im Gesicht erfroren. Ihre Hände in den langen cremefarbenen Handschuhen waren feucht, als sie sich das teure Kleid aus Taft und Seide in Kamelienfarbe richtete. Dutzende Leute hatten an dem schmalen Oberteil und weiten Rock gearbeitet, und Freddy behauptete, das Kleid verbreite den Zauber eines Stars.

Leicht atemlos wandte sie sich Freddy zu, die Augen glitzerten feucht. Er drückte ihr aufmunternd die Hand, küsste sie erleichtert und stolz lächelnd auf die Wange, und seine Augen schwammen in Tränen. Schließlich gab er ihr einen kleinen Schubs.

Charlotte atmete tief durch, nickte und machte sich auf den Weg zur Bühne. Freddy hatte ihr vorhin ein Amphetamin gegeben, damit sie das lange Programm durchstand, und sie spürte die Wirkung.

Ringsum nur lächelnde Gesichter. Während sie durch die Reihen schlüpfte, berührte man sie kurz, flüsterte ihr Glückwünsche zu und versuchte ihr nahe zu kommen. Das Orchester spielte die Titelmelodie aus Camille, während sie graziös den Mittelgang entlang, die Stufen hinauf und quer über die große Bühne auf Mel Gibson zuging, der die goldene Statue hielt.

Sie spürte das Gewicht des Oscars in der Hand, der für viele die Erfüllung ihrer Träume verkörperte. Ein Objekt der Begierde, auch der Anbetung – das goldene Kalb.

Sie blickte über das im Art-déco-Stil geschmückte Podium und dachte weder an die Menschen im Saal, meistens Kollegen, noch an die Milliarden Zuschauer an den Satellitenempfängern auf der ganzen Welt. Sie dachte an Michael Mondragon.

Bobby kam auf die Veranda, als Luis ungeduldig hupte. Er richtete sich den Kragen und winkte dem Vater zu. Dann wandte er sich zu Michael um und verdrehte die Augen.

„Vamonos!“ rief Luis. „Wir kommen zu spät. Glaubt ihr, die warten auf uns? Steigt ein, fahren wir!“

Nach einstündiger Fahrt in ein entlegenes Tal erreichten sie den Zielort. Im Schutze der Nacht versammelten sich Lieferwagen und Autos um ein schäbiges Holzgebäude, das so genannte Clubhaus. Scharen von Männern mit Holzkisten, in denen die Hähne zum Kampf gebracht wurden, strömten von zwei Seiten darauf zu. Luis trommelte ungeduldig auf das Lenkrad, während Bobby und Michael einen bedeutungsvollen Blick tauschten. Michael band sich vorsichtshalber das lange Haar im Nacken zusammen. Bobby blickte sich skeptisch um.

Sobald sie den Wagen abgestellt hatten, gingen sie gemeinsam über das hart gebackene Feld, inmitten einer Menge rauer, muskelbepackter Männer mit Bierbäuchen, die meisten Mexikaner. Schulter an Schulter versuchten sie sich in das Clubhaus zu quetschen. Von Beachtung der Feuerschutzbestimmungen konnte hier keine Rede sein. Die Bude platzte vor Zuschauern und krähenden Kampfhähnen samt Besitzern bereits aus den Nähten.

Hinter den Mondragons zischte jemand auf Spanisch, sie sollten sich bewegen. „Andale!“ Die Kämpfe hatten schon begonnen.

An der breiten Eingangstür stand ein bulliger Riese mit Vollbart, speckiger Sportkappe und Jeansjacke, die vor Schmutz starrte. Neben ihm war ein handgeschriebenes Schild aufgestellt: „Kein Zutritt für Kokser, Schwule und Weicheier.“

Michael schaute über die Schulter, um zu sehen, wie Bobby das aufnahm. Der blinzelte ihm nur zu, verkreuzte die Finger und schlüpfte durch den Eingang. Michael folgte ihm und ihrem Vater in den feuchten, stinkenden Innenraum.

„Da drüben!“ schrie Luis über den allgemeinen Lärm und deutete auf eine voll gepackte Ecke, in der Manuel Zigarette rauchend neben Kisten auf und ab ging. „Manuel hat unsere Hähne. Sind wunderschön. Kommt.“

„Deine Hähne?“ zischte Michael Luis ins Ohr.

Luis schnaubte nur und drängte sich durch die Menge auf Manuel zu, der einen großen dreifarbigen Hahn aus der Kiste nahm.

„Endlich! Ihr kommt gerade noch rechtzeitig“, rief Manuel Luis zu. „Die Tiere sind angespannt“, verriet er Luis. „Wir haben schon zwei Kämpfe verloren.“

„Sí, sí“, erwiderte Luis mit der Ruhe des Erfahrenen. Er beugte sich über die Kisten und besah sich die Tiere. „Was sollen wir machen?“ fragte er achselzuckend und richtete sich wieder auf. „Wir werden wohl zwei oder drei verlieren. Aber nicht mehr. Sie kosten mich gutes Geld.“

Michael fragte sich, wie viel. Diese Aktivität wurde eindeutig nicht in den Büchern aufgeführt.

