Sekunden später glitt Nils durch das Loch. Sein Sprung wurde von den anderen abgebremst.

»Er … er kam plötzlich … näher«, stammelte er und schnappte nach Luft. »Musste ausweichen … deshalb erst jetzt …«

»Schon gut«, beruhigte Kyra ihn sanft und tätschelte seine Schulter. »Kommt jetzt, wir müssen die Treppen runter!«

Als wollte er ihre Worte unterstreichen, fuhr im gleichen Moment der Kopf des Dämons durch die Luke. Die Schnabelkiefer klappten auseinander, schnappten nur einen Fingerbreit über den Köpfen der Freunde wieder zusammen. Gelähmt wie in einem Albtraum sah Kyra zu, wie einige ihrer Haarspitzen vor ihrem Gesicht zu Boden rieselten; der Schnabel hatte sie abrasiert wie zwei riesenhafte Scherenblätter.

Die Kinder tauchten schreiend unter dem tobenden Schnabel hinweg und stolperten die Treppe hinunter. Kyra sah noch, dass der Storch versuchte, sich durch die Luke zu zwängen, dann achtete sie nur noch auf ihre Füße auf den Stufen. Wenn sie jetzt stolperte, sich vielleicht ein Bein brach … Nein, besser gar nicht erst an so was denken!

Sie kamen im zweiten Stock an, als über ihnen ein Poltern ertönte. Der Dämon war jetzt im Treppenhaus. Sie konnten die schabenden Schritte seiner Krallen hören.

Er folgte ihnen.

Noch einmal blickte Kyra zurück und sah, wie die Kreatur mit einem gewaltigen Satz den oberen Teil der Treppe hinabsprang, auf der Zwischenetage nicht genug Halt fand und mit voller Wucht gegen die Wand krachte. Ein schriller Aufschrei drang aus dem aufgerissenen Schnabel. Kyra konnte die Wut der Bestie in ihren eigenen Gedanken spüren – das Wesen strahlte seinen Zorn aus wie ein Feuer seine Hitze.

»Hier entlang!«, rief Nils und riss den Flügel einer Doppeltür auf. Sie führte auf den Hauptkorridor des zweiten Stockwerks.

Die Kinder sprangen hindurch. Chris warf die Tür gerade hinter sich ins Schloss, als der Storch von außen dagegen prallte. Ein gezackter Riss erschien wie ein Blitz im Holz der Tür.

»Weiter!«, brüllte Kyra. »Weiter!«

Erneut warf sich der Dämon gegen die Tür. Die Benutzung einer Klinke schien ihm fremd zu sein. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er den Mechanismus durchschauen oder aber die Tür kurzerhand in Stücke hacken würde.

Die Freunde rannten den Korridor entlang, erreichten eine Verbindungstür und schleuderten auch diese hinter sich ins Schloss.

»Wohin … laufen … wir?«, brachte Chris mühsam hervor. Ihnen allen ging allmählich die Luft aus.

Kyra hatte immer geglaubt, wenn man um sein Leben läuft, wecke das ungeahnte Kräfte in einem. Aber das stimmte nicht; sie alle ermüdeten doppelt so schnell wie sonst. Der Gedanke daran, was ihnen bevorstand, wenn der Dämon sie einholen würde, raubte ihnen die letzte Kraft.

»Wir müssen uns verstecken«, rief Lisa.

In der Ferne barst die Tür des Treppenhauses. Nur Sekunden später erbebte auch die Verbindungstür unter den blindwütigen Attacken des Storchs. Auf seinen langen Beinen war er viel schneller als die Kinder.

»In diese Richtung«, wies Nils sie an, als sie eine Kreuzung erreichten.

Noch eine Verbindungstür. Ein weiterer Aufschub.

Schließlich gelangten sie in ein anderes Treppenhaus. Es war viel enger als das erste; früher hatte es wohl als Dienstbotenaufgang gedient.

Stolpernd eilten sie hinunter in den ersten Stock und von dort aus ins Erdgeschoss.

»Wir könnten uns in einem der Kühlhäuser verstecken«, schlug Nils mit gehetzter Stimme vor. »Das Hotel hat drei, aber nur eines ist in Betrieb. Die anderen beiden stehen leer. Auf die Stahltüren kann das Vieh einhacken, bis sein Schnabel aussieht wie ’ne Ziehharmonika.«

Alle fanden, das sei ein guter Vorschlag – zumal es der einzige war. Niemand hatte eine bessere Idee, auch wenn Kyra die Vorstellung, in einem Kühlhaus eingesperrt zu sein, überhaupt nicht gefiel. Wie sollten sie feststellen, ob draußen die Luft wieder rein war? Und hatte ein Dämon nicht alle Zeit der Welt? Er konnte Jahre vor der Tür stehen bleiben, bis ihre verhungerten Leiber längst zu Staub zerfallen waren.

