1. Januar
Die achte Raunacht

Dröhnend läuteten die Glocken von Sankt Jakob das neue Jahr ein. Silvesterraketen explodierten am Himmel, bunte Funken regneten herab. Überall Menschen in den Gassen und Straßen, die sich ein gutes neues Jahr wünschten, einander umarmten und lachten, Böller und Kracher abfeuerten und mit Sekt anstießen.

Tränenblind stolperte Pia unter den Arkaden hindurch und bemerkte den Schatten nicht, der ihr folgte. Sie wich den Menschen aus, suchte instinktiv Dunkelheit und bog in eine verlassen daliegende Gasse ein. Niemand sollte sie sehen, die Mörderin!

In ihrem Innersten tobte ein Sturm. Ja! Ja! Ja! Ihr habt recht gehabt! Es ist besser, nicht alles zu wissen. Bettina und Kathrin und auch Ansgar hatten sie schützen wollen vor dieser furchtbaren Wahrheit. Du bist nicht wie die anderen. Du bist böse! Du bist eine Mörderin. Du hast mir mein Ein und Alles genommen! Meine geliebte Tochter. Das hatte Oma sagen wollen. Das war es, was mit ihr nicht stimmte. Das war das Tabu, das sie umgab und von allen trennte. Deshalb die Distanz zu Kathrin und Paul. Man hatte ihnen die Mörderin aufgehalst. Sie darf das nie erfahren. Das war die Vereinbarung. Alle hatten es nur gut gemeint mit ihr. Doch sie mit ihrem Sturschädel hatte niemandem vertraut.

Deshalb brannte in ihren Träumen ein Haus. Nein, nicht ein Haus. Das Haus! Das Austragshäusl! Es war nicht baufällig gewesen, wie Ansgar gesagt hatte, sondern eine verkohlte Ruine. Bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Von ihr. An ihrem Geburtstag. Wieder sah sie den Geburtstagskuchen vor sich. Kerzen steckten darauf. Es sind vier.

Ich will die Kerzen anzünden, Mama. Bitte!

Du bist dafür noch zu klein, Pia. Feuer ist kein Spielzeug. Es ist gefährlich.

Ich will aber, Mama. Ich will. Bitteee! Lass mich!

Na gut, mein Schatz. Ich helfe dir. Du musst aber vorsichtig sein.

Ein Kerl tauchte vor ihr auf. Pia fuhr zusammen und blieb stehen. Er versperrte ihr den Weg. »Na, Kleine. Warum so traurig? Komm zu mir, ich werde dich trösten. Ich und mein kleiner Freund.« Lallend kam der Mann auf sie zu. In der einen Hand eine Bierflasche, die andere nestelte an der Hose herum. Pias Gedanken schnellten ins Hier und Jetzt, alle Erinnerungen zerstoben. Panisch sah sie sich um. Im Augenwinkel nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr. Doch als sie genauer hinsah, war da niemand. Verlassen lag die Gasse da. Keine Menschenseele weit und breit. Sollte sie schreien? Angst setzte sich wie ein Korken in ihre Kehle und lähmte sie. Der Kerl kam Schritt für Schritt näher, während ein Auto um die Ecke bog und die Scheinwerfer ihn erfassten. Fleckige Jeans, zerrauftes Haar, ein wirrer Blick. Der Wagen wurde langsamer und stoppte. Jemand stieg aus. »Da bist du ja, Martl. Komm, steig ein. Du hast genug für heute.«

»Aber das Mädel da, das wollte ich noch beglücken.«

Der Fahrer bemerkte Pia. »Alles in Ordnung mit Ihnen? Der Martl … Er hat Ihnen doch hoffentlich nichts getan?«

Pia erwachte aus der Erstarrung, schüttelte den Kopf und stolperte weiter. Sie bog in eine Gasse ein und dann in noch eine und noch eine, bis sie sich wieder auskannte. Sie hatte die Straße erreicht, die hinunter zum Inn führte, zum Fußweg nach Galsterried. Lediglich ein paar Laternen, die in weitem Abstand voneinanderstanden, beleuchteten ihn dürftig. Sie folgte ihm und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie zitterte. Vor Kälte und vor Angst und Wissen und zog die Arme um sich. Ihr Gesicht war tränennass.

Der Fluss zog lautlos durch die Nacht, ein stilles Fließen, ein dunkler Sog, der den Zugang zu einer anderen Welt in sich trug. Man musste nur die Schwelle überschreiten. Es ging ganz einfach.

Was dachte sie denn da?

Sie war eine Mörderin! Es wäre nur gerecht. Plötzlich sah sie Bilder vor sich. Aufgewirbelt aus dem Vergessen durch Amelies Worte.

Ihre Kinderhand, die eine Kerze anzündet. Sie fällt um, purzelt auf die bunte Papiertischdecke, die sie zuvor mit Mama bemalt hat. Flammen schlagen daraus hervor …

Keuchend stolperte Pia weiter, schlang die Arme fester um sich. Ihr war so kalt. Die Jacke hing noch im Waterside. Sie hatte das Haus in Brand gesetzt! Warum hatte denn niemand etwas getan? Warum hatte niemand ihre Mama gerettet? Es waren doch alle da gewesen. Auf den Geburtstagsfotos waren sie zu sehen. Oma und Opa. Kathrin und Paul. Bettina und Stefan. Ayla und Mark und Mia.

Stolpernd und frierend erreichte sie die Stadtgrenze. Der Weg führte weiter, die Beleuchtung nicht. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Die Geräusche der Stadt blieben zurück. Ab und zu drang noch das Knallen eines Feuerwerkskörpers zu ihr, erhellte ein bunter Sternenregen für Augenblicke die Dunkelheit, doch schon nach der erste Kurve umgab sie Stille, aus der die Geräusche der Nacht zu steigen begannen wie Nebel aus den Wiesen. Ein Ächzen und Knarren, als ob der Wald um Mitternacht zum Leben erwacht war und mit ihm die Geister der Raunächte. Pia strauchelte über einen Ast, der quer über dem Weg lag, und fiel auf die Knie. Sie rappelte sich auf, ging weiter. Der Wind schlug ihr einen Zweig ins Gesicht. Kälte und Verzweiflung krochen tiefer und tiefer in ihr Innerstes. Ein Knacken drang aus dem schmalen Waldstreifen zwischen Ufer und Weg und ein leises Keuchen.

Da war jemand!

Jemand war hinter ihr her. Das Böse. Sie konnte seine Nähe spüren. Wie in ihrem Traum. Doch sie träumte nicht. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah sich um und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Da war nichts. Sie bildete sich das ein. Es wäre besser umzukehren. In der Stadt könnte sie sich ein Taxi nehmen.

Ein Luftzug streifte ihr Gesicht. Etwas raschelte direkt neben ihr. Adrenalin flutete jede Zelle ihres Körpers. Sie wirbelte herum. Etwas verfehlte sie nur knapp, streifte Kopf und Schulter. Ein Schatten stürzte aus der Dunkelheit. Der nächste Schlag traf den Rücken. Benommen ging sie zu Boden. Ein knüppeldicker Ast landete neben ihr. Jemand warf sich auf sie.

