25. Dezember
Die erste Raunacht

Für eine Weile blieb es im Wohnzimmer still, während die Glockenschläge in der Nacht verhallten und Pia sich auf die Bank im Flur setzte und die Tränen wegwischte.

»Der erste Weihnachtsfeiertag hat begonnen.« Mams Stimme klang träge. Sie hatte echt zu viel getrunken. Es wäre besser, wenn sie ins Bett ginge, dachte Pia, doch sie traute sich nicht, ins Wohnzimmer zu gehen, um genau das vorzuschlagen. »Und mit ihm die Raunächte«, fuhr Mam fort. »Wie passend. Die nächsten zwölf Tage und Nächte bestimmen die Geister unser Leben. Die guten und die bösen. An diesen Schwachsinn habe ich ja nie geglaubt. Doch in diesem Jahr scheint es so zu sein. Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, mir das anzutun?«

Ihre Eltern benahmen sich wie in einem schlechten Film. Nur konnte man leider nicht die Stopptaste drücken. Warum konnte Mam nicht aufhören? War es nicht besser, nichts zu wissen? Doch das war ein kindischer Gedanke. Es war so, wie es war: Paps hatte eine Affäre, eine Geliebte, eine Freundin. Übelkeit und Angst stiegen in Pia auf. Die Tränen wollten wieder kommen. Sie zwinkerte sie weg. Heulen half auch nicht.

»Verlassen ist ein gutes Stichwort«, entgegnete Paps. »Ich wollte es dir eigentlich erst nach den Feiertagen sagen. Ich ziehe aus. Mir reicht es. Deine Kälte. Dein Perfektionismus. Es steht mir bis hier.«

Unwillkürlich sah Pia, wie Paps die Hand bis über die Stirn hob und einen Strich zog. Einen Schlussstrich.

»Das alles muss ein Ende haben. Auch diese Geschichte mit Pia.«

Was? Der Schreck fuhr wie ein Schwert durch sie, wollte sie in Stücke schlagen. Was für eine Geschichte denn? Plötzlich raste ihr Herz. In wilden Schlägen pochte es in ihrer Brust, dröhnte in ihren Ohren.

»Wir müssen ihr endlich reinen Wein einschenken. Sie ist kein kleines Kind mehr. Sie sollte …«

»Nein! Das werden wir nicht«, unterbrach Mam ihn. Ihre eben noch schleppende Stimme war mit einem Mal wach und klar. »Wehe, du wagst es! Sie darf das nie erfahren. Nie. Das war die Vereinbarung. Nur über meine Leiche.«

Pias Kehle schnürte sich zu. Was durfte sie um Himmels willen nie erfahren? Nur über Mams Leiche! Warum sie anders war? Warum man sie nicht lieben konnte? Was falsch an ihr war? Etwas rührte sich im tiefsten Winkel ihrer Seele, in ihrem finstersten. Der dunkle Schatten, wie ein wehender Mantel. Pia sprang auf, rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, bevor sie sich aufs Bett warf. Gleich würde Paps kommen und fragen, was los war, ob sie etwa den Streit mitbekommen hatte. Es tut mir so leid, würde er sagen.

Doch niemand kam. Die beiden stritten weiter. Wobei streiten nicht das richtige Wort war. Nur ab und zu hoben sich die Stimmen und wurden scharf.

Warum machte Paps alles kaputt? Mam war schon immer so gewesen, so perfekt und distanziert. Sie war einfach nicht in der Lage, ihre Gefühle zu zeigen. Er hatte sie so geheiratet und plötzlich hielt er es nicht mehr aus. Das war doch total unlogisch und verlogen. In Pia braute sich eine Mischung aus Wut, Trauer und Fassungslosigkeit zusammen. Zusammengerollt starrte sie auf das Schneeflockenmuster der Bettwäsche. Wir müssen ihr endlich reinen Wein einschenken.

Vielleicht lag es ja gar nicht an Mam, sondern an ihr.

Pia wischte die Tränen fort und holte die Keksdose ins Bett. Sie zog die Decke bis zum Kinn und futterte einen Schokotaler mit Pfefferminzfüllung. Warum fühlte sie sich plötzlich so elend und schuldig? Eigentlich wollte sie gar nicht wissen, was Paps ihr endlich sagen wollte. Vom Vanillekipferl bröselte Puderzucker ins Bett. Na und? War doch egal.

