20. KAPITEL

Melanie freute sich, Charlotte auf der Türschwelle zu sehen, bekam jedoch gleich einen Dämpfer, als sie Freddy hinter ihr entdeckte. Sie erhob sich mit Junichi vom Sofa und nahm Freddy den Koffer ab. Junichi blieb befangen im Wohnraum stehen und blickte verunsichert von Melanie zu Charlotte und zurück.

„Vielleicht ist es besser, wenn du gehst“, sagte Melanie zu ihm. „Die Hochzeitspläne können wir auch morgen besprechen.“

Junichi witterte eine heraufziehende Krise und war froh, sich ihr entziehen zu dürfen. Er schnappte sich seinen Mantel, begrüßte Charlotte höflich und verabschiedete sich von Melanie.

„Freddy, ich übernehme sie“, erklärte Melanie ihm.

„Sie hat mich angerufen!“ protestierte er. „Ich will mit ihr reden.“

„Jetzt nicht.“

„Das entscheide ich!“

„Bitte“, fiel Charlotte ihnen ins Wort, die Finger an die Schläfen gepresst, und atmete tief durch, „bitte streitet euch nicht. Ich brauche euch beide.“ An Freddy gewandt, fuhr sie fort: „Ich bin erschöpft und brauche dringend etwas Schlaf. Du sicher auch. Fahr ruhig heim. Ich rufe dich morgen an. Dann können wir reden. In Ordnung?“

Er strich sich übers Kinn und nickte. „Also gut. Ich bin nur froh, dass du da weg bist. Wenn ich das gewusst hätte …“ Er verstummte, als er Charlottes weinerliche Miene bemerkte. „Okay, ich rufe dich morgen an.“

„Danke, Freddy.“

„Komm, meine Süße.“ Melanie legte ihr einen Arm um die Schultern. „Du siehst aus, als könntest du ein schönes heißes Bad vertragen.“ Sie führte Charlotte aus dem Raum. „Lass dir nicht die Tür ins Kreuz fallen, wenn du gehst“, rief sie Freddy zu.

Freddy sah ihr leise fluchend nach, als sie Charlotte die Treppe hinaufführte. Plötzlich fiel ihm auf, wie sehr sich das Haus verändert hatte. Er sah sich um und bemerkte die Sprossenfenster und den Anbau, der einen herrlichen Blick auf den Garten und das Tal bot, über dem die ersten Strahlen der rosa Morgenröte heraufzogen.

Mondragons Werk, dachte er voller Bitterkeit. Dieser Hurensohn hatte aus der Bruchbude ein Schmuckstück gemacht.

Charlotte musste hier unbedingt ausziehen. Jeder gottverdammte Raum erinnerte sie an den Kerl. Das konnte er nicht zulassen. Dieser Mondragon musste aus ihrem Leben verschwinden, und zwar für immer. Aber wie, fragte er sich auf dem Weg zur Bar und schenkte sich einen Scotch ein. Noch während er eingoss, merkte er, dass auch die Bar neu war.

Das Läuten der Türglocke riss ihn aus seinen Überlegungen. Wer konnte das sein so früh am Morgen, der Milchmann etwa? Er ging zur Sprechanlage und drückte den Knopf. „Ja?“

„Ich bin es. Michael. Lass mich rein. Wir müssen reden.“

Freddy spürte seinen Blutdruck steigen. Der Bastard war ihr hierher gefolgt. Verdammt, kapierte der denn gar nichts? Mit geballten Händen überlegte er eine Antwort.

„Charlotte?“ kam die Stimme über die Sprechanlage.

Freddy blickte zur Treppe. Dem Himmel sei Dank, dachte er und begann zu lächeln. Er hatte eine Idee. Manchmal boten sich Chancen, die man nur ergreifen musste. Er betätigte den Knopf und öffnete Michael Mondragon das Tor.

Wenn er das jetzt durchziehen wollte, musste er sich beeilen. Er öffnete Charlottes Koffer, sah den Inhalt durch und riss einen Spitzen-BH, Slip, Strümpfe und ein Kleid heraus. Den geschlossenen Koffer versteckte er hinter dem Sofa. Dann verteilte er die Wäsche in einem Pfad auf dem Boden, der am Sofa endete. Ihm blieb nicht viel Zeit, er musste improvisieren. Rasch zerdrückte er ein paar Kissen, warf einige auf den Boden und bereitete die Szene vor wie ein Regisseur.