Pia schrie, so laut sie konnte, und trat um sich. Die Erkenntnis, dass niemand sie hören konnte, wollte sie lähmen. Der Schatten griff nach ihren Beinen, zerrte sie weg vom Weg, hinein ins Gebüsch. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht. Keuchender Atmen. Ein Griff wie eiserne Klammern … Rudernd schlug Pia um sich, versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Ihr Pulli schob sich hoch. Ihr nackter Rücken schlitterte über Blaubeergestrüpp und verharschten Schnee, über Steine und Brombeerranken. Die Haare verfingen sich im Unterholz. Weiter und weiter ging es Richtung Ufer. Wollte er sie etwa ersäufen? Plötzlich erstarrte der Schatten, hielt inne, als ob er lauschte, und lockerte für einen Moment den Griff. Pia gelang es, sich loszureißen und auf die Beine zu kommen. Der Schatten verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war, verschmolz mit Dunkelheit und Wald. Weg war er. Was hatte ihn vertrieben? Pia torkelte zurück auf den Weg. Rotz und Tränen liefen ihr übers Gesicht, ihr Rücken brannte wie Feuer. Ein blendendes Licht traf sie. Sie schrie auf.

»Pia. Ich bin’s doch. Ansgar.« Er ließ die Taschenlampe sinken.

Tatsächlich. Ansgar.

»Himmel! Wie siehst du denn aus? Was ist denn passiert?«

»Weiß nicht. Es ging so schnell …«

»Bist du überfallen worden?«

Pia nickte.

»Ich habe niemanden gesehen. Nur deinen Schrei habe ich gehört. Wohin ist er denn abgehauen?«

»In den Wald.« Pia wies Richtung Wasserburg.

»Dann hätte ich ihn aber bemerken müssen. Zum Ufer ist es nicht weit. Und in den Inn wird er ja wohl nicht sein.« Mit der Lampe leuchtete Ansgar ins Dickicht und suchte es ab. »Da ist niemand. Vielleicht ist er doch in die andere Richtung unterwegs. Du solltest zur Polizei gehen.«

»Ist ja nichts passiert.« Sie wollte nur nach Hause. Ins Bett. Die Decke über den Kopf ziehen. Ihre Stimme zitterte ebenso wie jede Faser ihres Körpers. Das war alles nicht wahr! Das konnte nicht sein. Sie schlief und hatte einen Albtraum. Zur Abwechslung mal was Neues. Gleich würde sie aufwachen. Gleich.

»Nichts passiert. Du bist gut.« Ansgar schüttelte den Kopf.

»Wo kommst du eigentlich so plötzlich her?«

Sie sah den Ruck, der durch seinen Körper ging, und wie sich seine Augen unwillkürlich verengten. »Du hast deine Jacke vergessen«, sagte er schließlich. »Ich wollte nicht, dass du erfrierst.« Tatsächlich. Die ganze Zeit über hatte er sie in der Hand gehalten. Er half ihr, sie anzuziehen, als sie es alleine nicht schaffte. »Ich habe dir doch gesagt, dass du diesen Weg nicht bei Dunkelheit gehen sollst. Im Herbst wurde hier eine Frau überfallen. Den Täter hat man bis heute nicht erwischt.« Er klang wie ein besorgter großer Bruder.

»Ich will heim.«

»Dass du jetzt nicht mehr Party machen willst, habe ich mir schon gedacht. Lass uns umkehren. Ich fahre dich. Aber du musst das anzeigen.«

Pia verlor jedes Gefühl für Zeit. Plötzlich saß sie neben Ansgar im Auto und im nächsten Moment erreichten sie schon den Hof. Bei Bettina, Stefan und Lena war es dunkel. Nur in den Fenstern standen die Kerzen in ihren Gläsern und hielten die bösen Geister fern. Pia musste lachen. Man trug sie in sich und sie waren durch nichts zu bannen.

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Ansgar schloss die Tür hinter ihr. Sie war in Sicherheit. Vor Erschöpfung und Erleichterung begannen die Tränen wieder zu laufen. Wie gut, dass Ansgar ihr nachgegangen war, sonst … Sie wollte sich nicht vorstellen, was sonst passiert wäre.

»Am besten gehst du unter die heiße Dusche und ich sehe zu, dass ich das Feuer wieder in Gang kriege.«

Er klang so vernünftig und so schrecklich distanziert. »Danke. Für alles.« Ein schiefes Lächeln bekam sie irgendwie hin. »Ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen.« In seinen dunklen Locken hatte sich das Stück eines Zweiges verfangen, sie zupfte es heraus.

Das prasselnde heiße Wasser tat gut. Wo der Knüppel sie getroffen hatte, zeichneten sich rote und blaue Flecken auf der Haut ab. Sie taten weh. Die Kratzer auf dem Rücken brannten höllisch. Trotzdem blieb sie so lange unter der Brause stehen, bis ihre Haut ganz rot war und ihre Gedanken ein wenig ruhiger.

Als sie in Jeans und Pulli und mit zwei Paar Socken an den Füßen zurück ins Zimmer kam, fühlte sie sich ein wenig besser. Richtig warm war ihr noch immer nicht, aber sie fror nicht mehr so erbärmlich und im Ofen prasselte das Feuer, das hoffentlich die Kälte vertreiben würde. Ansgar stand am Herd. »Ich habe Chai-Tee gemacht.«

Genau das, was sie jetzt brauchte. Er war so nett! »Danke.« Sie setzte sich in den Schaukelstuhl. Die Flammen züngelten hinter der Scheibe des Ofens. Ihr Widerschein tanzte an der Wand, orangefarbene Zungen. »Du hast es die ganze Zeit gewusst. Warum hast du mich belogen?«

Ansgar kam mit zwei Bechern Tee. Einen drückte er ihr in die Hand. Mit dem anderen setzte er sich aufs Sofa. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich habe mich an der Wahrheit entlanggehangelt, als ich verstanden habe, dass du keine Ahnung hast, was damals passiert ist. Du hattest es offenbar vergessen. Und deine Familie hatte es dir anscheinend nie gesagt. Es ging mich nichts an. Ich wollte mich da nicht einmischen. Das war meine ursprüngliche Motivation. Doch dann ist mir klar geworden, was es für dich bedeuten würde, wenn du die Wahrheit erfährst. Es würde dir den Boden komplett unter den Füßen wegziehen. Du hattest ohnehin schon genug Probleme. Es war also besser, nichts zu sagen.« Er sah auf. »Amelie, diese dumme Kuh. Sie hatte mir versprochen, den Mund zu halten.«

»Deshalb wolltest du also, dass ich zurück nach München fahre.«

»Ja, natürlich. Deine Mutter und Bettina hatten recht. Es wäre besser gewesen.«

»Alle haben Bescheid gewusst, sogar Amelie. Halb Wasserburg. Nur ich nicht. Ich komme mir so dumm vor. Was ist damals passiert? Ich kann mich echt nicht erinnern. Bis auf ein paar Bruchstücke fällt mir absolut nichts ein.«

»Das ist doch normal. Du warst ein kleines Kind. Und schreckliche Erlebnisse vergisst man gerne. Ein Selbstschutz.«

»Ich durfte die Kerzen am Kuchen anzünden. Mama wollte es zuerst nicht erlauben. Doch ich habe so lange gebettelt, bis ich durfte. Eine ist umgefallen und hat die Tischdecke in Brand gesetzt. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann.« Ratlos sah Pia auf. »Das kann es doch nicht gewesen sein. Es waren so viele Leute da. Das Feuer hätte man löschen können, und selbst wenn nicht, wieso hat niemand Mama gerettet?«