Das Smartphone lag im Wohnzimmer. Doch das alte Handy steckte in der Jeans. Pia simste Tami an. Skypen? Dann schnappte sie sich den Laptop, schlüpfte wieder ins Bett und schob einen Zimtstern in den Mund.

Die Schlafzimmertür schlug zu. Paps oder Mam? Sicher nicht beide. Der Signalton erklang. Tami war online. Sie trug Pias Mütze, strahlte wie sonst was und wollte zu einer ihrer typischen flapsigen Begrüßungen ansetzen. Doch als sie Pia sah, blieb ihr die im Hals stecken. Das freche Grinsen verschwand schlagartig. »Was ist denn los? Hast du geweint?«

»Paps hat eine Freundin. Er will ausziehen.«

»Was?«

Pia erzählte Tami von diesem total aus dem Ruder gelaufenen Weihnachtsabend. »Wenn Mam nur nicht so viel getrunken und den Mund gehalten hätte.«

»Na, das ändert ja nichts an der Tatsache«, meinte Tami. »So zu tun, als wäre da nichts, löst das Problem schließlich nicht.«

Es klopfte kurz an der Tür. Paps sah herein. »Ach, da bist du. Alles klar?« Es klang unsicher. Pia gelang ein schiefes Lächeln. »Klar. Ich skype grad mit Tami.«

»Ja … dann. Gute Nacht, Pia.«

»Dir auch eine gute Nacht.« Sie wartete, bis Paps verschwunden war, und wandte sich an Tami. »Das Problem bin offenbar ich.«

Eigentlich wollte sie nicht darüber sprechen. Das hatte sie noch nie getan. Es war ja nur so ein merkwürdiges Gefühl, das sie begleitete, seit sie denken konnte. »Irgendwie scheint das mit mir zusammenzuhängen.«

Tami schüttelte den Kopf. »Das ist der Klassiker. Kind fühlt sich schuldig, weil die Eltern sich trennen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Aber du bist nicht sieben wie ich damals. Es liegt nicht an dir. Vielleicht liebt er deine Mutter nicht mehr, vielleicht braucht er auch mal Abwechslung. Das hat nichts mit dir zu tun. Rede dir das bloß nicht ein.«

»Das alles muss ein Ende haben, hat er gesagt. Auch diese Geschichte mit Pia.«

»Was für eine Geschichte denn?«

»Keine Ahnung. Das ist es ja.« Pia gab sich einen Ruck. »Irgendetwas stimmt nicht mit mir.«

»Wie meinst du das? Was soll denn mit dir nicht stimmen?«

»Es ist nur so ein Gefühl … Ich kann das nicht richtig beschreiben. Es gibt etwas, über das in der Familie nicht geredet wird, und das hat mit mir zu tun. Etwas hält alle auf Distanz. Das war schon immer so. Ich kann das nirgends richtig festmachen. Niemand tuschelt hinter meinem Rücken. Jedenfalls nicht so, dass ich es mitbekommen würde. Niemand sieht mich komisch an oder macht zweideutige Bemerkungen. Ich spüre es nur. Da ist etwas, das mich von ihnen trennt. Total Banane, ich weiß.«

»Das nennt man Tabu und nicht Banane.« Nun entwischte Tami doch ein Grinsen. »Und jetzt sagt dein Paps, dass man dir reinen Wein einschenken sollte, und deine Mam will das auf gar keinen Fall. Nur über ihre Leiche. Hat sie das echt so gesagt?«

Pia nickte. »Sie hatte zu viel Wein intus.«

»Ich an deiner Stelle würde morgen mit meinem Paps einen Spaziergang machen und ihm die Würmer aus der Nase ziehen. Lass einfach nicht locker, bis er mit der Wahrheit rausrückt.«

Eigentlich eine gute Idee, doch Pia spürte, wie sich alles in ihr dagegen sperrte. »Mal sehen.«

»Mal sehen? Das klingt nicht so, als wärst du scharf darauf, das Geheimnis zu lüften.«

Stimmt. Bin ich nicht. Wirklich nicht. Eine Welle von Panik schwappte in Pia hoch. Tami konnte es nicht verstehen. Sie verstand es ja selbst nicht. »Ich überlege es mir.«

»Tu das. Und wenn es morgen Stress mit deinen Eltern gibt, dann komm doch einfach zu mir. Quatschen, Filme gucken, Plätzchen futtern.«

Sie redeten noch eine Weile, bis Pia völlig erschöpft und müde war und ihr jedes Wort gesagt schien. Kurz vor eins verabschiedeten sie sich. Pia räumte den Laptop weg und zog endlich das Kleid aus. Es war total zerknüllt. Ein kleines Schwarzes. Damit ist man nie falsch angezogen. Mam und ihr beschissener Perfektionismus. Pia pfefferte es in die Ecke. Von ihr aus konnte es dort verrotten.

