27. Dezember
Die dritte Raunacht

Sie war eine ungewöhnliche Frau. Das hat Kathrin gesagt. Und das trifft es ganz gut.« Pia saß an ihrem Lieblingsplatz in Tamis Zimmer, in der Hängematte, und erzählte, was sie über ihre richtige Mutter in Erfahrung gebracht hatte.

Am Vormittag hatte sie sich mit Tami getroffen, die für den Tiefschneekurs ein Snowboardoutfit brauchte. Teil eins war erledigt. Nur eine Jacke fehlte noch. Die Hose lag auf dem Bett, während sich überall Klamotten türmten, die Tami mitnehmen wollte oder auch nicht. Eine Woche frische Luft, schneebedeckte Gipfel, blauer Himmel, Sonnenschein und vor allem Tobi. Sie freute sich wie blöd darauf. Am liebsten wäre Pia mit ihr gefahren. Egal, wohin. Hauptsache weg. Doch der Kurs war restlos ausgebucht.

Tami zog die Füße unter den Po. »Was war denn so ungewöhnlich an ihr?«

»Sie war ziemlich schräg drauf. Den alten Bauernhof, den ich von ihr geerbt habe, hat sie gekauft und in ein Esoterik-Zentrum umgebaut. Ich kann mich sogar daran erinnern. Ziemlich groß, mit Holzbalkonen und auf der Wiese stand ein Indianerzelt. Ein richtiges Tipi.«

»Deine Mutter war also ganz schön vermögend.«

»Ne, das nicht. Mit dem Zentrum hat sie nicht viel verdient, aber sie ist über die Runden gekommen. Paps … Paul sagt, dass sie bescheiden gelebt hat. Dieser ganze Konsumscheiß hat sie nicht interessiert. Vermutlich würde sie sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, was ich so alles habe. Laptop, iPhone, einen eigenen Fernseher. Einen Kleiderschrank voller Klamotten. Viel zu viel Krempel.«

»Gut, dass sie es nicht weiß.« Tami stützte den Kopf in die Hände. »Falls du dich mit diesem Zivilisationsmüll nicht länger belasten willst, das iPhone würde ich nehmen, bevor du es in die Tonne schmeißt.«

Damit brachte sie Pia zum Lachen. »Ne, das gebe ich nicht mehr her.«

»Und wer ist nun dein Vater? Haben sie dazu etwas gesagt?«

»Das weiß wirklich niemand. Sonja hat darüber nicht gesprochen und in den Urkunden, die ich gefunden habe, steht ja Vater unbekannt.«

»Mag ja sein. Aber an die jungfräuliche Empfängnis habe ich noch nie geglaubt. Du hast einen biologischen Vater. So viel ist sicher.«

»Sonja hatte einen Freund. Einen Musiker namens Tama. Von dem hat sie sich allerdings getrennt, weil er keine Kinder wollte. Also kann er es schon mal nicht sein.«

»Krass.«

»Sie wusste eben, was sie wollte. Sie muss ziemlich tough gewesen sein.« So ganz anders als ich, dachte Pia. Es wäre nicht schlecht, wenn sie mir davon etwas mitgegeben hätte. »Nach Sonjas Tod hat die ganze Verwandtschaft Kathrin und Paul in den Ohren gelegen. Das Kind braucht ein Zuhause. Ihr wolltet doch immer Kinder. Jetzt adoptiert die Kleine doch endlich. Schließlich wart ihr Schwestern.«

»Das haben sie gesagt?«

»Vermutlich nicht wortwörtlich. Aber so ist es gelaufen. Ganz sicher. Sie waren nun mal meine nächsten Verwandten und Kathrin kann keine Kinder kriegen. Also haben sie mich adoptiert. Pflichterfüllung.«

»Aber hör mal. Wenn sie immer Kinder wollten, dann warst du der Sechser im Lotto. Ein Geschenk.«