Ansgar starrte ins Feuer. »Du warst schon damals ein kleiner Sturschädel. Als die Tischdecke in Flammen aufging, war das natürlich ein Schreck, doch sie war schnell gelöscht und die Aufregung legte sich. Du wolltest die Kerzen wieder anzünden. Sonja hat es dir verboten und musste schließlich das Feuerzeug vor dir verstecken, weil du es immer wieder genommen hast. Nachts bist du aufgewacht und nach unten in die Küche gegangen und hast das Feuerzeug vom Küchenbuffet geholt. Dafür hast du einen Stuhl oder Schemel davorgeschoben und bist auf die Ablage geklettert. Dann hast du getan, was du schon die ganze Zeit tun wolltest. Du hast ein Stück Kuchen abgeschnitten, das hat man am nächsten Tag hier in der Villa Krachmach gefunden, und du hast die Kerzen angezündet und dabei ist das Feuer ausgebrochen. Neben dem Kuchen lag die Mappe mit den Wochenplänen fürs Zentrum. Bettina hatte sie dort liegen lassen, nachdem sie die Pläne mit Sonja am Abend noch durchgegangen war. Vermutlich ist eine Kerze umgefallen und hat die Papiere in Brand gesetzt. Davon ging jedenfalls der Brandsachverständige aus.«

Pia wunderte sich, dass sie so ruhig blieb. Als ob es sie gar nicht beträfe und eine Fremde das Haus angezündet hätte. Der Kuchen, den sie sich in ihrem Traum schnappte und mit dem sie ins Freie rannte, war also ein Stück Wirklichkeit. »Und das alles weißt du noch so haargenau, obwohl es dreizehn Jahre her ist und du erst acht warst?«

Ansgar stellte den Becher ab. »Ich habe vorgestern mit meinem Vater darüber gesprochen. Er war damals im Einsatz. Er war am Unglücksort. Wie ich gesagt habe.«

Pia erinnerte sich. Nur hatte sie da noch an einen Autounfall geglaubt.

»Bis die Feuerwehr hier war, brannte das Haus lichterloh. Anfangs dachten alle, du wärst auch tot. Doch ein Feuerwehrmann hat Spuren von dir im Schnee entdeckt. Sie führten in den Wald. Es wurden Suchmannschaften gebildet. Ganz Galsterried hat nach dir gesucht, bis man dich schließlich unten am Fluss fand, halb erfroren.«

Noch immer fühlte sie sich fremd in sich selbst. Ihre Träume waren all die Jahre Wegweiser zu ihren Erinnerungen gewesen. Feuer und Eis. Haus und Wald. Der Kuchen. Der Baum unten am Fluss. Sie hatte das alles erlebt.

Ein Auto bog in den Hof. Überrascht sah Pia auf. Wer kam da nachts um zwei? Es war ein Streifenwagen.

»Ich habe die Polizei wegen des Überfalls informiert, während du geduscht hast. Du musst das anzeigen.« Ansgar stand auf und ließ den Polizisten herein. Er kannte ihn. Sie begrüßten sich mit Handschlag. Der Moser Franz war ein Freund seines Vaters. Ein Mann mit Schnauzbart und Bierbauch, den nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen schien. Pia berichtete, was geschehen war. Es war alles so schnell gegangen. Nicht mal eine Minute konnte der Überfall gedauert haben. Eine Beschreibung des Täters konnte sie nicht abgeben. Sie hatte ihn ja nicht gesehen, nur eine schemenhafte Silhouette mit Kapuzenpulli. Vielleicht war es dieser Martl gewesen, der ihr schon in der Stadt zu nahe gekommen war. Doch der hatte keine Jacke mit Kapuze getragen. Pia berichtete von diesem Zwischenfall. Der Kerl schien polizeibekannt zu sein, denn der Moser schüttelte grimmig den Kopf. »Der schon wieder. Wenn er besoffen ist, dann ist er oft so darauf. Bisher hat er noch keiner was getan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das war. Aber wir werden es natürlich überprüfen.«

Er notierte sich Pias Angaben und bat sie, morgen auf die Polizeiinspektion zu kommen, um die Anzeige zu unterschreiben. Und falls ihr noch etwas einfiel, sollte sie ihn anrufen. Bevor er fuhr, gab er ihr seine Visitenkarte.

Die Uhr zeigte halb drei, als sich die Tür hinter ihm schloss. Pia war aufgewühlt und todmüde zugleich. Ansgar räumte die Becher weg. Er wirkte so anders. So fremd. So distanziert. Kein Wunder. Sie hatte ihm ja unmissverständlich klargemacht, dass sie nichts von ihm wollte. Doch welche Rolle spielte das jetzt noch? Keine. Sie war eine Mörderin. Sie hat ihre eigene Mutter umgebracht. Aus Trotz und Sturheit. Auch wenn sie das nicht gewollt hatte.

»Kommst du alleine klar?« Pia sah auf. Ansgar war neben sie getreten. »Oder soll ich bleiben?«

Natürlich sollte er bleiben. Sie wollte jetzt nicht alleine sein. Sie wollte sich an ihn kuscheln, seine Wärme spüren und vielleicht ein paar beruhigende Worte hören. »Kein Problem. Geh ruhig. Du hast schon so viel für mich getan.«

Unschlüssig stand er da. »Ja, dann …«

Einen Moment sahen sie sich an, bis Pia aufstand und ihn kurz umarmte. »Danke für deine Hilfe.« Er roch nach Wind und Wald und er fühlte sich so richtig an. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Doch sie hatte es vermasselt. Restlos vermasselt. Alles. Einfach alles.

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Der erste Tag des neuen Jahres hing grau und dreckig vor den Fenstern wie ein ausgewrungener Putzlappen. Es war schon beinahe Mittag und es wurde nicht hell. Pia hatte keine Auge zugetan, dafür aber einen Entschluss gefasst. Sie würde aufgeben. Keine weitere Suche nach Wahrheiten. Mit dem iPhone setzte sie sich an den Küchentisch und rief Kathrin an. Nach dem fünften Klingeln sprang der AB an. Vermutlich hatte sie bei Evelyn und Benno Silvester gefeiert und dort übernachtet. Also versuchte Pia es auf dem Handy und hatte Erfolg. Ihre Tante und Adoptivmutter in Personalunion meldete sich. »Hi, Kathrin. Ein gutes neues Jahr.«

»Dir auch, Pia. Ein gutes neues Jahr.«

»Wollte nur sagen, dass ich heimkomme und dass du recht gehabt hast. Und Bettina auch.«

Einen Moment war es still am anderen Ende. »Du weißt es also. Wer hat es dir gesagt?«

»Kennst du nicht.«

»Wer?«

Pia hörte den unterschwelligen Zorn, der in der Frage mitschwang. »Du kennst sie wirklich nicht. Eine Freundin vom Ansgar Lippert.«

»Vom Lippert. Natürlich. Immer die Lipperts. Hätte ich mir ja denken können. Wie geht es dir?«

»Na ja, nicht so toll. Kannst du dir ja vielleicht vorstellen, wenn man das Haus angezündet und seine eigene Mutter getötet hat.«

»Das hast du doch nicht absichtlich gemacht, Pia. Es war ein furchtbares Unglück. Paul und ich wollten nicht, dass du das jemals erfährst. Deshalb sind wir mit dir weggezogen und haben allen das Versprechen abgenommen, dass sie dir das nie erzählen. Wir wollten wirklich immer nur dein Bestes.«

»Das habe ich inzwischen kapiert. Vertrauen und so. Ich hätte besser auf dich gehört. Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich mich nicht daran erinnern kann.«

»Ja. Das ist sicher gut und du solltest auch nicht versuchen, dich daran zu erinnern. Das bringt nichts außer Schmerz und Tränen und weiteren Schuldgefühlen. Soll ich dich abholen?«

»Nicht nötig. Ich nehme morgen den Zug.«

»Warum nicht heute?«

Pia hatte keine Lust, Kathrin von dem Überfall zu erzählen, tat es dann aber doch. Früher oder später würden sie und Paul sowieso davon erfahren. »Ich muss noch zur Polizei. Eine Aussage unterschreiben.«

»Eine Aussage? Wieso denn?« Es lagen tatsächlich Sorge und Beunruhigung in Kathrins Stimme.