Bevor sie ins Bett ging, sah sie aus dem Fenster. Vereinzelte Schneeflocken taumelten vom Himmel, als könnten sie dieser verhunzten Nacht doch noch einen Hauch von Zauber schenken.

Vor fünf Minuten waren ihr beinahe die Augen zugefallen und nun konnte sie nicht einschlafen. Ihre Gedanken begannen, Karussell zu fahren. Bilder und Gesprächsfetzen des Abends wirbelten durcheinander und vermischten sich mit Erinnerungen. Das muss ein Ende haben. Wir müssen ihr endlich reinen Wein einschenken. Niemals. Das war die Vereinbarung.

Du bist nicht wie die anderen. Du bist anders.

Oma hatte das gesagt. Pias Erinnerungen schnellten im Bruchteil einer Sekunde zehn Jahre zurück.

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Es ist der sechste Januar. Heilige Drei Könige. Der letzte Tag der Weihnachtsferien. Am Tag zuvor haben sie Pias siebten Geburtstag gefeiert und nun besuchen sie die Großeltern in Wasserburg. Es liegt nur eine Stunde von München entfernt, doch sie fahren selten dorthin.

In einer weiten Schleife umfließt der Inn die Stadt. In seiner Oberfläche spiegelt sich der Himmel. Ein feiner Pelz von Raureif überzieht die Sträucher am Ufer. Auf den Dächern und dem Kopfsteinpflaster der Altstadt liegt eine dünne Schneeschicht.

Beinahe alle Häuser sehen hier so aus wie in Italien. Schmale pastellfarbene Fassaden. Stuckverzierte Fenster. Flache Dächer. Paps parkt vor dem Haus von Oma und Opa. Es ist vanillegelb. Unten ist die Bäckerei, oben die Wohnung. Der Laden ist natürlich am Feiertag geschlossen. Bei Oma und Opa riecht es wie immer. Nach Äpfeln und Bohnerwachs und natürlich auch nach Weihnachtsgebäck. Der letzte Stollen wird angeschnitten. Die Erwachsenen unterhalten sich. Pia rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Ihr ist langweilig. Paps und Mam machen einen Spaziergang zum Friedhof. Pia will nicht mit. Opa fragt, ob sie Fotos ansehen möchte, und holt die Alben hervor. Er blättert durch vergilbte Aufnahmen. Pia hört Geschichten über Leute, die längst tot sind. Schließlich werden die Bilder bunt und eines weckt ihr Interesse. Es wurde im Winter unten auf dem Platz vor der Bäckerei aufgenommen. Männer mit furchterregenden holzgeschnitzten Masken und zotteligen Umhängen aus Fell sind darauf zu sehen. Sie tragen mit Schellen und Rasseln besetzte Stöcke, manche auch große Kuhglocken und andere brennende Fackeln. Sie sehen unheimlich aus und auch faszinierend. Sie sind so schrecklich schön. Pia fragt, wer sie sind. Opa erklärt es ihr. »Das sind die Perchten. Sie treiben den Winter und die bösen Geister aus. Jedes Jahr um diese Zeit machen sie das. Auch heute wieder, wenn es dunkel wird. Magst du es dir ansehen? Das Perchtentreiben ist ein riesiger Spaß, wenn man mutig ist. Denn sie jagen die Kinder. Traust du dich?«

»Und ob!« Sie will diese schrecklichen Masken mit den riesigen Nasen und den spitzen Zähnen sehen, diese gruseligen zotteligen gehörnten Gestalten. Sie will sich vor ihnen fürchten, sich vielleicht jagen lassen. Sie will dieses schaurig-schöne Kribbeln fühlen.

Oma wirft Opa einen warnenden Blick zu und schüttelt den Kopf. »Nein, das ist nichts für dich. Sie werden dich nicht schonen. Du bleibst zu Hause.«

Sie will unbedingt mitmachen. »Ich will aber!«

Doch Oma bleibt hart. »Ich will aber«, beharrt Pia. »Die anderen Kinder dürfen doch auch.«

»Du bist aber nicht wie andere Kinder«, entgegnet Oma. »Du bist …« Einen Augenblick zögert sie. »Du bist anders. Ein Fuchserl eben. Du bleibst heute im Haus und basta.«

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Pia setzte sich im Bett auf. Du bist … anders. Oma hatte gezögert. Eigentlich hatte sie nicht anders sagen wollen. Das war ihr damals schon aufgefallen. Pia hatte nachgebohrt. Oma hatte geschwiegen oder eine Ausflucht gesucht. Genau wusste Pia es nicht mehr. Jedenfalls hatte sie keine Antwort auf die Frage bekommen, was denn an ihr anders war.

