»Hier beginnen die Einträge über Baron Moorstein«, sagte Lisa, nachdem sie einige Zeilen überflogen hatte. Sie blätterte ein wenig und meinte schließlich: »Es sind nur ein paar Seiten, die ihn betreffen. Offenbar hat unser Großvater nicht viel über ihn herausfinden können. Soll ich das alles vorlesen?«

»Kannst du’s nicht überfliegen und uns dann die Kurzfassung erzählen?«, fragte Chris, der angesichts der altmodischen Schrift ähnlich unverständliche Formulierungen befürchtete.

Lisa nickte. Sie schien stolz zu sein, dass nur sie den Text entziffern konnte. Hastig lief sie an den anderen vorbei und ließ sich in einen der Ohrensessel fallen. Das uralte Leder quietschte, als hätte sich eine Mäusefamilie darin eingenistet.

Während Lisa die Seiten studierte, liefen Kyra und die Jungs ungeduldig in der Bibliothek hin und her. Sie wussten nichts mit sich anzufangen. Keiner von ihnen hatte die nötige Ruhe, um die vielen Buchrücken genauer zu betrachten. Sie alle fürchteten jeden Moment einen neuen Angriff des schwarzen Storchs.

»So«, meinte Lisa endlich, »ich hab’s.«

Und dann begann sie zu berichten, was ihr Großvater über Baron Moorstein herausgefunden hatte.

Demnach hatte der Baron im Jahr 1707 den Beschluss gefasst, den Kerkerhof auf einem Hügel südlich von Giebelstein zu errichten. Vier Jahre später, 1711, waren die Bauarbeiten beendet, und der Baron bezog sein neues Zuhause. Fortan hörte man so gut wie nichts mehr von ihm. Die wenigen Bediensteten, die er im Haus beschäftigte, waren verschlossene Menschen, deren ungewöhnlich helle Haut verriet, dass sie das Tageslicht scheuten. Nur wenn sie den Markt von Giebelstein besuchten, um Lebensmittel zu kaufen, sah man sie im Freien. Die Bewohner der kleinen Stadt, die sich auf große Ballgesellschaften und Treibjagden gefreut hatten, wurden enttäuscht: Es kamen kaum Gäste nach Schloss Moorstein, und wenn doch, dann waren es undurchsichtige Gestalten aus Ländern, von denen keiner der Bauern und Händler je gehört hatte.

Die Aufzeichnungen übersprangen mehrere Jahrzehnte, und weitere Einzelheiten datierten erst wieder auf das Jahr 1784. Zu diesem Zeitpunkt musste der Baron bereits einhundertdrei Jahre alt gewesen sein. Unfassbar, zumal die Menschen damals für gewöhnlich weit jünger starben als heutzutage.

In jenem Jahr, so hieß es, habe der Baron seine aufwändigste und machtvollste Beschwörung gewagt – und seine letzte. Lange schon hatte man in Giebelstein gemunkelt, dass der alte Moorstein mit den Mächten des Bösen einen Pakt geschlossen hätte, um sein Leben zu verlängern. Nun aber, in jenem Jahr 1784, ging er endgültig zu weit.

Den Gerüchten zufolge wollte er einen Dämon heraufbeschwören, der in der Hierarchie der Hölle weit über jenen niederen Kreaturen stand, die er bislang herbeizitiert hatte. Um dieses Vorhaben zu vollbringen, musste Moorstein erst eine große Anzahl unbedeutender Höllenwesen in sein Schloss locken, die sodann dem höher gestellten Dämon geopfert werden sollten. Ohne diese Opfergabe würde die Kreatur nicht erscheinen, geschweige denn dem Baron die Gunst der Unsterblichkeit gewähren, nach der es ihn so sehr verlangte.

Angeblich gelang es Moorstein tatsächlich, die niederen Dämonen mit dem Versprechen einer teuflischen Ballnacht zu täuschen und sie allesamt zu opfern. Anschließend zog er sich in seine Räume in den Kellern des Schlosses zurück und erwartete dort die Ankunft des Dämonenfürsten.