»Jemand hat mich gestern Nacht überfallen …«

»Überfallen? Wurdest du …«

»Keine Panik. Klingt schlimmer, als es war. Es ist nichts passiert. Ansgar war in der Nähe. Er hat die Polizei gerufen und jetzt muss ich meine Anzeige noch unterschreiben. Das ist alles und ich muss mich bei ihm entschuldigen.«

»Ich weiß nicht … Dir geht es nicht gut und du bist allein. Es wäre besser, wenn du gleich nach Hause kommst.«

»Ich nehme morgen den ersten Zug. Okay?«

Kathrin seufzte. »Du wirst ohnehin tun, was du willst.«

Nachdem sie sich von Kathrin verabschiedet hatte, sah sie aus dem Fenster. Warum hatte sie den Überfall verharmlost? Es war furchtbar gewesen. Allein bei dem Gedanken an diesen schwarzen Schatten, der sich auf sie stürzte, fing sie wieder an zu zittern. Wer war das gewesen? Er hatte kein Wort gesprochen und irgendwie glaubte sie nicht, dass er vorgehabt hatte, sie zu vergewaltigen. Er hatte sie so zielsicher zum Ufer gezerrt, als ob er sie im Inn versenken wollte. Plötzlich war sie sicher, dass es so gewesen war. Er hatte sie ertränken wollen. Das war doch total verrückt, völlig abgefahren. Woher wollte sie das denn wissen? Die Bilder der letzten Nacht überlagerten sich mit denen aus ihren Albträumen.

Sie lief durch den Wald. Das Böse war hinter ihr her, sie hörte den keuchenden Atem, den Nachhall von Schritten, das Brechen von Zweigen …

Das iPhone begann, Emily zu spielen, und holte Pia zurück in die Gegenwart. Tamis Name erschien im Display.

»Moin, moin, Pia, und ein gutes neues Jahr! Und ebenfalls sorry! Ein ganz fettes Sorry. Ich bin ein solches Rindvieh! Aber du hast das total in den falschen Hals gekriegt!«

»Ich weiß …«

»Dass ich ein Rindvieh bin?«

»Klar. Cuxhavener Buntscheckige oder wie auch immer die Rasse heißt.« Jetzt musste Pia tatsächlich grinsen, und das tat gut. Es nahm ein wenig vom Druck und von der Kälte in ihr. »Tut mir leid, dass ich dich gestern einfach weggedrückt habe. Echt. Und dir auch ein gutes neues Jahr.«

»Du bist ein bisschen dünnhäutig momentan. Kann das sein?«

»Gut möglich. Und was ist nun mit Tobi?«

»Um Mitternacht unterm Sternenzelt … wie gesagt.«

»Ne? Nicht wahr?«

Während Tami ausführlich berichtete, wie der Funke endlich bei Tobi gezündet hatte, fühlte Pia einen Hauch von Neid. Ihrer besten Freundin gelang einfach alles. Natürlich fragte Tami, wie es mit Ansgar im Waterside gewesen war. Pia schilderte ihr das komplette Fiasko bis zu der Stelle, als sie Ansgar gefragt hatte, ob sie zum Knutschen nicht besser reingehen sollten, damit Amelie das auch mitbekam. Tami stöhnte. »Sag, dass du das nicht gesagt hast.«

»Doch, habe ich. Natürlich!«

»Spinnst du? Er sagt, dass er dich mag, und du unterstellst ihm, dass er Spielchen spielt, obwohl du Puddingknie hast, wenn du ihn nur ansiehst. Wie kommst du auf die schräge Idee?«

»Er wollte nur Amelie eifersüchtig machen.«

»’tschuldige. Dann wäre es aber wesentlich sinnvoller gewesen, dich drinnen anzubaggern und nicht draußen im Strandkorb, wo keiner euch sehen konnte.«

»Ich bin einfach nicht so leichtgläubig. Jedenfalls nicht mehr seit der Sache mit Sebastian.«

»Die Sache mit Sebastian? Das ist Jahrmillionen her und längst verjährt und Sebastian war ja wohl ein Vollpfosten. Ist er auch heute noch. Nicht alle Jungs sind wie er. Genauer betrachtet, sogar die wenigsten. Darüber solltest du mal nachdenken. Und wie geht es sonst so?«

Pia versuchte, all dem Schlamassel eine ironische Seite abzugewinnen. »Bis auf die Tatsache, dass meine Mutter nicht bei einem Autounfall ums Leben kam, sondern durch ein Feuer, das ich gelegt habe, geht es mir prima. Ach ja, und dann wurde ich gestern Nacht auch noch von einem Perversen überfallen. Aber sonst ist alles wunderbar.«

»Was?« Tami schnappte nach Luft. »Und das erwähnst du so nebenbei. Das war es also, was sie dir nicht sagen wollten. Scheiße. Und als Sahneklecks obendrauf auch noch ein Überfall. Schlimm?«

»Nein. Es ist nichts passiert. Ansgar kam dazu und der Kerl ist abgehauen.«

»Dir geht es echt nicht gut. Wenn ich meinen Kram gleich packe, kann ich heute Abend in München sein. Ab Innsbruck fahren Züge. Und bis dorthin komme ich irgendwie mit dem Bus.«

Pia war total gerührt. »Das ist lieb von dir. Aber nicht nötig. Ich komme schon klar und in ein paar Tagen bist du ja zurück.«

Natürlich wollte Tami alles haargenau wissen. Pia erzählte, wie Ansgar sie gerettet hatte.

