19. KAPITEL

Bobby fuhr nicht wie üblich in halsbrecherischem Tempo von Dr. Navarros Praxis heim. Er nahm die Kurven und Gefällestrecken der Bergstraße mit Sorgfalt, um Charlotte nicht noch mehr Unbehagen zu bereiten, als sie ohnehin empfand. Er hatte sich schon vor ihrem Besuch bei Navarro Sorgen gemacht, aber sie leichenblass und mit ängstlichem Blick aus der Praxis kommen zu sehen, bedeutete, dass er etwas tun musste.

Zunächst versuchte er, sie mit Humor aufzuheitern und aus ihrer Schweigsamkeit zu reißen. Doch das funktionierte nicht. Charlotte starrte mit leerem Blick auf die Straße. Ihre Antworten waren knapp und beiläufig. Schließlich war er mit seinem Latein am Ende, jetzt half nur noch die Flucht nach vorn.

„Also gut, Charlotte, ich gestehe, ich halte das keine Minute länger aus. Ich liebe Geheimnisse, und ich kann sie bestens bewahren, besonders bei Menschen, die ich mag. Und du weißt, für dich tue ich alles“, sprudelte er heraus und unterstrich seine Worte mit eindringlicher Gestik.

„Du hast offenbar eine schlechte Nachricht bekommen, und ich möchte dir helfen. Ich kann nicht einfach dasitzen und dich still leiden sehen.“

Charlotte drehte ihm das Gesicht zu. Zu seiner Überraschung erwiderte sie: „Ja, ich brauche jemanden zum Reden. Und du bist genau der Richtige.“

Er war froh über ihr Vertrauen und wollte sie keinesfalls enttäuschen. Zum ersten Mal seit Monaten wurde er wieder von jemandem gebraucht, ein gutes Gefühl. „Ich kenne den idealen Platz zum Reden. Ein kleines Café an unserem Weg. Das Essen ist grässlich, aber eine Flasche guten Champagner können die ja wohl öffnen.“

„Mir ist nicht nach Feiern.“

„Champagner ist nicht nur zum Feiern gut, Querida. Er löst die Zunge und hebt die Stimmung. Wir werden den Blick auf die Berge genießen, etwas trinken, und dann darfst du dich an meiner Schulter ausweinen.“

Charlotte belohnte ihn für seine Bemühungen mit einem schwachen Lächeln. Er blickte schnell wieder auf die Straße, schniefte und wollte seine Rührung nicht zeigen. Er hatte das Glitzern von Tränen in ihren schönen Augen gesehen und litt mit ihr.

Von einem Fenstertisch im Café sahen sie der untergehenden Sonne zu. Während die Schatten im Raum allmählich länger wurden, erzählte Charlotte von ihrer Liebe zu Michael, und Bobby verfolgte, wie die Gefühle sich rasch und oft unerwartet in ihrem schönen Gesicht spiegelten. Sie beichtete, dass sie sich nie habe ausmalen können, jemand wie Michael würde sich in sie verlieben.

Bobby lauschte geduldig. Er verstand, dass sie diesen Prolog loswerden musste, ehe sie zum Kern des Problems vordrang. Als die Sonne versank und die Kerze auf dem Tisch kleiner wurde, nahm ihre Geschichte eine ungeahnte Wende. Charlotte umklammerte den Stiel ihres Glases und machte eine Pause, sich zu sammeln. Bobby beugte sich aufmerksam vor.

„Als ich klein war“, begann sie und starrte auf einen Punkt in der Ferne, „nannte man mich Charley, das Pferd …“

Charlotte beobachtete ihn, während sie von ihrer Kindheit erzählte. Sie bemerkte seine Verblüffung, als sie berichtete, wie sie von Jungen gehetzt und von Fremden verspottet worden war. Er lehnte sich im Stuhl zurück und lauschte betroffen dem Bericht über den chirurgischen Eingriff, wie Dr. Harmon den Kiefer gebrochen und Wangen- und Kinnpartie aufgebaut hatte. Als sie ihm mitteilte, was Dr. Navarro ihr soeben gesagt hatte, wusste sie, dass Bobby sie verstand.

