6. KAPITEL
Es war ein langes Jahr der Erholung für Charlotte geworden mit langsamen und qualvoll schmerzhaften Fortschritten, vielen Medikamenten, Untersuchungen und monatelangen kieferorthopädischen Anpassungen. Kurz nach dem Eingriff hatte es einen kleinen Rückschlag gegeben, als sie eine Abwehrreaktion auf das Nahtmaterial entwickelte. Doch sie hatte alles klaglos ertragen und vom nächsten Schritt in ihrem Lebensplan geträumt.
Und der Zeitpunkt war gekommen, ihn zu tun.
„Du ziehst wohin?“
Charlottes Hand verharrte über dem Spülbecken. Seifenwasser lief in kleinen Rinnsalen ihren Unterarm entlang und durchweichte die aufgerollten Ärmel ihrer gestärkten weißen Bluse. Sie blickte über die Schulter und sah ihre Mutter in straffer Haltung und mit wütendem Blick dastehen. Charlotte presste das Wasser aus dem Spülschwamm. „K … Kalifornien“, stammelte sie.
„Weißt du, wie weit das von Chicago, von allen Bekannten und von mir entfernt ist?“
Helena schlug sich das blau-weiß gestreifte Küchentuch gegen den Schenkel. Charlotte wandte den Kopf ab und senkte den Blick auf den kleinen Schaumberg, der im Spülbecken über das weiße Frühstücksgeschirr schwamm.
„Was weißt du schon, wie es ist, von zu Hause wegzugehen? Es ist schwer und grausam für junge Frauen, allein zu leben. Man wird nur ausgenutzt.“ Helenas Augen glitzerten feucht. „Du weißt nicht, wovon du sprichst.“
„Ich … ich bin nicht allein. Dr. Harmon hat mir Namen und Adresse eines großen Agenten in Hollywood gegeben. Außerdem schreibt er mir einen Empfehlungsbrief.“
„Wieder dieser Dr. Harmon!“ Helena sprach den Namen hasserfüllt aus. „Alles dreht sich bei dir um Dr. Harmon.“
„Mutter, bitte! Fang nicht wieder damit an …“ Charlotte sah die Miene ihrer Mutter so hart werden, dass es ihr Angst machte.
„Du glaubst ihm mehr als mir. Was ich sage, ist nicht mehr wichtig. Ich bin ja nur deine Mutter. Ich habe dir ja nur das Leben geschenkt, gebe dir Dach über Kopf und etwas zu essen in Bauch. Welches Recht habe ich schon auf Meinung? Du änderst dein Gesicht, deine Arbeit und jetzt auch noch, wie und wo du lebst. Kalifornien!“ Kopfschüttelnd stemmte sie die Hände auf die Hüften, als dächte sie an etwas Bestimmtes. „Ein Empfehlungsschreiben! Ha!“
Charlotte fühlte sich eingeengt, fast erstickt vom starken Willen ihrer Mutter. „Ich wollte immer Schauspielerin werden.“
Helena schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. „Du bist keine Schauspielerin, Charlotte. Du hast nur kleine Hilfsjob bei Theater gehabt. Hör auf zu träumen. Warum bist du nicht zufrieden als Buchhalterin? Es ist gute Arbeit. Das genügt für Leute wie uns. Du kannst nicht einfach Schauspielerin werden.“
„Mama, ich kann es schaffen. Warum sagst du mir immer, was ich nicht kann?“
„Weil ich es besser weiß. Und ich will nicht, dass man dir wehtut.“
„Ich möchte es versuchen.“