»War ich nicht. Ich habe ihre Ablehnung schon immer gespürt. Irgendwas ist da, das mich von ihnen trennt.«

»Ja. Die Banane … äh, das Tabu.« Tami rollte sich auf die Seite. »Vielleicht liegt es an deinem Vater«, meinte sie nachdenklich. »Irgendjemand muss doch wissen, wer er ist.«

»Weiß aber niemand.«

»Also, das ist in einem Kaff wie Galsterried eher unwahrscheinlich. Da kennt jeder jeden und guckt, wer bei wem ein- und ausgeht. Garantiert weiß jemand, wer dein Vater ist, oder hat zumindest eine Ahnung. Hatte Sonja eine beste Freundin?«

»Glaub schon. Bettina. Mit ihr zusammen hat sie das Zentrum aufgebaut.«

»Dann frag sie.«

Widerstand baute sich wie eine Mauer in Pia auf, sie wich aus. »Ich weiß gar nicht, ob sie noch dort lebt.« Wobei es eher unwahrscheinlich war, dass Bettina inzwischen weggezogen war. Nach Sonjas Tod hatte sie das Zentrum gepachtet und in eine Wellnessoase umbauen lassen. Das wusste Pia von Kathrin, die für Pia das Erbe ihrer angeblichen Tante verwaltete, bis sie volljährig war.

»Haben wir gleich.« Mit einem Satz war Tami am PC. »Wie heißt das Zentrum?«

»Weiß nicht genau.«

»Das finde ich auch so.« Mit rasender Geschwindigkeit flogen Tamis Finger über die Tasten. »Hab’s schon. Verve-Zentrum für Wellness und Wohlbefinden. Inhaber: Bettina und Stefan Salger. Adresse, Telefonnummer. Alles da. Du musst nur noch anrufen. Oder besser: Du fährst hin und überrumpelst sie. Wenn um deinen Vater ein solches Geheimnis gemacht wird, ist das die bessere Taktik. Keine Zeit, sich Ausflüchte und Lügen zu überlegen. Soll ich mal googeln, wann Züge nach Wasserburg fahren?«

Die Mauer wuchs. Pia wollte nicht. Ging es noch? Tami hatte einen super Vorschlag gemacht. Doch etwas hielt sie zurück.

Abwartend sah Tami sie an und schüttelte schließlich den Kopf. »Mensch Pia. Wenn du wissen willst, wer dein Vater ist, musst du nach Galsterried fahren und mit Bettina reden. Und wenn sie dich abblitzen lässt, dann löchere die Leute. Deine richtige Mutter hat dort gelebt. Und du hast offenbar die ersten vier Jahre deines Lebens dort verbracht. Du musst dorthin fahren, wenn du herausfinden willst, wer dein Vater ist, denn mit dem hat die Ablehnung ja wohl zu tun. Das Tabu, das dich umgibt.«

»Ich will aber nicht. Man mag mich dort nicht. Oma nicht, Opa nicht und auch die Leute aus dem Dorf nicht.«

Tami ließ sich wieder aufs Bett fallen. »Vielleicht ist es ja der Pfarrer. So ein junger, der als Entwicklungshelfer in Afrika war oder in Südamerika, bevor der Bischof ihn nach Galsterried strafversetzt hat, weil er seine Finger nicht von den hübschen Frauen lassen konnte, und dort traf …«

»Tami. Echt jetzt. Du hast eine schräge Fantasie.«

»Fährst du nun?«

Du bist nicht wie die anderen. Wieder ging ihr Omas Bemerkung durch den Kopf. Es lag nicht an ihrem Vater. Es lag an ihr, dass man sie dort nicht mochte. Vielleicht dachten ja alle, sie wäre eine Hexe, so wie ihre Urururgroßmutter, die Wegscheider Barbara. Eine Hexe, die man auf dem Scheiterhaufen verbrennen sollte. Für eine Sekunde tauchten in einem rasenden Reigen Bilder aus ihren Albträumen auf, die allesamt mit Feuer zu tun hatten. Flammen schlugen aus Fenstern, ließen Scheiben bersten. Funkelnde Scherben stoben in die Nacht wie Eiskristalle. Orangerote tanzende Monster und Trolle an der Wand.