»Äh … Wo kam er denn so plötzlich her?«

»Ich hatte meine Jacke vergessen. Die hat er mir nachgetragen.«

»Und woher wusste er, wo er dich finden würde?«

»Es gibt nur zwei Wege. Und es war klar, dass ich den kürzeren nehme.«

»Ganz ehrlich: Ich finde es seltsam, dass er genau in dem Moment aufgetaucht ist, in dem du seine Hilfe brauchen konntest, und dann sagt er, dass er den Kerl überhaupt nicht bemerkt hat. Es gab nur zwei Fluchtmöglichkeiten für ihn. Deine Worte.«

»Er ist im Unterholz verschwunden.«

»Und das liegt zwischen dem Inn und dem Wanderweg und ist an dieser Stelle nur ein paar Meter breit, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

»Ja. Vielleicht vier oder fünf. Mehr nicht.«

»Dann hätte Ansgar ihn aber sehen müssen oder wenigstens hören. Es ist Winter. Keine Blätter an den Bäumen und Büschen. Wo sollte er sich denn bitte schön versteckt haben?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist er doch Richtung Galsterried davon.« Pia wurde langsam ungeduldig und sauer. Was Tami da andeutete …

»Vielleicht war es ja Ansgar.«

»Spinnst du? Warum sollte er mich überfallen und ins Gebüsch zerren.«

»Um den Helden zu geben, den tollen Retter.«

»Quatsch. Das macht doch keinen Sinn.«

»Doch. Natürlich. Der Prinz rettet die Prinzessin vor dem Drachen und erringt so ihre Liebe. Nur wenn da kein Drache ist …«

»Er hat sich aber anschließend wie ein großer Bruder verhalten und nicht wie ein verhinderter Lover.«

»War ja nur so eine Idee«, lenkte Tami ein. »Und wie war das jetzt mit dem Feuer?«

Pia erzählte ihr, was sie von Ansgar über den Tod ihrer Mutter erfahren hatte. Es erschien ihr immer noch unwirklich und ungeheuerlich. Sie hatte das doch nicht gewollt!

»Ist eigentlich verständlich, dass deine Adoptiveltern nicht wollten, dass du das erfährst.«

»Alle wollten mich vor dieser Wahrheit beschützen. Sogar Ansgar. Aber deswegen ist sie trotzdem wahr.«

»Kleine Kinder zündeln nun mal. Habe ich auch gemacht. Das war doch keine Absicht von dir.« Etwas piepte. »Mist. Der Akku ist gleich alle«, sagte Tami. »Mein Angebot gilt. Ich schmeiße mich in den Zug.«

»Ne, musst du nicht. Ich komme schon klar«, sagte Pia. Sie spürte, dass sie allein sein wollte. Das Bild vom dünnen Eis tauchte wieder auf, unter dem ein dunkler Abgrund lauerte.

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Immer wenn der Kummer groß war, tat sich ein Loch in ihrem Bauch auf. So auch jetzt. Im Kühlschrank waren nur noch Joghurt und Milch. Beides reichte nicht, um das Loch zu stopfen. Da Feiertag war, konnte sie Einkaufen knicken. Vielleicht konnte Bettina ihr etwas borgen.

Pia ging hinüber. Bettina öffnete. »Hallo Pia. Ein gutes neues Jahr wünsche ich dir.«

Pia wünschte ihr dasselbe.

»Du siehst schlecht aus. Geht es dir nicht gut?«

»Passt schon. Ich bin nur hungrig und der Kühlschrank ist leer. Kann ich mir bei dir etwas leihen?«

»Natürlich. Komm rein. Unser Brunch steht noch auf dem Tisch. Setz dich doch einfach dazu.«

»Ich will euch nicht stören.«

»Du störst nicht und außerdem bin ich allein. Lena und Stefan machen einen Spaziergang.«

Sie bugsierte Pia auf einen Stuhl am üppig gedeckten Tisch. Ehe sie sich’s versah, standen ein Becher Milchkaffee vor ihr und eine Schale mit Birchermüsli.

Bettina setzte sich. »Was ist los mit dir? Dich bedrückt doch etwas.«

Es wussten ohnehin alle. Also konnten auch alle erfahren, dass sie nun Bescheid wusste. »Amelie hat mir gestern Nacht die Wahrheit gesagt. Von wegen Autounfall. Ihr habt mich alle angelogen. Und Kathrin ist gar nicht die tolle Heldin, die mich gerettet hat.« Das wurde ihr erst in diesem Moment klar. »Sie ist eine verdammte Hochstaplerin. Von wegen aus dem brennenden Auto gezogen.«

Bettina stand auf und legte ihre Arme von hinten um Pia. Ihre Wärme tat gut und auch der Duft, der von ihr ausging. Nach tausend Blumen. »Es tut mir leid. Genau das wollten wir verhindern. Kathrin, Paul, ich, deine Großeltern … einfach alle. Wir wollten nicht, dass du dich damit belastest und dich schuldig fühlst. Das bist du nicht. Niemand trägt Schuld daran. Es war ein schreckliches Unglück. Solche Dinge geschehen. Quäle dich nicht damit.«

Wie stellte Bettina sich das vor? Sie hatte das Haus angezündet. Das war eine Tatsache. Wenn sie Trotzkopf nicht mit dem Feuer gespielt hätte, wäre das nicht passiert. Dann würde ihre Mutter noch leben. Hier in Galsterried, mit ihr. Dann wäre sie jetzt Mitte fünfzig, graue Strähnen würden sich durch ihr rotes Haar ziehen und sicher würde sie noch Pluderhosen tragen und bunte Ketten und würde Pia anhalten, darauf zu achten, was die Natur ihr mitzuteilen hatte.

»Und Kathrin ist keine Hochstaplerin«, fuhr Bettina fort. »Sie hat dich gerettet. Wenn auch anders als in der Geschichte, auf die wir uns geeinigt haben. Sie hat dich am nächsten Morgen im Wald gefunden. Fast erfroren. Nur eine halbe Stunde später und du wärst tot gewesen.«

Der warme Klang ihrer Stimme, vor allem aber Bettinas ruhige Worte ließen den Damm brechen, den sie im Lauf der Nacht mühsam gegen die Flut der Tränen errichtet hatte. Nun liefen sie wieder, suchten sich ihren Weg, brachen dem Schmerz Bahn.

Bettina blieb bei ihr, bis sie sich ausgeheult und beinahe ein Paket Tempos verbraucht hatte.

»Geht es jetzt besser?«

Pia nickte. Nur der Hunger war immer noch da und wollte gestillt werden. Sie aß das Müsli, während Bettina sich Kaffee einschenkte.

Das eine Geheimnis war gelüftet. Endlich wusste sie, warum sie anders war, was sie von allen trennte. Lieber hätte sie es nicht gewusst. Sollte sie die Suche nach der zweiten Antwort nicht besser einstellen? Am Ende stand sie wieder vor einer fürchterlichen Wahrheit. Doch niemand hatte ihr geraten, diese Frage besser nicht zu stellen. Alle sagten, dass sie nicht wussten, wer ihr Vater war. Was Pia allerdings nicht glaubte. Vor allem Bettina nicht.

Sie spülte einen Löffel Müsli mit Milchkaffee hinunter. »Als ich dich neulich gefragt habe, wer mein Vater ist, hast du gelogen. Warum?«

Es dauerte einen Moment, bis Bettina antwortete. »Weil ich Sonja versprochen habe, dieses Geheimnis zu wahren.«

Plötzlich schlug Pia das Herz bis zum Hals. »Du weißt es also.«

»Sie war meine beste Freundin. Natürlich hat sie sich mir anvertraut. Unter der Voraussetzung, dass ich meinen Mund halte. Ich habe ihr mein Wort gegeben.«

»Aber warum denn? Was ist daran so schlimm, dass ich es nicht erfahren darf?«

»Nichts. Eigentlich nichts.« Bettina seufzte. »Sonja hatte Angst, dass es zwei Menschen verletzen würde und ihre Beziehung zerstören könnte, wenn herauskäme, wer dein Vater ist. Die beiden waren ihr wichtig. Sie waren mehr als gute Freunde.«

»Aber ich habe ein Recht zu erfahren, woher ich komme.«

Bettina nickte. »Ich weiß. Seit du hier aufgetaucht bist, beschäftigt mich diese Frage. Jeder sollte wissen, wo seine Wurzeln sind. Sonja ist tot … Du suchst nach Antworten …« Bettina fuhr sich übers Gesicht. Schließlich sanken die Schultern herab, die Hände legten sich in den Schoß. Pias Mund wurde ganz trocken.