Helena straffte sich und warf das Handtuch auf die blitzblanke Arbeitsplatte. „Nein!“ erklärte sie scharf und traf die Entscheidung für beide. Sie nahm die breiten Schultern zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. „Du ziehst nicht nach Kalifornien, wo man macht Filme und führt wildes Leben.“ Sie wischte sich die großen Hände an der Schürze ab, als sei allein die Vorstellung schmutzig. Mit einem vorwurfsvollen Blick fuhr sie fort: „Und du wirfst alberne Liste weg, die du in deinem Zimmer versteckst. Ja, ja, ich habe sie gesehen. Du schreibst auf, was du alles verändern willst.“
Charlotte erbleichte bei dem Gedanken an ihre Wunschliste, auf der sie Ziele und Träume notiert hatte. Der kleine Raum der verhassten Wohnung schien noch kleiner zu werden, erdrückte sie geradezu. „Du durchwühlst meine Sachen, in meinem Zimmer? Das … das ist meine Privatsphäre! Das ist unverzeihlich. Ich bin kein Kind mehr! Wie kannst du so etwas tun?“
„Wage nicht, Stimme zu heben gegen mich! Ich bin deine Mutter! Das hier ist meine Wohnung und darin ich mache, was ich will!“
Charlotte sah rot. Sie hatte nicht jahrelang freiwillig ihren Lohnscheck an die Mutter abgegeben, um sich jetzt sagen zu lassen, dass sie nicht mal in ihrem Zimmer ein Recht auf Privatsphäre hatte! Von einem Recht auf eigene Entscheidungen ganz zu schweigen. Das schmerzte. Sie fühlte sich bloßgestellt, nackt. Die Liste war ihr größtes Geheimnis, außer …
Errötend dachte sie daran, dass auch ihr Tagebuch in der Schublade lag. Sie nahm die Hände aus dem Spülwasser und sah ihre Mutter vorwurfsvoll an. „Du hast mein Tagebuch gelesen?“
Helena verriet sich. Schuldgefühle trieben ihr die Schamröte ins Gesicht, und sie trommelte nervös mit den Fingern.
Charlotte konnte sie nicht länger ansehen. Sie trocknete sich die Hände und fragte stakkatoartig. „Du weißt, was mir zugestoßen ist? Die Sache mit Lou Kopp?“
„Schmutzig. Dieser schmierige Mann. Hoffentlich hast du daraus gelernt.“
„Ob ich gelernt habe?“ schrie sie gekränkt. „Das Einzige, was ich gelernt habe, war, mich nie mehr benutzen zu lassen! Von niemandem!“
Helenas blassblaue Augen wirkten eisig.
„Ich kann so nicht weitermachen“, erklärte Charlotte. „Mein Entschluss steht fest, ich gehe nach Kalifornien.“
„Undankbare Schlampe!“ stieß ihre Mutter mit solcher Vehemenz hervor, dass Charlotte unwillkürlich gegen den Küchenschrank zurückwich. „Du kehrst mir Rücken zu, nach allem, was ich für dich durchgemacht habe? Du warst Strafe für mich, das wusste ich, als ich dein Gesicht sah. Habe ich dir Rücken gekehrt? Nein!“
„Deine Strafe? Wie konnte mein Gesicht deine Strafe sein? Ich habe gelitten, nicht du!“
„Du weißt gar nichts!“ spie Helena aus. Sie atmete tief durch und erwog, es dabei bewenden zu lassen. Doch in ihrer Wut kannte sie keine Selbstbeherrschung mehr. Aggressiv machte sie zwei Schritte auf Charlotte zu und blieb vor ihr stehen.
„Du glaubst, du weißt alles. Du willst dein Leben ändern? Dann du sollst wissen alles.“ Die Augen leicht verengt, zeigte sie vorwurfsvoll mit dem Finger auf sie.
Charlotte wich zurück und wusste instinktiv, dass eine Kränkung folgte.
