2. KAPITEL

Dezember 1991

Charlotte schloss, müde nach einer fünfstündigen Kostümprobe von A Christmas Carol, die Tür der Vierzimmerwohnung auf, die sie sich mit ihrer Mutter teilte. Um den Türgriff war die Farbe abgeblättert, und die einzige Lampe im Flur warf nur Dämmerlicht. Ein Heim für Scrooge, dachte sie mit unterdrücktem Lachen. Was für ein hektischer Tag. Ihre Stimme war rau vom Rufen, wenn sie dem gehetzten Regisseur antworten und Schauspielern Stichworte geben musste, die unfähig zu sein schienen, sich eine einzige Dialogzeile zu merken. Sie verstand nicht, wie man so nachlässig sein konnte. Sie kannte den gesamten Text. Ihr Gedächtnis war tadellos, und alle verließen sich auf die Hilfe der guten alten Charlotte, wenn sie stecken blieben. Vielleicht lag darin das Problem. Als Bühnenmanagerin musste sie es allen leicht machen – und darin war sie sehr gut.

Nicht dass sie hoffen konnte, selbst einmal eine Rolle zu übernehmen, obwohl sie das gern getan hätte. Sie würde hinter der Bühne bleiben müssen. Sie hatte ihr Schicksal und damit ihre Entstellung vor Jahren schon akzeptiert. Theater war jedoch ihr Leben, wenn auch nur als Teilzeit-Bühnenmanager der örtlichen Theatertruppe.

Ihr oblag es, sich um alles zu kümmern, was sonst niemand machen wollte. Eine lohnende Aufgabe für einen detailverliebten Menschen wie sie. Sie sorgte für Ordnung in den Garderoben und bei den Drehbüchern, sprang bei Proben ein, wenn ein Schauspieler fehlte, und machte allgemein gut Wetter, damit alle glücklich waren. Es machte ihr nichts aus, im Hintergrund zu bleiben. Bei ihrem Aussehen war das nicht anders möglich. Ihren größten geheimen Triumph feierte sie bei der aktuellen Inszenierung, als sie hinter der Bühne stehend, das Gesicht in die Scheinwerfer gereckt, den Text mit all dem Einfühlungsvermögen gesprochen hatte, das den Schauspielern fehlte.

„Mama, ich bin zu Hause!“ rief sie und ließ den Mantel auf die Bank bei der Tür fallen. Sie ging in ihr Zimmer, schloss die Tür und schaltete Musik ein, um ein paar Minuten allein zu entspannen, ohne dass jemand nach ihr rief. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, fiel sie aufs Bett, genoss die kuschelige Wärme und wollte dort bleiben bis morgen, Sonntag, zur Frühmesse.

„Charlotte, du kommst spät!“ rief Helena, als sie eintrat. Die große, breitschultrige Polin, deren Rücken vom jahrelangen Putzen in fremden Häusern bereits leicht krumm war, sackte noch ein wenig mehr zusammen vor Erleichterung, weil ihr einziges Kind sicher heimgekehrt war. Mit siebenundvierzig war Helena Godowskis Gesicht so blass, durchscheinend und von Linien durchzogen wie altes Porzellan. Allerdings war sie stark genug, einen großen Porzellanschrank zu heben. Und ihre Körperkräfte verblassten noch im Vergleich zu ihrem eisernen Willen.

„Ich weiß, ich weiß. Tut mir Leid.“ Charlotte beeilte sich, ihre Mutter zu beschwichtigen. „Die Proben heute waren verrückt, und ich musste bleiben, bis alle den Text konnten. Vor einer Premiere ist das immer so.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und schüttelte es aus. „Ich bin erledigt. Ich glaube, ich gehe früh zu Bett.“

„Zu Bett? Unmöglich!“ Helena hob den blau-rosa Plastikbehälter, den sie unter dem Arm trug. „Heute Abend ist eine schöne Party!“ Ihre Augen strahlten. „Ich habe mein Make-up geholt. Wir werden etwas Schönes ausprobieren.“

„O nein!“ stöhnte Charlotte und kniff entsetzt die Augen zusammen. Ihr Magen rebellierte, und sie hatte keinen Appetit mehr. „Die Büroparty. Die hatte ich total vergessen. Mom, ich bleibe lieber zu Hause. Heute läuft A Christmas Carol im Fernsehen, die alte Verfilmung mit Alastair Sim. Die beste. Und ich bin so müde.“

„Filme!“ grummelte Helena. „Immer nur Filme und Theaterstücke. Du bist nur Zuschauer, Tag und Nacht. Nie gehst du aus. Nur in dieses alberne Theater, das dir nicht genug bezahlt für das Fahrgeld. Das ist nicht gut für dich. Du musst leben in richtiger Welt. Du kannst dich nicht immer verstecken in deine Zimmer. So findest du nie eine Mann.“ Helena beugte sich herab, hob Charlottes Sachen auf, faltete sie und stapelte sie ordentlich auf dem Bett.

