Kyra fuhr herum und sah Nils umherhüpfen und seine Hand schütteln – das heruntergebrannte Streichholz hatte ihm die Fingerspitzen versengt. Jetzt lag das Hölzchen am Boden, die Flamme zuckte noch einmal und erlosch.

Erneute Finsternis.

»Kyra? Nils?«

Aber das war doch … Chris’ Stimme!

»Seid ihr hier irgendwo?«, fragte gleich darauf auch Lisa irgendwo im Dunkeln.

Poltern ertönte, dann fluchten alle beide.

»Wir sind hier«, sagte Kyra mit schwacher Stimme. »Wir sind … hier!«

Nils riss das nächste Streichholz über die Schachtel, und diesmal gelang es ihm endlich, alle drei Kerzen zu entzünden.

Chris und Lisa blinzelten. Beide waren über und über mit Ruß und Spinnweben bedeckt. Sie standen vor dem offenen Kamin und schauten sich irritiert um.

»Wo ist –«, begann Lisa, aber Kyra fiel ihr ins Wort: »Fort.« Sie zog sich auf die Füße und taumelte zu Nils, half ihm beim Aufstehen. Chris und Lisa eilten auf die beiden zu.

Nils starrte Kyra an. »Wie hast du das gemacht?«

Sie berichtete allen dreien vom Schädel des Barons.

»Woher hast du gewusst, welche Wirkung das auf das Biest haben würde?«, fragte Chris.

»Ich hab’s nicht gewusst.«

Nils fuhr sich entnervt mit beiden Händen durchs Haar. Ruß stob auf. »Sie hat’s nicht gewusst. Na, wunderbar.«

Kyra lächelte ihn an. »Als ich das Gerippe im Zentrum des Pentagramms liegen sah, ist mir klar geworden, dass es ein Teil des Rituals gewesen sein musste. Versteht ihr? Der Baron hat sich selbst geopfert, um den Dämon heraufzubeschwören. Er hat seinen eigenen Tod in Kauf genommen – wohl in der Hoffnung, der Dämon würde ihn aus Dankbarkeit wieder zum Leben erwecken.« Sie zuckte grinsend die Achseln. »Für jemanden, der sich sein ganzes Leben mit Dämonologie beschäftigt hat, war er ganz schön gutgläubig.«

»Verkalkt«, korrigierte Chris. »Der Kerl war … wie alt? Hundertdrei?«

Lisa nickte. »So stand’s in Großvaters Aufzeichnungen.«

Kyra fuhr fort: »Das Skelett war Teil des Rituals. In dem Moment, da der Schädel zerstört wurde, war die Beschwörung zunichte gemacht. Der Dämon wurde dorthin zurückgerissen, woher er gekommen war.«

»Aber er ist nicht vernichtet, oder?«

»Er ist fort. Das ist die Hauptsache«, sagte Kyra und fügte nach einem Moment etwas leiser hinzu: »Hoffentlich.«

Nils wandte sich ab und ging über das Pentagramm zu den Überresten des Gerippes. Mit beiden Füßen begann er, die Knochen blindwütig zu Staub zu zertrampeln.

Die anderen starrten ihn aus großen Augen an.

»Nur zur Sicherheit«, meinte er atemlos.

Noch immer sagte keiner ein Wort.

Nils räusperte sich und schabte den Staub mit den Füßen zu einem Haufen zusammen.

Dann fragte er verlegen: »Hat irgendwer hier unten einen Besen gesehen?«

 

Zwei Tage später saßen Chris und Kyra in Tante Kassandras Teeladen. Von draußen drang plötzlich ein Scheppern herein.

Lisa und Nils ließen ihre Fahrräder auf den Bordstein fallen und stürmten durch die Tür. Das Glöckchen über dem Eingang läutete Sturm.

»Sie sind zurück!«, platzte Nils heraus.

Kyra und Chris wurden stocksteif. »Die Dämonen?«

Lisa lachte. »So ähnlich. Unsere Eltern.«

Kyra warf Chris einen Blick zu. Beide seufzten erleichtert.