Luis wählte aus einem Sortiment eine lange schmale Klinge aus, schnitt damit die Seite eines Telefonbuches ein und prüfte die Schärfe zusätzlich an der schwieligen Haut seines Daumens. Er nickte zufrieden, nahm einen Hahn und befestigte die Klinge am Sporn seines linken Fußes.

„Sieh ihn dir an, Miguel“, sagte er und beruhigte das Tier mit sachkundigem Streicheln. „Ist er nicht herrlich? Ein Conquistador. Dem muss keiner beibringen, wie man kämpft. Das hat ihm Gott gegeben.“ Er sah seine Söhne mit leuchtenden Augen an. „Es liegt im Blut.“

Michael beobachtete fasziniert, wie sein Vater mit dem Tier umging, es streichelte und ihm ungeachtet der tobenden Männer ringsum, die nach Beendigung eines Kampfes lautstark ihre Wetten einforderten, den Kopf küsste. Das Signal ertönte. Luis begab sich in die Grube und beschwichtigte das Tier mit sanften Lauten. Ein anderer Besitzer mit einem Cowboyhut machte dasselbe. Michael trat näher. Die Menge schloss lautstark neue Wetten ab.

„Fünfzig Mäuse auf den Cowboyhut!“ rief einer.

„Fünfzig auf die rote Jacke“, rief ein anderer und meinte Luis.

Die Männer platzierten fieberhaft ihre Wetten, während Luis und der Cowboyhut die Hähne dreimal rhythmisch aufeinander zuschwangen. Die Hähne krähten und gifteten sich kampfbereit an. Auch Michael spürte mehr Adrenalin durch die Adern fließen. Sein Vater hatte Recht, die Tiere waren wie in Trance. Der Raum stank nach Blut, Schweiß und ungewaschenen Leibern, die sich in wachsender Spannung vor dem todbringenden Kampf aneinander drängelten.

Der Tod eines Tieres stand fest. Man musste nur die irren Blicke der Hähne sehen, um zu wissen, dass einer den Kampf nicht überlebte. Und Michael entdeckte entsetzt, dass sich die Blicke der Tiere und der ringsum stehenden Männer glichen.

Die Tiere waren wie rasend, die Menge verstummte. Luis und der Cowboyhut setzten ihre Hähne hinter der Linie in den Sand. Sofort gingen sie mit gesträubtem Gefieder aufeinander los. Luis’ Hahn hackte dem anderen ins Genick. Und dann kämpften sie blindwütig in einem einzigen Federball.

Nach wenigen Minuten war alles vorüber. Cowboyhuts Vogel lag am Boden. Die Menge tobte, Michael krampfte sich der Magen zusammen. Cowboyhut kam näher und animierte seinen Hahn mit Schnalzlauten zum Weitermachen. Es war zwecklos. Der Vogel war entweder tot oder stellte sich tot. Luis’ Hahn flog flügelschlagend auf den Kontrahenten und reckte siegreich den Hals.

Unter lautem Zurufen tauschten Wettgelder den Besitzer. Michael wandte sich angewidert ab, als Cowboyhut sein geschlagenes Tier aufnahm, es herumschwang und ihm dabei das Genick brach. Dann warf er den warmen Kadaver auf einen Berg bereits toter Tiere.

„Das ist also Gott gegeben“, höhnte Bobby mit Blick auf den Berg Kadaver und leere Bierdosen.

Michael antwortete mit einem säuerlichen Lächeln und wünschte, er könnte den schlechten Geschmack im Mund mit einem Bier hinunterspülen. „Jedenfalls geht es um Blut, irgendwie.“

„Wenn ich bedenke, dass ich mich alldem dreiunddreißig Jahre entziehen konnte …“

„Herrgott, was für eine Ansammlung niederer Kreaturen. Ich kann es nicht erwarten, hier wegzukommen.“

„Unser Fehler war es, Papa fahren zu lassen. Jetzt sitzen wir hier fest.“

„Wie viele Kämpfe müssen wir noch über uns ergehen lassen?“

Die Menge johlte, und wieder wurde ein Vogel am Hals über die Köpfe geschwungen.

„Wieder hat einer ins Gras gebissen“, bemerkte Michael finster.

„Ich esse nie mehr Geflügel“, schwor Bobby angewidert.

„Darauf würde ich nicht wetten. Da kommt Papa mit einem Teller Brathähnchen und Bier. Ich frage mich, woher der Vogel stammt.“

„Da seid ihr ja“, rief Luis. „Ich habe euch was zu essen gebracht.“

Michael und Bobby hoben gleichzeitig abwehrend die Hände. „Für mich nur ein Bier.“

„Wie lange dauert das noch?“ wollte Michael wissen.