„Ach Mama, ich finde auch auf der Weihnachtsparty vom Büro keinen Mann. Da findet man höchstens Betrunkene.“ Schaudernd rieb sie sich die Arme bei der Aussicht auf eine weitere endlose Party mit spitzen Bemerkungen. „Also gut, ich gehe“, gab sie nach, als sie Helenas Enttäuschung bemerkte. „Aber nur, weil Mr. Kopp ein Memo geschickt hat, das uns alle zur Anwesenheit verpflichtet.“

„Dein Boss wird nicht zulassen, dass Party wird zu wild. Du wirst dich amüsieren. Mach dir keine Sorgen.“

Gerade ihr Boss, Lou Kopp mit den „flinken Händen“, war bei allen Frauen Anlass zur Sorge. „Ich versuche mich zu amüsieren“, versprach sie resigniert. „Falls ich etwas zum Anziehen finde.“ Sie suchte im Schrank, der voll gestopft war mit alten Schuhen, abgetragenen Kostümen und einer Sammlung staubiger Hüte. Ihre Mutter warf nie etwas weg. In allem steckte noch ein wenig Leben.

Sich begnügen war das Lebensmotto für Charlotte und ihre Mutter. Ihre Wohnung war klein und ohne jeden Charme. Aber sie lag bequem an einer Buslinie, und die Miete war gering. Also begnügte man sich damit.

Wenn die Wohnung auch nicht schön war, so war sie doch zumindest sauber. Das alte Linoleum glänzte, und der schlichte braune Teppichboden war makellos. Auch Charlottes alte Röcke waren tadellos, und an ihren Blusen fehlte nie ein Knopf. Das blassgrüne Resopal in der Küche war hässlich, aber strahlend wie Charlottes polierte Schuhe. Und jeder, der den schmalen Flur an der Harlem Avenue betrat, hob den Kopf und schnupperte mit geschlossenen Augen nach den delikaten Düften, die aus Apartment 2B kamen.

„Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Party. Du lernst vielleicht jemand kennen“, sagte Helena zufrieden lächelnd. „Ich habe dafür gebetet.“

Charlotte verdrehte die Augen und wandte ihr den Rücken zu, um in ein altes rotes Wollkleid zu steigen.

„Eine Frau braucht eine Mann, der auf sie aufpasst“, setzte ihre Mutter eifrig ihren Monolog fort. „Und sie muss für ihn und sein Heim sorgen. Und für seine Kinder. Die Ehe ist ein heiliger Stand, ein Sakrament. Ja, dafür bete ich.“ Ihre Stimme bebte vor Rührung. „Ich möchte nicht, dass du allein und unglücklich bist.“

Charlotte verharrte und hielt den Kleiderbügel fester. Im Spiegel sah sie sich, wie ihre Mutter sie nicht sehen wollte: eine dünne Zwanzigjährige, eine Hinterzimmerbuchhalterin, dazu verdammt, bis an ihr Lebensende mit ihrer Mutter in einer schäbigen Wohnung zu leben.

„Mom.“ Charlotte legte ihrer Mutter einen Arm um die Schultern. Sie wollte Trost spenden, obwohl sie ihn eigentlich selbst brauchte. „Mach dir um mich keine Gedanken. Ich kann für mich sorgen – und für dich. Wir werden nicht allein sein. Ich liebe dich.“ Sie küsste ihrer Mutter die eingefallenen Wangen.

Helena straffte sich, tätschelte ihr den Arm und schob sie sacht von sich. „Zieh dich besser an. Hübsch, ja?“

Charlotte wich rasch zurück. „Hübsch …“, wiederholte sie, gekränkt von dem Wort. Sie zog das Kleid über den Kopf und stöhnte, als die enge Taille ihr die Brüste quetschte. Entweder war das Kleid eingelaufen, oder ihr Busen war üppiger geworden, denn der Stoff presste ihn zusammen.

„Das kannst du nicht tragen zu Party!“ entschied ihre Mutter missbilligend.

„Scheint ein bisschen eng zu sein, ich weiß …“ Charlotte versuchte den Stoff über der Brust zu weiten.

„Ein bisschen? Ich kann sehen deine … du weißt schon.“

„Was?“ Charlotte drehte sich um und betrachtete sich im großen Spiegel. Das Kleid umschloss ihren großen schlanken Körper wie eine zweite Haut und hob ihre vollen Brüste üppig hervor.

Ihre Mutter zeigte errötend auf sie. „Da, die Spitzen. Sie stehen vor – wie Kleiderhaken!“

Charlotte lief rot an. Ihre Brustspitzen malten sich tatsächlich deutlich durch den Stoff ab. Sie zog die Schultern ein, doch das half nichts. Ihre Brüste ließen sich nicht verbergen. Charlotte seufzte. Warum musste sie so üppig ausgestattet sein? Der Busen war voll und die Taille schmal, eigentlich eine Traumfigur, um die sie von vielen beneidet wurde.