Es war beinahe zwei Uhr. Sie rollte sich auf die Seite. In der Wohnung war es so still wie im ganzen Haus. Eine unheimliche Ruhe. Nur ab und zu das Knacken einer Diele, irgendwann das ferne Rumpeln des Fahrstuhls, der nach oben kam. Manchmal fuhr ein Auto vorbei. Unten auf der Straße bellte ein Hund. Schließlich fiel Pia in einen unruhigen Schlaf.

Sie träumte von einem Schiff, das durch haushohe Wogen gleitet, einem unbekannten Ziel entgegen, an Deck eine Herde weißer Schafe. Nur eines ist unter ihnen, dessen Fell ist so schwarz wie die Nacht, durch die sie segeln. Die anderen meiden es, drängen sich ängstlich an die Reling. Aus Nacht wird Tag. Sie erreichen Land. Die Schafe sind auf einmal verschwunden. Das Schiff auch. Pia steht allein im Wald. Etwas schleicht am Ufer entlang, streift durchs hüfthohe Gras, dessen Spitzen sich wiegen wie im Wind. Doch da ist kein Wind. Der Tag hat den Atem angehalten. Etwas wird geschehen. Etwas Furchtbares.

Es ist ein Fuchs, der sich anpirscht. Sie kann ihn nicht sehen, aber sie fühlt seine Nähe und weiß plötzlich, dass sie sich vor ihm nicht fürchten muss. Vor ihm nicht. Er meint es gut mit ihr. Sie folgt der wogenden Spur der Gräser zu einem Haus. Weiße Mauern, dunkle Fensterläden. Wolken jagen über den Himmel, schieben die Sonne beiseite, ziehen eine schmale Mondsichel ans Firmament. Sterne funkeln. Mit einem lauten Knall öffnen sich die Fensterläden des Hauses, machen sich weit, wollen ihr Einlass gewähren. Aus dem Gras springt der Fuchs. Sein Schweif leuchtet so rot wie eine brennende Fackel. Er setzt übers Fensterbrett ins Haus. Sie hüpft hinterher.

Der Fuchs ist verschwunden. Stattdessen Flammen. Überall Flammen. Es brennt. Beißender Qualm, sengende Hitze. Das Feuer ist überall. Es umgibt sie wie ein Wall. Züngelnde Flammen greifen nach ihrem Kleid, nach ihrem Haar. Balken ächzen und knacken. Beißender Rauch setzt sich in Augen und Mund, strömt in die Lunge. Sie muss hier raus! Hustend sieht sie sich um. Wo ist der Kuchen? Sie schnappt ihn sich und läuft nach draußen. Doch draußen ist drinnen. Alles verwandelt sich. Plötzlich sitzt sie in einer Höhle aus Eis. Schneeweiß glitzernde Wände. Funkelnde Eiszapfen hängen von der Decke wie eine Reihe scharfer Zähne. Ihr ist kalt. Frierend kauert sie sich zusammen, will den Kuchen essen. Doch aus ihrer Hand windet sich eine Schlange. Eine silbrige, schuppige Schlange. Sie windet sich höher und höher. Sie kann nicht mehr atmen. Sie wird sterben!

Schreiend und nach Luft japsend wachte Pia auf. Ihre zitternden Finger fanden die Nachttischlampe kaum. Das Schlafshirt klebte schweißnass auf ihrer Haut. Dieser furchtbare Traum, der sie durch ihre Kindheit begleitet hatte. Seit Jahren hatte sie ihn nicht mehr geträumt.

Pia stand auf, zog ein frisches Shirt an und schlich über den Flur zur Küche. Was sie jetzt brauchte, war ein Becher Chai-Tee. Die Wohnzimmertür war zu. Vermutlich schlief Paps dort. Als das Wasser kochte, brühte sie den Tee auf und kippte heiße Milch dazu. Mit dem Becher setzte sie sich an den Küchentisch. Was wollte dieser Traum ihr sagen? Dass sie ein schwarzes Schaf war? Dass es ein großer Fehler war, den Falschen zu vertrauen, in diesem Fall dem Fuchs?

