31. Dezember
Die siebte Raunacht

Pia rührte in ihrem Becher mit Tee und überlegte, ob sie erst zu den Wasserburger Nachrichten gehen oder mit Ayla reden sollte. Eigentlich konnte sie sich den Blick ins Zeitungsarchiv sparen. Bettina hatte keinen Meineid abgelegt, als sie geschworen hatte, dass Sonja bei einem Unfall gestorben war. Und sicher hätte Ansgar etwas gesagt, falls es damals den Verdacht gab, dass jemand an Sonjas Wagen herumgeschraubt hatte. Heute Abend würde sie ihn trotzdem drauf ansprechen.

Die Tür flog auf. Lena kam hereingewirbelt. »Hallo! Da bin ich!« Es klang, als wären sie verabredet.

»Grüß dich, Lena.«

»Liest du mir jetzt etwas vor?« Neugierig begann Lena, sich im Häuschen umzusehen. »Ui, ein Schaukelstuhl. Darf ich schaukeln?«

»Na klar. Aber ich habe nichts zum Vorlesen hier. Und außerdem muss ich jetzt in die Stadt. Magst du am Nachmittag wiederkommen?«

»Und was ist das?« Triumphierend hielt die Kleine das Heft mit dem Märchen vom Fuchserl hoch.

Pia musste lachen. »Okay. Erwischt. Das ist ein Märchen, das meine Oma aufgeschrieben hat.«

Lenas Augen wurden ganz groß. »Für dich?«

»Ja, vermutlich.«

»Ich will auch so eine Omi haben. Liest du es mir vor?«

»Heute Nachmittag.« Und ganz sicher nicht dieses Märchen, dachte Pia. Never. Sie würde nicht dazu beitragen, dass diese Geschichte der Wegscheiderin nie in Vergessenheit geriet.

Das iPhone spielte Emily. Es lag oben neben dem Bett. Gleichzeitig kam Bettina zur Tür herein. »Ist Lena bei dir?« Im selben Moment entdeckte sie ihre Tochter. »Gott sei Dank.« Erleichtert schüttelte sie den Kopf. »Mein liebes Fräulein, wie lautet unsere Vereinbarung?«

Während Bettina Lena den Kopf wusch, weil sie, ohne Bescheid zu sagen, das Haus verlassen hatte, hechtete Pia die Treppe nach oben auf die Galerie und schnappte sich das Smartphone. Atemlos meldete sie sich. Unten begann Lena zu weinen. »Pia soll mir aber vorlesen. Das tun große Schwestern.«

»Was ist denn bei dir los?«, fragte Tami. »Hast du etwa deinen Vater gefunden und gleich eine ganze Familie mit dazu?«

»Ne, das nicht. Warte mal eine Sekunde.«

Mit dem Smartphone ging Pia hinunter. Bettina war im Begriff, das Häuschen zu verlassen, das weinende Kind an der Hand. »Du hast es aber versprochen.«

»Heute Nachmittag kannst du mich besuchen. Dann lese ich dir eine Geschichte vor. Okay?«

Schniefend nickte Lena. Einen Augenblick sah Pia den beiden nach, bevor sie sich wieder bei Tami meldete. »So, jetzt bin ich ganz Ohr. Wie geht’s?«

»Super! Ich bin ein Naturtalent, was Snowboarden betrifft, meint Tobi.«

Tami hatte eine tolle Zeit. Es machte ihr einen Höllenspaß, mit den anderen die Pisten hinunterzujagen, meist Tobi hinterher, der stets einen Zacken schneller war als sie, aber immer guckte, dass er sie nicht wirklich verlor. Die erste Abfahrt des Tages ins Tal lag hinter ihnen und Tami hatte die Gunst eines endlich vorhandenen Netzes genutzt, um Pia anzurufen. »Und was tut sich bei dir? Wessen Schwester bist du nun?«

Pia erzählte ihr von Bettina und Lena. Aber auch von Ansgar und ihren spärlichen Erinnerungen an ihre frühe Kindheit hier in Galsterried. Vor allem an das Tipi und den Meditationsgarten, den es nicht mehr gab und wie schade es war, dass dort nun scheußliche Doppelhäuser standen, und warum das so war. Und natürlich berichtete sie von Kathrins Auftritt, die eigens gekommen war, um sie abzuholen. Alle wollten, dass sie ihre Zelte abbrach und zurück nach München fuhr. Es wäre zu ihrem Besten. Angeblich. Andernfalls müsste sie mit den Konsequenzen leben.