„Dein Vater hat mich nicht geheiratet. Wegen dir musste ich verlassen meine Familie und mein Land. Ich habe alles zurückgelassen, um herzukommen und allein zu leben. Um dich zu bekommen. Dich! Ich hatte auch nur lausiges Empfehlungsschreiben. Es hat mir nicht geholfen. Ja, ich habe gelitten!“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte voller Selbstmitleid. „Dein Gesicht war Strafe für meine Sünde. Weil ich Kind bekommen habe außerhalb von Sakrament der Ehe.“
Charlotte kam sich vor wie auf einem verrückten Karussell. Jemand schien zu rufen: „Bastard! Bastard!“ Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
„Darum war ich gegen Operation“, jammerte Helena. „Gottes Wille sollte geschehen.“
„Gottes Wille? Was ist mit deinem Willen oder meinem?“ Charlotte stieß sich vom Schrank ab, drehte sich um und wollte hinauslaufen.
„Wenn du nach Kalifornien gehst“, rief Helena ihr nach, „du bist hier nicht mehr willkommen. Wenn du gehst, du bist keine Godowski mehr!“
Charlotte blieb stehen, drehte sich langsam um und trotzte dem harten Blick ihrer Mutter. „Offenbar bin ich ohnehin keine Godowski“, erwiderte sie leise. „Ich weiß nicht, wer ich bin. Aber ich versichere dir, Mutter, ich werde es herausfinden.“
Zwei Tage später kam Charlotte in Los Angeles an. Als sie, die Tasche in der Hand, aus dem Taxi stieg, hoffte sie, dass kein Passant ihr Herzklopfen hören oder ihre Verzagtheit merken konnte. Ein flüchtiger Blick auf die verknickte Visitenkarte in ihrer Hand, ja, das war die richtige Adresse: Freddy Walen, Talent-Agentur.
Sie dachte an das kleine schüchterne Mädchen, das sie gewesen war, und hatte plötzlich Angst vor der eigenen Courage. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Nervös legte sie den Kopf weit in den Nacken, um an dem riesigen Granitgebäude hinaufzusehen. Nun ja, war das nicht genau die Frage, die sie beantworten wollte?
Sie verdrängte die Erinnerung an das kleine Mädchen, betrat energisch das Gebäude, eilte durch die Marmorhalle und ließ sich vom Fahrstuhl in die obere Etage bringen, wo ein poliertes Messingschild sie informierte, dass sich hier die Büros von Freddy Walen befanden. Eine junge Frau mit ebenso üppigen Brüsten wie Lippen maß sie mit einem forschenden Blick.
„Ich möchte Mr. Walen sprechen. Er erwartet mich.“
„Ihr Name?“
Charlotte wappnete sich vor Gelächter oder geringschätzigen Gesten, als sie ihren neuen Namen nannte. „Charlotte Godfrey.“
„Sie können hineingehen“, sagte die Sekretärin, ohne aufzublicken. „Er erwartet Sie.“
Mit Herzklopfen und Magenschmerzen mahnte sie sich zur Ruhe. Du bist vorbereitet. Du schaffst das. Sie zog ihre Jacke zurecht und ging erhobenen Hauptes an der Sekretärin vorbei. Nach kurzem Anklopfen betrat sie das Büro von Freddy Walen.
Der Raum war entschieden maskulin mit einer Sitzgarnitur aus braunem Leder sowie Schreib- und Ecktisch in dunklem Holz. Über dem Sofa hing ein spektakulärer Marlin. An strategisch günstigen Plätzen waren Golftrophäen verteilt. Freddy Walen hatte offenbar ein großes Ego.
Charlottes Blick huschte über die schwarz gerahmten Fotos an der gegenüberliegenden Wand. Einige Stars kannte sie, große Namen, viele längst vergessen oder verstorben. Wäre sie nicht ein alter Filmfan gewesen, sie hätte die meisten nicht gekannt. Sie entdeckte die vertrauten Gesichter einiger Charakterdarsteller, an deren Namen sie sich aber nicht erinnerte. Keine Wynona Rider, kein Brad Pitt, und auch sonst niemand aus der aktuellen neuen Schauspielerriege.