„Zieh was anderes an.“

„Ich habe nichts anderes, außer meinem Kirchenkleid. Und das alte braune Ding werde ich nicht zu einer fröhlichen Party tragen. Ich gehe nicht hin.“

„Du gehst. Eine Jacke vielleicht, um dich zu bedecken. Es ist Sünde zu provozieren.“

Provozieren war das Letzte, was sie wollte. Sobald sie eine schwarze Jacke über das anstößige Kleid gezogen hatte, entspannte sich ihre Mutter sichtlich und nickte zufrieden.

„Das geht. Du kannst gut Jacke tragen wie dein Vater.“

„Ich hoffe, er hatte nicht solche Brüste“, murmelte sie.

„Sprich nicht so von deinem Vater. Er war ein feiner Mann, ein feiner Mann“, wiederholte sie und strich sich den Pullover glatt wie gesträubtes Gefieder. „Er stammt aus einer vornehmen Familie in Warschau. Was für ein großes Haus sie hatten! Und Diener. Und seine Mutter, was für eine Lady. Diese Frau musste nie einen Finger rühren.“

Charlotte wandte sich ab und schlüpfte aus der Jacke. Sie passte nicht zum Kleid, aber wie immer würde sie sich damit begnügen. Sie hatte sonst nichts. Sie waren arm und waren es immer gewesen. Was hatte es für einen Wert, einer Familie zu entstammen, die mal reich gewesen war? Es war nur ein Märchen.

„Du ähnelst deinem Vater sehr“, fügte ihre Mutter wehmütig hinzu, glücklich in ihren Erinnerungen.

„Aber ich sehe nicht aus wie er.“

„Woher weißt du, wie er aussah?“

Charlotte zuckte die Achseln. Schon als Kind hatte sie es merkwürdig gefunden, dass es keine Fotos ihres Vaters gab. Alle Mitschüler hatten Alben mit Familienbildern. Sie hatte nichts.

„Du hast mir gesagt, er sah gut aus.“ Das war eine Herausforderung.

„Du bist so klug wie er“, lenkte ihre Mutter ein und zupfte sich den Pullover zurecht. „Und du hast seine Nase. Eine kräftige, noble Nase. Und du hast meine Augen, die Augen deiner Großmutter Sophie.“

Charlotte hörte zu und ließ den Blick im Spiegel von den vollen Brüsten über schmale Schultern und einen schlanken Hals zum Gesicht wandern. Sie litt oft unter ihrem Anblick und war einen Moment verblüfft. Sie hatte die großen, strahlend blauen Augen ihrer Mutter unter fein geschwungenen Brauen und die lange schmale Nase des Vaters. „Aber von wem“, fragte sie bitter, „habe ich dieses extrem fliehende Kinn und die hängenden Lippen? Wem darf ich für diese feinen Merkmale danken?“

„Schsch, Charlotte!“ flehte Helena mit fahlem Gesicht. „Du hast dein Aussehen von Gott.“

Charlotte schluckte ihre Erwiderung und senkte den Kopf, beschämt über ihren Zorn auf Gott. Außerdem wollte sie ihre Mutter nicht mit nutzlosem Ärger aufregen. Welche andere Wahl blieb ihr schon, als die Hässlichkeit der einzigen Tochter als gottgewollt hinzunehmen? Sie selbst betete jeden Tag darum, ihre Hässlichkeit akzeptieren zu können.

„Eines Tages“, begann ihre Mutter den Satz, der in diesem polnisch katholischen Haushalt geradezu ein Gebet war, „wirst du jemand kennen lernen. Einen netten Mann, der dich für all deine guten Eigenschaften liebt. Denn du bist ein gutes Mädchen, Charlotte.“

Charlotte presste die Lippen zusammen und wandte sich vom Spiegel ab. Diesen Jemand würde es nicht geben. Nicht für sie. „Die Jacke passt nicht unter meinen Mantel“, sagte sie mit bebender Stimme. „Ich nehme sie über den Arm.“

Ihre Mutter blickte müde auf die im Schoß gefalteten Hände. „Ja“, stimmte sie leise zu und spielte das Theater mit. „Mit der Jacke wird es gehen. Nette Mädchen brauchen sich nicht zur Schau zu stellen.“

Charlotte vergaß die Jacke. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sie auf der Bank neben der Eingangstür liegen. Wie konnte sie so vergesslich sein? Sie hätte sich ohrfeigen mögen. Eine Sekunde Nachlässigkeit bedeutete stundenlange Qual.

Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause zurück. Sie würde sich kurz blicken lassen, damit ihr Boss sie sah, und sich dann entfernen. Charlotte blickte von der Tür in den Bankettsaal. Auf einer riesigen Drehbühne standen runde Tische, dekoriert mit künstlichen silbernen Weihnachtssternen und grünen und roten Bändern.