Beeilung, drängte er sich, Mondragon kann jede Sekunde an die Tür klopfen.

Er entdeckte die zwei Weingläser auf dem Tisch neben der Flasche. Perfekt. An einem war Lippenstift. Das Braut-Magazin musste natürlich verschwinden. Hastig schob er es unter ein Sofakissen. Mit Schweißperlen auf der Stirn eilte er zur Treppe und lauschte. Im Bad lief Wasser ein, und die Tür war geschlossen. Gut. Er zog das Jackett aus und lockerte die Krawatte. Es könnte funktionieren, dachte er freudig erregt, knöpfte sein Hemd auf und zerrte es aus der Hose. Dann eilte er noch zur Stereoanlage und drehte die Musik leise auf, damit man es oben nicht hörte. Als er gerade seinen Gürtel öffnete, klingelte Michael an der Tür.

Gerade rechtzeitig. Mit einem letzten Blick zur Treppe zog Freddy den Hosenreißverschluss auf und lief zur Tür. Unterwegs zerwühlte er sich noch mit einer Hand die Haare und öffnete.

„Was wollen Sie?“ bellte er den überraschten Michael an. Dessen Mienenspiel war sehenswert. Zorn blitzte in seinen dunklen Augen auf. Doch ebenso in Freddys. Es war ein Duell der Blicke, aber Freddy wusste, er war im Vorteil.

Michael maß ihn mit einem vernichtenden Blick: das zerwühlte Haar, die nackte Brust und Freddys Bemühen, den Hosenschlitz zu schließen, das vermittelte einen eindeutigen Eindruck. Freddy erkannte an Michaels Mimik, dass sein Plan aufging.

Trotzdem drängte Michael sich an ihm vorbei ins Haus. So wie er aussah, die langen Haare offen, die Kleidung zerknittert, Schmutz an den Schuhen und Bartstoppeln im Gesicht, war es auch für ihn eine lange Nacht gewesen. Gut, dachte Freddy bei sich. Wie fühlst du dich jetzt, Mondragon? So habe ich mich seit Monaten gefühlt.

„Wo ist sie?“ Michael betrat den Wohnraum, die Hände an den Seiten geballt.

„Das dürfte kaum der richtige Zeitpunkt sein, hier aufzukreuzen und nach Charlotte zu verlangen“, erwiderte Freddy gedehnt.

„Damit Sie das richtig kapieren“, begann Michael und stieß ihm den Zeigefinger fast ins Gesicht, „ich habe nur gefragt, wo sie ist.“

Freddy zog viel sagend die Brauen hoch und deutete auf die Spur aus Wäsche auf Boden und Sofa. Michael sah es über die Schulter hinweg und erbleichte.

Freddy hätte am liebsten laut gejubelt, als er bemerkte, wie Michael die Schultern hängen ließ. Aus dem Lautsprecher erklang Bessie Smith. Es war wunderbar. Er hätte diese Szene endlos genießen können. Da er jedoch nicht wusste, wie viel Zeit ihm blieb, holte er zum Todesstoß aus.

„Sie sehen, wie es ist, Mondragon. Warum sind Sie nicht einfach Gentleman und gehen?“

Michael wandte sich ihm zu, die Lippen bleich, der Blick wütend und traurig zugleich. „Ich glaube das einfach nicht.“

„Warum fragen Sie sie nicht selbst? Sie ist oben und nimmt ein Schaumbad.“ Nach einer kurzen Pause: „Sie wollte sich etwas frisch machen.“

Michaels Nasenflügel bebten. Einen Moment sah es so aus, als wolle er sich auf Freddy stürzen. Er tat es nicht, wandte sich stattdessen ab und verließ das Haus. Wie Freddy hoffte, für immer.

„Hallo, Dr. Harmon. Hier spricht Charlotte Godfrey. Godowski“, fügte sie hinzu, da er stutzte.