Der Becher in ihrer Hand zitterte, als sie ihn zum Mund hob. Es war doch nur ein Traum. Hirngespinste. Nichts, was wirklich geschehen war. Allmählich wurde sie ruhiger. Doch die Angst saß noch immer wie ein kalter Stein in ihr. Eine Zeit des Umbruchs stand bevor. Ihre Eltern trennten sich. Ihr ganzes Leben würde sich ändern.

Am fünften Januar wurde sie siebzehn. Sie war aus dem Gröbsten raus, wie Mam immer sagte. Sie war kein kleines Kind mehr, das auf eine intakte Familie angewiesen war. Auf einen sicheren Hafen. Auch wenn ihre Eltern sie nicht sonderlich liebten, waren sie doch eine Familie. Paps war nun mal so. Eher wortkarg, keiner, der in überschwänglichen Gefühlen badete, und doch war er ihr Vater. Sie wollte ihn nicht verlieren. Und auch Mam konnte aus ihrer Haut nicht raus. Sie war schon immer so gewesen. Kalt, hatte Paps gesagt. Es war übertrieben. Kühl passte eher. Das hatte er doch gewusst. Von Anfang an. Und nun war es die Begründung, warum er sie verlassen wollte. Diese kühle Art lag bei Mam in der Familie. Auch Oma war so. »Eine der Eisheiligen ist nach Oma benannt.« Das hatte Opa mal halb im Scherz gesagt. »Die kalte Sophie.« Aber es war eben nur zum Teil scherzhaft gemeint gewesen.

Vielleicht sprachen Mam und Paps sich ja aus. Vielleicht würde alles wieder gut. Pia wünschte sich nichts mehr als das. Die Kirchturmuhr von Sankt Johannes schlug drei.

Mit dem Becher Tee stellte Pia sich ans Fenster. Hinter den Scheiben lag die Nacht wie ein schwarzer Schlund. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel. Genau wie in ihrem Traum. Pia fröstelte. Das Gefühl von nahendem Unheil verstärkte sich.

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Es klopfte an der Tür. Pia fuhr aus einem wirren Traum hoch. Sie fühlte sich total zerschlagen. Mam kam ins Zimmer und mit ihr der Geruch nach Gänsebraten und Blaukraut. »Steh jetzt bitte auf. Pauls Eltern kommen in einer halben Stunde.«

Am liebsten hätte Pia sich die Decke über den Kopf gezogen und den Tag verschlafen. Doch ganz die brave Tochter, die sie nun mal war, trabte sie folgsam Richtung Bad. Dabei warf sie einen Blick ins Wohnzimmer. Es roch frisch gelüftet. Alles war wie immer. Kein Bettzeug auf der Couch. Kein Brösel auf dem Tisch, kein Teller oder Glas zeugten von einem völlig danebengegangenen Weihnachtsabend. Mam hatte die Situation total im Griff. Und sich selbst natürlich auch.

Wo Paps wohl geschlafen hatte? Im Schlafzimmer sicher nicht. Ebenso wenig in seinem Arbeitszimmer, es sei denn, auf dem Boden. Pia ging ins Bad. Mam rumorte in der Küche. Wahrscheinlich stand sie schon seit dem Morgengrauen dort und schnibbelte und schälte und blanchierte und filetierte und versuchte so, die Wahrheit von sich fernzuhalten. Oder ging es ihr eher darum, den Schein zu wahren? Durfte das Bild der famosen Familie Winter nach außen keinen Kratzer bekommen, durfte der Lack nicht bröseln? War es echt so wichtig, was die anderen dachten? Wie scheinheilig und wie armselig war das denn! Es war doch scheißegal. Ihre Großeltern würden sowieso mitkriegen, was hier lief.

Nachdem sie geduscht hatte, zog Pia ihre Lieblingsjeans an, die mit dem Riss, der quer über den Oberschenkel verlief und schon total ausgefranst war. Dazu ein graues Sweatshirt. Sollte Mam ruhig einen Aufstand machen. Pia hatte keine Lust, die ihr zugedachte Rolle bei diesem Theater zu spielen.