»Was für Konsequenzen denn?«

»Keine Ahnung. Das sagen sie ja nicht. Manchmal wäre es besser, nicht alles zu wissen, hat Bettina gesagt. Ich dachte erst, dass es mit Sonjas Tod zu tun hat und du mit deiner Mordtheorie richtigliegst. Aber Bettina hat mir geschworen, dass es ein Unfall war, und ich glaube ihr. Allerdings glaube ich ihr nicht, dass sie nicht weiß, wer mein Vater ist. Sie ist rot geworden, als sie das gesagt hat. Was ich besser nicht wissen soll, muss also mit ihm zu tun haben.«

»Die beiden stecken unter einer Decke, Bettina und Kathrin«, sagte Tami. »Vielleicht geht es ja gar nicht um deinen Vater. Du hast gesagt, dass Kathrin die Wiesen verkauft hat, damit sie das Geld hatte, um das Zentrum so umbauen lassen, dass es Bettinas Wünschen entsprach. Vielleicht haben sie dich um Geld betrogen. Kathrin verwaltet das Anwesen schließlich nur. Es gehört dir. Und Bauland ist schweineteuer. Vielleicht haben sie von all der Kohle etwas für sich abgezweigt.«

Doch Pia glaubte nicht, dass es um Geld ging. Irgendwann kamen sie auf Silvester zu sprechen. Auf der Hütte gab es eine große Party. Eigens dafür hatte Tami ein sexy Kleid eingepackt. »Drück mir die Daumen. Um Mitternacht, unter dem Sternenzelt, werden Tobi und ich uns küssen. Wetten?« Pia hatte daran keinen Zweifel. Tami würde es schaffen.

»Und du? Feierst du Silvester etwa mit deiner neuen kleinen Schwester?«

»Ansgar hat mich eingeladen. Er trifft sich mit seiner Clique in einer Kneipe.«

»Du klingst ja nicht gerade begeistert.«

»Gestern hat er versucht, bei mir zu landen.«

»Wie? Landen? Das erwähnst du so nebenbei. He, komm. Das will ich jetzt genau wissen.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er wollte mich küssen. Ich wollte nicht. Ich lass mich doch nicht mit einem Typen ein, der sich den Ruf des Stadt-Casanovas erworben hat. Keine Lust, Nummer siebentausendreihundertelf auf seiner Abschussliste zu werden.«

»Wer sagt das mit dem Casanova?«

»Amelie. Er ist einer, der nichts anbrennen lässt.«

Tami stöhnte. »Ach, Pia. Du bist echt naiv. Diese Amelie ist nur eifersüchtig, weil sie mitgekriegt hat, dass Ansgar dich süß findet.«

Dieser Seitenhieb saß! Und zwar richtig. Vermutlich lag Tami damit sogar richtig. Aber sie musste ihr das nicht auf so überhebliche Art aufs Butterbrot schmieren. Pia wurde sauer. »Von mir aus kann er mich süß finden. Er hat eine Freundin. Und ich stehe auf monogame Beziehungen.«

»Damit hast du ja auch reichlich Erfahrungen gesammelt.«

Was? Diese Worte trafen Pia ins Mark. Das ging zu weit! Echt zu weit. Ihr unter die Nase zu reiben, dass sie noch nie einen Freund gehabt hatte und, genau betrachtet, auch noch nie geküsst worden war! Das war echt too much! Mit zitternden Fingern drückte sie Tami einfach weg und schaltete das iPhone aus. Scheiße!

Scheiße!

Pia verkniff sich die Tränen. Heulen half schließlich auch nicht. Okay, sie hatte noch nie einen Freund gehabt, sie war total naiv und ungeküsst und außerdem saß sie in einem riesigen Schlamassel. Doch davon würde sie sich nicht abhalten lassen zu tun, was sie tun wollte. Auf nach Wasserburg!