Aufmerksam verfolgte sie seine Reaktion, um daraus Rückschlüsse auf Michaels zu ziehen. Als von seiner Seite keinerlei Tadel kam, sondern nur liebevolles Mitgefühl, brach sie, gerührt über so viel Verständnis, in Tränen aus.

„Warum ich?“ weinte sie und legte die Hände vors Gesicht. „Warum muss das jetzt passieren? Warum nicht im Alter? Dann hätte es mir nicht mehr so viel ausgemacht.“

„Es hätte dir etwas ausgemacht. Schönheit verliert man in keinem Alter gern.“

Sie ließ die Hände sinken und spreizte sie auf dem Tisch. „Was weiß dieser Navarro schon?“ begehrte sie plötzlich auf. „Er ist nur irgendein Kleinstadtarzt. Er weiß nicht mal, welche Tests man anwenden muss.“

„Er ist sehr intelligent, Charlotte, und hoch angesehen. Er ist an vielen Forschungsprojekten beteiligt. Wenn er dir sagt, du sollst die Implantate entfernen lassen, würde ich ihm glauben.“

„Du würdest ihm alles glauben, weil er dein Wunderheiler ist!“ giftete sie, in die Enge getrieben, zurück. „Du hast Angst, dass seine Kräuter und Tinkturen dich nicht heilen.“

Bobby nestelte an seinem Glas herum. „Ich glaube wirklich, seine Therapie hilft“, erwiderte er sanft. „Aber ich weiß, sie wird mich nicht heilen.“

„Tut mir Leid, Bobby“, entschuldigte sie sich sofort. „Verzeih mir, ich schlage um mich, weil ich solche Angst habe.“

„Natürlich hast du Angst. Die habe ich auch.“ Er beugte sich vor. „Ich bin Kunstliebhaber, wie du weißt. Ich begreife erst jetzt, was für ein Meisterwerk dieser Dr. Harmon geschaffen hat und was für ein Jammer es sein wird, es zu zerstören. Aber du musst es tun“, betonte er ruhig. „Es ist nur dein Gesicht, nicht dein Leben.“

„Nein?“

„Wieso fragst du?“

„Wie soll ich Michael all das erklären? Er liebt mein Gesicht.“

„Er liebt dich“, betonte Bobby. „Nicht nur dein Aussehen.“

„Du weißt nicht, wovon du sprichst. Du kannst dir nicht mal vorstellen, wie ich vorher aussah.“ Sie legte die zitternden Hände an die Schläfen. „Ich habe nicht irgendeinen kleinen Schönheitsfehler beheben lassen. Ich hatte eine echte Deformierung. Ich war hässlich, Bobby. Es gibt kein anderes Wort dafür.“

Bobby versuchte es zu verstehen. „Es ist schwer vorstellbar, dass unter diesem herrlichen Gesicht …“

„Genau. Ich sehe, wie du mich betrachtest. Als würde ich eine Art Maske tragen. Mir ging es genauso, als ich mich zum ersten Mal im Spiegel sah. Ich weiß, wie schwer es ist, dieses Gesicht nicht für etwas wie eine Fälschung zu halten.“

„Aber du sagst selbst, du hast dich daran gewöhnt.“

Sie schluckte trocken und dachte beklommen daran, wie es gewesen war, wenn Menschen mitleidig vom Nachbartisch herübergestarrt hatten. „Du hast keine Ahnung, wie es ist, grotesk hässlich zu sein und es leidend zu akzeptieren. Dann bekommt man plötzlich eine Chance, das zu ändern. Auf einmal ist man jemand. Wenn einem all das an einem Tag wieder genommen wird, ist das grausam. Wenn dir jemand sagt, tut mir Leid, es ist vorbei, es war alles nur ein Traum – möchtest du nicht mehr aufwachen.“

„Hör mir zu, Charlotte.“ Er nahm ihre Hände. „Schönheit, das ist nicht nur ein schönes Gesicht. Ich habe Menschen, die ich liebte, gut aussehende, gesunde Männer, vor meinen Augen verfallen und sterben sehen. Ihre schönen Gesichter wurden von der Krankheit gezeichnet und zerstört. Für mich blieben sie trotzdem schön. Mir wäre nie eingefallen, sie zu verlassen, weil sich ihre Gesichter verändert hatten.“

„Michael könnte mich nicht so lieben.“ Damit hatte sie ihre schlimmsten Ängste ausgesprochen. Ihre Schönheit zu verlieren, war eine Sache. Michael zu verlieren, eine andere. Das war unvorstellbar.