Luis schien enttäuscht. „Es wird doch gerade erst gut.“

„Na fein“, erwiderte Michael und zog sich in den hinteren Teil des Clubhauses zurück, um die nächste Stunde zu überstehen. „Geh zu deinen Hähnen zurück“, rief er und winkte mit der Hand ab. „Wir warten hier, bis du fertig bist.“

„Manuel ist allein bei den Vögeln. Warum geht ihr nicht zu ihm?“

Michael blieb stehen und sah ihn nur durchdringend an. Luis wandte sich ohne ein Wort ab, und Michael war froh, seinen Rücken zu sehen.

Donner rollte von Ferne heran. Die Luft wurde feuchter, der Gestank unerträglich. Blauer Dunst aus zahllosen Zigaretten umwaberte sie. Michael erlebte seinen Vater in seinem Element. Sogar der naivste Betrachter bemerkte, dass Luis in dieser bunten Menge respektiert wurde. Seine Hähne gewannen im Verlauf des Abends, trotzdem musste einer getötet werden. Nach Ende der Kämpfe hatte er ein hübsches Sümmchen gewonnen, genug, die Verluste zu ersetzen und etwas übrig zu behalten. Die Männer versammelten sich um Luis, begutachteten seine Tiere und schlugen ihm gratulierend auf den Rücken.

Du verrückter Alter, dachte Michael bei sich. Hier, in dieser Welt aus Blut und Gestank, fühlst du dich wohl. Nun ja, ich bin nicht wie du und werde es auch nie werden.

Er schaute suchend über die Menge nach Bobby. Der lehnte mit bleichem Gesicht und dunklen Schatten unter den geschlossenen Augen an der Wand. Es war spät geworden. Die Menge hatte sich ausgedünnt. Die Männer, die geblieben waren, stanken nach Schnaps und hatten blutunterlaufene Augen. Michael rüttelte Bobby leicht an der Schulter. Blut und Schnaps, eine gemeine Kombination. „Gehen wir.“

Bobby wischte sich mit einer Hand über die Stirn, nickte und straffte sich. „Es wird Zeit. Ich glaube, ich brauche ein Bad, vielleicht auch zwei. Du gehst Papa holen, ich hole das Auto.“

Michael holte seinen Vater aus einer lachenden, scherzenden Menge von Bewunderern.

„Schon gut“, schnauzte Luis und hob die Hände. „Lass mich nur mein Geld zählen. Hilf Manuel, die Kisten zum Wagen zu tragen.“

Michael tat es, wobei Manuel ihm nur schweigend beim Anheben der Kisten half und dann fortging. Michael bewegte sich vorsichtig, da der Boden übersät war mit braunen und grünen Flaschen, Dosen und Speichel.

Die kühle Nachtluft draußen war wie ein wohltuender Schlag ins Gesicht. Donner grollte, und es wurde kühler. Michael atmete einige Male tief durch, und sogar die Tiere in den Kisten schienen ruhiger zu werden.

Einige Autos parkten noch in der Nähe des Eingangs, in anderen fuhren lachende, betrunkene Männer vorbei. Alle hatten es eilig heimzukommen, ehe das Unwetter losging. Ein Stück entfernt parkten Autos im halbhohen Gras. Manuels Lieferwagen stand ganz in der Nähe. Dorthin gingen sie zuerst und stellten die Käfige mit den erschöpften Tieren auf der Ladefläche ab.

Stirnrunzelnd blickte Michael suchend über den Platz. Sein Vater trat aus dem Clubhaus. Ein paar Männer standen, die Schultern eng beieinander, an einer braunen Limousine und tauschten Geld und etwas anderes. Mit wachsender Sorge blickte Michael rasch von rechts nach links. Wo war Bobby mit dem Wagen? Er hätte längst hier sein müssen.

„Bobby?“ rief er. Am Himmel zuckte ein Blitz, als das Gewitter näher kam. Der Regen war bereits zu riechen. Michael ging einige Schritte in die Richtung, wo sie geparkt hatten, und bekam Angst. Diese wilden Typen hier würden nicht zögern, jemand zusammenzuschlagen, den sie für schwächer und noch dazu homosexuell hielten. Für die wäre das ein Sport. Verdammt, Bobby trug die auffallenden Leinenhosen.

Donner grollte, und wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. In einiger Entfernung entdeckte er zwei Autos, das seines Vaters und ein flaches grünes Kabrio. Die Türen standen offen, und jemand saß auf der Kühlerhaube. Linker Hand, weiter draußen auf dem Feld, standen Männer mit brennenden Zigaretten im Kreis. Er hörte raues Gelächter, Schreie, dann Stöhnen.

