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Oktober 2006, San Marino, Matts Apartment

Der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Matt lag bäuchlings auf seiner Couch.

Mann, war es ihm schlecht. Er hatte einen totalen Filmriss. Wieder mal. Sein Magen knurrte laut und vernehmlich. Als er sich gestern Abend mit seiner Flasche Whiskey auf die Couch geparkt hatte, wollte er eigentlich eine Pizza bestellen.

Dazu war er wohl nicht mehr gekommen. Mist, verdammter. Stöhnend versuchte er, sich aufzurichten, musste jedoch einsehen, dass seine Muskeln nicht der gleichen Meinung waren wie sein Kopf. Also rollte er sich nur vorsichtig auf den Rücken und blieb mit der rechten Hand über den Augen liegen. Es war eindeutig zu hell hier drin. Matt fluchte laut, er hasste sich und sein Leben und auch Gott und die Welt. Seit er im März seinen Dienst quittiert hatte, ging es mit ihm stetig bergab. Momentan lebte er von seinen letzten Ersparnissen und dem kleinen Erbe, dass ihm seine Grandma vor Jahren hinterlassen hatte. Bis vor zwei Monaten hatte er dieses Geld nicht angerührt, allerdings brauchte er es jetzt. Natürlich war ihm klar, dass es so nicht weitergehen konnte, zumindest nicht mehr lange. Aber er befand sich auf dem schmalen Grad, dessen letzten Zipfel Vernunft von einer Flut Whiskey und einem Berg Selbstmitleid weggespült wurden. Alles hatte man ihm genommen, seine Ehre, seinen Stolz und das allerwichtigste, seinen Freund. Was gab es für ihn jetzt noch zu verlieren? Seine Eltern waren beide tot und er hatte weder Geschwister noch andere Verwandte. Außer Jose, der ab und an mal nach ihm schaute, kümmerte es niemanden, wie es ihm ging und was er tat. Joses Besuche waren in letzter Zeit weniger geworden, was aber an seinen langen Einsätzen im Ausland lag. Momentan hielt Jose sich mit seinem Fire Team in Westafrika auf. Natürlich hatte er Matt nichts über den Einsatz selbst erzählen dürfen, das durften sie ja nie. Als es plötzlich an der Tür klingelte, knurrte Matt nur und versuchte, dieses scheußliche Geräusch zu verdrängen. Leider war sein Besucher sehr hartnäckig, so dass Matt sich vorsichtig aufsetzte und dann schwankend zu Tür schlurfte. Er riss die Tür auf und ein Paketfahrer von UPS

grinste ihm fröhlich entgegen. „Entschuldigen Sie die Störung, Sir, aber ich habe ein Päckchen für Sie.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Bitte unterschreiben Sie hier, Sir.“ Er hielt Matt ein Klemmbrett unter die Nase und einen Stift direkt vor seine Augen. Seufzend quittierte Matt den Empfang von was auch immer und bekam ein Päckchen ausgehändigt. Es war tatsächlich an ihn adressiert und der Name des Absenders brachte sein Herz sofort zum Rasen. „Oh Gott!“, murmelte Matt und verabschiedete sich hastig von dem Fahrer, der fröhlich zu pfeifen begann. Matt schlug die Tür zu und wankte mit dem Paket in der Hand durch den Flur in Richtung Küche. Wieso, zum Teufel, konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Warum nur quälte sie ihn so, verdammt noch mal?

Hatte er nicht schon genug gelitten, genug erdulden müssen? Sein Zorn wuchs so rasend schnell an und entlud sich dann urplötzlich in einem wütenden Ausbruch.

„Ich hasse dich Tammy, dich und deinen gottverdammten Mann!“, schrie er völlig außer sich. Und dieses Päckchen schien ihn zu verhöhnen, anzustarren, auszulachen. Wutentbrannt warf er es mit voller Wucht quer durch den Raum, wo es dann mit einem dumpfen Scheppern und Knirschen auf der Küchenzeile aufschlug.