»Hallo Pia? Alles okay?« Tami wedelte mit der Hand.

»Ja, klar. Ich fahre nicht.« Woher kamen die Monster plötzlich? Die waren ihr noch nie im Traum erschienen.

»Warum? Was haben die Leute dort gegen dich?«

»Vielleicht denken sie ja, ich wäre eine Hexe wie meine Urururgroßmutter. Es könnten auch ein oder zwei Ur mehr gewesen sein.« Pia war erleichtert, dass sie ein Thema gefunden hatte, mit dem sie Tami ablenken konnte. Sie wollte sich nicht mit dem Schatten auseinandersetzen, der an ihr klebte wie Pech und Schwefel. Es war besser so, das spürte sie tief in ihrem Innersten.

»Deine Uroma war eine Hexe? Wirklich? Erzähl doch mal.«

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»Sie war keine richtige Hexe, sondern eine Frau, die sich mit Heilkräutern auskannte und Salben und Tinkturen daraus herstellte. Außerdem wusste sie, was bei Geburten zu tun war, wenn es schwierig wurde. Und damit hat sie sich Feinde gemacht. Im Jahr 1763 wurde sie als eine der letzten Hexen in Bayern verbrannt.«

»Verbrannt?« Tami riss die Augen auf. »Wirklich verbrannt? Echt jetzt? Das ist ja gruselig.«

Pia nickte. »Hier, in München.« Sie kannte diese Geschichte in- und auswendig. Oma hatte sie oft erzählt, als sie noch klein gewesen war. Die Wegscheider Barbara hatte man gerufen, wenn Wunden nicht heilten oder das Vieh krank war, wenn Gelenke eingerenkt werden mussten oder ein gebrochener Knochen geschient. Es gab keine Krankheit, gegen die sie kein Kraut kannte. Ihre Tinkturen waren so gut, dass die Leute ihnen schließlich magische Kräfte zuschrieben, dabei waren sie nichts anderes als Arzneien. Die jungen Leute aus der Gegend kamen zu ihr, um Liebestränke zu erbitten, und manche betrogene Frau hoffte, mithilfe eines Elixiers der Wegscheiderin den untreuen Mann wieder für sich zu gewinnen.

Das Fuchserl – so nannte man sie wegen ihrer fuchsroten Haare – war verwitwet und wollte sich nicht neu vermählen, obwohl es zahlreiche Bewerber gab. Ihr Herz gehörte noch immer dem einen, der diese Erde viel zu früh hatte verlassen müssen. Die Männer nahmen ihr das übel und erfanden, wenn sie zu viel getrunken hatten, allerlei Geschichten über das Fuchserl. Abenteuer, die sie angeblich mit ihr gehabt hatten. Männerfantasien, sonst nichts. Doch die verbreiteten sich und der Ruf der Wegscheiderin nahm Schaden. Schließlich warf der reichste Bauer der Gegend ein Auge auf das Fuchserl. Er war verheiratet, doch die angeblich leichte Beute wollte er sich nicht entgehen lassen. Die Wegscheiderin wies ihn jedoch ab. Da schwor er Rache.

Das war der Anfang vom Ende. Der Bauer verleumdete sie und behauptete, die Wegscheiderin sei mit dem Teufel im Bunde. Er habe selbst gesehen, wie sie die Gestalt eines Fuchses annahm und die Euter der Kühe nachts aussaugte. Mit seinen Lügen fand der Mann Gehör bei den Räten der Stadt und den Kirchenoberen. Er legte Beweise vor, die allesamt gefälscht waren, und brachte fragwürdige Zeugen herbei. Schließlich wurde das Fuchserl in den Gefängnisturm der Burg geworfen und kurz darauf brannte sie schon auf dem Scheiterhaufen.