„Er kann. Die Liebe, die Michael für dich empfindet, hat nichts mit oberflächlicher Schönheit zu tun“, munterte er sie sanft lächelnd auf. „Du wirst ihn nicht verlieren. Er versteht, wie schwer das alles für dich ist, zumal er weiß, was du schon alles durchgemacht hast.“

„Er weiß es nicht“, gestand sie beschämt. „Ich habe es ihm nie erzählt. Weder von dem Eingriff noch das andere. Ich habe den richtigen Moment verpasst, und irgendwann war es dann zu spät.“

Bobby runzelte die Stirn und legte seine gefalteten Hände an die Lippen. „Er weiß nichts von der Deformierung und von dem chirurgischen Eingriff?“

Sie schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“

Bobbys Optimismus bezüglich Michaels Reaktion geriet offenbar ins Wanken, was ihre Ängste nur verstärkte. „Er wird zornig sein, weil du es ihm verschwiegen hast.“

„Weil ich gelogen habe.“

„Du hast nicht gelogen.“

„Nicht die Wahrheit zu sagen ist eine Art von Lüge.“

Bobby wandte den Blick ab. „In gewisser Weise vielleicht.“

„Entschuldige, das sollte keine Anspielung sein.“

„Das wissen wir beide“, wehrte er ihre Entschuldigung ab. Er dachte nach und sah dabei, dass die Kerze bis auf den Hals der Weinflasche, in dem sie steckte, heruntergebrannt war. Plötzlich blickte er entschlossen auf. „Erzähl es ihm. Sofort. Heute Nacht noch. Wenn du es weiter hinauszögerst, machst du es nur schlimmer. Er hätte dann den Eindruck, du schweigst, weil du ihm nicht traust.“

„Ich habe große Angst davor. Wenn er mich zurückweist, wäre das unerträglich für mich. Dann würde ich sowieso sterben.“

„Das wird er nicht. Schau doch, wie er sich zu mir verhält. Er hat seine Eigentumswohnung in Chicago verkauft und sein Leben dort aufgegeben, um meine Behandlung zu bezahlen und bei mir zu bleiben. Nun gut, ich bin sein Bruder, und er liebt mich, so unliebenswert ich manchmal auch sein mag.“ In seinen Augen blitzte es lustig auf, doch er wurde gleich wieder ernst. „Würde er für dich denn weniger tun? Gib ihm den Respekt und das Vertrauen, das er verdient. Lass ihn seine Liebe beweisen. Schließlich will jeder Mann für seine Angebetete der Ritter in schimmernder Rüstung sein. Sag ihm die Wahrheit!“ Bobby flehte fast.

Sie blickte in das Licht der herunterbrennenden Kerze und fragte sich, ob durch den möglichen Verlust von Schönheit und Karriere vielleicht endlich das wahr wurde, was sie sich immer gewünscht hatte. Dass man sie nicht nach der äußeren Erscheinung beurteilte, sondern sie als den Menschen liebte, der sie war.

Als Michael später am Abend von einer Ortsbesichtigung heimkehrte, war sein Gesicht freudig erhitzt. Er zog Charlotte in die Arme, tätschelte ihr den Po und küsste sie fest auf den Mund.