Dieses Geräusch holte ihn aus seinem roten Wutnebel zurück und er begann unkontrolliert zu zittern. Das Päckchen anstarrend raufte er sich so fest die Haare, dass ihn ein scharfer Schmerz durchzuckte. Genau dieser Schmerz war es, der ihn schließlich wieder erdete. Ausgepowert und völlig erledigt schleppte er sich ins Bad. Nach einer langen, ausgiebigen Dusche, einer Rasur und frisch geputzten Zähnen fühlte er sich wieder halbwegs menschlich. Während er das Kaffeewasser aufsetzte, konnte er den Blick kaum von dieser verdammten Spüle abwenden. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Verdammt noch mal…. Er griff sich das Päckchen, legte es auf dem Küchentisch ab und starrte dieses verdammte Ding an, als würde es sich dadurch von selbst öffnen. Okay. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit. Vorsichtig zog er den Klebestreifen ab, der die Oberseite zusammen hielt, holte tief Luft und klappte den Deckel auf. Obenauf lag ein weißes Papier, einmal in der Mitte fein säuberlich gefaltet. Darunter fand er ein schwarzes T-Shirt. In Matts Magen bildete sich ein Knoten und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen. Er hielt das T-Shirt hoch und las mit verschwommenen Blick, was mit großen, gelben Buchstaben auf der Vorderseite des TShirts stand: Dancer, geilster Hengst aller Zeiten. Matt schloss die Augen und versuchte, sich wieder zu sammeln. Dieses Shirt hatte er Joe zu seinem 30.

Geburtstag geschenkt. Sie hatten sich darüber kaputt gelacht und Joe hatte dieses Shirt mit Stolz geschwellter Brust zu jeder Einsatzbesprechung angezogen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit spazieren getragen. Das alles kam Matt plötzlich vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Unter dem T-Shirt lag ein weicher, weißer Schal mit Fransen. Als er den Schal und das darin eingewickelte Objekt hochhob, knirschte es vernehmlich. Das Glas des Bilderrahmens, der in den Schal eingewickelt war, war in viele kleine Splitter zerborsten. Gut gemacht, verhöhnte Matt sich selbst und nahm den Rahmen ganz vorsichtig aus dem Paket. Das Bild unter dem zersplitterten Glas zeigte Joe und ihn in ihren weißen Ausgehuniformen. Sie lachten in die Kamera und aus ihren Augen blitzte der Schalk. Matt konnte sich noch genau daran erinnern, wann und wo dieses Bild entstanden war. Joe und er hatten bei einem verdeckten, außer Kontrolle geratenen Einsatz zwei Kameraden den Arsch gerettet und die Operation dann auch noch mit Erfolg zum Abschluss gebracht. Dafür wurden sie mit einem höheren Dienstgrad belohnt und hatten diese Beförderung in der Offiziersmesse gefeiert. Ausgelassen und feuchtfröhlich. Der Abend endete damit, dass sie nicht alleine in ihr Quartier gegangen waren. Ja, dachte Matt zynisch, Frauen stehen nun mal auf schicke Uniformen. Joe hatte ihm erzählt, dass er dieses Bild im Schlafzimmer auf seinem Nachttisch stehen hatte. Gleich daneben stand das Hochzeitsbild mit Tammy. Er hatte Matt lächelnd berichtet, dass er die beiden Menschen, die er am meisten liebte, ganz nah bei sich haben wollte. Das gab ihm das Gefühl, sie beschützen zu können und in Sicherheit zu wissen. Matt hatte Joe damals ausgelacht und ihn als Spinner betitelt. Jetzt schluckte er schwer und wischte sich über die Augen. Es kostete ihn seinen ganzen Mut, das Blatt Papier in die Hand zu nehmen, aber irgendwann schaffte er es. Er begann zu lesen: Lieber Matt, ich weiß nicht so genau, wie ich anfangen soll … es ist so lange her! Du warst nicht auf Joes Beerdigung, was mir große Sorgen gemacht hat. Man sagte mir zwar, dass Du Dich in einem deutschen Krankenhaus von deinen Verletzungen erholtest, aber das machte mir nur noch mehr Sorgen. Ich dachte, wenn es Dir so schlecht geht, dass du Joe nicht das letzte Geleit geben kannst, muss es dir wirklich, wirklich schlecht gehen. Jose hat mir die Adresse des Krankenhauses gegeben und ich habe Dir geschrieben, sogar drei Mal. Leider hast Du auf keinen meiner Briefe geantwortet. Kein Lebenszeichen von Dir, so lange…