»Die Beziehung der beiden, um die Sonja sich sorgte, ist ohnehin in die Brüche gegangen. Aber ich habe ihr mein Versprechen gegeben und ich habe noch nie mein Wort gebrochen.«

Instinktiv wusste Pia, dass es jetzt besser war, den Mund zu halten und keinen Druck zu machen. Bettina kämpfte mit sich. Pia biss sich auf die Lippen, beobachtete jede Regung und begann, mit dem Stuhl zu kippeln, wie sie es oft tat, wenn sie nervös war.

Schließlich gab Bettina sich einen Ruck. »Also gut. Ich denke, dass Sonja unter diesen Umständen einverstanden wäre. Es wäre allerdings besser, wenn die beiden, die es betrifft, das nicht erfahren. Wobei es vermutlich nicht zu verhindern ist. Dein Vater weiß nicht, dass er dein Vater ist. Vergiss das nicht. Es gab nur zwei, die Bescheid wussten. Sonja und ich. Sonst niemand.«

Pia nickte. Das hatte sie kapiert. Gebannt hing sie an Bettinas Lippen. Tamis Idee vom Pfarrer schoss ihr durch den Kopf und die vom Kursteilnehmer, der über glühende Kohlen lief, und die vom Kriminellen.

»Es ist Paul. Er ist dein Vater.«

»Was? Paul!« Vor Überraschung wäre Pia beinahe mit dem Stuhl umgekippt. Paul war ihr Vater? Nicht ihr Adoptivvater. Nicht ihr Onkel. Oder das vielmehr schon. Onkel und Vater. Ging’s noch? Du weißt, wie sehr ich mir immer ein Kind gewünscht habe. Die Erinnerung an diesen Satz ließ Pia um Haaresbreite in ein hysterisches Kichern ausbrechen. »Paul hat Kathrin mit ihrer eigenen Schwester betrogen und nun hat er sie verlassen, weil seine Geliebte von ihm schwanger ist und er endlich das Kind bekommt, das er sich immer so gewünscht hat. Dabei hatte er schon immer eins. Das ist zum Lachen, wenn es nicht so zum Heulen wäre.« Es war nicht zu fassen! Sie konnte es nicht glauben!

»Betrogen ist ein starkes Wort. Sonja hat ihn verführt. Ein einziges Mal. Sie wollte Mutter werden und sie wollte keinen Vater für ihr Kind. Nur einen … nennen wir ihn Erzeuger, auch wenn sie das anders gesehen hat. Als ein Geschenk, das er ihr allerdings unwissentlich gemacht hat. Sonja mochte Paul, sie schätzte ihn. Er war ein guter Freund, so wie Kathrin mehr Freundin als Schwester für sie war. Damals gab es Probleme zwischen Kathrin und Paul. Nach zwei Fehlgeburten hatte Kathrin erfahren, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Sie hat sich zurückgezogen und war überempfindlich. Ständig suchte sie Streit und machte Paul Vorwürfe. Sie hatte Angst, dass er sie verlassen würde, und bereitete selbst den Boden dafür. Und sie entzog sich ihm auch im Bett. Paul ist ein Mann … Er hatte Bedürfnisse. Es war eine schlimme Zeit und Sonja war eine Vertraute für Paul. Bei ihr konnte er sich ausheulen und seine Probleme abladen. Das hat sie ausgenutzt. Es war nicht schwer, ihn zu verführen. Und wie gesagt: Paul weiß das nicht. Er hat zwar erschrocken nachgefragt, als Sonja schwanger war. Doch sie hatte sich für ihn bereits eine Geschichte von einem anderen Mann ausgedacht. Die hat er geglaubt.«

»Und Kathrin hat keine Ahnung?«

»Nein. Das wussten nur Sonja und ich. Und jetzt auch du. Wie geht es dir damit?«

»Weiß nicht.« Es war so verwirrend. »Bis vor einer Woche war Paul mein Vater, dann nicht und jetzt wieder. Nur anders, als gedacht. Keine Ahnung.« Eigentlich fühlte es sich gut an. Doch, das tat es tatsächlich. Ein kleiner warmer Kern in ihrem Innersten.

»Was wirst du jetzt machen?«

»Weiß nicht.« Auf alle Fälle würde sie morgen ihre Zelte hier abbrechen und nach Hause fahren. Vom Überfall erzählte sie nichts. Das wäre jetzt echt zu viel. Bettina bot an, mit Kathrin und Paul zu reden. Pia wollte es sich überlegen. Vielleicht sagte sie es den beiden auch selbst. Sie aß noch etwas vom Müsli. Das Gespräch geriet allmählich in seichteres Wasser. Schließlich fragte Bettina nach Ansgar. Es war ihr aufgefallen, dass er ein paar Mal hier gewesen war. Die Frage, ob da etwas zwischen ihm und Pia lief, stellte Bettina nicht. Doch sie lag in der Luft. »Er ist ja ein netter Kerl, im Gegensatz zu seinem Vater«, meinte Bettina.

»Da läuft nichts zwischen ihm und mir.« Pia hatte keine Lust, über Ansgar zu reden. »Was ist mit seinem Vater?«

»Er ist ein geldgeiler Kerl. Ich habe ihn noch nie gemocht. Und Sonja auch nicht. Damals vor dreizehn Jahren hat er ihr zugesetzt, dass sie ihm die Wiesen verkaufen soll, als ob er gewusst hätte, dass ein Jahr später Bauland daraus wird und er sich damit dumm und dämlich verdient. Vermutlich hat er das sogar gewusst. Sonja wollte nicht verkaufen. An ihr hat er sich die Zähne ausgebissen. Die Wiesen hätte er nie bekommen, wenn Sonja nicht … Wenn dieses Unglück nicht passiert wäre. Der Seelengarten und die Meditationswiese haben den Lippert gerettet. Seine Baufirma stand damals kurz vor der Pleite.«

Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt. Aus dem Flur erklangen Stimmen. »Wir sind wieder da«, rief Stefan.

Lena kam hereingewirbelt. »Ui, die Pia ist da. Ich habe einen Hasen gesehen. Und die graue Frau. Im Wald. Guck mal, was ich gefunden habe.« Mit einer Feder wedelte sie vor Pia herum. »Von einem Eichelhäher.«

»Die ist schön. Wenn du sie dir ins Haar steckst, siehst du aus wie eine Indianerprinzessin.«

»Au ja.« Lena schob sich die Feder in die Locken. Stefan kam dazu. »Hallo Pia.« Es klang ein wenig unterkühlt. Ihr fiel wieder ein, wie abfällig er sich über Sonja geäußert hatte. Ein falsches Miststück hatte er sie genannt. Und er hatte Angst, dass Pia den Pachtvertrag nicht verlängern würde, wenn sie erst einmal das Sagen hier hatte. Sie mochte ihn nicht. Er war ihr zutiefst unsympathisch. Am besten war es, wenn sie jetzt ging. Sie stand auf, während er sich setzte und die Kleine auf den Schoß nahm.