»Seither ging dem Bauern alles schief. Seine Frau verließ ihn, bei einem Unfall verletzte er sich schwer und Jahr für Jahr verdarben Unwetter die Ernte. Das ging so lange, bis er schließlich im Armenhaus landete. Und jedes Mal, bevor so ein Unheil eintrat, begegnete dem Bauern ein Fuchs.« Mit diesen Worten ihrer Oma endete Pia.

»Ziemlich krasse Geschichte. Und mit der Wegscheiderin bist du verwandt?«

»In direkter Linie. Deshalb nennt Oma mich auch Fuchserl. Nicht nur wegen der roten Haare.«

»Ist dir schon aufgefallen, dass diese Geschichte Parallelen zur Gegenwart hat? Deine Mutter war ja wohl auch ein Fuchserl. Eine emanzipierte Frau, die sich mit Esoterik beschäftigte, was für viele gleichbedeutend ist mit Hexerei. Und ein Kind hatte sie, aber keinen Mann dazu. Vielleicht war das ja gar kein Unfall, bei dem sie starb. Vielleicht hat dein Erzeuger sie getötet und das wird vertuscht oder der Unfall wurde nie als Mord erkannt.«

Pia atmete durch. Sie hatte Tami ablenken wollen, doch das war gründlich schiefgegangen. »Hast du schon mal überlegt, Romane zu schreiben, bei deiner Fantasie?«

»Ich denke darüber nach.« Grinsend umfasste Tami die Knie mit den Armen. »Du musst aber zugeben, es wäre eine Möglichkeit. Dass man dich nicht mag, hat offensichtlich mit deinem biologischen Vater zu tun. Entweder, weil er eigentlich tabu ist, siehe Pfarrer oder vielleicht ein hohes Tier in der Politik und obendrein verheiratet, oder es liegt daran, dass er eine Persona non grata ist …«

»Eine was?«

»Jemand, über den man nur hinter vorgehaltener Hand spricht. Also ein Krimineller beispielsweise.« Tami zwirbelte eine ihrer widerspenstigen Locken zwischen den Fingern und spann ihre Ideen weiter. »Mal so rein theoretisch: Sonja hat einen Geliebten, von dem niemand wissen darf, und wird von ihm schwanger. Er ist darüber alles andere als erfreut. Es darf nie herauskommen, dass er etwas mit Sonja hatte und du sein Kind bist. Offenbar hat er viel zu verlieren. Ruf. Familie. Beruf. Womit wir wieder beim Pfarrer wären. Sonst müsste man ja kein solches Geheimnis daraus machen. Wenn Sonja ihm nun gedroht hat, ihn als deinen Vater zu outen … Wäre doch möglich, dass er dann an Sonjas Auto herumgeschraubt hat.«

Pia wurde langsam sauer. »Kannst du mal aufhören. Du spinnst dir da was zusammen, ohne einen einzigen Anhaltspunkt zu haben. Es war ein Unfall.«

Tami ließ die Locke los. »Sorry. Tut mir leid. Du hast recht. Ich habe wirklich reichlich Fantasie. Vielleicht schreibe ich tatsächlich mal einen Roman. Den kriegst du dann mit Widmung und Danksagung. Es ändert aber nichts an der Tatsache: Wenn du herausfinden willst, wer dein Vater ist, dann musst du nach Galsterried fahren. Wohnen dürfte kein Problem sein, schließlich hast du dieses Verve-Zentrum von Sonja geerbt. Es gehört dir.«

»Es ist vermietet. Hast du doch grad gegoogelt. Da ist kein Platz für mich.« Doch Pia erinnerte sich plötzlich an das Haus abseits des Hauptgebäudes. Das Austragshaus der Bauern. Klein und gemütlich. Dort hatte Sonja gelebt. Kathrin hatte das einmal erzählt und es war auch auf einigen Bildern im Fotoalbum zu sehen. Falls sie nach Galsterried fahren würde, konnte sie sicher dort wohnen. Falls. Und dann begriff sie, dass sie in diesem Haus gelebt haben musste. Die ersten vier Jahre ihres Lebens.

