Vorsichtig kletterten sie an der nächsten Schräge empor. Sie war steiler als die erste und noch dicker mit glitschigem Moos überwuchert. Kyra wäre einmal fast abgerutscht, aber Chris hielt sie im letzten Moment am Arm fest. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln – sie spürte selbst, dass es ziemlich gequält wirken musste –, dann kletterte sie weiter.
Sie erreichten den Dachfirst alle zur gleichen Zeit. In einer Reihe kauerten sie hinter der Kante und starrten auf der anderen Seite die Schräge hinunter.
Nils behielt Recht. An dieser Stelle vereinigten sich einige Dächer und bildeten eine Art Tal aus Schieferschindeln. Es sah aus wie ein eckiger Trichter, der mehrere Meter tief ins Gefüge des Dachs hinabreichte.
Den Kindern stockte der Atem. Kyra krallte sich fester mit beiden Händen an den Dachgiebel. Ihre Fingernägel verursachten auf dem Schiefer ein quietschendes Geräusch, das in ihren Ohren schmerzte.
Die Senke war mit einem Wirrwarr schwarzer Zweige ausgepolstert. Das Nest eines Riesenvogels, keine Frage. Von einem Rand zum anderen maß es mindestens sechs Meter.
Kyra erinnerte der Anblick an die Geschichte von Sindbad und dem Vogel Ruch. Spätestens die Entdeckung des Nests zerstreute alle ihre Zweifel an der Gefährlichkeit ihres Gegners.
Die Äste, aus denen es erbaut war, stammten nicht von irdischen Bäumen. Sie waren rabenschwarz und glänzten wie Stahlrohre. Ihre Oberfläche war übersät mit Dornen, so lang und spitz wie Sarazenendolche. Eine Kreatur, die sich hier wohl fühlte, konnte nicht von dieser Welt sein. Zugleich waren die Dornen eine nützliche Abwehr gegen alle Feinde. Es war schier unmöglich, in das Nest hineinzuklettern, ohne sich an einem der Stacheln aufzuspießen.
Der schwarze Storch war ausgeflogen. Sein Nest war leer. Oder, nein, nicht völlig leer. In seiner Mitte lag etwas, eingebettet in schimmernde Dornenranken.
Vier Eier. Schwarz und spiegelnd wie flüssiger Teer. Jedes so groß wie ein Schäferhund.
»Das darf doch nicht …«, entfuhr es Chris voller Entsetzen, aber er führte den Satz nicht zu Ende. Das Grauen verschlug ihm die Sprache.
Nils fingerte an seinem Fernglas und hielt es sich vor die Augen. Seine Hände zitterten.
Kyra beobachtete ihn. »Sehen die Dinger von nahem irgendwie anders aus?«
»Größer«, erwiderte er spröde. »Darum nennt man es Vergrößerungsglas.«
Chris schmunzelte, mehr noch, als er Kyras sauertöpfische Miene sah.
Sie wollte etwas erwidern, doch im selben Moment entdeckte sie etwas aus ihrem Augenwinkel. Etwas Großes. Hinter ihnen!
Die Satellitenschüssel!, raste es ihr durch den Kopf. Mach dich nicht verrückt!
Aber der riesige Umriss in ihrem Rücken bewegte sich plötzlich, und ein lautes Flattern ertönte. Die Kinder wurden von einem heftigen Luftzug ergriffen, der sie fast von der Schräge fortriss.
Der schwarze Storch stand aufrecht auf dem Rand der Schüssel und spreizte seine Schwingen. Er war noch größer als in Lisas Erinnerung und viel größer, als die anderen es erwartet hatten.
Seine leeren weißen Augen glitzerten verschlagen auf die Kinder herab. Das schwarze Gefieder war gesträubt vor Zorn. Die gewaltigen Schwingen, groß und gespreizt wie die Torflügel einer Kathedrale, vibrierten im Wind. Der Sog, den ihr Öffnen verursacht hatte, ebbte schlagartig ab.
Sein Schnabel sauste herab wie eine blutrote Sense.