Wütend zerrte sie den Schal um den Hals, zog die Jacke an und sperrte das Häuschen ab.

Im Hof nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und fuhr herum. Für einen Moment glaubte sie, jemanden am Waldrand zu sehen. Doch da war niemand. Vermutlich nur der Wind in den Zweigen. Aus dem Schornstein von Bettinas Haus stieg Rauch. Ein Vogel kreiste lautlos über dem Dorf. Keine Menschenseele weit und breit. Niemand beobachtete sie.

Total sauer stapfte Pia los. Zu Ayla. Zu Oma und Opa. Notfalls noch zur Zeitung. Heute Abend im Waterside würde sie sich einen Typen aufreißen. Tami würde schon sehen!

Mit weit ausholenden Schritten stürmte sie den Hang hinab, bis die kalte Luft in der Lunge brannte und die Wangen glühten. An der Weggabelung nahm sie die Abzweigung nach Wasserburg. Die Wut verrauchte langsam. Kummer blieb zurück und ein diffuser Schmerz.

Die Ruhe, die sie umgab, war unheimlich. Wie konnte es nur so still sein? Sie hörte lediglich ihre Schritte und ihren Atem und war froh, als sie endlich die Stadt erreichte. Die Glöckchen an der Tür des Stadtcafés bimmelten, wie bei ihrem ersten Besuch. Hinter der Kuchentheke stand eine ältere Frau mit weißer Schürze. Pia fragte nach Ayla und erfuhr, dass sie mit ihrer Familie nach Mühldorf gefahren war, um dort Silvester zu feiern. Super. Und nun? Zu Oma und Opa? Pia hatte keine Lust. Es konnte nicht schaden, doch mal im Zeitungsarchiv zu stöbern. Sie googelte die Wasserburger Nachrichten. Die Redaktion befand sich am Marienplatz. Pia fand das Verlagshaus auf Anhieb. Doch es war bereits geschlossen. An Silvester ab zwölf Uhr. Es war fünf nach zwölf. Heute ging einfach alles schief.

Morgen war Feiertag. Sie musste also bis übermorgen warten, wenn sie die alten Zeitungsartikel sehen wollte. Auf dem Rückweg zog sie das iPhone hervor und schaltete es an. Keine Nachricht von Tami. Dafür eine von Ansgar. Hole dich um neun ab. Okay?

Passt, antwortete Pia und beschloss, am Nachmittag eine Runde zu schlafen. Nachdem sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan hatte, war das sicher ein guter Plan und am helllichten Tag würde sie hoffentlich keine Albträume haben.

Feuer und Kälte. Baum und Haus. Wer war hinter ihr her und warum? Sie grübelte noch darüber nach, als sie das Häuschen wieder erreichte und den Schlüssel ins Schloss steckte. Doch die Tür war nur zugezogen, nicht abgesperrt. Hatte sie das vergessen? Nach dem Streit mit Tami war das schon möglich. Sie schloss die Tür hinter sich, hängte die Jacke an den Haken und schickte ihrer besten Freundin ein SORRY! Tut mir leid. Manchmal bin ich zu empfindlich. Freunde? <3

Das Feuer wollte ausgehen. Pia legte ein paar Briketts nach und setze sich in den Schaukelstuhl. Es dauert einen Moment, bis ihr auffiel, dass die Schachtel mit den Fotos und ihren Kinderzeichnungen weg war. Und auch das Märchenbuch. Lena. Dieser Wirbelwind. Sie hatte es sich einfach geholt.

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Als Pia mit Ansgar das Waterside kurz nach neun betrat, bestätigte sich ihre Befürchtung. Sie passte so perfekt hierher wie Aschenputtel ins Schloss. Vermutlich kam sie nur rein, weil sie in Ansgars Begleitung war.

Das Waterside war keine Kneipe, wie sie gedacht hatte, sondern ein Club. Ziemlich cool und loungig. Die Musik war laut. Auf der Tanzfläche wogte bereits die Menge. Alle hatten sich in Schale geschmissen, nur sie nicht. Sie trug die senfgelbe Chino und den türkisfarbenen Pulli, beides ein wenig zerknüllt, denn im Häuschen hatte sie kein Bügeleisen gefunden und natürlich hatte sie nicht an eine Silvesterparty gedacht, als sie vorgestern ihren Kram in die Reisetasche gestopft hatte und aus München abgehauen war.