Ein paar Erinnerungsfetzen tauchten plötzlich aus den Tiefen ihres Bewusstseins auf, blasse durchscheinende Bilder, die von weit her kamen. Das Haar ihrer Mutter, in dem Sonnenlicht tanzte. Ihr warmes Lachen. Ihre Arme, die den Stamm eines mächtigen Baums zu umfangen versuchten. Hör mal, Pia, was er wispert. Mit diesen Bildern stieg nicht nur das Gefühl von Wärme und Geborgenheit in ihr auf, sondern auch eine undefinierbare Angst, die sie frösteln ließ.

Einen Teufel würde sie tun und nach Galsterried fahren! Sie atmete durch. »Ich will gar nicht wissen, wer er ist und was es mit ihm auf sich hat«, erklärte sie Tami. »Von mir aus kann er ein Mörder sein oder der Pfarrer. Das ist alles Schnee von gestern. In einem Jahr bin ich volljährig und kann tun und lassen, was ich will. Dann haben Paul und Kathrin in meinem Leben nichts mehr zu melden. Das Abi werde ich noch hier machen und fürs Studium gehe ich nach Berlin oder Hamburg. Hauptsache möglichst weit weg. Wie schaut es aus, kommst du mit?«

»Klar, komme ich mit. Aber abzuhauen, löst dein Problem nicht.«

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Kurz vor acht fuhr Pia nach Hause. Der Lift kam ewig nicht, also nahm sie die Treppe in die dritte Etage. Kein Wunder, dass er nicht gekommen war, denn dort verharrte der Fahrstuhl mit offener Tür, drei Umzugskartons standen in der Kabine. Pia betrat die Wohnung mit einem flauen Gefühl im Magen und stolperte beinahe über zwei Koffer und einen weiteren Karton. Ordner und Schnellhefter ragten daraus hervor. Pauls Unterlagen. Super! Echt klasse! Er hatte es ja wirklich eilig.

Während sie auf die Koffer starrte, ihre Gefühle zu sortieren versuchte und nicht wusste, ob sie nun wütend, traurig oder fassungslos war – vermutlich alles gleichzeitig –, kam Paul aus seinem Arbeitszimmer.

Sie hätte heulen können. Ihr Paps … Tami hatte völlig recht, denn das war er schon irgendwie, ihr Paps verschwand einfach aus ihrem Leben. Paul erfasste die Situation mit einem Blick und zog Pia an sich. »Es tut mir leid, Pia. Es hat nichts mit dir zu tun. Du bist in Ordnung, genau so, wie du bist. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.« Er ließ sie los. »Es geht einfach nicht mehr mit Kathrin und mir. Da hat sich zu viel aufgestaut. Vielleicht hätten wir ein paar Dinge früher klären müssen … Ich weiß es nicht.« Forschend sah er sie an. »Ich bin immer für dich da. Ja? Immer. Wenn du Sorgen hast oder Probleme … du kannst jederzeit anrufen oder vorbeikommen.«

Im Gefühlschaos, das in ihr tobte, gewann die Wut die Oberhand. »Im Büro vielleicht? Oder wo?«

»Ich simse dir meine neue Adresse.«

»Bei dieser Simone. Ziehst du bei der jetzt ein?«

Paul nickte. »Pass auf dich auf. Und melde dich, wenn du mich brauchst. Tust du das? Versprich es mir.«

Ha! Das konnte er voll vergessen. Sich aus dem Staub machen und großzügig anbieten, immer für sie da zu sein. Wie passte das bitte schön zusammen? Elender Heuchler. Pia nickte einzig und allein, um ihre Ruhe zu haben.