„Bobby!“ Instinktiv rannte Michael auf die Ansammlung zu, Luis und Manuel auf seinen Fersen. Im Näherkommen hörte er die eindeutigen Geräusche von Fäusten auf Knochen. Er zählte vier oder fünf Männer, einer lag am Boden und wurde getreten.

Michael lief schneller und warf sich mit der Schulter gegen den Mann, der sich über seinen Bruder beugte. Der verlor das Gleichgewicht. Bobby lag am Boden, einen Arm schützend über das Gesicht gelegt, die Knie an die Brust gezogen. Sogar im fahlen Mondlicht erkannte Michael, dass er blutete.

Er sah rot. Wütend stürzte er sich auf den Ersten, der es wagte, ihn anzugreifen, und schickte den großen fetten Kerl mit einem Kinnhaken zu Boden. Er richtete sich auf und winkte die anderen heran. „Kommt nur her, ihr Feiglinge.“

Drei dünne, nervöse Kerle tänzelten herum wie die Gockel und attackierten schließlich. Michael landete noch einen Schwinger, ehe er selbst einen einsteckte, dass er zwei Schritte zurücktaumelte. Sogleich duckte er sich und schlug wieder zu. Michael war zwar größer als die anderen, doch ein dunkelhäutiger tätowierter Typ mit blauem Stirnband war offenbar ein geübter Straßenkämpfer und zäh wie Leder. Ein Uppercut ließ Michael Sterne sehen, und er klappte gnadenlos zusammen. Sofort stürzten sich die anderen auf ihn und rollten sich stöhnend und fluchend mit ihm am Boden.

Luis und Manuel griffen ein, teilten Schläge aus und steckten sie ein. Sie kämpften mit ganzem Herzen, denn hier ging es nicht um Ehre, sondern um die Familie. Es war ein harter Schlagabtausch, ehe die vier, die Bobby überfallen hatten, mit wehenden Hemdschößen zu ihren Wagen liefen. Luis musste Michael festhalten, damit er ihnen nicht folgte.

„Genug!“ schrie er ihn an.

Der Kampf hatte nur Minuten gedauert, war jedoch blutig gewesen.

Luis keuchte, sein Hemd war zerrissen, und sein linkes Auge schwoll zu. Was ihn nicht daran hinderte, von einem Ohr zum anderen zu grinsen. „Wir haben sie in die Flucht geschlagen, mi’jos! Zusammen! Die Mondragons sind Conquistadoren.“

Manuel nickte lachend und zog sich den Ärmel über die blutende Nase. „Sí. Sie kommen uns besser nicht in die Quere, oder wir treten ihnen in den Hintern.“ Er taumelte zu Luis, legte einen Arm um ihn und klopfte ihm auf den Rücken.

Michael eilte zu Bobby, der sich auf einen Ellbogen hochgestemmt hatte. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er atmete schwer.

„Bobby, wie schlimm ist es?“ fragte er besorgt. Das sah nicht gut aus. Er beugte sich hinunter, hob seinen Kopf an und erschrak. Bobbys hübsches Gesicht war eine verunstaltete Masse. Die Lippen waren aufgeplatzt, die Augen schwarz, die Nase gebrochen. Blut strömte in kleinen Rinnsalen über das verquollene Gesicht. Vorsichtig zog er Bobbys bebende Schultern an sich.

„Nein!“ protestierte der trotz eingeschlagener Zähne. „Blut!“

„Ich passe auf.“

„Ich denke …“ Bobby hustete und spuckte einen Zahn aus. „Ich denke, eine Rippe ist gebrochen.“

Michael fluchte leise. Hier waren nicht nur Knochen gebrochen worden, sondern auch ein Lebensmut.

Luis kam heran und fluchte laut, als er seinen Sohn sah. „No lo creo … Seht nur, was sie angetan meinem Jungen. Ruf sie zurück, Manuel! Ich will sie in die Finger kriegen.“

„Geh, hol den Wagen“, sagte Michael ihm.

„Sí, den Wagen“, stimmte Luis nickend zu. „Wir müssen ihn heimbringen zu Mama.“

„Wohl eher ins Krankenhaus“, widersprach Michael.

„Nein, kein Krankenhaus.“ Luis hegte einen tiefen Hass auf amerikanische Krankenhäuser. Sie seien nichts für Mexikaner, behauptete er, seit er vor Jahren als junger Mann bei einer schweren Erkrankung abgewiesen worden war. Er trat näher. „Tut es weh?“ fragte er Bobby.

„Nein“, murmelte der.

„Kannst du es aushalten?“

„Ja.“

Luis nickte zufrieden. Michael sah einen perversen Stolz im Blick seines Vaters, während er den verletzten Sohn betrachtete. „Ein geschlagener Mann hat weder Gesicht noch Herz“, sagte er zu Bobby. „Aber mi’jo hat beides.“ Mit leuchtenden Augen ging er in die Hocke, seinen Sohn zu umarmen.