»Liest du mir jetzt endlich was vor?«, fragte Lena.

Das Märchenbuch fiel Pia wieder ein. »Wenn ich dir das Märchen vorlesen soll, musst du mir aber zuerst das Buch zurückgeben und die Schachtel mit den Fotos und Zeichnungen möchte ich auch wiederhaben.«

Lena schob die Unterlippe vor. »Wieso? Die habe ich gar nicht.«

»Nicht? Ich dachte, du hast sie dir gestern geholt.«

Ein energisches Kopfschütteln war die Antwort.

Stefan fragte, worum es ging.

»Das Heft mit einem Märchen, das meine Oma für mich aufgeschrieben hat, lag bei mir drüben auf dem Tisch und auch die Schachtel mit Fotos und Kinderzeichnungen. Als ich gestern nach Hause gekommen bin, waren sie weg. Ich dachte, Lena hätte sie genommen, weil sie am Vormittag unbedingt wollte, dass ich ihr die Geschichte vorlese.«

»Hab ich gar nicht gemacht!«

»Aber wer war es dann?«

Nun mischte sich Bettina ein und redete Lena ins Gewissen. »Wenn du dir die Sachen geholt hast, dann musst du sie jetzt zurückgeben. Man kann sich nicht einfach Dinge nehmen, ohne zu fragen.« Doch Lena beteuerte weiter ihre Unschuld und brach am Ende sogar in Tränen aus. Schließlich suchte Bettina in Lenas Zimmer und fand nichts. »Guck doch noch mal drüben nach«, bat sie Pia. »Irgendwo wird das Heft schon sein.«

Lena wischte sich die Tränen von der Wange. »Vielleicht hat es die graue Frau genommen.«

»Welche graue Frau denn?«

»Das ist eine Figur aus einer Geschichte mit Geistern und Hexen«, erklärte Bettina. »Ich habe sie wohl zu oft vorgelesen.«

»Ich habe sie aber gesehen«, sagte Lena. »Sie kam aus deinem Häuschen und dann hat sie die Tarnkappe angezogen und sich unsichtbar gemacht.«

»Dann sollte ich vielleicht die Kerzen anzünden, damit mich nicht noch mehr Geister besuchen«, sagte Pia und wuschelte Lena durch die Haare.

Als sie wieder im Häuschen war, suchte sie nach dem Heft und nach der Schachtel. Sie sah in jedem Winkel nach, sogar im Putzschrank und unter der Spüle und im Bad. Die Sachen waren nicht zu finden. Wer hatte sie genommen, wenn nicht Lena? Was konnte jemand mit alten Fotos und dem Märchen vom Fuchserl schon anfangen?

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Pia machte das Bett, putzte den Herd und räumte auf. Alles war besser, als nachzudenken. Dennoch kam das Räderwerk in ihrem Kopf nicht zum Stillstand. Genau betrachtet, war sie ziemlich neben der Spur. Wegen des Feuers, in dem ihre Mutter umgekommen war und das sie gelegt hatte. Wegen Paul, der nun also doch ihr Vater war. Nur wussten er und Kathrin das nicht. Klasse! Wirklich! Und wegen Ansgar.

Was Tami gesagt hatte, stimmte. Er hatte sehr wohl sie gemeint. Biggi hatte es ihr doch bestätigt. Amelie war Ansgars Ex. Sie wollte ihn zurück. So wie es aussah, er aber nicht sie. Natürlich hatte Pia sich in ihn verliebt. Blöderweise hatte sie das erst erkannt, nachdem sie ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass sie von ihm nichts wollte. Vielleicht ließ sich das ja einrenken?

Sie zog das iPhone hervor und schrieb eine Nachricht. Es tut mir leid. Ich bin keine Eisprinzessin. Nur ein wenig kompliziert. Können wir uns treffen? Es klang komisch. So hölzern. Gar nicht witzig oder originell. Tami würde das besser hinkriegen. Lockerer. Doch sie war nicht Tami. Pia löschte den Text.

Die Visitenkarte des Polizisten lag noch auf dem Tisch. Sie steckte sie ein, zog die Jacke an und blickte in den Spiegel, als sie den Buff überstreifte. Forschend sah sie sich an. Wer war sie?

Sonjas Augen. Ihr Teint. Ihre Sommersprossen. Der Mund allerdings war nicht von ihr. Die Lippen hatten etwas von Paul und auch das runde Kinn hatte sie von ihm. Sollte sie ihn anrufen? Doch wozu? Er hatte sich vom Acker gemacht.

Pia sperrte das Häuschen ab und machte sich auf den Weg. Schiefergraue Wolken hingen tief über dem Tal. Schneegeruch lag in der Luft, der Wind brachte allerdings nur einen Graupelschauer mit sich. Sie zögerte, am Fluss entlangzugehen. Doch es war Tag. Einige Spaziergänger waren unterwegs. Niemand würde sie überfallen. Als sie die lang gezogene Kurve erreichte, in der sie vor wenigen Stunden angegriffen worden war, blieb sie stehen. Kein Mensch weit und breit. Der Inn lag in seinem Bett wie flüssiges Blei, grau und träge. Es waren wirklich nur wenige Meter bis zum Ufer. Ein Schaudern erfasste sie. Sie begann zu zittern und ging eilig weiter. Wie gut, dass Ansgar ihr gefolgt war. Wenn er nur ein paar Minuten später gekommen wäre …

Sie zog das iPhone hervor und tippte mit kalten Fingern eine Nachricht. Können wir uns treffen? Dann bekommst du meine Entschuldigung live. Total unwitzig. Aber nach Witzen war ihr nicht zumute.

Eine halbe Stunde später betrat sie die Polizeiinspektion und fragte nach Franz Moser. Seine Schicht war längst vorbei. Die Anzeige lag vor. Pia las sie durch und unterschrieb. Dabei erfuhr sie von Mosers Kollegin Eva Schmied, dass der Martl es nicht gewesen sein konnte. Der Mann war ein stadtbekannter Säufer. Man hatte ihn schon befragt. Auch den Freund, der ihn in der Altstadt aufgelesen und nach Hause gefahren hatte. Zur Zeit des Überfalls war der Martl daheim gewesen.

Als sie vor die Polizeiinspektion trat, begann es wieder zu graupeln. Der Wind war stärker geworden. Sie zog den Buff über die Haare und das iPhone hervor. Keine Antwort von Ansgar.

Was hatte sie denn erwartet? Sie war nun mal anders. Wenn auch keine Eisprinzessin. Dass er sie so genannt hatte, tat weh. Vielleicht hatte Oma recht. Etwas Böses umgab sie. Eine böse Tat stand am Anfang ihres Lebens. Lüge und Arglist. Sonja hatte Pauls Vertrauen und Freundschaft missbraucht. Und dann das Feuer, das sie selbst gelegt und das noch mehr Lügen und Geheimnise zur Folge gehabt hatte. All das klebte an ihr wie ein böser Fluch.

Pia stopfte die Hände in die Jackentaschen und marschierte los. Es war Zeit zu packen.

Als sie die Villa Krachmach erreichte, senkte sich die Dämmerung bereits über das Land. Pia googelte, wann Züge nach München fuhren, und fragte sich, wie sie zum Bahnhof kommen sollte. Vielleicht konnte sie Bettina bitten, sie zu fahren, oder sie bestellte sich einfach ein Taxi.