„Aber natürlich. Charlotte, wie geht es Ihnen? Es ist lange her. Ich habe Ihre Karriere verfolgt. Meinen Glückwunsch. Ich wusste, dass Sie es schaffen würden.“

„Dr. Harmon“, fuhr sie rasch fort, da sie keine Zeit für einen Schwatz hatte, „es hat sich ein Problem ergeben.“ Dann berichtete sie kurz von ihren Symptomen und Dr. Navarros Tests. „Er sagt, ich muss die Implantate entfernen lassen. Natürlich irrt er sich, aber er hat mich nervös gemacht. Was soll ich tun?“

Ein längeres Schweigen. „Das ist am Telefon schwer zu entscheiden“, antwortete Dr. Harmon langsam. „Dieser Dr. Navarro hat die Kollegen Haverhill und Quinn hinzugezogen? In L.A.?“

„Ja, aber sie haben mich nicht gesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie den Fall gut genug kannten, um eine Diagnose zu stellen.“

„Es sind exzellente Ärzte. Navarro hat die Besten konsultiert. Ich kenne die wissenschaftlichen Arbeiten, auf die Navarro sich bezieht. Nicht jeder, der Implantate hat, bekommt auch Abstoßungsreaktionen, wie die Studie belegt. Aber in Ihrem Fall … Natürlich muss ich Sie sehen. Können Sie nach Chicago kommen? Sofort? Ich hole meinen Terminkalender.“

„Warten Sie.“ Sie schluckte trocken. „Soll das heißen, Dr. Navarro könnte Recht haben?“

„Dass die Implantate heraus müssen? Wenn Ihre Titer so hoch sind, wie Sie es mir vorgelesen haben, dann ja. Alle Anzeichen sprechen dafür. Natürlich möchte ich meine eigenen Tests machen. Es tut mir schrecklich Leid. Es gab keine Möglichkeit, Ihre Reaktionen vorauszusehen. Natürlich möchte ich den Eingriff selbst machen.“

„Aber ich will nicht, dass Sie sie einfach herausnehmen. Können Sie nicht neue einsetzen?“

„Leider nein. Nicht in Ihrem Fall. Jedes neue Implantat würde wieder genauso abgestoßen werden.“

„Sie meinen, wenn ich sie behalte, könnte ich … sterben?“

Sein Schweigen tat weh. Als Dr. Harmon schließlich antwortete, sprach er mit tiefer, ernster Stimme. „Ja.“

Sie legte die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien.

„Lassen Sie sich zunächst von mir untersuchen. Am besten, Sie kommen so schnell wie möglich nach Chicago. Lassen Sie …“

„Goodbye, Dr. Harmon.“

„Was? Hallo? Charlotte, legen Sie nicht auf! Ich muss …“

„Ich denke, du solltest nicht gleich wieder zu arbeiten anfangen“, riet Melanie Charlotte, als die sich ein paar Tage nach ihrer Rückkehr in Kaschmirkostüm, Pumps und eleganten Handschuhen zum Ausgehen bereit machte.

„Arbeit ist genau das, was ich brauche“, widersprach sie und sah Melanie an, das Gesicht eingefallen, die Augen leicht verquollen. Ihr Blick verriet ihre Verbitterung. „Ich würde sagen, ich hatte genug Urlaub, oder?“

„Was soll ich sagen, wenn er kommt und dich sucht? Das wird er, weißt du? Er liebt dich.“

„Bitte sag so etwas nicht. Das macht mir die Sache nicht einfacher.“

„Für ihn ist es sicher auch nicht einfach. Du hast ihn verlassen.“

„Nein!“ widersprach sie heftig und schloss die Augen. Schon wieder dieser bohrende Kopfschmerz. „Ich habe ihn nicht verlassen, im Gegenteil. Er hat mich allein im Haus zurückgelassen. Ich habe ihm die Trennung nur erleichtert.“

„Aber du liebst ihn, Charlotte. Kämpfe um ihn.“

„Ob ich ihn liebe oder nicht, ist völlig unwichtig.“ Sie seufzte. „Und mein Kampfgeist ist mir abhanden gekommen.“

Melanie zog die Stirn kraus. „Du klingst nicht wie du selbst. Du bist doch die Optimistin von uns beiden. ‚Wenn du dir etwas wünschst, arbeite dafür, und du bekommst es‘, erinnerst du dich? Komm schon, Charlotte, befolge deinen eigenen Rat.“

Inzwischen traute sie ihren klugen Ratschlägen nicht mehr. „Wenn ich mich recht entsinne, warst du doch diejenige, die behauptet hat, Männer seien Schweine und lohnten keine Anstrengung. Leider habe ich viel zu spät entdeckt, wie Recht du hast.“