Gut gewappnet ging sie in die Küche. Gleich würde Mam ausflippen. Ihr Blick glitt taxierend an Pia hinab und gleichzeitig ging er durch sie hindurch. Entweder fehlte ihr die Kraft, sie zurechtzuweisen, oder sie nahm sie wirklich nicht richtig wahr. Pia sagte dann doch den Spruch auf, der erwartet wurde. »Kann ich was helfen?«

»Das ist lieb von dir. Du kannst den Tisch decken. Für fünf. Mit dem guten Geschirr.«

»Warum kommen Oma und Opa aus Wasserburg eigentlich nicht?«

»Sie sind bei Tante Marie eingeladen. Außerdem geht es den beiden gesundheitlich nicht so gut. Die Fahrt ist zu anstrengend.«

Dieselbe Begründung wie letztes Jahr und im Jahr davor. Pia überlegte, wann sie Oma und Opa zuletzt gesehen hatte. Es war bestimmt drei Jahre her. Der Kontakt war nie eng gewesen. Doch einmal im Jahr hatte man sich getroffen. In der Weihnachtszeit. Entweder hier in München oder in Wasserburg. Hatte Mam sich etwa mit ihren Eltern verkracht?

Es kamen also nur Omi und Opi aus Augsburg. Pünktlich um halb eins klingelte es an der Wohnungstür. Paps erschien auf der Bildfläche und ließ seine Eltern ein. Auch er hatte sich nicht fein gemacht und trug Jeans und Pulli, während Mam sich noch rasch umgezogen hatte und wie immer fabelhaft aussah. Nur wenn man genau hinsah, bemerkte man die mit Makeup kaschierten Augenringe.

Omi schleppte eine riesige Zimmerpflanze an, einen Weihnachtsstern. Opi brachte zwei Flaschen Wein mit und für Pia ein Geschenk, das sie gleich auspacken sollte. Er wollte sehen, ob es das Richtige war. Und ob. Ein stylisher On-Ear-Kopfhörer. Doch so recht freuen konnte Pias sich darüber nicht. Ihr schien die dicke Luft mit Händen greifbar, doch offenbar war sie die Einzige, die das bemerkte.

Nach außen stimmte wieder alles. Ein toll gedeckter Tisch, ein fantastisches Essen. Mam und Paps gaben sich Mühe, nett zueinander zu sein. Ein sinnloser Kraftakt, dachte Pia. Früher oder später würden Omi und Opi erfahren, was hier los war. Ihren Großeltern schmeckte der Gänsebraten mit Blaukraut und Knödeln, während Pia jeden Bissen herunterwürgte.

Warum spielten ihre Eltern Theater? Was für eine verdammte Heuchelei. Langsam stieg Wut in ihr hoch und vertrieb den Kummer. Doch da war noch etwas anderes. Die Angst, dass das alles mit ihr zusammenhing. Sie wusste, dass sie Paps nicht vorschlagen würde, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Sie würde ihm die Würmer nicht aus der Nase ziehen, so wie Tami es vorgeschlagen hat. Sie konnte die Frage nicht stellen, was es denn war, das sie nie erfahren durfte. Nur über Mams Leiche. Die Angst war einfach zu groß, es könnte eine schreckliche, eine unfassbare Wahrheit sein.

Nach dem Essen räumte sie wieder freiwillig die Küche auf. Irgendwann gab es Kaffee und Weihnachtsgebäck und dann verabschiedeten Omi und Opi sich endlich. Sie wollten zu Hause sein, bevor es dunkel wurde.

Die Tür schlug hinter ihnen zu. Paps verschwand im Wohnzimmer, während Mam noch einen Augenblick an der Tür neben Pia stand. Sie sah, wie die Anspannung von ihrer Mutter abfiel und Schultern und Mundwinkel herabsanken. Von einem Augenblick auf den anderen sah sie müde aus, total fertig und unendlich traurig. So hatte Pia ihre Mam noch nie gesehen. Eine Welle von Mitleid schlug in ihr hoch. Ehe sie darüber nachdenken konnte, umarmte sie ihre Mutter. »Ach, Mam. Es tut mir so leid. Ich habe gestern natürlich euren Streit mitbekommen«, fügte sie erklärend hinzu. »Ehekrisen sind doch fast normal nach zwanzig Jahren. Vielleicht wird ja alles wieder gut. Wenn ihr wollt, dann könnt ihr das doch sicher schaffen.« Pia hörte sich zu und kam sich vor wie eine Hochstaplerin. War sie etwa Psychotherapeutin oder Eheberaterin? Was wusste sie denn schon.

Mam trat einen Schritt zurück und befreite sich so aus Pias Umarmung. Wieder eine Zurückweisung. So subtil wie gewohnt, dass es kaum noch wehtat.

