6. Januar
Dreikönigstag

Als Pia am nächsten Morgen aufwachte, schlief Ansgar neben ihr und schnarchte leise. Sie wuzelte sich aus dem Bett, schlüpfte in Jeans und Pulli und machte sich einen Becher Milchkaffee, denn der Chai-Tee lag samt Schlafmittel im Müll.

Eigentlich ging es ihr gut. Jedenfalls solange sie nicht an Kathrins Überfall dachte. Sie schob jeden Gedanken daran beiseite und besann sich auf Ansgar. Ja, sie hatte sich in ihn verliebt. Er war einfach nur … wow! Und so nett, und er hatte Humor und so etwas Ritterliches an sich, von dem sie nie gedacht hätte, dass ihr das an einem Jungen gefallen würde. Doch es war so. Wahrscheinlich, weil er trotzdem nicht auf Macho machte. Er nahm sie so, wie sie war. Samt rothaarigem Sturschädel.

Aus dem Augenwinkel nahm Pia eine Bewegung wahr. Paul kam über den Hof. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Sie öffnete ihm die Tür.

»Guten Morgen … Töchterlein.« Es klang verunsichert, als ob er sich nicht mehr traute, sie so zu nennen. Unwillkürlich musste Pia an ihren ausgelassenen Tanz am Weihnachtsabend denken. Es war gerade mal zwei Wochen her und nichts war mehr so wie damals.

»Ich komme gerade von der Polizei.« Er bemerkte den Becher in ihrer Hand. »Hast du auch einen Kaffee für mich?«

»Klar.«

Er folgte ihr in die Küchenecke. »Also, ich war gerade bei der Polizei. Kathrin hat gestanden, dass sie damals das Feuer gelegt hat. Sie besaß einen Schlüssel, weil sie gelegentlich auf dich aufgepasst hat. So ist sie hineingekommen. Sie war voller Hass, nachdem sie Sonja und Bettina am Nachmittag zufällig belauscht und so die Wahrheit erfahren hatte. Sie wollte Rache und ist nachts zurückgekommen. Eigentlich ohne Plan. In der Küche stand noch der Kuchen mit den Kerzen. Da kam ihr die Idee … Sie hat es so aussehen lassen, als wärst du das gewesen. Deshalb die Trittleiter. Der Kommissar meinte, sie war richtig erleichtert, das alles loszuwerden. Ich werde mich wohl um einen Anwalt für sie kümmern müssen.«

Pia reichte ihm den Kaffee. Müde fuhr Paul sich über das Kinn. »Wie soll es nun weitergehen? Kommst du zurück nach München und versuchst es mit mir als Vater noch einmal?« Er klang so besorgt, als ob er befürchtete, sie würde ablehnen.

»Klar«, sagte Pia, während sich ein dicker Klumpen in ihren Hals setzte. Sie schluckte ihn runter. Ganz sicher würde sie jetzt nicht heulen! »Weißt du, was ich nicht verstehe?«

Paul schüttelte den Kopf. »Was?«

»Warum Kathrin immer so kalt und distanziert zu mir war. Es war ja offenbar ziemlich schnell klar, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, was wirklich geschehen war. Sie hatte nichts zu befürchten. Und sie wollte doch ein Kind. Gestern hat sie gesagt, dass sie versucht hat, mich zu mögen …«

»Ja, das hat sie. Sie hat es versucht, nachdem wir dich adoptiert hatten. Es hat mich gewundert, dass sie sich anfangs dagegen gesträubt hat. Wenn sie doch nur mit mir geredet hätte. Seit dreizehn Jahren hat sie es gewusst und nie auch nur ein Wort gesagt.«

»Sie dachte, dass du es weißt. Du hättest es ihr beichten müssen. Dir hat sie verziehen. Sonja nicht. Das hat sie jedenfalls gestern gesagt.«

»Ich wusste es nicht. Wirklich nicht. Glaubst du mir?«

Wer Augen hat zu sehen, der sieht. Das hatte Kathrin gestern gesagt. Vielleicht hätte er es sehen können. Konnte sie ihm vorwerfen, dass er es nicht erkannt hatte? »Aber sicher«, sagte sie leichthin. Leichter, als ihr zumute war.