„Komm rein!“ rief jemand aus der Menge. Charlotte machte einen kleinen Schritt über die Schwelle und hielt sich den Mantel am Hals zusammen. Zur Melodie von „A Holly Jolly Christmas“ genossen die Feiernden dank langsamer 360-Grad-Drehung einen Rundumblick über Chicagos Skyline und Lake Michigan.

Alle waren da, von der Geschäftsleitung bis zum kleinsten Angestellten. McNally und Kopp war eine kleine Buchhaltungsfirma. Doch wenn man die Zahl der Angestellten mit zwei multiplizierte, brauchte man kein mathematisches Genie, um auf über hundert Leute zu kommen, die heute Abend hier Weihnachten feiern wollten. Und wie es klang, hatten die meisten bereits mehrere Gläser Alkohol intus.

In einer Ecke hatte sich eine Gruppe Männer in Anzügen an der Bar versammelt. Zwischen Lachen und Trinken suchten sie mit Blicken den Raum ab wie hungrige Tiere.

„Charley!“

Bei dem verhassten Namen zuckte Charlotte zusammen. Judy Riker, die Büroleiterin, kam auf sie zu. Ihr freizügiges rotes Paillettenkleid mit Spaghettiträgern hielt ihre Figur kaum zusammen. Mann, o Mann, dachte Charlotte schmunzelnd. Ihre Mutter wäre schockiert, so viel von Judys „du weißt schon“ zu sehen. Die Männer an der Bar bemerkten Judy auch, und Charlotte sah, wie sie sich einander zuneigten und über sie tuschelten.

„Ich wollte gerade gehen“, sagte Charlotte, als Judy sie erreichte.

„Gehen? Blödsinn. Du bist gerade erst gekommen. Komm schon, sei kein Mauerblümchen. Es wird Zeit, dass du dich ein bisschen amüsierst.“ Judy überredete die zögernde Charlotte, den Mantel abzulegen. „Junge, was für ein tolles Kleid“, sagte sie und konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Rot steht dir gut, Charley. Du solltest es häufiger tragen, nicht immer dieses fürchterliche Schwarz und Grau. Die Leute fragen schon, ob du in Trauer bist. Bei deinem langen blonden Haar ist Rot eindeutig deine Farbe.“

„Schließlich ist Weihnachten“, erwiderte sie errötend.

„Nun denn, fröhliche Weihnachten, Charley! Komm, holen wir uns etwas zu trinken. Getränke muss man bar bezahlen, diese Geizhälse. Man hätte meinen sollen, dass sie für Weihnachten was springen lassen. Ach, was soll’s, ich lade dich ein. Heben wir einen auf den guten alten Nikolaus.“

Judy spendierte Charlotte einen Weißwein und deutete in die Richtung des ihr zugewiesenen Platzes. Damit war ihr Job als Hostess getan, und sie verschwand in der Menge. Wieder allein, umklammerte Charlotte den Stiel ihres Weinglases wie einen Rettungsanker und suchte sich ihren Weg zum Tisch. Um dorthin zu gelangen, musste sie an der Bar vorbei. Ihr Mut sank.

Sie hatte früh gelernt, dass ein hässliches Gesicht ebenso viele Kommentare heraufbeschwor wie ein hübsches. Vielleicht sogar mehr. Die Schultern leicht eingezogen, ließ sie das Haar in geübter Tarnung nach vorn fallen. Sie stellte sich vor, auf der Bühne zu sein, suchte sich einen Punkt in der Ferne und ging zur Hintergrundmusik von „Babes in Toyland“ darauf zu.

Als sie an der Bar vorbeikam, verstummten die rowdyhaften Männer. Sie hielt den Atem an und flehte zum heiligen Antonius, sie vor Schweinen zu schützen. Das Weinglas umklammernd fand sie ihren Platz und schlüpfte rasch auf die Vinylpolsterung. Sie wollte soeben dem heiligen Antonius danken, als sie einen Mann auf sich zusteuern sah, und wandte das Gesicht ab.

„Entschuldigen Sie“, sagte er neben ihr, „sind wir uns schon begegnet?“

Es war ihr Boss, Lou Kopp. Fröstelnd drückte sie sich tiefer in den Sitz und legte eine Hand ans Gesicht. Von der Bar kamen Anfeuerungsrufe: „Nur zu, Lou!“

Sie fühlte sich wie ein Tier in der Falle. Jahre der Demütigung hatten sie jedoch gelehrt, nie Angst zu zeigen. Sie atmete tief durch und drehte ihm langsam das Gesicht zu. Ihr Haar fiel zurück. Lou Kopps Miene verriet Verwirrung, dann Fassungslosigkeit, und sein Lächeln erstarb.