Was dann geschehen war, wusste niemand. Auf alle Fälle wurde von diesem Zeitpunkt an keiner der Bediensteten des Barons mehr in Giebelstein gesehen. Das Schloss schien verlassen zu sein. Erst viele Jahre später entdeckten einige mutige Männer aus Giebelstein die unterirdisch gelegenen Kammern des Barons und fanden ihn dort inmitten seiner eingestaubten Zauberbücher und Apparaturen – mausetot.

Woran er gestorben war, ließ sich nicht mehr erkennen.

Die Männer aus der Stadt ließen alles so, wie sie es vorgefunden hatten. Auch der Leichnam des Barons blieb unangetastet. Statt den Toten zu beerdigen, verriegelten die Männer die Keller des Schlosses von der Außenseite. Ihre größte Befürchtung war nicht, dass jemand dort einbrechen könnte; vielmehr brachte sie der Gedanke um den Schlaf, etwas könne von innen nach außen entkommen.

Doch fortan herrschte Ruhe rund um das leer stehende Schloss. Weder von dem Baron noch von seinem Dämon hörte man jemals wieder.

Als Lisa zum Ende ihres Berichts kam, brannte Kyra bereits eine Frage auf der Zunge: »Existieren diese Keller noch? Und falls ja, kennt einer von euch den Zugang?«

Lisa und Nils wechselten einen beunruhigten Blick. »Du hast doch nicht etwa vor, dort hinunterzugehen?«

Kyras Augen leuchteten vor Aufregung. »Aber das ist doch die Lösung unseres Problems!«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Nils.

Auch Chris schaute verdutzt drein. »Wäre schön, wenn du uns das erklären könntest.«

Kyra nickte, plötzlich wieder hektisch geworden. »Der Dämon, mit dem wir es zu tun haben, ist unter Garantie derselbe, den einst der Baron heraufbeschwören wollte!«

»Aber was soll er denn schon wieder hier wollen?«, fragte Nils.

»Nicht ›schon wieder‹«, gab Kyra ungeduldig zurück. »Jedes Kind weiß, dass im Reich der Geister und Dämonen die Zeit anders abläuft als hier bei uns.«

Chris hob die Augenbrauen. »Jedes Kind weiß das?«

Kyra winkte ab. »Na ja, fast jedes. Tante Kassandra hat mal so was erwähnt. Auf jeden Fall kann es gut sein, dass die Beschwörung des Barons erst heute Wirkung gezeigt hat! Wahrscheinlich ist der alte Moorstein dort unten an Altersschwäche gestorben, während er vergeblich auf den Besuch dieses Monsters gewartet hat. Aber es ist nie erschienen – erst gestern Nacht, mehr als zweihundert Jahre später! Deshalb auch die Geister der toten Dämonen im Ballsaal. Gewiss hat es ihnen keine Ruhe gelassen, auf den Trick eines Sterblichen hereingefallen zu sein. Wahrscheinlich werden sie jede Nacht dort spuken, bis der Storch wieder verschwunden ist.«

»Na, großartig«, bemerkte Lisa.

»Und nun?«, fragte Nils.

Chris ergriff das Wort. »Ich weiß, was Kyra meint. Wenn es uns gelingt, in den Keller einzudringen und das Ritual des Barons rückgängig zu machen, verschwindet vielleicht auch dieses Mistvieh wieder.«

»Schön und gut«, sagte Lisa. »Aber wir haben alle keine Ahnung, wie solch eine Beschwörung vollzogen wird – geschweige denn, wie man sie wieder rückgängig macht.«

Kyra seufzte. »Wahrscheinlich muss man nur die Anordnung der Utensilien durcheinander bringen. Irgendeinen Kreidekreis auf dem Boden auswischen, ein paar Hexenkräuter unter den Schrank fegen. Irgend so was in der Art. Das werden wir schon sehen, wenn wir im Keller sind.«

»Wahnsinn!« Nils wirkte alles andere als glücklich.

»Es ist unsere einzige Chance«, sagte Kyra beharrlich.

Lisa stimmte ihr zu. »Das glaube ich auch. Trotzdem hat Nils Recht: Es ist Wahnsinn.«

»Um ehrlich zu sein, finde ich diesen Kerl auf seinen Riesenstelzen auch nicht viel normaler«, sagte Chris.