„Ich habe ein Riesengeschäft gemacht“, erklärte er und schenkte ihnen zwei Gläser von dem mitgebrachten Champagner ein. „Ich habe nicht nur einen Auftrag für Gartengestaltung an Land gezogen, sondern auch noch einen zum Umbau des dazugehörigen Hauses, damit man einen besseren Blick über den von mir entworfenen Garten bekommt. Endlich fügt sich für mich alles zusammen. Ich kann beides machen, Haus und Garten gestalten. Verstehst du, was das bedeutet? Es ist, als würde sich ein Kreis schließen. Endlich fließen meine Tätigkeiten auf verschiedenen Feldern ineinander. Ha, das macht Spaß.“

Es brach ihr fast das Herz, ihn so glücklich zu sehen. Während sie das Essen auftischte, betete sie, ihre Neuigkeit würde ihm keinen zu großen Schock versetzen.

Während der Mahlzeit beugte Michael sich mehrfach über den Tisch und küsste sie. Seine Zärtlichkeiten wurden unter dem Einfluss von Alkohol allmählich drängender.

Als die Kerzen fast heruntergebrannt waren, dachte Charlotte an ihre nachmittägliche Unterhaltung mit Bobby. Wie viel einfacher war es doch oft, mit einem guten Freund zu reden, als mit einem Geliebten. Aber war Michael nicht beides? Guter Freund und Geliebter?

Sie turtelten bei Tisch wie die Teenager. Zu Mozartmusik griff Charlotte erneut nach ihrem Weinglas und trank. Ich brauche das jetzt, machte sie sich selbst Mut. Sie wollte sich frei und ungezwungen fühlen, Michael küssen und lieben und für einen Moment vergessen, was sie ihm beichten musste.

Nach einer Weile führte er sie an der Hand ins Schlafzimmer. Auf dem breiten Himmelbett liebten sie sich, in völliger Hingabe aneinander und ganz in ihre Gefühle versunken.

Sie lagen noch eine Weile eng umschlungen beieinander, als Charlotte sich plötzlich aufstützte und ihm im Halbdunkel mit einem Finger über das Gesicht fuhr – Stirn, Nase, Lippen.

Michael wiederholte die Geste bei ihr, und sie umarmten sich fest. Kein Küssen, kein Streicheln, nur ein enges Aneinanderschmiegen und das Gefühl absoluter Zusammengehörigkeit. Genau das brauchte sie jetzt. Sie liebten sich noch einmal zärtlich und einfühlsam.

Als Charlotte danach, langsam ruhiger atmend, neben ihm lag, den Kopf auf seiner Brust, flüsterte sie: „Mon Dragon, mein Drache.“

„Meine Charlotte.“

Da die leicht enthemmende Wirkung des Alkohols verflogen war, atmete sie tief durch, sich Mut zu machen, da sie ihm nun alles über Charlotte Godowski erzählen musste.

Die Dunkelheit war nützlich. Sie konnte Michaels Gesicht nicht genau erkennen und er ihres ebenfalls nicht. Sie brauchte Vertrauen in sich und in ihn. Der Himmel steh mir bei, dachte sie und ließ zitternd eine Hand seinen Arm hinauf und hinab gleiten. „Michael“, begann sie, „ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

Das war ein angenehm tröstlicher Einstieg.

„Michael, ich muss dir etwas erzählen.“

„Alles, Liebes.“

Sie schloss die Augen, gab sich einen Ruck und legte los. Wort für Wort wiederholte sie die Geschichte, die sie schon zwei Mal gebeichtet hatte. Doch nie hatte so viel auf dem Spiel gestanden wie jetzt. Während sie sprach, lag Michael still da, ohne jede Reaktion. Sie begann sich zu fragen, ob er sie vielleicht nicht verstand.

Die CD klickte, und Ravels „Pavane für eine tote Prinzessin“ ertönte, sehr traurig und sehr passend. Sie erzählte weiter, und Michael lag nur reglos da.

„Sag etwas!“ flehte sie nach einer Weile, stemmte sich auf einen Ellbogen hoch und sah ihn an. Er hatte die Augen geschlossen und die Stirn gerunzelt. War das eine Träne da im Augenwinkel?