Egal. Sie hatten keine Zeit, alle Möglichkeiten durchzuspielen. Im Augenblick ging es nur darum, ihre Haut zu retten.

Über ihnen, weiter oben im Treppenhaus, ertönte das Kratzen der Vogelkrallen auf Parkettboden.

Kyra und Chris folgten den Geschwistern in die ausgestorbene Großküche des Hotels. Der Raum war mit weißen Kacheln ausgekleidet. Auf Kyra wirkte er wie die Kellergeschosse der Polizeistationen im Fernsehen, jene Orte, an denen Männer in weißen Kitteln die Leichen der Ermordeten aufschneiden und dabei immer ihre Pausenbrote essen.

Die Metalloberflächen der Tische und Anrichten schimmerten silbrig. Von Abzugshauben und Regalen baumelten zahllose Töpfe, Kellen und Löffel. Als die Kinder die Tür aufrissen, brachte der Luftzug die Geräte zum Schaukeln. Einige schlugen gegeneinander und verursachten Geräusche wie ein Windglockenspiel, leises Stahlgeflüster.

Der Dämon tobte hinter ihnen durch den Korridor, keine zwanzig Meter mehr entfernt. Und er kam näher, immer näher.

»Los, schneller, schneller!«, feuerte Nils die anderen an und rannte voraus.

Die drei Kühlräume lagen nebeneinander, drei große Eisentüren, die mit Hilfe großer Räder wie U-Boot-Luken geöffnet und geschlossen wurden.

»Welche sind abgeschaltet?«, fragte Lisa mit Panik in der Stimme.

Nils zögerte. »Ich weiß nicht …«

Allen war klar, dass keine Zeit blieb, jede der drei Türen auszuprobieren. Sie mussten sich für eine entscheiden, auf der Stelle, und hinter ihr würden sie sich verkriechen müssen, selbst wenn dort zehn Grad unter Null herrschten.

Nils stand immer noch unentschlossen da und starrte die drei Türen an.

Der Dämon konnte jeden Moment die Küche erreichen.

Kyra drängte Nils beiseite und machte sich am erstbesten Türrad zu schaffen. Das Stahltor schwang nach innen.

»Alle rein! Beeilt euch!«

Es war kalt in dem Raum, aber seine Regale standen leer. Als Kyra die Tür hinter ihnen zuwarf und am Rad drehte, spürte sie erleichtert, dass die Kälte hier drinnen nicht künstlich erzeugt wurde. Ja, es war kühl, aber nur, weil es hier keine Heizung gab. Die Temperatur lag über dem Gefrierpunkt.

Ein hohes, geisterhaftes Kreischen ertönte, fast bis zur Unhörbarkeit gedämpft durch das Stahlschott. Die Tür erbebte unter mehreren heftigen Anstürmen der Kreatur, bis das Wesen endlich einsah, dass es so nicht an die Kinder herankam.

»Was, wenn das Mistvieh durch Türen gehen kann?«, fragte Lisa sehr leise. »Oder durch Wände?«

Kyra erschrak. Wenn sie ehrlich war, hatte sie daran bislang keinen einzigen Gedanken verschwendet. Sie sah Chris und Nils an, dass es ihnen genauso ging. Die beiden Jungs blickten äußerst unglücklich drein.

»Wenn der Dämon durch Wände gehen könnte«, sagte Kyra schließlich, »hätte er die Türen in den anderen Stockwerken nicht zerstören müssen.«

»Unsere Eltern werden verdammt sauer sein«, prophezeite Nils.

Chris grinste bitter. »Wenn du Glück hast, sind wir alle nicht mehr da, um es zu erleben.«

»Witzig«, bemerkte Lisa böse.

Nils überlegte bereits weiter. »Was, wenn er einfach nur Spaß an der Zerstörung hat? Vielleicht steht er gerade da draußen und versucht irgendwelchen magischen Firlefanz – und, schwupps!, geht die Tür von selbst auf!«

»Vielen Dank«, schnappte Lisa. »Wirklich vielen, vielen Dank.«

»Hört auf herumzuspinnen«, sagte Kyra gereizt. »Das hilft uns auch nicht weiter. Erst mal müssen wir sehen, dass wir irgendwie wieder hier rauskommen.«

Nils schnaubte. »Wir könnten das Vieh höflich darum bitten.«

»Wir könnten es bitten, sich mit einem von uns zufrieden zu geben«, entgegnete Chris und funkelte Nils gereizt an.