»Das ist alles nicht so einfach«, sagte Mam. »Wir werden sehen, wie es weitergeht. Ob es weitergeht. Du musst mir nicht helfen, den Kaffeetisch abzudecken. Ich mache das schon.«

Plötzlich wollte Pia nur noch weg. Sie musste raus und mit jemandem reden. »Gut, dann fahre ich jetzt zu Tami.«

»Ja, mach das. Dann kommst du auf andere Gedanken. Grüß sie und ihre Mutter von mir.«

Pia ging in ihr Zimmer und zog eine Strumpfhose unter die löchrige Jeans, sonst würde sie sich erkälten. Dann simste sie Tami an und suchte ihren Kram zusammen. Das neue iPhone, den MP3-Player und dazu den Kopfhörer von Opi. Doch der ließ sich nicht an den Player stöpseln. Bis sie herausfand, dass er beides in einem war, Kopfhörer und Abspielgerät. Wie lässig war das denn? Sie überspielte noch die Playlisten von ihrem Laptop und war endlich fertig. Im Flur nahm sie die Daunenjacke vom Bügel. Mam und Paps saßen im Wohnzimmer und redeten. Anscheinend dachten sie, Pia wäre schon längst gegangen. Sonst hätten sie die Tür geschlossen. In jedem Satz klirrte das Eis.

»Sie ist also eine Kollegin.«

»Ja«, sagte Paps. »Und wenn du es wirklich so genau wissen willst: Ja, sie ist zwanzig Jahre jünger als ich und ich weiß, dass ich damit so ungefähr jedes Klischee eines Mannes in der Midlife-Crisis erfülle. Darauf kannst du dich gerne berufen, wenn es für dich so leichter wird. Aber ich liebe sie und sie ist schwanger von mir. Du weißt, wie sehr ich mir immer ein Kind gewünscht habe.«

Mam schwieg eine Sekunde. Dann kam die messerscharfe Erwiderung. »Du hast ein Kind!«

Paps seufzte. »Jetzt stell dich nicht dumm. Du weißt genau, was ich meine.«

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Tami drückte Pia ein Päckchen Tempos in die Hand und ließ sich zurück aufs Bett fallen. »Das ist ja echt der Hammer.«

»Mein Vater ist also gar nicht mein Vater!«, erklärte Pia schniefend. Sie saß in der Hängematte, die sich in Tamis Zimmer zwischen zwei Balken unter der Dachschräge spannte, und trocknete sich die verheulten Augen. Sie fühlten sich ganz verquollen an. Genau wie die Nase. Ihr Kopf dröhnte vom Heulen. Das konnte doch nicht sein! Ihr Paps war gar nicht ihr Paps. Ihre Eltern hatten sie ihr Leben lang belogen!

Wie sie zu Tami gekommen war, wusste sie nicht so genau. Natürlich wie immer, mit U-Bahn und Bus. Doch ihr fehlte so gut wie jede Erinnerung daran, als ob ihr jemand eins über den Schädel gezogen hätte. Und irgendwie war das ja so.

»Vielleicht hast du das falsch verstanden.«

»Anders lässt sich dieser Satz doch gar nicht verstehen. Paps hat gesagt, wie sehr er sich schon immer ein Kind gewünscht hat, und Mam hat ihn daran erinnert, dass er eines hat. Nämlich mich. Und er sagt: Du weißt genau, wie ich das meine. Was kann man da missverstehen? Gar nicht. Ich bin nicht sein Kind.«

Es klopfte an der Tür. Tamis Mutter sah herein. Asymmetrischer Kurzhaarschnitt, rote Nerd-Brille, gemütliche fünf Kilo zu viel auf den Rippen. In der Hand balancierte sie einen Teller mit Weihnachtsgebäck. »Störe ich?«

»Eigentlich schon«, erwiderte Tami.

»Großer Gott! Was ist denn passiert?« Bestürzt stellte Tamis Mutter den Teller ab, als sie Pias verheultes Gesicht sah, und ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch plumpsen.

Tami verdrehte die Augen. »Mama, du störst wirklich.«

»Meine Eltern trennen sich«, sagte Pia. Das war ja nun die Wahrheit.

»Ach Gott. Du Arme. Und das ausgerechnet im Jahr vor dem Abitur.«

An Schule und Abi wollte Pia nun wirklich nicht denken.