Er schleppte den restlichen Krempel in den Lift und lächelte ihr noch einmal zu, bevor sich die Tür schloss und er samt seiner Sachen hinunter in die Tiefgarage rauschte.

Paul hatte sich vom Acker gemacht. Und er wäre einfach so gegangen, ohne Abschied, ohne ein Wort, wenn sie nur zehn Minuten später heimgekommen wäre. Am liebsten hätte sie die Wohnungstür zugeknallt.

Kathrin lag vermutlich heulend auf dem Bett. Pia sah ins Schlafzimmer. Volltreffer. Leise zog sie die Tür wieder zu und ging in die Küche. Ihr Magen knurrte. Wie konnte man mit so viel Kummer so großen Hunger haben? Vielleicht gerade deshalb. Aus dem Tiefkühlfach nahm sie eine Pizza Quattro Formaggi und schob sie in den Ofen.

Bis die fertig war, legte Pia sich aufs Bett, stülpte die Kopfhörer über, hörte Kodaline, futterte dabei die Plätzchendose von Tamis Mutter halb leer und sang mit vollem Mund den Refrain eines Songs mit. In a perfect world, in a perfect world, in a perfect world. Touchdown to reality, it’s not exactly what you had in mind.

Pia musste fast lachen. Besser konnte man es nicht sagen: Die perfekte Familie Winter gab es nicht mehr und sie selbst war auf den Boden der Tatsachen geknallt, auch wenn es ganz sicher nicht das war, was sie gewollt hatte.

Täglich trennten sich Tausende Elternpaare. Wenigstens war sie mit diesem Scheißgefühl nicht allein im Universum.

Nachdem sie noch zwei Schokokekse gegessen hatte, war ihr schlecht. Inzwischen zog Pizzaduft durch die Wohnung. Die Quattro Formaggi war längst fertig. Pia ging in die Küche, zog das Blech aus dem Ofen und ließ es einfach dort stehen.

Paul war ausgezogen, Kathrin heulte sich die Augen aus dem Kopf. Wer hätte das gedacht? Ihr richtiger Vater war vielleicht Pfarrer oder ein Mörder. Der Mörder ihrer richtigen Mutter. Hallo! Ging es noch? Dafür gab es gar keinen Anhaltspunkt, nur Tamis überschäumende Fantasie. War doch alles super!

Pia hangelte nach dem Laptop und lud sich bei iTunes einen Bollywood-Schmachtfetzen mit Shah Ruhk Khan herunter. Über Pauls Account, den sie bisher nach Rücksprache benutzen durfte und daher die Log-in-Daten kannte. Er war weg. Selbst schuld! Sie kaufte gleich noch zwei weitere Filme auf seine Kosten. Geschah ihm ganz recht.

Während Shah Ruhk Khan eine glutäugige Inderin anschmachtete, futterte sie dann doch noch ein paar Plätzchen. Als der Film vorbei war, schleppte sie sich ins Bad. Von Kathrin keine Spur, vielleicht heulte sie noch immer. Wahrscheinlicher war, dass sie bereits Pläne schmiedete, wie sie ihr Leben wieder in den Griff bekam. Immer schön alles unter Kontrolle haben.

Es war erst kurz nach zehn. Viel zu früh, um ins Bett zu gehen, doch Pia war hundemüde, außerdem war ihr übel und sie fühlte sich wie von einer Lawine überrollt. Der Wunsch, sich einfach die Decke über den Kopf zu ziehen und alle Sorgen und Ängste auszusperren, war ebenso übermächtig wie kindisch. Nichts würde sich dadurch ändern. Aber sie konnte das alles für ein paar Stunden vergessen.