„Was zum Teufel …“

Sie fühlte sich wie geohrfeigt. „Ich heiße Charlotte Godowski“, sagte sie scheinbar ungerührt. „Sie erinnern sich vielleicht an mich. Ich bin Buchhalterin in Ihrer Firma.“

Dröhnendes Gelächter von der Bar. „Mann, heute ist deine Glücksnacht! He, wir haben Weihnachten und nicht Halloween!“

Nach jeder Gemeinheit erklang wieder lautes, verletzendes Gelächter. Charlottes Verteidigung bestand darin, das ebenso zu ignorieren wie die mitfühlenden Kommentare der Frauen in Hörweite. Doch im Innern war sie tief gekränkt.

Als sie Lou Kopp an die Bar zurücktorkeln sah, wo er mit aufmunterndem Rückenklopfen empfangen wurde, wusste sie, dass dieser Abend so verlaufen würde wie viele andere. Die bösen Jungs hatten endlich ein Opfer, an dem sie ihre Frustrationen auslassen konnten, weil sie bei den hübschen Frauen nicht ankamen.

Charlotte stand auf und drängte sich an den Betrunkenen vorbei. Die stießen sich kichernd an. Judy Riker eilte ihr an der Tür entgegen.

„Charlotte, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn wir vielleicht …“

„Bitte.“ Sie hob die Hand, um Judys Gestammel zu unterbinden. „Frohe Weihnachten, Judy. Gute Nacht.“

Zu einem Lächeln konnte sie sich nicht durchringen. Sie nahm rasch ihren Mantel, bedeckte damit das verhasste rote Kleid und drückte den Fahrstuhlknopf. Die Glocke ertönte prompt, und sie betrat die Kabine. Nachdem sie den Knopf für das Erdgeschoss betätigt hatte, schloss sie die Augen, erleichtert, allein zu sein. Die Türen wollten sich gerade schließen, als sich noch ein Mann hineindrängte. Die Türen prallten gegen seine Schultern und sprangen wieder auf.

Sie öffnete die Augen und sah Lou Kopp.

„Wollen Sie in die Garage?“ fragte er und drückte den G-Knopf.

Sie schwieg. Ihr Herz pochte wild, und sie atmete rascher. Jetzt saß sie wirklich in der Falle und begann ein stilles Gebet.

„Hören Sie, was da eben passiert ist …“

Sie betete weiter.

„Es tut mir Leid.“

Sie hielt im Gebet inne. Hatte er sich wirklich entschuldigt?

„Was wir da eben abgezogen haben, war schrecklich. Ein paar von den Jungs waren betrunken. Nicht dass das eine Entschuldigung wäre“, räumte er schnell ein. „Als ihr Chef übernehme ich die volle Verantwortung. Bitte, Miss Goz… Nehmen Sie meine Entschuldigung an.“

Charlotte versuchte seine Miene zu deuten. Lou Kopp war kein gut aussehender Mann. Glatt war das Wort, das ihn am ehesten beschrieb. Seine Augen sprachen jedoch für ihn, himmelblau und strahlend, wenn er lächelte wie jetzt. Du bist die Letzte, die jemand nach dem Äußeren beurteilen sollte, schalt sie sich und akzeptierte seine Entschuldigung mit einem Nicken.

„Wie kann ich es wieder gutmachen?“

„Sie haben sich entschuldigt“, erwiderte sie und blickte geradeaus. „Das genügt.“

„Nein, tut es nicht. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“

„Nein, danke.“

„Wie kommen Sie nach Haus?“

„Ich nehme ein Taxi. Es ist nicht weit.“ Sie hatte vor, die Bahn zu nehmen.

„Sie werden nie ein Taxi bekommen. Es ist Weihnachten, ein Freitagabend. Ausgeschlossen. He, ich sag Ihnen was. Ich fahre Sie heim. Was halten Sie davon? Es ist das Wenigste, was ich tun kann.“

„Das ist nicht nötig“, wehrte sie ab.

„Natürlich ist es das. Ich fahre Sie heim. Es ist keine große Sache. Außerdem bin ich Ihr Chef. Ich sollte mich um meine Angestellten kümmern.“

Sie hatte keine Zeit zu antworten. Im vierten Stock öffneten sich die Fahrstuhltüren, und ein großer Mann in einem konservativen blauen Wollmantel trat ein. Die Kabine schien zu schrumpfen. Sie musterte den Fremden verstohlen und fasziniert.

Er hatte einen wunderbar gebräunten Teint, hohe Wangenknochen und eine Maya-Nase, die ihm etwas Strenges verlieh. Das dichte schwarze Haar war relativ lang und berührte den weißen Hemdkragen. Das Fesselndste an ihm war jedoch diese Aura des Gentleman, die augenblicklich beruhigend auf Frauen wirkt, weil sie wissen, dass von ihm keine Gefahr droht. Ein Duft nach Sandelholz erfüllte die kleine Kabine.