Oh Mann, wie peinlich! Und wie blöd von ihr. Sie hätte das Waterside ja mal googeln können. Überall Cocktailkleider und Hosenanzüge, schulterfreie Tops und kurze Röcke. Sie hatte es geahnt, seit Ansgar sie abgeholt hatte. Er sah klasse aus in der anthrazitgrauen Hose und dem ziemlich lässigen weißen Hemd.

Alle starrten sie an! Jedenfalls kam es ihr so vor. Wenn sie wenigstens die schwarze Jeans angezogen hätte! Ansgar bugsierte sie in eine Ecke mit einem niedrigen Tisch, um den drei Loungesofas gruppiert waren. Dort warteten bereits seine Freunde und natürlich auch Amelie, die ihn mit Küsschen begrüßte. Sie trug ein eng anliegendes Spitzentop, eine schwarze Hose und High Heels und musterte Pia so unverhohlen wie abschätzig. Meine Güte, glaubst du wirklich, das wäre das passende Outfit für diesen Abend?, schien sie zu denken. Und dann entglitt ihr ein kleines Lächeln. Während Pia noch rätselte, wie das gemeint war, stellte Ansgar sie seinen Freunden vor.

Da war Biggi, Amelies Schwester und das genaue Gegenteil. Eher ein Kumpeltyp. Ein paar Kilo zu viel auf den Rippen und der Lippenstift ziemlich grell. Ihr Freund Martin saß neben ihr. Pia registrierte Igelhaarschnitt und einen silbernen Ring im Ohr. Auf dem zweiten Sofa hatte es sich ein weiteres Pärchen bequem gemacht. Yvonne und Niklas. Sie hatte kurze schwarze Haare und Piercings in der Augenbraue. Er trug einen schmal rasierten Kinnbart und Nerd-Brille. Die Runde war komplett. Drei Paare und Pia. Sie kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen.

Neben Yvonne und Niklas war noch reichlich Platz. Pia setzte sich zu ihnen und war erstaunt, als Ansgar neben ihr Platz nahm. Und es war ihr unangenehm. Herrschte dicke Luft zwischen ihm und Amelie? Sah so aus. Amelies angedeutetes Lächeln fror ein. Super! Das konnte ja ein toller Abend werden.

Die anderen hatten bereits Getränke vor sich stehen. »Was magst du trinken?« Die Frage kam von Ansgar.

Es gab nur eines, das sie über diesen Abend retten konnte. Die Alternative wäre, gleich wieder zu gehen. »Am liebsten einen Gin Tonic.«

Ein verwundertes Lächeln erschien. »Gin Tonic? Kommt sofort.« Ansgar schob sich durch die Menge Richtung Bar. Biggi fragte, was Pia so machte, und schon waren sie beim Thema Schule. Amelies Schwester hatte letztes Jahr Abi gemacht und wartete auf einen Studienplatz in München. Die Zeit überbrückte sie als Praktikantin in einem Labor. Unbezahlt natürlich. Yvonne kannte das. Sie studierte im ersten Semester an der FH Technik. Ihr war es mit den Praktikumsplätzen ebenso gegangen. »Man sollte das einfach nicht länger mitmachen«, meinte sie. Ehe Pia sich versah, drehte sich das Gespräch um Ausbildung, Studium und vor allem um die Geiz-ist-geil-Mentalität der Gesellschaft, die letztlich nur zur Ausbeutung führte. Nur Amelie beteiligte sich kaum daran. »Man kann das eh nicht ändern«, sagte sie.

Währenddessen ging George Clooneys jüngerer Bruder vorbei. Das heißt, er wollte. Als Amelie ihn entdeckte, zupfte sie ihn am Ärmel und verwickelte ihn in ein Gespräch, bis sie schließlich aufstand und mit ihm auf der Tanzfläche verschwand. Als Ansgar nach einer gefühlten Ewigkeit mit den Drinks kam, war sie weg. Er schien das nicht zu bemerken.