Kyra nickte ihm dankbar zu. »Wir müssen es wenigstens versuchen.«

Nils stieß einen tiefen Seufzer aus. »Lisa und ich wissen, wo der Zugang ist. Er wird durch einen schweren Balken verriegelt. Irgendwer, wahrscheinlich unser Großvater, hat ein Weinregal davor gestellt. Aber Lisa und ich haben die Tür schon vor ein paar Jahren entdeckt. Damals waren wir noch nicht stark genug, um den Balken hochzuheben – außerdem wussten wir nicht, was dahinter liegt. Wir haben gedacht, es wäre irgendeine alte Abstellkammer. Die Keller des Kerkerhofs sind nicht besonders groß, wisst ihr.«

»Wahrscheinlich doch«, widersprach Kyra. »Der größte Teil liegt sicher hinter dieser Tür. Vielleicht erwartet uns dort ein ganzes Labyrinth von Gängen und Kammern.«

Bei dem Wort »Labyrinth« lief allen ein eisiger Schauer über den Rücken, sogar Kyra selbst bekam eine Gänsehaut.

»Okay«, meinte Chris schließlich. »Das Beste ist sicher, wenn wir uns trennen.«

»Trennen?«, wiederholte Nils ungläubig und runzelte die Stirn.

»Ja, sicher. Zwei von uns lenken den Storch ab, während die anderen beiden runter in den Keller gehen.«

»Oh ja, klasse Idee!«, entfuhr es Nils mit überschnappender Stimme. »Den Storch ablenken. Und wer sollte so lebensmüde sein, das zu versuchen?«

»Ich«, erwiderte Chris mit einem Schulterzucken.

Lisa redete drauflos, ehe sie über die Folgen nachdachte – die Verlockung, eine Weile mit Chris allein zu sein, war allzu verführerisch. »Ich komme mit dir«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen und schenkte Chris ein nervöses Lächeln.

Kyra sah ihre Freundin erstaunt an, dann atmete sie tief durch. »Das heißt, dass Nils und ich in den Keller gehen.«

Nils schmollte, widersprach aber nicht länger. Er hatte eingesehen, dass dies der einzige Weg war, den Dämon zu vertreiben.

»Damit wäre ja alles geklärt«, sagte Chris. Sogleich machte er sich daran, den Rollschrank von der Tür fortzuschieben.

»Sollten wir damit nicht noch ein wenig warten?«, fragte Nils kleinlaut. »Ich meine, nur bis wir sicher sind, dass er nicht mehr dort draußen ist.«

Kyra schüttelte den Kopf und half Chris beim Drücken. »Er wird für immer dort draußen bleiben, wenn wir nicht bald etwas unternehmen.«

Nils stöhnte leise, dann beteiligte er sich widerwillig an den Anstrengungen der beiden.

Nur Lisa half nicht mit. Sie stand da, hatte den Freunden den Rücken zugekehrt und blickte hinüber zum Kamin.

Der Steinboden der Feuerstelle war jetzt mit Ruß bedeckt. Lisa war vollkommen sicher, dass er eben noch sauber gewesen war.

Langsam, wie in Trance, umrundete sie die Ledersessel und ging auf den Kamin zu. Ihre Bewegungen waren steif und abgehackt.

Es roch intensiv nach kalter Asche. Und da, jetzt rieselte erneut etwas von oben aus dem Kamin herab und sammelte sich am Boden.

»Lisa!«, rief Chris hinter ihrem Rücken, weit, weit entfernt auf der anderen Seite der Bibliothek.

Sie beachtete ihn nicht. Das Entsetzen brach ihren Widerstand und lähmte ihre Zunge. Gebannt trat sie durch den steinernen Bogen der Feuerstelle. Die Öffnung war groß genug, um ein Picknick darin zu veranstalten.

Eine einzelne schwarze Feder fiel träge aus dem Schacht herab. Sie schaukelte und drehte sich, senkte sich wie in Zeitlupe zu Boden. Dort blieb sie inmitten des Rußhaufens liegen.

Lisa hob langsam den Kopf, blickte über sich.

Ruß rieselte lautlos auf den Boden. Wie gebannt sah sie zu, wie von oben etwas näher kam.

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