Während sie weiter hinabfuhren, hielt er die schmalen, unberingten Hände vor sich gefaltet. Im Gegensatz dazu fingerte Lou Kopp in seiner Tasche an Münzen herum. Im Erdgeschoss angelangt, hielt der Fremde ihr in einer ritterlichen Geste die Tür auf. Geschmeichelt wollte sie an ihm vorbeigehen. Plötzlich spürte sie Lou Kopps Hand auf ihrem Arm und verharrte befangen. Der Blick des Mannes wanderte von Lous Hand auf ihrem Arm zu ihren Augen. „Wollten Sie hinaus?“ fragte er höflich mit tiefer Stimme und dem deutlichen Unterton, dass er ihr wenn nötig helfen würde.

„Ich sagte, ich fahre Sie heim“, beharrte Lou und griff fester zu. Er war ihr Chef, und sie fügte sich seiner Autorität.

„Danke“, antwortete sie dem Fremden. „Alles in Ordnung.“

Der Mann wirkte skeptisch, nickte aber wortlos und stieg aus. Die Türen glitten hinter ihm zu.

„Lausiger Latino!“ schimpfte Lou. „Für was hält der sich?“

Für einen Gentleman, dachte sie und blickte mit dem Gefühl, völlig verlassen zu sein, auf ihre Schuhspitzen.

Schweigend fuhren sie eine weitere Etage hinab. Wortlos führte Lou Kopp sie in die dämmerig beleuchtete Garage. Die schmutzigen Zementwände waren mit allerlei Schmierereien verunziert, und die kalte Luft war mit Abgasen gefüllt. In einer Ecke erreichten sie einen großen grauen Oldsmobile. Lou öffnete die Türen, und sie stiegen ein.

Lou ließ den Motor an, doch der keuchte, spuckte und erstarb in der bitteren Kälte. „Verdammt, ist das kalt. Man kann kaum das Metall anfassen.“

Charlotte antwortete nicht, sondern krümmte die Zehen in ihren Schuhen. Schließlich sprang der Motor an, lief jedoch so ungleichmäßig, dass der ganze Wagen vibrierte. „Guter alter amerikanischer Wagen“, triumphierte Lou und rieb sich die Hände. Sein Atem kondensierte zu Dampfwolken, und ein Geruch nach Brandy hing in der Luft. Charlotte drückte die Nase in ihren Mantelkragen und steckte die eisigen Finger unter die Arme. Heute war eine jener arktischen Chicagoer Nächte, wo einem die Nase zufror.

„Ja, saukalt ist das“, wiederholte er und sah sie mit einem Funkeln in den Augen an. „Und der Wind macht es noch eisiger.“

„Scheint so“, bestätigte sie scheu und zitterte. Die schwache Beleuchtung in der Garage ließ die Haut blass und kränklich erscheinen. „Vielleicht sollten wir warten, bis der Motor warm gelaufen ist.

Lou holte einen kleinen Flachmann aus seiner Westentasche, der silbern im Licht aufblitzte. „Immer vorbereitet sein“, sagte er und schraubte zwinkernd die Kappe ab. „Das wird uns ein bisschen wärmen, was?“

Charlotte schüttelte den Kopf, als er ihr davon anbot. Sie mochte jetzt keinen Alkohol.

Stirnrunzelnd setzte er die kleine Flasche an die Lippen und trank einen Schluck. Danach seufzte er behaglich und sah sie forschend an. „Sie denken doch nicht etwa, dass ich Sie betrunken machen will, oder?“

„Natürlich nicht, Mr. Kopp“, versicherte sie rasch, peinlich berührt, weil er sie für eine prüde Gans hielt.

„Ich wollte Sie nur ein wenig aufwärmen und etwas weihnachtliche Fröhlichkeit verbreiten.“ Er nahm den Flachmann wieder an die Lippen und trank. „Wie wäre es mit etwas Musik?“ Er langte hinüber und schaltete das Radio ein. Wieder erklang „A Holly Jolly Christmas“.

„Ist der Motor noch nicht so weit?“ fragte sie mit hoher, angespannter Stimme.

„Nein, der läuft noch nicht rund genug. Draußen ist es kälter als ‘ne Hexentitte.“ Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten. „Wo wir gerade davon reden. Sie hatten heute Abend ein sehr schönes Kleid an. Sie sind ein richtiger Wolf im Schafspelz, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Charlotte drückte sich tiefer in den Sitz.

„Sie sind mir vorher nie aufgefallen“, fuhr er fort. „Sie sind ein richtig nettes Mädchen, richtig nett, wissen Sie? Wie heißen Sie noch mal?“

„Charlotte. Charlotte Godowski.“

„Charlotte …“ Er sagte den Namen langsam. „Charl…“ Er hielt inne und lächelte erstaunt. „Charley?“

Sie sah aus dem Fenster und erkannte ihr pferdeähnliches Spiegelbild in der Scheibe.

„Wie kommt es, dass Sie von allen Charley gerufen werden, wo Sie einen so schönen Namen haben? Charlotte klingt so, ich weiß nicht, elegant.“

„Der Name passt nicht richtig zum Gesicht“, erwiderte sie.