Charlotte verzog die Lippen und bemerkte weitere, verräterische Details. Das abgewetzte Leder, die Staubmäuse in den Ecken und die sterbende Dieffenbachia am Fenster. Das hier war das Büro eines Absteigers. Schließlich war es schwer, eine Dieffenbachia umzubringen.
„Willkommen in Kalifornien“, sagte eine Stimme aus der Ecke.
Sie drehte den Kopf und entdeckte einen Mann mit breiter Brust, in den Fünfzigern. Er lehnte an der Wand und musterte sie. Auf eine geschniegelte, altmodische Art sah er gut aus. Die Sorte Mann, die Slipper an den Füßen trägt, weite, maßgeschneiderte Hosen und Kaschmirpullover, die die Muskulatur an Armen und Brust betonen.
„Setzen Sie sich.“
Erschrocken über den schroffen Ton, spürte sie sich erbleichen. Nicht nervös werden, sagte sie sich, spiel deine Rolle. Sie schritt mit einer Eleganz zum Sofa, die Grace Kelly neidisch gemacht hätte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, was er sah: die zu breiten Revers ihrer Jacke und die altmodischen Pumps. Sie hatte erwogen, sich neue Schuhe zu kaufen, stattdessen jedoch lieber anständig gegessen. Trotzdem bewegte sie sich, als trüge sie Haute Couture. Es kommt nicht darauf an, was du trägst, sondern wie du es trägst, hatte sie mal in einer Zeitschrift gelesen.
Das Ledersofa seufzte, als sie Platz nahm und den Rock ordentlich unter die Schenkel stopfte. Man musste es ja nicht übertreiben.
Ein Lächeln umspielte Freddy Walens Mund, dass sich der dunkle Schnauzbart hob. Sie argwöhnte, dass er sie durchschaute, jedoch mitspielte. Warum bloß? Er hatte dunkelblondes, grau meliertes Haar, das er zurückgekämmt trug. Vor allem die Gesichtsbehaarung verlieh seinem Aussehen jedoch etwas Einschüchterndes. Die dichten dunklen Brauen und der Bart waren ein deutlicher Kontrast zu den blassblauen Augen. Als er so auf sie herabsah, hatte sie das Gefühl zu schrumpfen.
„Sie sehen gut aus, haben ein hübsches Gesicht und schöne Zähne“, sagte er zur Eröffnung und durchquerte den Raum. Er setzte sich auf das Sofa ihr gegenüber, lehnte sich zurück und breitete in einer besitzergreifenden Geste beide Arme über der Lehne aus. „Aber Ihre Füße sind zu groß, und Sie gehen wie ein Mann.“ Er drehte die Handflächen nach oben. „Alles in allem würde ich sagen, Harmon hat Recht. Aus Ihnen kann man was machen.“
Verblüfft starrte sie auf ihre großen Füße.
„Sie sind aus Chicago, richtig? Gute Theater dort. Im Brief steht, dass Sie in einer Art Off-Broadway-Produktion mitgewirkt haben.“
„Ja, das stimmt.“ Irgendwie, fügte sie im Stillen hinzu und faltete die Hände auf dem Schoß.
„Unterricht? Studioarbeit?“
„Natürlich, steht alles in meinen Unterlagen.“ Charlotte beugte sich vor und holte sie aus ihrer Tasche.
„Legen Sie alles auf den Tisch, ich sehe es mir später an.“ Er strich sich übers Kinn und betrachtete sie versonnen. Dann stellte er ihr ein paar Fragen nach Rollen, die sie gespielt hatte, sowie Umfang und Methode ihrer Arbeit. Auf dem langen Flug von Chicago hatte sie sich darauf vorbereitet und antwortete mit Bedacht. Sie war sich mit Dr. Harmon einig gewesen, die chirurgische Veränderung ihres Gesichtes zu verschweigen. Keinesfalls wollte sie als eine weitere auf Hollywoodgeschmack Getrimmte oder gar als Betrügerin dastehen. Dr. Harmon hatte sie gewarnt, sollten die Klatschmäuler etwas herausbekommen, würde man sie als Schauspielerin nicht mehr ernst nehmen, sondern nur noch nach ihren Narben suchen.