„Nein, bleib zurück!“ krächzte Bobby, die Handflächen ausgestreckt. „Ich blute!“

Luis verharrte verständnislos. Michael klärte ihn auf. „Du hast eine geplatzte Lippe, die Wunde ist offen.“

Luis berührte die Lippe mit den Fingern, verstand aber immer noch nicht und beugte sich wieder vor.

„Nein!“ schrie Bobby ihn an und wich zurück, dass er vor Schmerz stöhnte. „Papa, bleib zurück. Das Blut!“ Hustend senkte er den Kopf. „Ich habe Aids.“

Luis’ Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Er riss die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, und setzte sich auf seine Hacken. Dann wandte er sich, Bestätigung suchend, Michael zu. Der nickte nur.

„Wie? Wann?“

„Du weißt wie“, sagte Bobby gebrochen mit leiser Stimme. „Du hast es immer gewusst. Du wolltest es nur nicht wahrhaben.“ Er hob den Blick, resigniert und geschlagen.

Wie benommen sah Luis von Bobby zu Michael. Dann stand er auf und taumelte zurück.

Bobby unterdrückte ein Schluchzen und senkte den Kopf. Michael spürte, wie er sich mit dem ganzen Gewicht an seine Brust lehnte.

„Geh nicht weg!“ rief Michael, da Luis zurückwich. „Du Hurensohn, wage nicht, wegzulaufen! Er braucht dich. Jetzt mehr denn je! Er ist dein Sohn!“

„Er ist nicht mein Sohn!“ schrie Luis zurück, Tränen in den Augen, die geschwollenen, blutverkrusteten Lippen schmal. Als Antwort knallte ein heftiger Donnerschlag. Verblüfft sahen sie sich untereinander an. Keiner wusste, was er tun oder sagen sollte. „Er ist nicht mein Sohn“, wiederholte Luis und taumelte davon wie ein Betrunkener.

Manuel trottete hinter ihm her.

„Nein!“ schimpfte Luis und winkte ab. „Fahr sie nach Haus.“

„Wirf mir die Schlüssel zu, alter Mann!“ rief Michael ihm angewidert nach. „Wir fahren selbst!“

Luis blieb stehen. Breitbeinig, den Kopf gesenkt, holte er die Schlüssel aus der Hosentasche und warf sie Michael zu. Sie schlitterten durch den Staub vor seine Füße.

„He, Manuel!“ rief Michael, als er die beiden Männer davongehen sah. „Wie fühlt es sich an, ein paar Blutergüsse zu haben? Gefällt es dir? Jetzt weißt du, wie Cisco sich fühlt.“

Manuel blieb wie angewurzelt stehen. Mit geballten Händen kam er so wutentbrannt zurück, dass Michael abwehrend einen Arm hob.

„Das reicht!“ spie Manuel aus und blieb vor Michaels Füßen stehen. Er beugte sich herunter und presste hervor: „Nicht ich schlage die Kinder, sondern deine Schwester Rosa!“

Das traf Michael bis ins Mark. Manuel machte auf dem Absatz kehrt und folgte Luis.

„Verdammte Scheiße!“ fluchte Michael und legte eine Hand an die Stirn. „Was geht hier eigentlich vor? Ist die ganze Welt verrückt geworden?“ Er lachte, weil er sonst geheult hätte. „Und du, Papa, willst aus uns Männer machen? Ist das Machismo? Ihr seid Feiglinge!“ schrie er ihnen nach. „Ihr alle! Gottserbärmliche Feiglinge!“

Bobby richtete sich auf und hielt sich mit einer Hand die Rippe. Michael nahm rasch seinen Arm, um ihm zu helfen.

„Nein, bleib zurück!“ sagte er zornig. „Bildest du dir ein, das Blut könnte dir nichts anhaben? Hältst du dich für eine Art Gott?“ Er richtete sich auf die Knie auf und stöhnte vor Schmerz. Trotzdem stieß er Michaels Hand zurück.

„Zum Kuckuck, Bobby, lass mich helfen!“

„Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich will deine Hilfe nicht!“

Michael nahm trotzdem seinen Ellbogen und half ihm auf. Während er ihn zum Auto führte, litt er bei jedem kleinen, hinkenden Schritt mit, den Bobby machte. Er hievte ihn auf den Beifahrersitz, zog seine Jacke aus und deckte ihn damit zu. Dann beugte er sich hinab und hob ihm die Beine ins Auto. Bobbys geliebte Leinenhose war zerrissen und erdverkrustet. Als Michael die Wagentür schloss, spürte er die ersten Regentropfen auf Kopf und Schultern.