Oben auf der Galerie rührte sich Ansgar. Einen Augenblick später kam er die Treppe herunter. Die Haare total verstrubbelt. Jeans, T-Shirt, nackte Füße. Paps verschluckte sich beinahe bei seinem Anblick. Hatte er etwa angenommen, Ansgar wäre gestern Nacht nach Hause gefahren?

Ansgar wünschte ihm einen guten Morgen, gab Pia einen Kuss und holte sich ebenfalls einen Becher Kaffee. Ziemlich lässig, fand Pia. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Paul folgte ihm mit den Augen, während er mit Pia sprach. Er musste zurück nach München und wollte sie mitnehmen. »Wenn du deine Aussage bei der Polizei gemacht hast, können wir fahren.«

Morgen fing die Schule wieder an. Die Sache mit dem Internat war für Pia erledigt. Wo sollte sie wohnen? Bei Paul und Simone? Oder etwa alleine in der Wohnung, in der sie bisher als Familie gelebt hatten? So viele Fragen. Es würden sich Antworten finden. Und dann fiel ihr plötzlich ein, dass Tami sich gar nicht gemeldet hatte, um zum Geburtstag zu gratulieren. Wieso das denn? Hoffentlich war ihr nichts passiert. Sie wollte zum iPhone greifen, doch das war ja nicht wasserdicht gewesen. Sie ließ die Schultern sinken. Das war der Grund: Tami hatte es sicher versucht. Doch sie hatte sie nicht erreicht und machte sich bestimmt Sorgen. Sie musste ihr eine Mail schreiben oder besser noch skypen. »Ja, klar«, beantwortete sie die noch offene Frage. »Nachdem ich bei der Polizei war, muss ich aber noch ins Krankenhaus und die Hose zurückgeben.«

»Ich fahre dich«, sagte Paul.

Ansgar gesellte sich zu ihnen. »Ich muss ja auch meine Aussage machen. Mein Wagen steht unten im Dorf. Wenn Sie nichts dagegen haben, fährt Pia mit mir.«

Ein Lieferwagen bog in den Hof. Das Lippert-Logo prangte darauf. Ansgars Vater stieg aus und steuerte auf die Villa Krachmach zu. Was sollte das jetzt werden? Pia ließ ihn ein und stellte Paps Ansgars Vater vor. Doch die beiden kannten sich natürlich.

Auch er machte einen verstörten Eindruck. Sein Blick wanderte von einem zum anderen und blieb schließlich an Paps haften. »Ich habe gehört, was passiert ist, Paul. Und ich muss etwas loswerden … Vielleicht hätte ich das damals schon sagen sollen … Aber das war ja nicht möglich.« Er schob die randlose Brille über die Stirn ins lichte Haar und ließ den Blick zwischen Paul und Pia pendeln. »Damals, als das Haus brannte und Pia vermisst wurde, gehörte ich zum selben Suchtrupp wie Kathrin. Sie hat Pia gefunden und war vielleicht eine Minute vor mir bei den fünf Buchen. Als ich kam … Es war seltsam … Und es konnte ja nicht sein … Für einen schrecklichen Moment sah es so aus, als ob Kathrin das Kind in den Inn werfen wollte. Eine Täuschung. Es war unmöglich. Es ergab ja keinen Sinn. Sie hat mich gehört und der Moment war vorüber. Ich dachte, ich hätte mich geirrt … Doch offenbar habe ich das nicht.« Er wandte sich an Pia. »Es tut mir leid.«

Wieso war sie eigentlich bei den fünf Buchen und nicht in der Höhle der alten Eiche gefunden worden? Pia fiel nichts dazu ein. Vielleicht, weil es hell geworden war und sie sich aus dem Versteck getraut hatte. Vielleicht war sie auch in einer Art von Delirium herumgeirrt und Kathrin direkt in die Arme gestolpert? Sie hatte sie also schon damals ertränken wollen. Pia wollte diese Wahrheit nicht an sich heranlassen. Es war nicht mehr wichtig. Es war vorbei. »Es ist doch nicht Ihre Schuld«, sagte sie zu Ansgars Vater. Sie konnte froh sein, dass er rechtzeitig erschienen war.

Am Vormittag fuhr Pia mit Ansgar nach Wasserburg. Sie machten ihre Aussagen bei der Polizei, dann gab sie die Hose im Krankenhaus ab und packte ihre Sachen in der Villa Krachmach. Währenddessen kamen drei Kinder auf den Hof. Sie waren als Heilige Drei Könige verkleidet, sangen ein Lied, schwenkten das Weihrauchgefäß und malten mit Kreide C+M+B an die Tür, nachdem Pia ein paar Euro in die Sammelbüchse geworfen hatte. Ein Segen für das Haus, um böse Geister fernzuhalten. Glaube und Aberglaube. Sie lagen so nah beieinander.