»Im Ernst«, sagte Kyra, »ich glaube, ich hab eine Idee.«

»Und die wäre?«

Kyra strich sich nervös rote Strähnen aus der Stirn. »Überlegt doch mal. Warum ist der Dämon überhaupt hier aufgetaucht?«

»Die Sieben Siegel haben ihn angelockt«, meinte Lisa, »das ist doch klar.«

»Haben sie das? Bist du dir da ganz sicher?«

Chris runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Ein Lächeln huschte über Kyras Züge. »Etwas an dieser ganzen Sache passt nicht zusammen.«

»Und das wäre?«

»Na ja, wenn der Dämon allein hier wäre, hätte ich auch keine Zweifel, dass er es nur wegen der Siegel auf uns abgesehen hat. Aber was ist mit den Geistern, die Lisa heute Nacht gesehen hat? Sie hat gesagt, sie hätten sie nicht einmal wahrgenommen. Das stimmt doch, oder?«

Lisa nickte. »Stimmt. Abgesehen von den Butlern, die mir die Tür geöffnet haben.«

Kyra ließ sich davon nicht beirren. »Vielleicht sahen sie einen der Geister hereinkommen. Oder ein anderer wollte die Halle verlassen.«

Lisa hob die Schultern. »Kann schon sein.«

»Wenn also die Geister dich nicht wahrgenommen haben, sind sie nicht wegen uns oder der Siegel hier – sonst hätten sie dich angegriffen.«

»Die Mühe hat ihnen doch der Storch abgenommen«, gab Nils zu bedenken.

»Augenblick, zu dem Storch komme ich gleich. Zuerst die Geister: Wenn sie nicht wegen uns hier sind, müssen sie einen anderen Grund haben. Irgendwas, das in der Vergangenheit dieses Gebäudes vorgefallen ist.«

Die anderen blickten sich an. Was Kyra sagte, klang einleuchtend.

Kyra sprach weiter: »So, wie Lisa die Kleidung dieser Leute beschrieben hat, scheinen sie zu einer Zeit gelebt zu haben, die schon ein paar hundert Jahre zurückliegt, also bevor dieses Gemäuer ein Hotel war, ja, sogar noch vor der Irrenanstalt.«

»Und?«, fragte Chris.

»Zuerst war der Kerkerhof doch das Schloss eines Adligen, oder?«

»Stimmt«, sagte Nils.

»Wisst ihr mehr über den Kerl?«

Nils überlegte. »Er war Baron. Ja, Baron Moorland hieß er, oder so ähnlich.«

»Moorstein«, verbesserte ihn Lisa. »Als unser Großvater noch lebte, hat er uns mal von ihm erzählt. Großvater war einer von diesen Leuten, die ganz versessen darauf sind, alles über das Haus zu erfahren, in dem sie leben. Er wusste alles über den Kerkerhof, hat sogar Buch darüber geführt und Stammbäume gezeichnet … na ja, all so ’n Zeug eben. Nils und ich waren damals noch ziemlich klein. Aber ich kann mich noch genau erinnern, dass der Name des Barons Moorstein war. Muss ein ziemlicher Einsiedler gewesen sein. Er lebte hier völlig zurückgezogen, inmitten tausender von Büchern.«

Kyra nickte erneut, als bestätige das all ihre Theorien. »Lasst mich raten: Es gab Gerüchte, dass dieser Baron mit dem Teufel im Bunde stand, nicht wahr?«

Nils winkte ab. »Ach, komm … Das haben wir schon im Geschichtsunterricht gelernt. Während der Hexenverfolgung galt jeder als Teufelsanbeter, der sich auf irgendeine Weise von den anderen Leuten abgeschottet hat. Vielleicht wollte der Baron nur seine Ruhe haben.«

»Ja, vielleicht«, bestätigte Kyra. »Aber was, wenn er in Wahrheit ein Geisterbeschwörer war, der sich hierher zurückgezogen hat?«

»Selbst wenn«, sagte Lisa. »Dieser Baron Moorstein ist seit mehr als zweihundert Jahren tot. Und es war schließlich nicht sein Geist, den ich gesehen habe.«

Kyra stimmte zu. »Ich glaube, es waren überhaupt keine Geister von Menschen, die du gesehen hast – sondern die Geister von Dämonen!«

»Gibt’s denn so was?«, fragte Chris erstaunt.