„Wisch dir die Hände ab“, sagte Bobby ihm, als er einstieg. Die Beleuchtung im Auto war dämmerig, aber hell genug, ihre Schnitte und Prellungen zu offenbaren. „Madre de Dios, sieh dir deine Knöchel an.“

„Mach dir um mich keine Gedanken. Leg den Kopf zurück, das stoppt die Blutung. Nimm meinen Jackenärmel, um das Blut aufzufangen.“

„Dann ruiniere ich das Leder.“

„Das ist mir egal. Nimm das Futter, das ist weicher.“

Bobby legte den Kopf zurück auf die Lehne und drückte sich den Jackenärmel unter die Nase.

Michael schlug die Tür zu, ließ den Motor an und überlegte fieberhaft, wo das nächste Krankenhaus war. Mit aufbrüllendem Motor schoss er vom Feld, dass die Erde aufstob. Als er das Clubhaus im Rückspiegel sah, sandte er ein Stoßgebet zum Himmel, der Blitz möge einschlagen und es in Schutt und Asche legen.

„Ich will nach Hause.“

„Ich bringe dich ins Krankenhaus.“

Stille.

„Vielleicht habe ich Glück und sterbe dort.“

„Hör auf damit, Bobby! Das kann ich jetzt nicht gebrauchen.“ Er trat das Gaspedal durch. „Und du auch nicht. Papa ist es nicht wert. Er hat dir den Rücken gekehrt.“

„Und du bildest dir ein, so viel besser zu sein?“

Michael wandte ihm verblüfft das Gesicht zu. „Wie bitte?“

Bobby konnte kaum einen Muskel in dem verquollenen Gesicht bewegen. Trotzdem gelang ihm ein schwaches Lächeln. „Du sagst immer, du bist nicht wie Papa. Dabei bist du genau wie er.“

Michael presste die Kiefer zusammen und schwieg, obwohl er Bobby gern gesagt hätte, er solle die Klappe halten. Stattdessen schaltete er den Scheibenwischer ein und starrte in den heftigen Regen hinaus. „Nur weiter.“

„Ich habe Papa heute die Wahrheit gesagt, weil ich es musste, um ihn zu schützen. Denn ich liebe ihn. Es hat mir nichts ausgemacht, es ihm zu verschweigen. Ich weiß aber, dass es dich bedrückt hat, weil du fandest, ich lebe eine Lüge.“ Er schloss die Augen und schluckte trocken. „Dabei habe ich nur geschwiegen, um zu leben, zu überleben, Miguel. Ich habe die Unaufrichtigkeit ertragen, weil ich ihm keinen Schmerz zufügen wollte … oder Mama, oder mir selbst. Ich wollte nicht zurückgewiesen werden, davor hatte ich Angst. Und als ich vorhin den Schmerz in seinem Blick sah …“ Die Stimme versagte ihm, und er schluckte wieder.

Auch Michael spürte Tränen in den Augen brennen.

„Es tut weh, Mann. Zurückweisung schmerzt verdammt.“ Bobby wischte sich schniefend die Nase.

Michael fuhr sich mit einer Hand müde durch das Haar. „Schon okay“, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Eine Weile fuhren sie schweigend bei prasselndem Regen durch die dunkle Landschaft und näherten sich den Lichtern der Zivilisation. Bobby stöhnte gelegentlich, wenn sie ein Schlagloch trafen oder eine Kurve zu scharf nahmen. Aber Michael wollte keine Zeit verlieren. Bobbys Blässe beunruhigte ihn sehr. Wie hatte Luis seinen eigenen Sohn verlassen können, der vielleicht dem Tod nahe war?

Weil ihn Bobbys Vergleich mit seinem Vater wurmte, fragte er plötzlich unwirsch: „Wie kannst du behaupten, ich wäre wie Luis?“

Bobby sah ihn verblüfft an, zog den Jackenärmel von der Nase und tupfte noch einige Male. Die Blutung schien aufgehört zu haben. „Das weißt du wirklich nicht?“

„Nein!“

„Gottverdammte Maya-Statue“, raunte Bobby, lehnte sich an die Tür und leckte sich stöhnend die geschwollenen Lippen. „Miguel, Miguel, Miguel, du hast Charlotte doch auch im Stich gelassen.“

Michael zuckte wie elektrisiert zusammen. „Was sagst du da?“

Bobby lag zusammengekauert in der Ecke, die Augen geschlossen. Besorgt berührte Michael ihn am Bein. Keine Reaktion. Ängstlich beugte er sich hinüber und fühlte seinen Puls. Die Haut war warm, der Puls war schwach, aber vorhanden.

„Gott sei Dank“, murmelte er und trat das Gaspedal durch. Während er über den regennassen Highway jagte, betete er, dass er Bobby rechtzeitig ins Krankenhaus bringen konnte. Seit Jahren hatte er sich nicht an Gott gewandt, aber jetzt flehte er wie ein Messdiener.

Die Abfahrt zum Krankenhaus nahm er in halsbrecherischem Tempo und raste vor die Notaufnahme. „Er hat Aids“, informierte er das Rettungsteam, das ihm entgegenlief.