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft genommen hatte, diese Zeit zu überstehen, so viel, wie ich geweint habe. Nicht nur um Joe. Nein. Auch um Dich. Es tut mir so leid, dass ich es nicht geschafft habe, mich persönlich bei Dir zu melden, aber Du musst mir glauben, es lag nicht an Dir. Ich war so mit meiner eigenen Trauer beschäftigt, dass ich Deine Trauer nicht mehr verkraftet hätte. Vor zwei Wochen habe ich mich endlich aufgerafft, mich von seinen Sachen zu trennen und ich dachte, du solltest das T-Shirt zurückbekommen. Joe hat dieses T-Shirt geliebt.

Er trug es zuhause ständig, nicht nur zuhause, haha! Manchmal hab ich gemeutert und ihm vorgeworfen, er würde dieses scheußliche Teil nur tragen, um mich zu ärgern, aber das war natürlich nur Spaß. Wenn Du die Augen schließt und daran riechst, duftet es sogar noch ein wenig nach ihm. Entschuldige bitte diese sentimentale Bemerkung. Das Bild von Euch stand immer auf seinem Nachttisch und war ihm sehr wichtig. Deshalb dachte ich, falls Du es nicht schon hast, würdest Du Dich sicher darüber freuen. Solltest Du das Bild bereits haben, möchte ich es bitte irgendwann zurück, okay? So und nun zum schwersten Teil. Lieber Matt, ich hoffe ganz fest, dass Du nicht glaubst, ich hätte Dir Joe weggenommen. Ich habe nämlich die Vermutung, dass Du genau dass denkst. Mir ist aufgefallen, dass Du mich nicht besonders zu mögen scheinst und Du Joe deswegen privat gemieden hast.

Sollte ich mit meiner Vermutung richtig liegen, so musst Du mir einfach glauben, dass kein Mensch Dir hätte Joe wegnehmen können. Joe hat Dich geliebt. Das, was ihr zusammen hattet, hat nur Gott selbst Euch nehmen können. Seine Liebe zu Dir war groß, Matt. Er hat mir so oft von Dir erzählt, dass ich Dich schon lange kannte, bevor ich Dich offiziell kennen gelernt hatte. Niemand stand ihm näher, nicht einmal ich. Ich bin sicher, Joe sitzt irgendwo da oben und schaut auf uns herunter. Ganz sicher hätte er nicht gewollt, dass es Dir oder mir schlecht ergeht. Er hätte gewollt, dass wir weiterleben und neu anfangen. Du sollst wissen, dass ich immer für Dich da bin, solltest Du mich brauchen. Unten steht meine neue Adresse. Nur für alle Fälle. Pass auf Dich auf. Tammy Die letzten Zeilen verschwammen vor Matts Augen. Dicke Tränen tropften auf das Papier in seiner Hand. Trotzdem konnte er das Blatt Papier nicht weglegen und las die letzten Zeilen immer und immer wieder. Mit der anderen Hand presste er sich das T-Shirt an die Nase und atmete tief ein. Sofort nahm er sowohl Tammys als auch Joes Geruch wahr, was ihn zutiefst erschütterte. Tammy war der Meinung, er würde sie nicht mögen. Oh Gott, wenn sie wüsste, wie sehr sie damit falsch lag. Er konnte nicht glauben, dass ihr nicht aufgefallen war, wie es um ihn stand. Im Nachhinein betrachtet jedoch musste er sich eingestehen, dass er bei vielen Situationen nicht besonders freundlich zu ihr gewesen war. Eigentlich hatte er sie sogar immer recht schroff und abweisend behandelt, damit sich keine falschen Gedanken einschleichen konnten. Matt schloss die Augen und ließ große Teile der vergangenen Jahre noch mal Revue passieren. Kein Wunder dass Tammy dachte, er würde sich nicht mögen. Er hatte ihr keinen Grund gegeben, das Gegenteil anzunehmen. In Selbstvorwürfen und Selbstzweifel getaucht, dass Gesicht in den Händen, saß er vor der Couch auf dem Boden. Erst als es zu dämmern begann, löste sich seine Starre. Ihm war aufgegangen, dass er nicht gänzlich verloren war. Noch waren seine Optionen nicht gänzlich ausgeschöpft.