„He, was reden Sie denn da?“

Sie war verblüfft, dass er sie verteidigte, und sog sein unterschwelliges Kompliment begierig auf.

„Erzählen Sie, wie kam es zu dem Spitznamen?“

„Ein Junge gab ihn mir, und er blieb an mir haften.“ Fangt Charley, das Pferd! Sie erinnerte sich, wie oft sie, begleitet von Gekicher und Gelächter, den Pultdeckel gehoben und Karotten oder Zuckerstücke darunter gefunden hatte.

„Na ja, ich denke, Charley ist ein anständiger Name. Hier.“ Er schenkte eine Kappe Brandy ein und reichte sie ihr. „Frohe Weihnachten, Charley.“

Er lächelte sie an und war richtig nett. Sie begann sich zu fragen, ob sie ihn nicht falsch eingeschätzt hatte. Vielleicht litt er wie sie unter Spott und Mobbing und suchte nur eine freundliche Seele, seine Einsamkeit zu vertreiben. Wie sie wusste, war er nicht mehr verheiratet.

„Vielleicht sollte ich wirklich“, sagte sie in einem Anflug von Abenteuerlust und nahm ihm scheu lächelnd die kleine Kappe aus der Hand.

„Sie haben ein richtig nettes Lächeln, Charley.“

Das erste echte Kompliment ihres Lebens trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sie führte die eisige Kappe an die Lippen und trank. Der Brandy war mild und erzeugte Wärme im Bauch und im ganzen Körper.

„Sehen Sie? Ich hatte Recht. Er wärmt das Blut.“ Lächelnd füllte er die Kappe wieder auf. „Bringt die Säfte in Wallung.“

Charlotte lächelte tapfer und schluckte noch einen Brandy mit geschlossenen Augen. Es gefiel ihr. Der feurige Geschmack nach fermentierten Pflaumen kitzelte Nase und Bauch. Als sie die Augen wieder öffnete, lächelte Lou sie immer noch an. Sie betrachtete sein unebenmäßiges Gesicht mit Nachsicht und suchte wohlwollend nach Hinweisen auf Integrität und Güte, die ihr bisher entgangen waren. Nein, ein gut aussehender Mann war er wirklich nicht. Aber die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Mannes hätte sie auch niemals erwartet. Reichte es nicht, wenn er ein gütiges Herz hatte?

„Wird Ihnen nicht langsam warm hier drin? Warum ziehen Sie den dicken Mantel nicht aus? Dann feiern wir hier eine kleine Party.“

„Nein!“ stieß sie hervor. „Mir ist immer noch kalt.“

„Ich wärme dich.“ Lou beugte sich hinüber und presste seinen Mund auf ihren.

Charlotte war so überrascht, dass sie einfach stillhielt. Dann dämmerte ihr: Mein Gott, ich werde tatsächlich geküsst! Jahrelang hatte sie es sich nur vorgestellt, und jetzt erlebte sie es entgegen aller Erwartung. Sie müsste ihn zurück- und zurechtweisen, doch wem schadete schon ein kleiner Kuss?

In der Kälte der Nacht analysierte sie distanziert, was sie empfand. Seine Lippen fühlten sich trocken und spröde an und schmeckten nach Brandy. Trotzdem war es nicht übel. Sie entspannte sich und spürte ein eigenartiges Kribbeln, das sich in ihr ausbreitete, wie die Wirkung des Alkohols. Eine kleine Flamme züngelte in ihrem Bauch und tiefer, an ihrem geheimsten Ort. Ihren ersten Kuss zu erleben, machte sie geradezu übermütig.

„Na bitte“, murmelte er zufrieden, schob ihr den Mantel von den Schultern, beugte sich über sie und lächelte lieb. Sie erwiderte das Lächeln zögernd. „Du solltest solche Kleider häufiger tragen, Charley. Sie stehen dir und zeigen die da.“ Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten. Er umschloss sie mit den Händen, wog ihre Fülle und seufzte lustvoll. „Die sind groß, und alles echt. Wir waren nicht sicher, ob die echt sind.“

Er presste die Lippen wieder auf ihre, und sie wusste, warum er „flinke Hände“ genannt wurde. Während sie ein neuerliches Kribbeln durchströmte, fragte sie sich, ob sie das Ganze nicht lieber beenden sollte. Aber sicher war das alles harmlos. Sie hörte die Mädchen im Büro dauernd über Knutschereien reden. Warum sollte sie das nicht auch erleben?

Plötzlich wich Lou zurück und öffnete seinen Gürtel. Als sie ihn zum Hosenreißverschluss greifen sah, wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. Sie wollte sich auf nichts einlassen, was mit geöffneten Hosen zu tun hatte.

„Ich denke, wir sollten aufhören.“ Sie stemmte sich mit den Ellbogen gegen ihn.

