Der Teufelsstorch hatte immer noch beide Flügel gespreizt, als er die Verfolgung aufnahm. In seiner Wut bemerkte er zu spät, wie schmal der Durchgang zum Korridor war, auf dem die Kinder davonliefen. Er prallte mit beiden Schwingen gegen den Türrahmen. Holz splitterte krachend, Späne wirbelten in alle Richtungen. Doch die Wände zu beiden Seiten des Türrahmens waren stabiler. Mit einem Aufschrei prallte der Dämon zurück. Einige Sekunden blieb er stehen und bewegte prüfend seine Flügel. Keiner war gebrochen.

Das Ungeschick der Kreatur verschaffte den Freunden einen weiteren Vorsprung. Es waren nur noch fünfzehn Meter bis zur Tür der Bibliothek. Sie stand weit offen. Kyra konnte dahinter endlose Reihen dicht bepackter Bücherregale erkennen.

»Wir schaffen es!«, rief Nils.

In ihrem Rücken stieß der Storch ein ohrenbetäubendes Kreischen aus.

»Wir schaffen es nicht!«, jammerte Lisa.

Und tatsächlich preschte der Storch im selben Moment durch die Tür des Korridors. Mit Riesenschritten, jeder zwei, drei Meter weit, tobte der Dämon hinter den Kindern her.

Nils erreichte als Erster die Bibliothek. Chris, Lisa und Kyra folgten. Nils gab der Tür einen kraftvollen Stoß. Mit einem Krachen rastete das Schloss ein, Nils drehte den Schlüssel herum.

Die drei anderen sahen sich panisch nach etwas um, das sie vor den Eingang schieben konnten. Ansonsten würde der Dämon die Tür ohne Zweifel ebenso zerstören wie all die anderen.

»Da! Das könnte gehen!«, rief Kyra aus und zeigte auf einen modernen Rollschrank, der so gar nicht zur ehrwürdig antiken Einrichtung der Bibliothek passte. Die Eltern von Lisa und Nils mussten ihn angeschafft haben. Der Schrank stand auf kleinen Rädern und hatte eine verschließbare Rolltür aus Metall.

»Schnell!«, entfuhr es Chris, und schon schoben sie den klobigen Schrank zu dritt über den Parkettboden. Nils stand an der Tür und dirigierte sie in die richtige Richtung.

Ein lautes Donnern ertönte, als der Storch gegen die Tür schlug. Nils zuckte zurück. Ein zweites Krachen erklang, gefolgt von Bersten und Splittern. Dort, wo Nils gerade noch gestanden hatte, ragte jetzt der Schnabel des Dämons durch die Tür, zuckend und schnappend.

Der Schrank war jetzt auf Höhe der Tür. Die Freunde harrten noch einen Augenblick aus, bis der Storch seinen Schnabel zurückzog, dann rollten sie das schwere Möbelstück vor die Tür. Kyra trat das Pedal herunter, mit dem die Räder des Schranks blockiert wurden.

Der Storch hämmerte jetzt mit dem Schnabel gegen die Tür wie ein Specht, so schnell, dass die einzelnen Schläge kaum mehr auseinander zu halten waren.

Die Freunde zogen sich zurück, tiefer ins Innere der Bibliothek. Der Metallschrank bebte, hielt den Attacken des Storches jedoch stand.

Schließlich gab die Kreatur auf. Er raschelte noch kurz draußen auf dem Gang, dann herrschte wieder Stille.

Keiner der vier brachte ein Wort heraus. Erst ganz allmählich kam ihnen zu Bewusstsein, dass sie der Kreatur bereits zum zweiten Mal entkommen waren. Aber wie lange konnte das noch so weitergehen?

Kyra schaute sich um. Die Bibliothek war ein beeindruckender Raum, dessen Wände mit deckenhohen Bücherregalen ausgekleidet waren. Den vergilbten Buchrücken nach zu urteilen gab es hier kaum ein Exemplar, das nicht mindestens fünfzig oder gar hundert Jahre alt war. Es mussten zehntausende von Bänden sein, die hier gelagert wurden.

In der Wand, die der Tür gegenüberlag, klaffte ein gewaltiger Kamin, so groß, dass man über seinem Feuer einen Ochsen hätte braten können. Jetzt aber brannten dort keine Flammen, auch die Asche war säuberlich ausgekehrt. Vor dem Kamin stand eine Sitzgruppe lederner Ohrensessel, augenscheinlich so alt wie die Bücher an den Wänden. Es roch intensiv nach Staub und brüchigem Papier.

»Wird das alles hier überhaupt noch genutzt?«, fragte Kyra, deren Angst allmählich von Faszination verdrängt wurde.

Nils zuckte mit den Achseln. »Unser Vater kommt manchmal her, wenn er seine Ruhe haben will. Eigentlich ist der Raum auch für die Hotelgäste geöffnet, aber es verirrt sich kaum einer hierher.«

Chris ging ungeduldig auf und ab und musterte die Regale. »Wo sind die Aufzeichnungen eures Großvaters?«

Lisa setzte sich in Bewegung und trat an einen alten Holzsekretär, der in eine der Regalwände eingelassen war. »Wenn sie noch existieren, müssten sie hier irgendwo sein. Hier hat er immer gesessen und die Ergebnisse seiner Forschungen aufgeschrieben.«

Sie zog alle Schubladen auf, vergebens. Schließlich entriegelte sie ein verstecktes Schloss an der Unterseite und öffnete ein Geheimfach unter der Tischplatte.

»Hier sind sie!«, entfuhr es Lisa erfreut. Mit beiden Händen hob sie einen Stapel von fünf oder sechs Schreibkladden hervor. Sie sahen aus wie großformatige Schulhefte, nur viel dicker und in Leder gebunden.

Die anderen traten neben Lisa und sahen zu, wie ihre Freundin die Jahreszahlen auf den Buchdeckeln verglich. Die Schrift war schnörkelig und halb verblasst.

»Das hier muss es sein«, meinte Lisa schließlich. Sie blätterte in einem Band, und Kyra, die über Chris’ Schulter blickte, musste sich eingestehen, dass sie kaum ein Wort lesen konnte. Um so verblüffter war sie, dass Lisa keinerlei Mühe mit der Entzifferung hatte. War auch das eine verborgene Eigenschaft, die von den Siegeln hervorgehoben wurde?

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