„Kommen Sie, Sie brauchen hier nicht nervös zu sein“, machte Freddy Walen ihr Mut und missverstand ihr Zögern als Schüchternheit. Schwach lächelnd fügte er mit leuchtenden Augen hinzu: „Ihre Stimme ist auch gut. Sehr sexy.“
Sie rückte sich zurecht, eine kleine Bewegung, die Distanz schaffte. Versuchte er sie anzubaggern? Seit Neuestem widerfuhr ihr das häufiger, bei jungen wie alten Männern. Allerdings starrte Freddy Walen weder auf ihre Brüste, noch rückte er ihr auf die Pelle. Er betrachtete sie, wie Dr. Harmon es getan hatte, klinisch, professionell.
„Das sagte man mir bereits“, erwiderte sie ruhig.
„Darauf möchte ich wetten. Das und vermutlich noch einiges mehr.“ Er wurde ernst. „Es ist jedoch unwichtig, ob Ihr Freund daheim oder der örtliche Priester Sie für das Größte seit Erfindung des Wagenrades halten. In dieser Stadt ist ausschlaggebend, dass die richtigen Leute – die mit Beziehungen – Sie für etwas Besonderes halten und Sie mit anderen wichtigen Leuten bekannt machen. Hier läuft alles über Beziehungen. Und …“, er lehnte sich zurück und überkreuzte die Beine an den Knöcheln, „… Talent schadet nicht.“
Charlotte lehnte sich ebenfalls zurück. In diesem Punkt nahm sie die Herausforderung an. „Ich habe Talent.“
Sekundenlang sahen sie sich in die Augen.
Er war sehr interessiert.
Sie war eifrig.
Er hatte die Möglichkeiten.
Sie die Fähigkeiten.
Die Würfel fielen.
Er strich sich noch einmal über das Kinn, griff nach dem Telefonhörer und fragte seine Sekretärin: „Hat Melanie Ward schon eine neue Mitbewohnerin gefunden? Nein? Dann pass auf, ruf sie an und sag ihr, dass ich jemanden für sie habe. Charlotte Godfrey. Ja, die Lady, die bei mir ist. Sag Mel, dass ich sie gleich bei ihr vorbeibringe.“
Charlotte hörte all das mit großen Augen. Auch wenn er sie nicht als Klientin nahm, so hatte Dr. Harmons Brief ihr doch zumindest eine Bleibe verschafft.
„Ich habe eine hübsche Wohnung für Sie“, erklärte Freddy und legte auf. „Es ist ein kleines gemietetes Haus oben im Norden. Sie werden allerdings ein Auto brauchen, aber trotzdem, willkommmen in L.A. Melanie hat zwar eine kleine Schraube locker, ist aber ganz okay. Sie ist eine meiner Klientinnen und schon lange hier. Sehr gebildet ist sie gerade nicht, dafür sehr bewandert in allem, was man in dieser Stadt wissen muss: Publicity, Werbung, wer die wichtigen Leute sind. Ihre Karriere läuft nicht besonders.“ Er zuckte die Achseln. „Für ältere Starlets gibt es nicht viel zu tun. Sie könnte eine Mitbewohnerin gebrauchen. Das ist zu beiderseitigem Nutzen.“
„Verstehe. Vielen Dank.“ Sie räusperte sich, beschämt über die Frage, die sie jetzt stellen musste. „Entschuldigung, aber wie hoch ist die Miete?“
„Machen Sie sich darum keine Gedanken. Jacob zahlt.“
„Dr. Harmon?“ Davon hörte sie zum ersten Mal. Ihr Stolz ließ ein solches Arrangement nicht zu. „Nein“, widersprach sie entschieden. „Das ist nicht in Ordnung.“
„Schauen Sie, Kleines, so was wird ständig gemacht.“
„Nicht mit mir“, entgegnete sie scharf und beendete damit jegliche Spekulation über ihre Beziehung zu Dr. Harmon, oder was ihm sonst durch den Kopf ging. „Ich zahle meine Miete selbst, danke.“