„Ich könnte mir dafür die Zunge abbeißen. Ich habe mich geirrt. Na ja, irgendwie. Manche Männer sind Schweine, aber viele sind es eben nicht. Michael gehört zu denen, die es nicht sind. Verhärte dein Herz nicht. Eure Beziehung war etwas Besonderes. Geh zu ihm zurück.“

„Ich möchte nur zurück an meine Arbeit.“

„Charlotte …“

„Melanie“, fiel sie ihr scharf ins Wort, „ich weiß, du versuchst zu helfen, aber so bist du mir keine Hilfe. Michael, mein Gesicht, das ist mir alles gleichgültig. Ich muss akzeptieren, dass mein Privatleben unvorhersehbar und grausam verläuft. Aber wenigstens meine Arbeit kann ich kontrollieren.“

Melanie war sichtlich besorgt. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie ich mich verhalten soll, wenn er kommt. Er wird kommen. Du hast ihn nicht erlebt, als er das letzte Mal nach dir gesucht hat. Er war außer sich.“

„Und du hast ihn nicht erlebt, wie er reglos und schweigend auf dem Bett lag. Er war grausam.“

Die Frauen sahen sich einen Moment wortlos an.

„Also, wirst du heute Dr. Harmon anrufen?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Ich werde den Eingriff nicht vornehmen lassen.“

Melanie sprang auf. „Was? Bist du verrückt?“

„Ich wäre es, wenn ich es machen ließe. Meine Schönheit ist alles, was mir geblieben ist. Ich kann darauf nicht verzichten.“

„Du bist verrückt. Nein, entschuldige. Du bist nur aufgebracht.“

„Ja, ich bin aufgebracht. Aber ich bin nicht verrückt, sondern realistisch.“

„Charlotte, deine Entscheidung ist falsch. Deine Schönheit ist doch nur eine Äußerlichkeit. Der darfst du dich nicht opfern. Das Leben ist wertvoll. Gleichgültig, was geschieht, du kannst dich freuen, am Leben zu sein.“

„Das wohl kaum.“ Sie dachte an die Rolle der Marguerite in Camille. Die hatte ihr Leiden beendet, indem sie sich der Krankheit ergab. „Es kann ein Glück sein zu sterben.“

Melanie legte erbleichend eine Hand an die Kehle. „Das ist doch nicht dein Ernst.“

„Und ob“, erwiderte sie ruhig. „Aber keine Bange, wahrscheinlich habe ich nicht das Glück, schnell hinüber zu sein. Vermutlich werde ich nur leiden.“ Sie hob den Arm und sah auf ihre Uhr. „Ich bin spät dran für meine Verabredung.“ Sie nahm ihre Aktenmappe und ging zur Tür. Dort winkte sie kurz ihrem Fahrer und wandte sich noch einmal mit sanfterer Miene zu Melanie um. „Ich weiß schon, was ich tue. Und mach dir keine Gedanken, was du Mr. Mondragon sagen sollst. Ich weise meine Sekretärin an, den Vertrag für die Gartenpflege zu kündigen. Dann braucht er gar nicht herzukommen.“ Damit trat sie über die Schwelle, stutzte aber und kam noch einmal einen Schritt zurück. „Und versprich mir, dass du ihn nicht anrufst!“

Melanie wirkte ertappt. Offenbar hatte sie genau das vorgehabt.

„Versprich es mir!“ beharrte Charlotte streng.

„Ja verflixt, ich verspreche es.“

Flüchtig lächelnd nickte sie und ging mit hoch erhobenem Kopf hinaus.

Melanie sah ihr besorgt nach, als sie abfuhr. Dank ihres Versprechens konnte sie Michael unmöglich anrufen, aber zur Hölle mit ihm, dass er Charlotte so gekränkt hatte. Auf jeden Fall würde sie in der Nähe des Telefons bleiben. Schließlich hatte sie nicht versprochen zu schweigen, falls er anrief.

Michael stieß die Schaufel in die Erde und hob einen weiteren Klumpen Lehm aus dem Graben. Schweiß stand ihm auf der Stirn und durchweichte sein Hemd. Er arbeitete schon den ganzen Tag an dem Aushub. Er brauchte die Anstrengung, er musste sich erschöpfen, um den Schmerz in seinem Innern zu betäuben.

„Was machst du da?“ fragte Bobby und kam mit langen Schritten den Weg herauf.