Der Gin Tonic war rasch geleert und er zeigte Wirkung. Pia fühlte sich albern und unbeschwert. Amelie kehrte irgendwann mit George Clooneys Bruder an der Seite zurück. Sein Name war Mike. Er spielte mit Ansgar im selben Verein Eishockey. Biggi und Martin gingen tanzen. Ansgar sah ihnen nach und fragte, ob Pia auch tanzen wollte. Warum eigentlich nicht? Auch wenn er damit vermutlich nur den Gegenangriff startete und seinerseits Amelie eifersüchtig machen wollte. So viel war Pia klar, und es war ihr egal. Vom verbalen Weltretten hatte sie im Moment genug und sie hatte Lust zu tanzen, also folgte sie ihm in die wogende Menge.

Großer Fehler. Nach fünf Minuten war sie durchgeschwitzt. Sie dampfte beinahe. Ein Wollpulli war einfach nicht das richtige Outfit. Hätte sie doch nur ein T-Shirt daruntergezogen, dann könnte sie jetzt den Pulli ausziehen. »Schon genug?«, fragte Ansgar, als sie abwinkte und die Tanzfläche verließ.

Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und brüllte gegen die Musik an. »Ich koche gleich über. Falsche Klamotte.«

»Zieh doch den Pulli aus.«

»Nix darunter«, erwiderte sie grinsend.

Ein Lächeln erschien. »Ach so …« Seine Hand näherte sich ihrem Gesicht und schob die Haarsträhne zurück hinters Ohr, die ihr natürlich wieder ins Gesicht gefallen war. »Wäre doch sicher ein erfreulicher Anblick.« Sein Mund war ganz dicht an ihrem Ohr.

He, hallo! Pias Herz begann zu rasen. »Den ich aber nicht jedem gewähre«, rief sie in sein Ohr. Hey, coole Antwort! Wieso hatte sie schon wieder Pudding in den Knien? Sie wusste doch, dass er das bei jeder machen würde, die er attraktiv fand. Was ja wohl hieß, dass sie seiner Meinung nach zu dieser Gruppe gehörte. Zu den Attraktiven. Schon vergessen?, fragte sie sich. Er will nur Amelie eifersüchtig machen. Darum ging es.

»Ich brauch ein bisschen frische Luft.« Sie steuerte den Ausgang an, durch den sie die Raucher hatte verschwinden sehen. Dabei entdeckte sie Amelie, die an Mike hing, als müsste sie von der untergehenden Titanic gerettet werden. Ups. Hoffentlich sah Ansgar das nicht. Pia erreichte einen spärlich mit Laternen beleuchteten Innenhof. Die kalte Luft tat ihr gut. Die Augen gewöhnten sich ans Zwielicht. Hier standen etliche Strandkörbe. Wie toll war das denn! Die aufleuchtenden Glutpunkte verrieten ihr allerdings, dass die meisten besetzt waren. Suchend sah sie sich um, bis sie einen freien entdeckte und sich hineinfallen ließ. Lange würde sie nicht bleiben können. Schon wurde ihr kalt. Zwei Minuten später erschien Ansgar. »Tausche Fleecedecke gegen einen Platz an deiner Seite.« Ausnahmsweise lachte er mal nicht. Ziemlich sicher hatte auch er Amelie mit Mike gesehen. Er hob zwei Decken hoch. »Deal?«

Gab’s die an der Bar? Pia hatte keine Lust, schon wieder hineinzugehen. Also gut. »Deal.« Sie wickelte sich in die Decke, die Ansgar ihr reichte, und rutschte zur Seite, damit er sich setzen konnte. Eine Weile schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. Vermutlich war er ziemlich sauer auf Amelie. Doch das war sein Problem, nicht ihres. Sie hatte weiß Gott genügend eigene. Die wummernden Beats der Musik klangen gedämpft in den Hof und vermischten sich mit den halb laut geführten Gesprächen in den benachbarten Strandkörben. Die Wolkendecke war ein wenig aufgerissen. Ein paar Sterne zeigten sich. Pias Nase wurde langsam kalt.

»Bist du mit der Suche nach deinem Vater weitergekommen?«, fragte Ansgar schließlich.