Tante Kassandra kam mit einer dampfenden Teekanne aus dem Hinterzimmer. »Dachte ich mir doch, dass ihr zwei heute noch hier auftaucht. Ich hab extra ein paar Tassen mehr gekocht.« Wie üblich gab sie vor, den gequälten Gesichtsausdruck der Geschwister nicht zu bemerken. Ihre Teemischungen waren bei den Kindern berüchtigt für ihre Ungenießbarkeit.

Kyras Tante trug wie immer eines ihrer naturfarbenen Leinenkleider. Ihr hellrotes Haar war mit zahllosen Spangen und Gummis hochgesteckt und stand zerzaust in alle Richtungen ab. Sie war eine schöne Frau, und Kyras Ähnlichkeit mit ihr war bestechend. Kassandra war die Schwester von Kyras Vater, Professor Rabenson, und sie war mit Sicherheit die großartigste Tante, die man sich wünschen konnte.

Chris rümpfte die Nase, als sie seine Teetasse mit übel riechendem Gebräu füllte. Dann fiel ihm wieder ein, weshalb Lisa und Nils hergekommen waren.

»Eure Eltern also«, meinte er unheilschwanger. »Haben sie schon … na ja, haben sie die Türen gesehen?«

»Und die Böden?«, ergänzte Kyra.

»Was haben sie zu dem Feuer im Weinkeller gesagt?«

»Und waren sie schon im Ballsaal?«

Lisa und Nils wechselten einen amüsierten Blick. »Die Großtante unserer Mutter –«, begann Lisa, wurde aber von Nils in priesterlichem Tonfall unterbrochen: »Gott habe sie selig.«

»Äh, ja, natürlich«, meinte Lisa mit unterdrücktem Grinsen. »Na ja, auf jeden Fall war sie reich.«

»Sehr reich«, sagte Nils.

Chris und Kyra hörten mit offenen Mündern zu.

Nur Tante Kassandra blieb gewohnt pragmatisch. »Dann kann der alte Kasten ja endlich renoviert werden.«

»Das wird er auch«, bestätigte Nils. »Und zwar von oben bis unten.«

Lisa nickte stolz. »Wir kriegen einen großen Swimmingpool.«

»Überdacht«, fügte Nils hinzu. »Und eine Sauna.«

»Einen Großbildfernseher.«

»’nen neuen Videorecorder.«

»Whirlpools.«

»Videospiele.«

Tante Kassandra seufzte. »Dann wird das schöne Geld wohl bald wieder futsch sein.«

»Was haben eure Eltern zu den Türen gesagt?«, fragte Kyra noch einmal.

»Ach, die sind immer noch ganz aus dem Häuschen wegen der Erbschaft …« Lisa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Außerdem werden im ganzen Kerkerhof neue Türen eingebaut. Und neue Rahmen. Neue Parkettböden. Überhaupt wird alles neu.«

»Neureich«, kommentierte Tante Kassandra trocken und nippte an ihrem Tee.

Kyra warf ihr ein Lächeln zu, dann wandte sie sich wieder an ihre Freunde. »Das heißt also, es gibt keine Strafe?«

Nils nickte. »Keine Strafe.«

»Was habt ihr ihnen denn erzählt?«, wollte Chris wissen.

Lisa kicherte. »Dass wir auf den Gängen mit den Rollerblades geübt haben.«

Kyra hob ungläubig die linke Augenbraue. »Die Türen haben ausgesehen, als hätte eine Horde Elefanten mit Rollerblades geübt.«

Nils grinste. »Wir haben gesagt, Chris sei noch ein wenig unsicher.«

»Ich?«, fuhr Chris auf.

Nils und Lisa prusteten los. »War nur ein Scherz.«

Tante Kassandra räusperte sich. »So, und jetzt trinkt euren Tee. Schnell, bevor er kalt wird.«

Als sie den Widerwillen auf den Gesichtern der Kinder sah, fügte sie mit diabolischem Grinsen hinzu:

»Ihr habt doch allen Grund zum Anstoßen, oder?«