„Es müssen Drainagen angelegt werden.“ Er hievte noch einen Lehmklumpen beiseite, stieß die Schaufel in die Erde und machte eine Pause. Einen Ellbogen auf den Stiel gestützt, wischte er sich die Stirn. „Was willst du, Bobby?“

„Ich? Gar nichts. Mamacita möchte, dass du mit Charlotte zum Essen kommst. Ihr seid spät.“

„Wir kommen nicht.“

Bobby war verblüfft, dann verfinsterte sich seine Miene argwöhnisch. Michael sah schlecht aus. Sein Haar war fettig, er müsste sich dringend rasieren, und er sah aus, als hätte er in dem Graben, den er grub, geschlafen. Bobby blickte zur Hütte. Im Innern war es dunkel und verdächtig still. „Wo ist Charlotte?“

Michael schluckte trocken. „Weg.“

Bobby war fassungslos, unterließ jedoch jeden Kommentar. Das Schweigen sagte alles.

Michael nahm die Schaufel wieder zur Hand und lockerte Schultern und Nacken. Er mochte sich nicht erinnern, wie er sich bei der Rückkehr zur Hütte gefühlt hatte. Charlotte war fort gewesen, und der Ring hatte auf dem Tisch gelegen. Er war ihr nachgefahren, um dann … Nein. Wenn er nur daran dachte, wurde ihm schlecht.

„Wann ist sie abgereist?“ fragte Bobby.

Er stieß die Schaufel tief in die Erde. „Letzte Nacht.“

„Und du hast sie gehen lassen?“

„Ich war draußen und habe einen Spaziergang gemacht. Als ich zurückkam, war sie weg.“

„Und das war’s?“

Er erinnerte sich, wie er auf der Bettkante gesessen hatte, den Ring zwischen den Fingern, als könne er ihm verraten, wie es zu alledem gekommen war. Warum hatte sie ihn belogen? Warum hatte sie ihn verlassen? Und wie hatte sie ihn so schnell ausgerechnet mit Freddy Walen betrügen können? Als dann die Morgensonne ins Fenster schien, hatte er immer noch keine Antwort gehabt, nur einen dumpfen Schmerz im Herzen und eine gehörige Wut im Bauch. Zur Hölle mit ihr, dachte er und stieß die Schaufel wieder in die Erde. „Das war’s“, antwortete er.

„Ich glaube dir nicht. Wie könntest du sie jetzt verlassen, wo sie dich am meisten braucht?“

Michael unterbrach seine Arbeit und sah Bobby aus dem Graben an. „Du wusstest das mit ihrem Gesicht?“

Bobby nickte. „Ich habe sie zu Navarro gefahren. Sie war verzweifelt. Sie hatte Angst um ihr Leben und ihr Aussehen. Aber am meisten hatte sie Angst, dich zu verlieren. Ich war der Idiot, der ihr geraten hat, dir alles zu beichten. Ich dachte, du würdest ritterlich genug sein, ihr beizustehen.“

„Scheiße, Bobby, du hast keine Ahnung, wovon du redest.“

„Weißt du, an wen du mich erinnerst?“ fragte Bobby hitzig. „An diese Typen, die ihre Aids-infizierten Partner verlassen. Bye, bye, ich muss jetzt mein eigenes Leben führen und will dein hässliches Gesicht nicht mehr sehen.“

„Das ist nicht fair. Es geht nicht um Schönheit.“

„Sondern?“

„Es geht um die Lüge. Sie hat sich als jemand ausgegeben, der sie nicht ist.“

„Das ist doch Blödsinn, und du weißt es. Ist dir eigentlich klar, dass du ein Verhaltensmuster wiederholst, das typisch für dich ist? Sobald etwas deinen Ansprüchen nicht genügt, läufst du weg. Du kamst mit deiner mexikanischen Familie nicht klar, also liefst du weg. Du kamst mit meiner Homosexualität nicht klar, also liefst du weg.“

„Ich bin zurückgekommen.“

„Ja, allerdings, du hast etwas gutgemacht. Nachdem du darüber nachgedacht hattest. Aber das ist okay. Du bist auch nur ein Mensch. Ich halte dir zugute, dass du eingelenkt hast.“ Er machte eine Pause. „Ich hoffe, das gelingt dir auch bei Charlotte.“

„Das ist nicht dasselbe“, entgegnete er schroff mit harter Miene.