Freddy neigte den Kopf zur Seite und maß sie mit einem interessierten Blick. In seinen Augen lag ein besonderer Ausdruck, eine Art Belustigung und etwas anderes, das sie nicht recht deuten konnte. „Kein Problem“, erwiderte er leichthin. „Dann machen Sie das mit Melanie aus.“
Sie nickte und wirkte selbstsicherer, als sie war. „Danke, Mr. Walen. Wenn ich Sie noch um einen Gefallen bitten dürfte. Ich … ich brauche einen Job. Sofort. Ich nehme jede anständige Arbeit an, die einigermaßen bezahlt wird. Ich bin ausgebildete Buchhalterin und kann Ihnen beste Referenzen geben. Inzwischen könnte ich jede Sekretariatsarbeit machen …“
„Was soll das Gerede über Buchhaltung? Für was halten Sie das hier? Eine Arbeitsvermittlung? Sie kamen als Schauspielerin zu mir. Sind Sie eine oder nicht?“
„Natürlich! Es ist nur so … ich dachte … Ich mache mir keine Illusionen.“
Ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Illusionen sind meine Spezialität.“
Er beugte sich vor und betrachtete sie, als habe er auf das richtige Pferd gesetzt. Nein, korrigierte sie sich, Freddy Walen ist keiner, der wettet. Er ist der Besitzer des Pferdes. Sie erkannte seine vermeintliche Belustigung als Vorfreude auf die Möglichkeiten, die sie ihm bot.
„Sagen Sie, Miss Godfrey, arbeiten Sie gern? Und hart?“
„Ich bin ein sehr harter Arbeiter“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
„Gut, denn was mir vorschwebt, bedeutet viele Stunden harte Arbeit und völlige Hingabe an die Sache. Sind Sie dazu bereit?“
Sie nickte.
„Dann geben Sie mir Ihre Hände.“ Er beugte sich vor und streckte die Arme aus. Nach kurzem Zögern reichte sie ihm über den kleinen Tisch hinweg ihre Hände. Seine langen, eleganten Finger schlossen sich besitzergreifend um ihre. Sie spürte eine starke, eigenartige Verbindung zu diesem Mann.
„Sie haben das gewisse Etwas“, schwärmte er und fügte eifrig hinzu: „Sie müssen lernen, wie man geht und spricht, wie man sich kleidet und wie man lächelt. Ja, besonders das. Sie brauchen ein verführerisches Lächeln, das zu Ihrer Stimme passt. Ich kann etwas Besonderes aus Ihnen machen.“ Ihre Skepsis brachte ihn zum Lachen. „Ihre Hände zittern. Haben Sie Angst? Wie alt sind Sie?“ Er ließ ihre Hände los.
„Einundzwanzig.“
„Wunderbar. Ich bin alt genug, Ihr Vater zu sein. Aber das bin ich nicht. Ich bin Geschäftsmann. Ich vermarkte Menschen. Sie sind eine Investition für mich. Nach meinem Tod wird man mich als den Mann in Erinnerung behalten, der Sie der Welt geschenkt hat. Glauben Sie, dass ich das schaffe?“
Sie glaubte es. Warum sollte nicht noch ein Wunder geschehen, nachdem Dr. Harmon bereits eines bewirkt hatte. Sie nickte aufgeregt.
Er sah sie durchdringend an. „Sie müssen mir versprechen, dass Sie von heute an tun, was ich Ihnen sage. Schwören Sie.“
„Ich schwöre“, erwiderte sie ehrfurchtsvoll. Natürlich machte Freddy Walen dieses Angebot nicht der hässlichen, schüchternen Charlotte Godowski aus Chicago. Die wollte keiner. Solche Angebote bekamen nur hübsche, willensstarke Frauen wie Charlotte Godfrey.