Er presste zwei Finger auf den Nasenrücken, als würde er schmerzen. „Charlotte …“

„Was?“

„Ich … ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.“ Er schlug die Augen auf und sah sie an. „Du sagst mir, du bist nicht die, die ich sehe. Es gibt eine andere mit einem anderen Gesicht, das ich noch lieben lernen muss.“

„Trotzdem bin ich es.“

Er bejahte es nicht, und ihre Welt stürzte ein.

„Dieser Doktor.“ Er räusperte sich. „Dieser Doktor Harmon. Hast du ihn aufgesucht?“

„Nein, noch nicht. Ich rufe ihn morgen an.“

Er nickte. „Okay, gut.“

Seine methodische Ruhe machte sie noch nervöser. „Dr. Navarro war sich allerdings sicher, was er sagen würde.“

„Er ist nur ein mexikanischer Quacksalber.“

Das klang sehr kalt, kurz und bündig. Sein Leugnen der Tatsachen war weit entfernt von der Unterstützung, die sie brauchte. Sie wollte, dass er ihr ungeachtet aller Umstände seine Liebe erklärte. Sei mein Ritter, nimm den Handschuh auf, Michael! bat sie im Stillen.

Mit einer Hand fuhr sie ihm über die Brust hinauf zum Gesicht.

Seine Hände lagen starr an seinen Seiten.

„Michael, ich habe Angst. Du bist so still. Ich muss wissen, ob du mich liebst, gleichgültig, was geschieht. Bitte, sag es mir …“

„Ich kann nicht.“ Er schluckte trocken und wandte den Kopf ab.

Charlotte wich zurück und rollte sich zitternd auf ihrer Seite des Bettes zusammen.

Er warf rasch das Laken zurück und stand auf. Ein dunkler Schatten neben dem Bett. „Warum hast du es mir nicht früher gesagt? Warum hast du mich nicht vorbereitet? Warum warst du nicht ehrlich zu mir?“

„Ich hatte Angst“, flüsterte sie. „Angst, dass du mich nicht lieben würdest.“

„Es war falsch von dir, Charlotte, mich an der Nase herumzuführen und mir all diese Geschichten aufzutischen.“

„Ich weiß. Es tut mir Leid, Michael, sehr Leid“, schluchzte sie.

„Ich kann das alles nicht glauben.“

„Ich bin trotzdem noch ich.“

Er sah sie kurz forschend an und blickte aus dem Fenster. „Wirklich? Wer bist du denn, Charlotte?“

Im Mondlicht sah sie sein Profil, die gerade Nase, die vollen Lippen. Sie sah, wie er mit sich rang, das alles zu begreifen, die richtigen Worte zu finden und so zu reagieren, wie sie es von ihm erwartete. Als sie Tränen in seinen Augen glitzern sah, brach es ihr das Herz.

„Michael“, sagte sie eindringlich und richtete sich auf. „Sag mir, dass es keinen Unterschied ausmacht und du mich in jedem Fall liebst.“

Er schwieg.

„Bitte, Michael!“ Sie verabscheute es, so zu betteln. „Du verstehst nicht …“

„Ich verstehe sehr wohl. Ich verstehe, dass unsere ganze Liebe auf einer Lüge basierte.“

„Nein!“ Ihr war eiskalt. „Bitte sag so etwas nicht. Wie kannst du das behaupten?“

„Ich brauche frische Luft.“ Er wandte sich ab und griff nach seiner Kleidung. „Ich muss nachdenken.“

Sie hörte ihn in die Jeans schlüpfen und den Reißverschluss zuziehen. Arme glitten in Hemdsärmel, Füße in Sandalen. „Ich mache einen Spaziergang.“ An der Tür verharrte er, wie um etwas zu sagen, ging dann aber wortlos hinaus.

Sie sah ihm nach, und es war, als schlösse sich eine Tür in ihrem Herzen. Sie wusste, er kam nicht zurück, nicht als derselbe Mann. Und selbst wenn, war es zu spät. Sein Schweigen sprach Bände. Er hatte den Handschuh nicht ritterlich aufgehoben. Es gab keinen Ritter, nur einen Drachen, der sie vernichtete.