„Du bist wie eine Maya-Statue.“

„Dann wäre mein Herz wenigstens aus Stein.“

Bobby warf die Hände hoch, wandte sich erbost ab und ging davon. An der Wegbiegung blieb er noch einmal stehen, um etwas zu sagen. Er sah Michael mit ausgestreckten Armen auf die Schaufel gestützt dastehen, den Kopf gesenkt, und die Schultern bebten in stillen Schluchzern. Der Anblick brach Bobby das Herz.

„Ich will jede Menge Arbeit, Freddy“, sagte Charlotte, als sie in sein Büro stürmte und seinen erstaunten Blick ruhig erwiderte. „Sorge dafür, dass ich sehr, sehr beschäftigt bin.“

„Das ist mein Mädchen!“ Freddy klatschte lächelnd in die Hände und nahm sie zur Begrüßung in die ausgebreiteten Arme. Nach einem Moment trat er zurück und betrachtete ihr Gesicht.

„Du siehst gut aus. Viel besser als zuletzt.“ Ihr Haar war glatt zurückgekämmt und zum Knoten geschlungen, was die strahlend blauen Augen hervorhob. Sie wirkte so unaufdringlich elegant, wie er es von ihr erwartete.

„Ich sehe immer gut aus, wenn ich dem Tode nahe bin“, zitierte sie lächelnd eine Zeile aus Camille.

„Was machen die Schmerzen?“

„Ein langweiliges Thema“, wehrte sie munter ab und nahm den angebotenen Platz ein. Sie zog die Handschuhe aus, ungeduldig, das einleitende Geplauder rasch hinter sich zu bringen. „Ich unterziehe mich einer strikten Behandlung mit Kräutern und Vitaminen. Ich habe mich nie besser gefühlt und brenne darauf, wieder zu arbeiten.“ Sie lächelte zuversichtlich, um ihm zu zeigen, dass sie physisch wie psychisch wieder Herrin der Lage war. Wenn sie die Glückliche spielte, war sie es irgendwann vielleicht sogar. „Was hast du für mich?“

Erfreut beugte Freddy sich vor und drückte den Knopf der Sprechanlage.

„Wie wäre es mit einem Kaffee?“ fragte er Charlotte.

„Danke, aber für mich lieber Mineralwasser.“

Freddy gab den Auftrag weiter und kam zu ihr an den Tisch. „Ich muss gestehen, ich war besorgt.“

Sie bemerkte, wie müde er aussah. Seine Wangen waren eingefallen. Die letzten Monate, in denen sie verschwunden war, mussten schwierig für ihn gewesen sein.

„Ich weiß. Und ich bedaure das.“

Freddy schüttelte ein wenig traurig den Kopf, legte eine Akte auf den Tisch und begann sie durchzublättern. „Habe ich dir erzählt, wie ich einen Deal mit John LaMonica und Paramount abgeschlossen habe, während ihm bei Morton’s die Nase gebrochen wurde?“ Er schien es kaum erwarten zu können, die Geschichte loszuwerden.

„Nein, Freddy, hast du nicht.“ Sie zeigte höfliches Interesse.

„Also, ich rede beim Dinner mit Michael Kuhn über die Verleihrechte und herein spaziert LaMonica, nach seinen letzten Kassenschlagern stolz wie ein kleiner kecker Hahn. In seinem Schlepp …“

„Bitte Freddy, nur die geschäftlichen Details.“

„Klar, okay.“ Er lehnte sich im Sessel zurück und rückte sich die Krawatte zurecht. Charlotte sah, dass er sich einen großen Diamantring für den kleinen Finger gekauft hatte. „Kurz und knapp, du bist eine heiße Nummer. Überall munkelt man, dass du für Camille den Oscar bekommst. LaMonica wollte dich für den Actionfilm Thunder Bay haben. Ich hielt es für angebracht, dich jetzt etwas anderes spielen zu lassen, damit du deine Vielseitigkeit beweisen kannst.“ Da sie schwieg, fuhr er fort: „Der Vertrag ist allerfeinste Sahne. Siebenstellige Gage. Groß angelegter Verleih. Co-Star ist Johnny Depp. Ihr passt gut zueinander, das sagen alle.“

Charlotte hörte zu und beobachtete Freddy, der mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurückgelehnt in seinem Sessel saß, und dachte: Das ist nun also mein Leben: Verträge, Gagen, Verleihrechte, Interviews, Tratsch, das Nutzen aller PR-Chancen? Sie fröstelte und fühlte sich unendlich einsam.