Pia schob die Hände unter die Decke. »Keinen Schritt. Wobei ich glaube, dass Bettina es weiß. Und dann ist gestern auch noch meine Adoptivmutter hier aufgekreuzt, um mich nach Hause zu holen.« Sie erzählte Ansgar von Kathrins und Bettinas Schulterschluss. »Am Ende haben beide denselben Spruch losgelassen. Ich soll ihnen vertrauen, nach Hause fahren und die Vergangenheit ruhen lassen. Es wäre nur zu meinem Besten. Und es gäbe Wahrheiten, die man eigentlich nicht kennen will. Lauter seltsame Andeutungen. Sonst nichts. Ich fahre aber nicht. Auch wenn mir dieser Satz ehrlich gesagt ziemlich Angst macht.« Das stimmte. Seit gestern floss er wie kaltes Quecksilber durch ihre Adern und wollte sie dazu bringen aufzugeben. Gleichzeitig spürte sie, dass sie das nicht durfte. »Ich will wissen, was ich nicht wissen soll. Weißt du, ob es damals den Verdacht gab, dass an Sonjas Autounfall etwas nicht stimmte, dass es vielleicht ein Mord war?«

Einen Moment schwieg Ansgar. Er wich ihrem Blick aus. »Nein. Kein Mord. Ganz sicher nicht. Es war ein Unfall. Niemand hat das gewollt. Jemand … Jemand war unachtsam.« Wie er das sagte, als wüsste er mehr. Forschend sah Pia ihn an. Jemand war unachtsam. Was war das denn für eine seltsame Formulierung? Warum sagte er nicht, dass Sonja einen Moment nicht aufgepasst hatte? »War ich wirklich dabei?«

Ansgar nickte.

»Aber mir fällt nichts dazu ein! Ich habe nur diese Albträume. Sie sind meine einzigen Anhaltspunkte. Doch darin kommt kein Auto vor und nur ein Baum, der abseits jeder Straße steht. Kein Auto ist dagegengeknallt. Außerdem brennt in meinen Träumen ein Haus. Ich vertraue einem Fuchs, was sich als Fehler erweist, und eine Schlange versperrt mir den Weg und sagt, ich soll ihr vertrauen.«

Ansgar griff nach Pias Hand. Es fühlte sich warm und gut und merkwürdig richtig an. Dennoch stieg Unruhe in ihr auf. Im flackernden Licht der Laternen sahen seine Augen noch dunkler und geheimnisvoller aus als sonst. Ein Funke tanzte darin. »Dieser Satz von Bettina und deiner Mutter … dass man nicht unbedingt alles wissen sollte … Vielleicht haben sie ja recht.«

Was sollte das jetzt? Seine Worte trafen sie wie ein Schlag. Auch er wollte, dass sie hier schleunigst verschwand. Was hatte das alles zu bedeuten? Was wussten offenbar alle, nur sie nicht? Mit einem Mal war ihr kalt bis in die Knochen. Sie wollte nur noch hinein ins Warme.

Ansgar zog sie an sich. »Du frierst ja. Und so, wie du das verstanden hast, habe ich es nicht gemeint.« Er gab ihr einen kleinen Stups auf die Nase und sah sie fragend an. »Ich mag dich. Wirklich. Manchmal ist es besser, anderen zu vertrauen. Darf ich dich heute küssen? Oder denkst du noch immer, dass ich Spielchen spiele?«

Pias Nerven fuhren gerade ziemlich Achterbahn. Das war jetzt zu viel. Das war doch echt das Letzte. Hielt er sie für total bescheuert? »Sollten wir nicht besser reingehen und vor Amelie rumknutschen. Damit sie es auch mitkriegt?«

Sie hörte, wie er nach Luft schnappte.

»Ich habe dir gestern klipp und klar gesagt, dass ich nichts für dich bin.«

Er atmete scharf aus und stand auf. »Okay. Ich weiß ja nicht, was du so erlebt hast, dass du es nicht ertragen kannst, wenn dich jemand mag und die Unverfrorenheit besitzt, dir das auch noch zu sagen. Aber keine Sorge, ich lasse dich in Ruhe. Ich werde es nie wieder wagen, der Eisprinzessin zu nahe zu kommen.« Auf dem Absatz machte er kehrt und verschwand.