„Danke. Wir übernehmen jetzt“, erwiderte ein Mann und öffnete die Wagentür. Sie arbeiteten schnell, hoben Bobby auf eine Trage und rollten ihn in die Notaufnahme.

Durch den starken Regen waren die grauen Steinwände des Gebäudes kaum zu erkennen. Kleine Bäche flossen über den Parkplatz und durchweichten Michaels Schuhe. Das lange Haar klebte ihm an den Wangen, doch der Regen konnte all das Blut dieser Nacht nicht wegspülen.

Michael hasste Krankenhäuser. Aus Liebe zu seinem Bruder verbrachte er jedoch die Nacht im Warteraum, während Bobbys gebrochener Kiefer gerichtet und verdrahtet wurde. Seine eigenen Schnitte und Quetschungen hatte man bereits versorgt. Er musste in jedem Fall einen Aids-Test machen lassen, nur zur Sicherheit. Er nickte einige Male in dem harten Stuhl ein, doch schlafen konnte er nicht. Als die Nachtschicht vom Tagespersonal abgelöst wurde, durfte Michael endlich zu seinem Bruder ins Zimmer.

Bobby ruhte, als Michael in das schmale Zweibettzimmer sah. Zum Glück war das zweite Bett leer, sodass sie offen sprechen konnten. Michael verharrte jedoch an der Tür. Bobby lag an Schläuche angeschlossen friedlich da. Sein Gesicht war verändert. Die Nase war gebrochen, ebenso der Wangenknochen, sodass die Wange einfiel. Das linke Auge war unter der Schwellung verschwunden.

Michael blieb schockiert stehen und wünschte, die Bastarde, die das zu verantworten hatten, herschleifen zu können.

„Sie dürfen ruhig hineingehen. Er hat starke Schmerzmittel bekommen und wird ein wenig groggy sein“, sagte die große bebrillte Krankenschwester und versetzte ihm einen kleinen Schubs. „Sie haben Besuch, Mr. Mondragon!“ erklärte sie in lauter fröhlicher, bei Krankenschwestern offenbar weit verbreiteter Stimmlage.

Bobby öffnete das rechte Auge. Ein Muskel zuckte im Gesicht, was Michael für den Ansatz eines Lächelns hielt. „Hallo …“

„Hallo, großer Bruder. Du siehst ziemlich gut aus für jemand, dem man die Seele aus dem Leib geprügelt hat.“

„Wer sagt das wem. Aber wir waren gut, was?“ Seine Stimme war rau, und er konnte kaum artikulieren.

Michael lachte leise und hielt die Tränen zurück. „Ja, wir leben.“

„Gerade so.“

„Tut mir Leid, Bobby. Ich hätte auf dich aufpassen sollen.“

„Es ist passiert. Ich bin kein Opfer.“ Er sprach schleppend wegen des verdrahteten Kiefers und der geschwollenen Lippen. „Nie mehr“, bekräftigte er mit geschlossenen Augen und verzog das Gesicht.

„Ist dir das schon früher passiert?“

„Nicht so schlimm wie jetzt, aber der Körper erinnert sich. Lange nachdem der Verstand sich zum Vergessen gezwungen hat.“

„Ach, Bobby.“

„Sie haben meine Nase erwischt. Bisher habe ich immer meine Nase schützen können.“

„Halb so schlimm. Die Ärzte sagen, das kann man richten.“

„Gut, denn ich atme gern durch beide Nasenlöcher.“

Michael sah auf seine Schuhspitzen, um die Tränen zu verbergen. Bobbys schönes, aristokratisches Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

„Weiß Mama Bescheid?“

„Ja, sicher. Sie ist unterwegs.“

„Was weiß sie?“

„Alles. Ich habe am Telefon mit ihr gesprochen. Als Papa nach Hause kam, war er betrunken. Aber diesmal …“ Er tätschelte Bobby lächelnd die Hand. „Diesmal hat sie eine Tasche gepackt und ist gegangen.“

Bobby drehte den Kopf ein wenig. Die Bandagen verhinderten eine deutlichere Bewegung. „Das wollte ich nicht.“

„Sie musste Stellung beziehen. Sie konnte nicht einfach zu Hause bleiben und so tun, als sei nichts. Ehrlich, ich bin verdammt stolz auf sie.“

„Ich will nicht, dass sie mich so sieht.“

„Wie kannst du das sagen? Du bist ihr Sohn. Sie liebt dich. Für sie bist du immer schön, gleichgültig, wie du aussiehst.“

Bobby drehte langsam den Kopf und sah Michael in die Augen. Und beide verstanden, was unausgesprochen blieb.

Wird Charlotte für dich immer schön sein – gleichgültig, wie sie aussieht – weil du sie liebst?