„Also, was hältst du davon?“

„Fein. Wann fange ich an?“

Freddy legte sprachlos die manikürten Hände auf den Tisch. „Fein? Wann fange ich an? Das ist alles, nachdem ich mir Gott weiß was für dich aufgerissen habe?“

„Was soll ich sonst noch sagen“, fragte sie ungerührt. „Okay, ich möchte das Drehbuch sehen, dann weiß ich mehr. Ich mag Johnny. Ich bin sicher, wir werden gut zusammenarbeiten. Ich habe noch nie einen Actionfilm gedreht, aber ich werde mein Bestes geben. Reicht das als Kommentar?“

Freddy musterte sie mit schief gelegtem Kopf. „Du bist immer noch außer dir wegen diesem Frito Bandito? Ich dachte, es wäre vorbei?“ Seine Mimik verriet Unbehagen, da sie den Köder nicht schluckte. „Sag mir nicht, du bist wieder mit dem Kerl zusammen?“

„Nein. Wir sind fertig miteinander. Darüber musst du dir keine Sorgen machen.“

„Freut mich, das zu hören. Ich dachte schon, dass du und er …“

„Freddy“, unterbrach sie ihn scharf, „halten wir uns ans Geschäft, ja? Was hast du sonst noch für mich? Ich möchte so schnell wie möglich arbeiten.“

Freddy nickte ernst und schob einige Papiere auf dem Tisch hin und her. Sie wusste, er würde nicht mit ihr streiten. Schließlich war Arbeit das Einzige, was er von ihr wollte, oder?

Freddy führte Charlotte am Ellbogen von der langen schlanken Limousine zum Eingang von Cilantro, Junichis schickem neuen Restaurant an der Wharf. Luxuslimousinen säumten die Straßen. Melanie und Charlotte hatten die Feiern zur Restauranteröffnung und Premiere von Camille zusammengelegt. Große Garderobe war Pflicht, und natürlich waren alle gekommen.

Freddy blieb auf der Schwelle stehen und ließ den Blick durch den Raum schweifen, während Charlotte an der Tür mit Melanie plauderte. Er musste zugeben, dass Melanie in letzter Zeit wesentlich besser aussah als früher, weiblicher, kultivierter. Das Nuttenhafte war völlig verschwunden. Vielleicht machte das der Erfolg. Zwar begrüßte sie ihn lediglich mit einem kühlen Blick, aber was machte das schon? Auf sie kam es nicht an.

Hier im Saal sind die entscheidenden Leute, dachte er genüsslich. Er hatte alles dafür getan, den Raum voll zu bekommen. Zu seinem Leidwesen hatte Charlotte darauf bestanden, die Party hier abzuhalten. Die Dekoration war üppig und sehr geschmackvoll mit viel frischer Stechpalme und weißem Leinen. Okay, das Lokal war anständig, aber es war eben nicht Spago. Charlotte hatte gemeint, dass allen eine Veränderung gut tun würde. Er war da nicht so sicher gewesen, aber wie es jetzt aussah, hatte sie vielleicht Recht.

Auf jeden Fall war alles, was Geld und Einfluss hatte, versammelt. Am Kopftisch saßen Joel Schaeffer und einige andere Produzenten, inklusive der Weinsteins. Sie sonnten sich in den stehenden Ovationen, die der Film bei der Premiere am Abend erhalten hatte. Daneben saß eine Reihe von wichtigen Filmkaufleuten, Super-Anwälten, Geldgebern und erstklassigen Schauspielern.

Ja, dachte er beim Anblick der angeregten Mienen, ein guter Abend für das Showgeschäft. Alle waren aufgekratzt, und der Champagner floss. Nichts brachte das Blut mehr in Wallung als ein Kassenerfolg. Das Restaurant war heute Abend ein Marktplatz.

Und er brachte zweifellos die heißeste Ware mit. Gerüchten zufolge wurde Charlotte sicher als beste Schauspielerin nominiert. Zückt schon mal das Scheckbuch, Jungs und Mädels, dachte er bei sich, als Charlotte zu ihm trat, ein Lächeln auf dem Gesicht, das sogar das Glitzern ihrer Diamantkette am Schwanenhals überstrahlte.