„Nein … noch nicht. Der Spaß fängt doch gerade erst an.“ Das Öffnen des Reißverschlusses klang laut in der Dunkelheit.

„Ich sagte, es reicht!“ Ihre Stimme war so klar und kalt wie die Nacht.

„He, Baby, nicht so schnell! Du bist eine ganz Wilde, was? Ich bin bereit für dich.“ Er schnappte sich ihre Hand und legte sie an seine Erektion. „Spürst du das? Was meinst du? Ich bin hart wie Stein, Baby. Ich gebe dir ein richtig schönes Weihnachtsgeschenk.“

Entsetzt riss sie die Hand zurück. Wo war der Funken Güte geblieben, den sie bei ihm entdeckt zu haben glaubte? Wie hatte sie sich entgegen besserem Wissen dazu verleiten lassen, ihm zu trauen? Ihre Illusion zerstob, und Lou Kopp verwandelte sich wieder in das gierige Monster, das er war. Angstvoll setzte sie sich gegen ihn zur Wehr. Doch er spreizte ihr die Beine, und als er eine Hand unter das Taillenband ihres Slips schob, fühlte sie sich verloren.

Sie schrie, aber er bedeckte ihren Mund mit der Hand. „Ich wette, ich bin der Erste.“ Als er das Entsetzen in ihren Augen las, lachte er auf. „Dachte ich mir. War mir klar, dass die Jungs nicht gerade Schlange stehen bei dir. Du hast einen tollen Körper, Kleines, aber ich schwöre, man sollte dir einen Sack über den Kopf stülpen.“

Tränen der Verzweiflung kamen ihr.

„Nicht weinen, Baby. Es wird dir gefallen.“ Er öffnete die Hose und zog sein hartes Glied heraus. Über ihr Entsetzen lachte er vulgär.

Charlotte biss ihm in die Hand, warf den Kopf zurück und schrie laut: „Nein!“

Er schlug sie, hart und unerwartet.

„Halt den Mund!“ knurrte er wütend. „Du spielst besser mit, oder du verlierst deinen Job. Außerdem bist du so hässlich, dass du mich dafür bezahlen müsstest.“

Sie lag da und spürte, wie ihr der Stoff über Hüften und Schenkel gezogen wurde. In hilflosem Entsetzen schien sie sich von ihrem Körper zu entfernen. Sie dachte an damals im Kindergarten, als ihr etwas Ähnliches zugestoßen war. Und jetzt lag sie hier, auf einem stinkenden Autositz, in einer schmutzigen Garage und ließ zu, dass Lou Kopp ihr das antat.

Ein Ruck durchfuhr sie. Der aufgestaute Zorn von fünfzehn Jahren, in denen sie sich gewünscht hatte, sich damals heftiger gewehrt zu haben, mobilisierte ungeahnte Kräfte.

Lou Kopp lehnte sich zurück und spuckte sich in die Hand. „Das macht es leichter.“

Wütend ballte sie entschlossen eine Hand zur Faust. „Nein!“ schrie sie und schlug ihm mit aller Kraft gegen das Kinn.

Lou schrie auf, fiel zurück und schlug sich die speichelbedeckte Hand gegen das Kinn. Sie nutzte ihre Chance, hob das rechte Bein und trat wie ein Pferd gegen das, worauf er eben noch so stolz gewesen war. Lou heulte auf vor Schmerz und klappte zusammen.

Sie vergeudete keine Sekunde, riss mit einer Hand die Tür auf, stieß sich ab, fiel rückwärts aus dem Wagen, verlor ihre Schuhe und landete auf dem harten kalten Boden. Sie rappelte sich auf, zog die Strumpfhose hoch, schnappte sich ihre Tasche und rannte barfuß zur Treppe. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihr einen stöhnend und fluchend auf dem Vordersitz zusammengekauerten Lou Kopp. Ein verwundeter Wolf, der den Mond anheulte.

Ich habe mich gewehrt! triumphierte sie voller Rachegelüste und lief zur Treppe. Sie würde sich nie mehr ducken und nie mehr feige sein. Sie hatte sich lange genug in Selbstmitleid gesuhlt.

Draußen auf dem Bürgersteig sog sie die frische, kräftigende Luft ein. Die eisige Kälte brannte ihr in den Lungen, reinigte sie. Barfuß, Mantel und Tasche in den Händen, hob sie das Gesicht zum sternenklaren Himmel.

„Ich bin jemand!“ rief sie den Sternen zu und an Gott gerichtet: „Ich akzeptiere das Schicksal nicht, das du mir zugedacht hast. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich werde es ändern. Und wenn du so etwas wie Gnade kennst, hältst du mich nicht davon ab.“ Sie holte tief Luft, leicht erschrocken über die plötzliche Stärke. „Und wenn du versuchst, mich aufzuhalten“, drohte sie Fäuste schwingend dem Himmel, „werde ich dir trotzen!“