„Unser Abkommen geht über einen puren Vertrag hinaus. Es ist eine Verpflichtung mit Leib und Seele.“
Sie wäre gern begeistert und impulsiv darauf eingegangen, doch inzwischen war sie vorsichtig geworden. Ihre natürliche Zurückhaltung war ein nützlicher Schutzschild für ihr sentimentales, romantisches Naturell. „Sie verlangen absolutes Vertrauen, Mr. Walen. Aber ich bin nicht mehr blauäugig. Schließlich geht es hier ums Geschäft.“
Freddy lächelte, angetan von ihrer Intelligenz und Offenheit. „Miss Godfrey, hat man Sie jemals übers Ohr gehauen?“
„Sogar über den ganzen Kopf, Mr. Walen. Sagen wir, unser Arrangement ist eine stillschweigende Übereinkunft.“
Er lachte herzhaft und reichte ihr die Hand. „Also abgemacht?“
„Mr. Walen“, erwiderte sie und schüttelte die Hand fest, „der Handel gilt.“
„Kleines, Handel ist sozusagen mein zweiter Vorname“, scherzte er mit schiefem Lächeln.
Freddy Walen fuhr Charlotte über den verstopften Freeway aus der Stadt, einen unwirtlichen Berg hinauf, zu ihrem neuen Zuhause. Der kraftvolle Mercedes meisterte die zahllosen Serpentinen zwischen Zypressen und Pinien mühelos. Gegen Ende der vierzigminütigen Fahrt bogen sie scharf in einen schmalen Weg ein, der kaum breit genug war für den schwarzen Wagen. Steine knirschten unter den Rädern, als sie einen letzten steilen Anstieg erklommen. Charlotte sah sich um und atmete tief durch, um ihren Puls zu beruhigen.
Das Grundstück war vornehmlich mit hohem Gras bewachsen. In einiger Entfernung stand am Rande eines Hangs ein lang gestrecktes Haus aus den Sechzigern mit bröckelndem hellen Verputz. Den Eingang zierte eine breite, dicht von Blauregen umschlungene, verrottende Pergola.
„Da wären wir“, erklärte Freddy und zog auf der steilen Zufahrt die Handbremse an. „Sieht nicht berühmt aus, ich weiß, aber es ist ein schöner Platz. Sehen wir’s uns an.“
Während sie über den Kiesweg gingen, sah Charlotte, in welch schlechtem Zustand das Haus war. Die gelbliche Farbe an den kleinen Fenstern blätterte ab. In den Ecken der vorderen Terrasse lagen Schmutz und Abfall, und der Fliegendraht in der Tür war eingerissen und an den Ecken aufgebogen. Wenn sie große Erwartungen gehabt hätte, wäre sie über die Schäbigkeit ihrer neuen Bleibe enttäuscht gewesen. Doch sie hatte nichts erwartet.
Für jemanden, der sein Leben in einer mickerigen Wohnung an einer Buslinie verbracht hatte, war das hier ein richtiges Haus. Sie schnupperte. Frühlingsduft lag in der Luft. In den austreibenden Bäumen sangen die Vögel, und Charlotte fühlte sich willkommen. Den Koffer in der Rechten, presste sie mit der Linken einen kleinen Margaritenstrauß ans Herz.
Freddy schlug dreimal mit der Faust gegen die Eingangstür und wartete. Nach kurzer Zeit öffnete eine hübsche kleine Sexbombe mit rötlich blondem Haar und braunen Augen. Als sie Freddy sah, lehnte sie sich aufreizend gegen den Türrahmen. Unter dem übergroßen T-Shirt kam eine schmale Taille zum Vorschein.
„Freddy … lange nicht gesehen.“
„Melanie Ward, ich möchte dir Charlotte Godfrey vorstellen.“
Charlotte lächelte höflich und fand Freddys Art stilvoll, wenn nicht gar galant.