„Ich habe gehört, sie ist jetzt verlobt“, sagte Bobby leise.

„Mit diesem Agenten.“

„Ja, so heißt es.“

„Und du lässt das einfach zu?“

„Es ist vorbei, Bobby. Da sind Dinge geschehen, die du nicht verstehst.“

„Ich verstehe nur, dass du sie immer noch liebst.“

„Sie hat mich verlassen.“

„Nein, du hast sie gehen lassen.“

„Das ist gleichgültig.“

„Wenn Liebe gleichgültig ist, was ist dann noch wichtig?“ Bobby versuchte zu lächeln, doch vor allem sein Blick ließ Michael nicht los. Ein Blick, in dem eine Weisheit zum Ausdruck kam, die weit über die wenigen Jahre Altersunterschied hinausging.

Michael begriff plötzlich, dass sich Bobby immer um ihn gekümmert hatte, nicht etwa umgekehrt. Wenn er Hilfe gebraucht hatte, oder wenn ihm als Kind jemand die Hand halten oder ihm beim Sport zujubeln musste, war Bobby da gewesen. Bobby hatte verstanden, warum er damals unbedingt diese Lederjacke haben musste, warum er sich von der Familie abwandte und letztlich zurückgekehrt war.

Schläge einzustecken war leicht. Er hatte sich immer eingebildet, Bobby einen großen Gefallen zu tun, indem er sich zwischen ihn und mögliche Angreifer stellte. Aber wie Bobby sagte, er war kein Opfer. Er war immer ein Held gewesen. Schläge konnten Bobby nicht treffen, er besaß innere Stärke. Er liebte seine Familie und konnte vieles ertragen, weil er sich nach langem harten Ringen akzeptierte, wie er war.

Und wer bin ich? fragte sich Michael mit hängenden Schultern. Warum fällt es mir so schwer zu erkennen, was richtig ist? „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, gestand er.

„Irgendwann wirst du es wissen“, erwiderte Bobby und schloss die Augen.

Michael erwachte einige Stunden später in Bobbys Krankenzimmer, da ihn jemand am Knie rüttelte. Er schlug die Augen auf und sah in das besorgte Gesicht seiner Mutter. „Miguel, aufwachen. Miguel …“

Er wischte sich gähnend mit den Händen über das Gesicht und streckte die steifen Schultern. Bobby schlief im Bett neben ihm. Der Raum lag im Halbdunkel. Regen trommelte immer noch gegen die Fenster, und in der Ferne hörte er es donnern.

„Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?“

„Fast Mittag.“

„So spät?“

„Sí. Virgencita …“ Sie bekreuzigte sich. „Die Straßen sind sehr schlecht. Viele sind geschlossen. Ich habe ewig gebraucht bis hierher. Si Dios quiere. Es gibt schlimme Überflutung in Tal. Muy mal. Das Wasser steigt in Fluss, und der Regen hört nicht auf.“ Sie rang müde die Hände und wirkte erschöpft. „Der nationale Wetterdienst hat gegeben Flutwarnung.“

„Verflixt, wann war das?“

„Heute Morgen. Sie sagen, es gibt Jahrhundertflut!“ Ihre Besorgnis war offenkundig.

„Ja, die dritte.“ Er kratzte sich am Kopf, jetzt vollkommen wach. „Okay, also wo ist Papa?“

„Er wird Besitz nicht verlassen. Als ich ging, vernagelte er Fenster und füllte Notvorräte auf. Er sagte, ein bisschen Wasser kann ihn nicht vertreiben.“ Sie packte Michael bei den Schultern. „Auf Weg hierher habe ich überquert den Fluss. Das war nicht nur ein bisschen Wasser, Miguel. Ich habe Angst. Die Kinder sind noch dort.“

„Wo sind Rosa und Manuel?“

„Sie werden Papa nicht verlassen.“

Michael verfluchte sie im Stillen und wollte seine Mutter nicht noch mehr aufregen.

„Miguel, Cisco und Maria Elena … wir müssen …“ Sie verfiel in Spanisch und flehte ihn an, die Kinder zu retten.

„Setz dich, Mama.“ Er tätschelte ihr die Hand und stand auf. „Bleib bei Bobby. Er braucht dich. Ich fahre hin und sorge dafür, dass die Kinder in Sicherheit gebracht werden.“

Sie legte ihm ihre kleine Hand auf die Schulter.

„Mi hijo, ich bin stolz auf dich. Dein Vater, er hat falsch gehandelt so zu sein zu Roberto. Ich habe auch Schuld. Aber Luis, er ist ein guter Mann. Er …“ Die Stimme versagte ihr, und sie wandte den Blick ab.

Michael legte seine Hand über ihre. „Ich verspreche dir, alles wird gut. Mach dir keine Sorgen. Ich lasse ihn nicht dort. Ich schleife den störrischen Alten wenn nötig persönlich von seinem Land.“