Sein Leben war nicht vorbei, sondern nur auf Eis gelegt, von ihm selbst auf Eis gelegt. Er würde sein Leben wieder in den Griff bekommen und er würde dafür kämpfen, denn er war Marine und die gaben niemals auf. Vielleicht war es die Gewissheit, dass Tammy an ihn dachte oder die Tatsache, dass Joe ihn geliebt und an ihn geglaubt hatte. Matt rappelte sich hoch, wobei ihm sofort wieder schwindelig wurde. Kein Wunder, hatte er doch seit zwei Tage nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. In seinem Kühlschrank herrschte gähnende Leere, also zog er sich an und fuhr zum Supermarkt. Wieder zuhause verstaute er seine Einkäufe und machte sich zwei riesige Sandwichs, die er gierig verschlang und mit einem guten Liter Orangensaft runterspülte. Nach seinem Mahl riss er alle Fenster auf, bezog sein Bett frisch und raffte die Schmutzwäsche zusammen.

Jetzt, da es ihm wieder besser ging, musste er auf einmal an Nick Cellino denken. Auch er war vor einigen Jahren wegen einer Verletzung aus dem Army ausgeschieden, wie Matt gehört hatte. Nick war ein ehemaliger Navy Seal, den Matt 2003 in Miramar, dem Navy Stützpunkt in San Diego, kennen gelernt hatte.

Sie hatten zusammen an einer gemeinsamen Übung von Seals und Marines teilgenommen und sich danach bei der taktischen Besprechung noch ein paar Bierchen gegönnt. Wegen einer Sprunggelenksverletzung, die sich Nick während eines Einsatzes 2004 zugezogen hatte, konnte er dann an SEAL - Sondereinsätzen nicht mehr teilnehmen. Deswegen war Nick in die freie Wirtschaft gewechselt und hatte in San Diego eine Sicherheitsfirma gegründet, die mittlerweile ziemlich erfolgreich war. Von Jose hatte Matt erfahren, dass einige seiner ehemaligen Kameraden für Nick arbeiteten, zum Teil freiberuflich, aber auch in Festanstellung. Die Tätigkeiten erstreckten sich von Beraterjobs über Personenschutz bis hin zum Waffenexperten. Da gab es auch schon mal die eine oder andere Bombe zum Entschärfen. Ehemalige Militärangehörige hatten die allerbesten Voraussetzungen für solche Arbeiten. Sie brachten die körperliche Fitness, die Erfahrung im Nahkampf oder, wie in seinem Falle, eine Scharfschützenausbildung, mit. Ja, seine Chancen, bei Nick unterzukommen, standen gut für ihn als Ex-Marine. Allerdings war ihm auch bewusst, dass ein Kerl wie er, der Alkohol bis zum Abwinken in sich reinschüttete, bei Nick keinen Fuß in die Türe bekäme, wenn er davon erfahren sollte. Trotzdem fuhr Matt den Laptop hoch und googelte die Kontaktdaten von Nicks Firma. Gleich morgen früh würde er ihn anrufen. Willkommen zurück, dachte er sich und zum ersten Mal seit Monaten lächelte er wieder.