Eisprinzessin! War sie das? Eine Eisprinzessin? Pia würgte die Tränen hinunter. Nichts wie weg hier! Am liebsten wäre sie ungesehen abgehauen. Doch es gab nur einen Weg, den durch den Club, und Ansgar würde vielleicht denken, sie liefe ihm hinterher. Also wartete sie ein paar Minuten, bevor sie hineinging. Ihre Tasche lag auf dem Sofa. Die musste sie holen. Es ging nicht anders, auch wenn sie am liebsten sang- und klanglos das Weite gesucht oder besser noch, sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Biggi lehnte in einer Ecke, Martin war nicht zu sehen. Yvonne und Niklas unterhielten sich. Von Ansgar keine Spur. Pia schnappte sich ihre Tasche.

»Gehst du schon?«, fragte Biggi.

Pia nickte und entdeckte dabei Ansgar. Eng umschlungen tanzte er mit Amelie. Bingo! Volltreffer! Sie hatte es ja gewusst! Dieser verdammte Mistkerl. Es zog ihr beinahe die Füße weg. Sie musste sich aufs Sofa setzen, ihre Knie gaben einfach nach. Hallo? Ging es noch! Sie wollte nichts von ihm!

Besorgt beobachtete Biggi sie. »Alles in Ordnung? Oder will der Gin Tonic wieder raus?«

»Alles prima.« Es gelang ihr nicht, den Blick von Ansgar und Amelie abzuwenden.

Biggi ließ ihren Blick zwischen Tanzfläche und Pia pendeln, der Groschen fiel. »Es ist nicht so, wie es aussieht. Die beiden haben sich im Sommer getrennt. In aller Freundschaft und jetzt hat sie es sich anders überlegt und hätte ihn gerne zurück. Und da tauchst ausgerechnet du auf und Ansgar ist ganz hin und weg von dir.«

Was? Das konnte doch nicht sein.

Super! Klasse! Konnte irgendwer auf Gottes weitem Erdboden dümmer sein als sie? Sie hatte es vermasselt. Restlos vermasselt.

»Ich gehe. Ciao. Man sieht sich.« Sie hob die Hand zum Gruß. Ihre Jacke. Wo war die? An der Garderobe. Der DJ machte eine Pause. Die Musik verebbte. Bei der Glückssträhne, die sie derzeit hatte, lief sie natürlich prompt Amelie über den Weg, die von der Tanzfläche kam. Ausweichen war nicht möglich. Ansgars Ex baute sich direkt vor ihr auf, während er sich weiter hinten mit Mike unterhielt. Amelie warf den Kopf in den Nacken. »Hatte ich dir nicht geraten, deine Finger von Ansgar zu lassen? Also hör auf, dich an ihn ranzuschmeißen. Glaubst du wirklich, dass er etwas von dir will? Ausgerechnet von dir? Von einer …« Abrupt brach sie ab und sah ängstlich zu Ansgar, der noch immer bei Mike stand.

Diese verdammte Geschichte! In Pia brannte eine Sicherung durch. »Von einer … Was denn? Hexe etwa? Dann sag es doch! Diese verdammte Geschichte ist ja nicht totzukriegen!«

Amelie lachte. »Hexe ist gut. Sehr gut sogar. Hexe und Feuer … das passt ja perfekt.« Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Von wegen Autounfall. Du hast das Haus angezündet und deine eigene Mutter umgebracht. Du bist eine Mörderin. Und es ist Zeit, dass dir das endlich mal jemand sagt.«

Diese Worte fuhren wie kalter Stahl durch Pia und wollten sie zerreißen. Die Gespräche um sie verstummten. Alle sahen sie an. Plötzlich stand Ansgar vor ihr.

Ihre Stimme schien nicht zu ihr zu gehören. Sie kam von weit her, kalt und fremd. »Stimmt das?«

Sein Mund wurde zu einem wütenden weißen Strich. »Du hattest mir versprochen, den Mund zu halten!«, fuhr er Amelie an.

»Stimmt das?«

Ansgar drehte sich zu Pia um und nickte.