»Mama, falls du es noch nicht mitgekriegt hast: Wir wären wirklich lieber allein.«

»Bin ja schon weg.« Tamis Mutter stand auf und nickte Pia aufmunternd zu. »Das wird keine leichte Zeit. Aber du wirst das schaffen. Du bist ein starkes Mädchen. Und in jedem Mist, den man durchmachen muss, steckt auch etwas Gutes. Man muss nur danach Ausschau halten.«

»Mama!«

»Jaja. Ich gehe ja schon.« Die Tür schloss sich hinter Tamis Mutter.

»Puh. Manchmal weiß sie einfach nicht, wann es genug ist.«

»Ich finde deine Mutter nett.«

»Wie gesagt, wir können gerne mal tauschen«, entgegnete Tami grinsend. »Mir ist ihre Betütelei manchmal echt zu viel.«

»Ich werde jedenfalls nie so wie meine Mutter. Immer ist die Fassade wichtiger als das, was dahintersteckt. Das ist so was von verlogen. Sie hätte Schauspielerin werden sollen. Wie sie sich heute im Griff gehabt hat, als Omi und Opi da waren. Und Paps ist nicht besser. Beide haben getan, als ob nichts wäre.« Pia berichtete von der toll inszenierten Show Die perfekte Familie Winter und vergaß darüber für ein paar Minuten ihren eigentlichen Kummer. Ihr Vater war nicht ihr Vater. Schließlich endete sie erschöpft. Ihr Schädel brummte. Sie fühlte sich so hohl und leer, wie ausgekotzt.

Tami schnappte sich den Plätzchenteller und hielt ihn Pia unter die Nase. »Die Schokotaler sind super gegen Frust jeder Art.«

Pia nahm einen. Doch schon von dem Geruch wurde ihr schlecht.

»Ich finde, dass er doch dein Vater ist«, sagte Tami mit vollem Mund. »Vielleicht nicht dein biologischer. Aber er hat dir die Pampers gewechselt und mit dir Schneemänner gebaut und die aufgeschürften Knie verarztet und was man als Vater sonst so tut.«

»Aber nie wirklich gerne. Das habe ich immer gespürt.« Und plötzlich verstand sie es. Daher kam also dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, anders zu sein. »Meine Mam muss ihn betrogen haben und ich bin das Ergebnis dieses Seitensprungs. Und offensichtlich wissen alle in der Familie Bescheid. Nur ich nicht. Das ist es. Das ist die Vereinbarung, die sie getroffen haben.«

»Dann muss dein Vater das aber von Anfang an gewusst haben.«

»Sag nicht Vater. Er ist nicht mein Vater. Ich werde ihn nur noch Paul nennen. Natürlich sieht es ihm ähnlich, gute Miene zu diesem blöden Spiel zu machen. Allen beiden. Sie sind ja so zivilisiert und so abgeklärt.«

Das ist der Grund, weshalb sie mich so kühl behandeln, überlegte Pia. Wie ein Auto, das man hegt und pflegt, das aber nur ein Ding ist, das man in Schuss halten muss. Das ist der Makel, der an mir haftet. Ich bin ein Kuckuckskind. Für Mam die tägliche Erinnerung an ihren Betrug, denn sie war schon einige Jahre verheiratet, als sie endlich schwanger wurde, und für Paul war sie das lebende Zeichen für Mams Verrat.

»Aber hallo?«, sagte Tami. »Wenn dein Paps das weiß und sich auf das Spiel eingelassen hat, dann muss er deine Mutter schon sehr lieben. Andere geben in so einem Fall Gas. Aber vielleicht ist er ja zeugungsunfähig und deine …«

»Das ganz sicher nicht. Seine Neue ist schwanger von ihm. Wer wohl mein richtiger Vater ist?«

»Ich würde sie einfach fragen.«

»Mam wird nichts sagen.«

»Und dein Vater?«

»Weiß nicht.«

»Aber gestern wollte er dir doch reinen Wein einschenken. Rede mit ihm.«

Der Schatten begann, sich zu rühren. Tief in ihrem Innersten wachte er auf, reckte und streckte sich. »Es muss einen Grund geben, weshalb sie nie mit mir darüber gesprochen haben. Dahinter steckte mehr als ein Seitensprung.«

»Hm?« Tami stützte den Kopf in die Hände. »Vielleicht ist er ja ein Krimineller und sitzt im Knast.«

Möglich war das natürlich. Alles war denkbar. Der Keks zerbröselte zwischen Pias Fingern.

Ein Ruck ging durch Tami. »Ich hab’s! Guck doch einfach mal in deine Geburtsurkunde. Wenn Paul nicht dein Vater ist und er das von Anfang an gewusst hat, dann steht vielleicht der Name deines leiblichen Vaters drin.«