»Warum nicht?« Das war keine wirkliche Antwort auf seine Frage, aber immerhin hielt es ihn davon ab weiterzubohren. Kyra fuhr fort: »Das passt sogar zu dem, was euch euer Großvater erzählt hat – denn was für eine Ballgesellschaft sollte hier schon rumspuken, wenn der Baron nie eine Menschenseele eingeladen hat?«

»Sagen wir, du hättest Recht. Was hat das alles mit dem Storch zu tun?«

Kyra seufzte. »Wenn ich das wüsste. Ich vermute, dass Baron Moorstein die Dämonen im Ballsaal heraufbeschworen hat. Mit ziemlicher Sicherheit waren es niedere Kreaturen, die jeder drittklassige Hexenmeister hätte herbeizitieren können – im Gegensatz zu unserem Freund draußen vor der Tür. Er scheint von ganz anderem Kaliber zu sein.«

»Und?« Chris verstand immer noch nicht, auf was sie hinauswollte.

»Ich weiß nicht, wie der Storch, der Baron und dieser Dämonenball miteinander in Verbindung stehen – aber ich schätze, dass wir das Mistvieh nur loswerden können, wenn wir mehr über die Zusammenhänge herausfinden.«

»Besser als nichts«, meinte Chris zustimmend.

Lisa nickte. »Find ich auch.«

»Ihr habt gesagt, euer Großvater hat die Ergebnisse seiner Forschungen aufgeschrieben«, sagte Kyra. »Gibt es diese Aufzeichnungen noch?«

»Müsste es eigentlich«, erwiderte Nils.

»Und wo?«

»Falls überhaupt, dann in der Bibliothek«, platzte Lisa heraus. Kyras Tatendrang hatte sie angesteckt.

Kyra dachte nach. »Die Bibliothek ist doch im Erdgeschoss des Nordflügels, oder? Das ist gut, dann müssen wir keine Treppen hochlaufen. Wenn wir schnell genug sind –«

»Wird der Storch uns trotzdem schnappen«, fiel Nils ihr ins Wort. »Der wartet doch nur darauf, dass wir hier raus gehen.«

Chris holte tief Luft. »Das käme auf einen Versuch an.«

Nils bekam große Augen. »Ich muss verrückt sein, mit euch überhaupt über so was zu sprechen.«

Wieder dachte Kyra, dass die Siegel Nils in seinem einstigen Wagemut ganz schön gebremst hatten. Er war so schrecklich vernünftig geworden. Zugleich fragte sie sich, welche Veränderung die Male bei ihr selbst bewirkten. Gab es überhaupt eine? Falls ja, war sie die Einzige, der diese Wandlung nicht auffiel?

Und was war mit Chris und Lisa? Welche Wirkung hatten die Siegel auf die beiden? Vielleicht würde die Zeit ihnen darauf eine Antwort geben.

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte Kyra schließlich.

Chris nickte. »Ich glaube auch, dass es das Risiko wert ist. Ansonsten verhungern wir hier drinnen.«

»Was für dich sicherlich das Schlimmste wäre«, stichelte Nils. »Aber was soll’s … Vielleicht habt ihr ja Recht. Ich bin dabei.«

Chris schaute Lisa an. »Und was ist mit dir?«

»Ich bin ziemlich gut darin, fremde Handschriften zu entziffern«, sagte sie mit nervösem Lächeln. »Wie’s aussieht, bleibt mir also gar nichts anderes übrig, als mitzukommen.«

Kyra schenkte ihr ein aufmunterndes Grinsen, dann wandte sie sich zur Tür. Sie legte einen Finger an die Lippen und bedeutete damit den anderen zu schweigen. Angestrengt lauschte sie nach draußen.

Kein Ton war zu hören.

»Glaubst du wirklich, er ist weg?«, fragte Lisa.

Kyra sagte das Erstbeste, das ihr einfiel: »Immerhin hat er ein Nest, auf das er aufpassen muss.«

Die Zweifel auf den Gesichtern der anderen verrieten deutlich, dass sie das für ein ziemlich schwaches Argument hielten.

»Alle fertig?«, fragte Kyra und legte die Hände an das Schließrad der Tür. »Dann los!« Mit diesen Worten öffnete sie das Stahlschott.