Michael eilte im Laufschritt durch das hohe Gras, das ihm in die Knöchel schnitt, auf den Wald zu. Er fühlte sich so gekränkt und hintergangen durch ihr spätes Geständnis, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitete. Da half nur Marschieren und den Frust loswerden. Wie hatte sie ihn so belügen und manipulieren können? Und was sollte das überhaupt mit dieser Deformierung? Plastische Chirurgie? Charlotte hässlich? Unmöglich. Er konnte es nicht begreifen. Nein, nicht seine Charlotte. Aber war sie überhaupt seine Charlotte? Zum Kuckuck, er wusste wirklich nicht mehr, wer sie überhaupt war! Mit festen Schritten marschierte er weiter.

Nach einer Weile bemerkte er, dass er bereits tief in den Wald vorgedrungen war, verlangsamte das Tempo und blieb schließlich stehen. Die Atmung wurde ruhiger, der Schweiß trocknete auf der Stirn, und sogar seine wütenden Gedanken legten sich. Die Stille der umgebenden Natur, die Majestät der alten Bäume waren Balsam für die Seele.

Eine Hand an der Stirn, presste er die Augen zusammen. Sofort sah er Charlottes tränenüberströmtes Gesicht vor sich. Sie hatte ihn geradezu um Trost angefleht. Wie hatte er sie so zurücklassen können? Sie hatte gelitten, sie war krank. Was hatte sie noch gesagt, sie könne sterben?

Er ballte die Hände und wütete gegen sich selbst und das Schicksal. Es war alles so unfair.

Den Kopf gesenkt, machte er sich Vorwürfe, sie im Stich gelassen zu haben. Dieses schöne, geliebte Gesicht nicht mehr sehen zu können hatte ihm das Gefühl gegeben, betrogen zu werden. Doch die Vorstellung, sie zu verlieren, war … unerträglich.

Ein Zitat von Robert Frost kam ihm in den Sinn. „Wir lieben die Dinge, die wir lieben, weil sie so sind, wie sie sind.“

Natürlich musste er sofort zu ihr zurück und mit ihr reden. Er musste verstehen lernen. Zwar wusste er nicht, was er sagen und wie er reagieren sollte, doch er wusste, dass er sie liebte. Was tat er überhaupt hier draußen und bedauerte sich selbst, während Charlotte im Blockhaus weinte?

Entschlossen marschierte er zurück. Während er über die Felder ging, sah er die kleine Hütte oben auf dem Hang im Mondschein. Silbrige Wolken zogen über den heller werdenden Himmel und bedeckten den sanft schimmernden Mond mit einem Schleier. Michael fröstelte bei der Vorahnung, einen Verlust zu erleiden.

Nachdem ihre Tränen versiegt waren, schien eine betäubende Kälte in ihr aufzusteigen, ein Schutzwall gegen Emotionen. Sie wollte nur noch weg, ehe Michael zurückkehrte. Ihre Sachen würde sie später abholen lassen. Was sie betraf, hatte sie ihre Antwort erhalten. Eine weitere Konfrontation mit Michael war zwecklos.

Charlotte wischte sich das Gesicht, zog sich rasch an, warf ein paar Sachen in einen kleinen Koffer und rief den einzigen Menschen an, der sie jederzeit abholen würde: Freddy.

Kurz darauf wartete sie, Tasche neben sich, auf der Veranda. In weniger als einer Stunde fuhr Freddy mit seinem Mercedes vor.

„Baby“, sagte er zur Begrüßung, eilte ihr entgegen und umarmte sie.

Sie hätte heulen mögen, konnte aber nicht. „Gehen wir“, bat sie. „Sofort.“

„In dieser Sekunde.“ Er nahm ihre Tasche und öffnete ihr die Wagentür.

Der plötzlich aufblitzende Diamantring an ihrer Hand erinnerte sie an ihre zerplatzten Träume. Sie lief rasch in die Blockhütte zurück und legte ihn auf den Tisch.

Als sie das Haus wieder verließ, war sie froh, dass die Dunkelheit die ihr lieb gewordene Umgebung verbarg. Rasch stieg sie in den Wagen, schloss die Augen und ließ sich von Freddy fortbringen.