Morgen um diese Zeit war sie wieder daheim. Nur für ein paar Tage. Sollte Kathrin sie doch ins Internat stecken. Es war ihr egal. Diese anderthalb Jahre würde sie schon irgendwie überstehen und dann würde sie München und Wasserburg so weit hinter sich lassen, wie es nur ging.

Das Handy lag auf dem Tisch und rührte sich nicht. Keine Nachricht von Ansgar. Der Kühlschrank war noch immer leer. Im Internet suchte Pia nach einem Pizzaservice in Wasserburg und ließ sich ihr Abendessen liefern. Auf dem Laptop sah sie einen Film an und ging schließlich zu Bett. Wieder fiel sie in einen unruhigen Schlaf und träumte vom Fluss. Wie ein grünes Band schlängelte er sich durchs Tal.

Sie steht allein am Ufer. Etwas streift durchs hohe Gras. Seine Spitzen wiegen sich sacht, wie im Wind. Doch kein Lufthauch rührt sich. Der Tag hat den Atem angehalten. Etwas liegt in der Luft. Furchtbares wird geschehen.

Es ist ein Fuchs, der sich anpirscht. Sie kann ihn nicht sehen, aber sie fühlt seine Nähe und weiß, dass sie sich nicht fürchten muss. Er meint es gut mit ihr. Sie folgt seiner wogenden Spur, die er durch die Gräser zieht, bis zum Haus. Wolken verdunkeln den Himmel, die Sonne stürzt hinter den Horizont. Es wird Nacht. Der Mond steht am Firmament. Eine scharfe goldene Sichel. Sterne tropfen von ihm herab auf die Erde. Rot wie Blut.

Mit einem lauten Knall öffnen sich die Fensterläden. Sie machen sich weit, wollen ihr Einlass gewähren. Doch sie will nicht hinein. Die Angst greift mit kalten Fingern nach ihr. Im Haus lauert der Tod. Aus dem Gras springt der Fuchs mit seinem leuchtend roten Schweif. Er setzt übers Fensterbrett und ist verschwunden. Sie will ihm nicht folgen. Sie will davonlaufen, doch das Haus stülpt sich über sie und verschlingt sie.

Flammen. Überall sind Flammen. Es brennt! Beißender Qualm, sengende Hitze. Feuer umgibt sie wie eine Mauer. Züngelnd und leckend greifen die Flammen nach ihrem Schlafanzug, nach ihrem Haar. Balken ächzen und knacken. In ihrem Mund schmeckt sie Rauch, kratzend setzt er sich in ihre Lunge. Hustend sieht sie sich um. Wo ist der Kuchen? Sie greift ihn sich und rennt nach draußen.

Der Sturm bläst ihr seinen eisigen Atem ins Gesicht. Die Wilde Jagd tobt über den Himmel. Wotan und sein Gefolge fangen die verlorenen Seelen ein. Vom Mond tropfen noch immer die Sterne wie blutige Tränen. Sie rennt, so schnell sie kann. Das Böse ist hinter ihr her. Es darf sie nicht finden. Über dem Fluss schweben hauchdünne Nebelschleier, sie sind zu zart, um sich darin zu verbergen. Ihr ist so kalt. So schrecklich kalt.

Sie rennt weg vom Ufer, hinein in den Wald. Ihre Füße fliegen über Wurzeln und Steine, über Moospolster und Blaubeergestrüpp. Ihr Atem geht keuchend, in ihrer Lunge brennt eisige Luft, Frostfinger greifen nach ihren Haaren, zerren an ihrem Schlafanzug, wollen ihn ihr vom Leib reißen. Sie rennt, so schnell sie kann, und die Angst mit ihr. In einer Wurzel verfängt sich ihr Fuß, schreiend stürzt sie zu Boden, rappelt sich auf, hetzt weiter. Sie muss sich verstecken. Dort, auf dem Baum! Ihre Füße finden keinen Halt an der schrundigen Rinde. Verzweifelt sieht sie sich um. Finsterer Wald, der lebendig wird. Die Schatten der Bäume rücken enger zusammen, wollen sie nicht durchlassen. Das Gehölz wird dichter und dichter. Es will sie fangen. Sie läuft weiter. Ihr Herz jagt in wilden Sprüngen. Angst windet sich um ihre Brust.

Plötzlich verwandelt sich die Welt um sie herum. Mit einem Mal sitzt sie in einer Höhle aus Eis. Schneeweiße glitzernde Wände. Funkelnde Eiszapfen hängen von der Decke, wie eine Reihe scharfer, spitzer Zähne. Frierend kauert sie sich zusammen. Sie will den Kuchen essen. Doch aus ihrer Hand kriecht eine Schlange. Eine silbrige, schuppige Schlange mit funkelnden Augen. Sie windet sich höher und höher, hebt den Kopf und wiegt ihn hin und her, ein Funkeln in den Augen. Die gespaltene Zunge fährt zischelnd aus dem Maul. Vertraue mir. Ich bin die Wahrheit.

Schweißnass und keuchend wachte Pia auf und machte Licht.

Vertraue mir. Ich bin die Wahrheit. Was hatten diese Träume zu bedeuten? Man sprach von falschen Schlangen und ihrer Doppelzüngigkeit. Sie waren ein Symbol der Niedertracht und Verlogenheit. Ihnen sollte man ganz bestimmt nicht vertrauen. Im Winter schliefen sie doch. Sie brauchten Wärme, um sich bewegen zu können.

Das Shirt war nass geschwitzt. Pia stand auf, zog ein anderes an und machte sich einen Becher Chai-Tee. Mit der Bettdecke zog sie auf das Sofa vor dem Ofen um. Schlafen konnte sie wohl für den Rest der Nacht knicken. Sie zog die nackten Füße unter die Decke. Dabei fiel ihr Blick auf den Stumpf der amputierten kleinen Zehe. Aus den Tiefen ihres Gedächtnisses schnellte eine Erinnerung an die Oberfläche.

Eine Schwester nahm den Verband vom Fuß ab. Die Zehen sahen grässlich aus. Rot und violett, ganz geschwollen. Bis auf eine, die kleine. Sie war blauschwarz und sah so vertrocknet aus wie die Äste des abgestorbenen Pflaumenbaums in Omas Garten. Eine Erfrierung dritten Grades, sagte jemand. Wir müssen amputieren.

Mit einem Ruck richtete Pia sich auf. Von wegen Fahrradunfall. Auch das war eine Lüge. Ihre Zehe war erfroren. Deshalb hatte man sie amputiert. Sie war in dieser schrecklichen Nacht, als ihre Mutter gestorben war, draußen gewesen. Man hatte sie erst am nächsten Morgen im Wald gefunden. Halb erfroren, hatte Ansgar gesagt. Nur mit einem Schlafanzug bekleidet. Wie in ihrem Traum.

Und plötzlich wusste sie es. Es stand klar vor ihr, auch wenn ihr die Erinnerungen dazu fehlten, jedenfalls die bildlichen. Es war vielmehr eine tiefe Gewissheit, die sie erfüllte.

Sie war weggelaufen und hatte sich versteckt. Nicht wegen des Feuers. Denn es war nicht sie gewesen, die das Haus angezündet hatte. Sie war vor dem davongelaufen, der das getan hatte. Das namenlose Böse aus ihren Träumen, das sie verfolgte und sie töten wollte.