Um halb elf löschte sie das Licht. In der Dunkelheit begannen die Bilder des Tages, Karussell zu fahren. Tami, die hartnäckig forderte, Pia sollte in Galsterried nachforschen. Doch sie wollte nicht! Dann ein Bild, wie ein Schlag in den Magen: Paul samt seiner Koffer und Umzugskartons. Pass auf dich auf und melde dich, wenn du mich brauchst. Wie hatte Paul das gemeint? Pass auf dich auf. Warum sollte sie im Notfall ausgerechnet ihn um Hilfe bitten? Diesen Verräter, der sie im Stich ließ. Was befürchtete er denn? Und dann dieser Satz: Es hat nichts mit dir zu tun. Du bist in Ordnung, genau so, wie du bist. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden. Wer wollte ihr denn bitte schön einreden, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war? Außer sie selbst vielleicht. Etwas stimmte nicht mit ihr. Aber das redete sie sich nicht ein. Das war so.

Nach und nach verlor das Gedankenkarussell an Fahrt und kam zum Stillstand. Völlig erschöpft glitt Pia schließlich in einen unruhigen Schlaf und träumte.

Es war Nacht. Der Mond stand am Himmel. Ganz silbern, wie eine aus Zinn getriebene Sichel. Über dem Fluss schwebten Nebelschleier. Es war kalt. Eisig kalt. Gräser und Schilf, die Zweige der Büsche und die vertrockneten Beeren, die noch dranhingen, trugen einen weißen Pelz aus Raureif, genau wie die Äste der Bäume, deren Stämme tiefschwarze Mondschatten warfen.

Sie lief durch den Wald. Ihre Füße flogen über Wurzeln und Steine, über Moospolster und Blaubeergestrüpp. Ihr Atem ging keuchend, in ihrer Lunge brannte eisige Luft, Frostfinger griffen nach ihren Haaren, zerrten an ihrem Schlafanzug, als wollten sie ihn ihr vom Leib reißen. Sie rannte, so schnell sie konnte, und die Angst mit ihr. Mit einem Fuß verfing sie sich in einer Wurzel, schreiend stürzte sie zu Boden, rappelte sich auf, hetzte weiter. Sie musste sich verstecken. Doch wo? Dort! Auf dem Baum! Ihr fehlte die Kraft. Ihre Füße fanden keinen Halt an der schrundigen Rinde. Sie waren taub, hingen halb erfroren an ihr wie leblose Säcke. Weiter. Sie musste weiter! Das Böse war hinter ihr her. Es durfte sie nicht finden. Verzweifelt sah sie sich um. Kein Haus weit und breit. Kein Licht. Nur finsterer Wald, der lebendig wurde. Die Mondschatten der Bäume rückten enger zusammen, wollten sie nicht durchlassen. Sie erkannte ihren Fehler. Niemals hätte sie in den Wald fliehen dürfen, wo sie dem Bösen nicht entkommen würde und niemand ihr helfen konnte. Ins Dorf! Ins Dorf hätte sie laufen sollen. Enger und enger schoben sich die Stämme zusammen. Sie wollte sich zwischen zweien hindurchzwängen. Die raue Borke schürfte die Haut an Gesicht und Armen auf. Ein brennender Schmerz. Sie nahm ihn gar nicht wahr. Ihr Herz jagte in wilden Sprüngen, der Atem floh tobend aus ihrer Lunge. Angst wand sich um ihren Körper, wollte ihn lähmen. Plötzlich eine Bewegung. Wie erstarrt blieb sie stehen.

Es war vorbei! Das Böse nahte von hinten. Das Grauen befand sich vor ihr, schlängelte sich auf dem schmalen Pfad, erhob den Kopf und wiegte ihn hin und her, ein Funkeln in den Augen. Die gespaltene Zunge fuhr zischelnd aus dem Maul der Schlange. Vertraue mir. Ich bin die Wahrheit.

Schreiend wachte Pia auf.