Voller Besitzerstolz geleitete er sie durch die Menge, nickte Leuten zu, die er nicht kannte, scherzte und lachte mit denen, die er kannte. Er verübelte es den Männern nicht, dass sie Charlotte mit Blicken verschlangen. Sie konnten gar nicht anders. Und ihre neidvollen Blicke fragten: Warum hast du so viel Glück? Ist sie so gut, wie sie aussieht?

Charlotte ließ das alles würdevoll über sich ergehen. Entweder war ihr nicht bewusst, dass die Männer ihr zu Füßen lagen, oder es war ihr gleichgültig. Sie blickte geradeaus, als sei sie in einer anderen Welt. Das passte zu ihrem Image. Freddy sonnte sich in dem allgemeinen Aufsehen. Mit stolz geschwellter Brust stolzierte er triumphierend einher. Mondragon hatte nichts mehr zu melden. Charlotte gehörte ihm, und er würde sie festhalten.

Melanies Hochzeit war das Highlight der Weihnachtsfeiertage. Charlotte half ihr beim Anziehen des traumhaften Kleides.

Zeremonie und Empfang fanden im Cilantro statt. Charlotte stand in Dunkelrot als Brautführerin neben einer freudestrahlenden Melanie, und alle anwesenden Freunde und Familienangehörigen wirkten nicht weniger glücklich als das Brautpaar.

Charlotte lauschte, wie beide ihre Ehegelübde sprachen. Melanie fast triumphierend mit der Stimme eines Menschen, der nach vielen Schwierigkeiten festen Boden unter den Füßen hatte.

Welche Ironie, dachte Charlotte bei sich, dass diese strahlende, selbstsichere, leicht untersetzte Melanie bedeutend anziehender wirkte als die alternde Schauspielerin Melanie, die sich sklavisch den Schönheitsidealen Hollywoods untergeordnet hatte und daran fast zerbrochen wäre. Die heutige Melanie wirkte echt und lebenserfahren und mochte sich selbst und ihre Mitmenschen.

Charlotte weinte in ihr Taschentuch und schniefte mehr als Junichis Mutter, die an Tränenmenge knapp den zweiten Platz belegte. Die Gäste hielten sie nur für sentimental, doch Melanie wusste es besser und war erst erleichtert, als Charlotte sich gefangen hatte und die Gäste beim Empfang begrüßte.

„Du bist eine wunderschöne Braut“, schwärmte Charlotte, als sie mit Melanie allein war.

„Darf ich dich an dein Zitat erinnern, dass unsere wahre Schönheit daran zu erkennen ist, welche Freunde wir im Leben haben?“ Sie umarmten sich und hielten sich einen Moment fest.

„Du bist meine beste Freundin“, flüsterte sie Charlotte zu, wich ein wenig zurück und wischte sich die Augen. „Und uns deine Anteile am Restaurant zu schenken, ist sehr großzügig. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Junichi nennt es meine Mitgift.“

„Versprich mir nur, glücklich zu sein.“

„Das bin ich. Und denk bitte nicht, dass ich dich im Stich lasse. Ich bin nur am anderen Ende der Stadt.“ Sie drückte Charlotte die Hände. „Du bist nicht allein.“

Charlottes Augen schwammen in Tränen, doch sie lächelte tapfer. „Natürlich nicht.“

Junichi kam, entschuldigte sich und entführte Melanie zu einem lächelnden Paar für ein gemeinsames Foto. Die vier umarmten sich und wirkten sehr vertraut miteinander. Charlotte bemerkte die verstohlenen Blicke und das Getuschel der anderen Gäste. Offenbar erkannte man sie, wagte aber nicht, sie anzusprechen. Natürlich hielten sie es für höflich, sich einer Berühmtheit nicht zu nähern. Sie gehörte nicht zu ihnen.

Charlotte trat ein wenig beiseite und betrachtete die Party aus einer ruhigen Ecke. Als sie die Gäste in Trauben beisammenstehen und angeregt schwatzen sah, dachte sie an eine Weihnachtsparty im kalten Chicago vor vielen Jahren. Ihr Frösteln hatte jedoch nichts mit dem kühlen Dezemberwind zu tun, der draußen an den hölzernen Fensterläden rappelte. Sie erkannte nur plötzlich, dass sie heute als bildschöne Frau ebenso einsam war wie früher als hässliche.