Die zwölf Raunächte waren vorüber. Sie hatten tatsächlich ihr Leben verändert. Doch Pia war nicht abergläubisch. Es war Zufall gewesen. Hätten Paul und Kathrin sich bereits im Herbst getrennt, wäre genau dasselbe passiert. Denn diese Trennung und Pauls Satz vom reinen Wein hatten all das in Gang gesetzt.

Über Skype war Tami nicht zu erreichen. Sicher saß sie schon im Bus nach Hause. Pia schrieb ihr eine Mail und schob den Laptop in die Reisetasche. Dann sperrte sie das Häuschen ab, steckte den Schlüssel ein und ging hinüber, um sich von Bettina und Stefan zu verabschieden und natürlich auch von Lena, die das Märchenbuch in der Hand hielt. Bettina hatte ihr gesagt, dass sie es zurückgeben sollte.

Das Märchen vom Fuchserl war Teil ihres Lebens. Es verband sie mit ihren Vorfahren. Sie würde es nicht loswerden und wusste auch nicht so genau, ob sie das wirklich noch wollte. Also steckte sie das Buch in den Rucksack.

Von Ansgar hatte sie sich schon in Wasserburg verabschiedet. Für einen Tag. Morgen fuhr er zurück in seine Studentenwohnung in Schwabing. Dann trennten sie nur ein paar Stationen mit S- und U-Bahn. Pias Herz machte einen kleinen Satz, als sie dran dachte. Er hatte ihr einen langen und zärtlichen Kuss gegeben. »Ich habe jetzt schon Sehnsucht nach dir.«

Ich auch, dachte Pia, als sie nun neben Paul auf den Beifahrersitz kletterte. Jetzt schon. Ob sie es einen Tag ohne ihn aushielt? Irgendwie würde sie das schon hinkriegen.

Paul startete den Wagen. Pia winkte Lena, Bettina und Stefan zum Abschied. Ihr Paps war schweigsam. Eigentlich wie immer. Ein Vielredner war er noch nie gewesen. Doch Pia sah ihm an, dass er mit seinen Gedanken bei Kathrin und Sonja war und bei der Tatsache, dass er wirklich ihr Vater war.

»Wohin bringst du mich jetzt eigentlich?«

Für einen Moment wandte er den Blick von der Straße ab. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Und ich würde mich freuen, wenn du die zweite in Anspruch nimmst.«

»Habt ihr denn Platz für mich?«

»Bis das Baby kommt, kannst du das Kinderzimmer haben und bis dahin finden wir eine Lösung.«

»Und Simone … Was sagt sie dazu?«

»Es war ihr Vorschlag. Und ich habe mich riesig gefreut, dass sie ihn gemacht hat. Denn ich hätte dich gerne in meiner Nähe. Ich bin dein Vater. Und ich habe dich immer geliebt. Auch wenn ich das vielleicht nicht so gut zeigen kann. Wir sind eine Familie.«

Pia schluckte die aufsteigenden Tränen runter. »Na ja, eher Patchwork oder wie das heißt.«

Paps Handy klingelte in der Freisprechanlage. Er ging ran. Natürlich. War ja wieder mal typisch für ihn. Immer für die Firma erreichbar. Auch am Feiertag.

»Moin, moin. Tami hier. Ich kann Pia seit gestern nicht erreichen. Ist irgendwas passiert?«

»Sie sitzt neben mir. Ich gebe dich weiter.«

Was? Tami! Pia pflückte das Handy aus der Halterung. »Hi, Tami.«

»Was ist denn bei dir los? Ich habe mir seit gestern die Finger wund gewählt und deine Mailbox vollgequatscht?«

»Mir geht es gut. Es ist nur …«

»Ansgar. Hoffentlich.«

»Auch. Es ist einiges passiert. Das kann ich unmöglich am Telefon erzählen. Bist du schon zurück?«

»Unser Bus ist gleich in München und rate mal, wer neben mir sitzt?«

»Brauche ich nicht zu raten. Treffen?«

»Klar. Im Mozart!«

ENDE