„Sie sind also meine neue Mitbewohnerin“, sagte Melanie und musterte sie ungeniert. Ihre Stimme klang unnatürlich, sehr hoch und hingehaucht. „Die hatte ich seit der Schulzeit nicht mehr. Jedenfalls keine weiblichen. Und fragen Sie nicht, wie lange das her ist. Ich bin kein Freund von Altersangaben.“ Mit dieser Erklärung stieß sie sich vom Türrahmen ab und reichte ihr eine zarte, üppig beringte Hand mit rosa Nägeln. „Also, Charlotte Godfrey, willkommen in L.A..“
Charlotte merkte gleich, dass Melanie älter und welterfahrener war als sie. Ihr Alter ließ sich allerdings nur erahnen. Sie war angezogen, als sei sie bei Aerobicübungen gestört worden. Ihr hinreißender Körper war so straff wie der eines jungen Mädchens. In den von kleinen Fältchen umgebenen Augen las Charlotte jedoch eine Wärme, die nur einem großen Herzen entspringen konnte.
Sie schüttelte ihr kräftig die Hand, dankbar für die herzliche Aufnahme.
Melanie schien überrascht von Charlottes Überschwang. Sie schürzte die vollen Lippen und sah sie forschend an. „Ich muss unbedingt Ihr Horoskop erstellen. Sie wissen schon, Zwillinge, Wassermann, Schütze, die Stellung von Mond und Planeten. Sterne lügen nie, im Gegensatz zu Männern“, fügte sie hinzu und bedachte Freddy mit einem viel sagenden Blick.
„Nun ja, ich kriege Hautkrebs hier in der Sonne“, entgegnete der. „Also, könntet ihr Mädels mit diesem Esoterikkram weitermachen, nachdem ich weg bin? Ich habe noch ein paar wichtige Telefonate zu erledigen.“ Er wandte sich an Charlotte und ignorierte die sichtlich gereizte Melanie. Sie schien für Freddy nicht mehr wichtig zu sein, ein Umstand, dessen sie sich wohl bewusst war. „Ich möchte einige Dinge für Sie ausloten, Charlotte. In einigen Tagen bin ich zurück und sage Ihnen Genaueres. Bis dahin wird Melanie Ihnen alles zeigen und Ihnen helfen, sich zurechtzufinden. Nicht wahr, Mel?“
„Sicher, Freddy.“
„Sie kommen groß raus, das verspreche ich Ihnen. Pass gut auf sie auf!“ rief er Melanie über die Schulter hinweg zu und marschierte zu seiner Luxuskarosse.
Melanie stieß kopfschüttelnd einen leisen Pfiff aus und betrachtete Charlotte mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. „Junge, Junge, Mädel. Der alte Jagdhund hat seine Fährte aufgenommen.“
Charlotte konnte nur verständnislos müde blinzeln. Der lange Flug, die Aufregungen des Tages und die Stunden ohne Schlaf verlangten plötzlich ihren Tribut.
„Macht nichts, Kleine. Mit der Zeit wirst du schon kapieren. Komm herein, und mach es dir gemütlich.“ Sie trat beiseite und ließ Charlotte eintreten.
„Hier, die sind für dich.“ Charlotte übergab ihr im Vorbeigehen den kleinen Margaritenstrauß. „Ich konnte nicht viel ausgeben, aber ich wollte auch nicht mit leeren Händen kommen. Ich fürchte, sie sind schon ein wenig angewelkt.“
Melanie ging das Herz auf. Sie zupfte an den schlaffen Blättern. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Blumen geschenkt bekommen habe.“
Sie hielt sie an die Nase. Charlotte wusste, dass sie nicht dufteten, und wünschte, sie hätte sich Rosen leisten können.
„Weißt du, Charlotte Godfrey“, begann Melanie mit einem schwachen Lächeln, „ich glaube, wir kommen miteinander aus.“