28. Dezember
Die vierte Raunacht

Der Nachhall ihres Schreis hing noch im Zimmer, als Pia sich schweißgebadet aufsetzte. Ihr Herz schlug in rasenden Schlägen, ihr war so kalt, als wäre sie tatsächlich im Schlafanzug durch einen Winterwald gehetzt.

Wieso Schlafanzug? Sie trug immer Shirts zum Schlafen. Hallo! Ging’s noch! Machte sie sich jetzt ernsthaft über geträumte Schlafanzüge Gedanken? Ich sollte mich besser fragen, woher diese Träume kommen, überlegte Pia und machte das Licht an. Sofort fühlte sie sich besser, in Sicherheit. In Sicherheit, wovor denn?

Im Traum war das Böse hinter ihr her gewesen und vor ihr hatte sich ein namenloses Grauen aufgebaut. Eine Schlange, der sie vertrauen sollte, denn sie sei die Wahrheit. Wieder ging es um Vertrauen, wie schon im Traum mit dem Fuchs. Ihm war sie ins brennende Haus gefolgt. Vor der Schlange hatte sie panische Angst gehabt. Es war nur ein Traum gewesen. Ein Hirngespinst. Nicht Wirklichkeit, auch wenn er ihr so erschreckend real erschienen war. Der zweite Albtraum innerhalb von wenigen Tagen. Was war los mit ihr?

Na, das war ja wohl klar. Ihre Welt brach in tausend Stücke. Der Boden, auf dem sie bisher gestanden hatte, war zu einer glitschigen Bahn geworden. Dank Kathrin und Paul und der Verwandtschaft, die seit dreizehn Jahren Stillschweigen darüber bewahrte, dass ihre Eltern nicht ihre Eltern waren und ihre Mutter bei einem Unfall gestorben war, von dem Tami wild spekulierte, dass er in Wirklichkeit ein Mord gewesen sein könnte. Vielleicht vom Pfarrer verübt, der wegen eines Kindes seinen Job nicht verlieren wollte. Krasse Ideen! Ein hysterisches Kichern wollte in Pia aufsteigen.

Sie tastete nach dem Handy. Es war kurz nach Mitternacht. Die vierte Raunacht hatte begonnen. Die Geister bestimmten ihr Leben. War daran vielleicht ein Funken Wahrheit?

Gut möglich. In diesen alten Überlieferungen steckte häufig ein wahrer Kern. Sonja war Esoterikerin gewesen und hatte sicher den Kräften der Natur vertraut.

Die ersten vier Jahre ihres Lebens hatte sie bei ihrer richtigen Mutter gelebt. Und plötzlich fragte Pia sich, ob Sonja während der Raunächte Kerzen in die Fenster gestellt hatte, um die bösen Geistern zu bannen? Sosehr sie auch darüber nachgrübelte, es fiel ihr nichts dazu ein. Es war so lange her. Fast ihr ganzes Leben.

Pia umfing die Knie mit den Armen. Was war das überhaupt für ein Unfall gewesen, bei dem ihre richtige Mutter gestorben war? Auch daran hatte sie keine Erinnerung. Also konnte sie nicht dabei gewesen sein. Doch sie erinnerte sich auch nicht, wie ihr jemand sagte, dass ihre Mutter tot sei, oder an die Beisetzung. So etwas vergaß man doch nicht. Auch wenn man noch so klein gewesen war.

Ihre Schultern schmerzten, wie ihr ganzer Körper. Sie war völlig verkrampft. Würde Sonja ihr jetzt raten, sich zu entspannen, die Augen zu schließen, Omm zu sagen und die Bilder einfach kommen zu lassen? Sie konnte es ja mal probieren. Pia rollte sich auf die Seite, schloss die Augen. Das Omm ließ sie bleiben. Es erschien ihr albern. Außerdem wusste sie nicht, wie man das machte, sich entspannen, um Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Sie wusste nichts von den Dingen, die ihrer richtigen Mutter so wichtig gewesen waren.

Dieser Gedanke hinterließ einen tiefen Schmerz. Wie anders ihr Leben wohl verlaufen wäre, mit Sonja als Mutter dort draußen in Galsterried. Sie beschwor die wenigen Erinnerungen herauf, die sie hatte. Sonjas warmes Lachen, bei dem die Sonne aufzugehen schien. Wie Sonja den Baum umarmte. Hör mal, Pia, was er uns erzählt. An den Sonnenglanz in ihrem Haar. Sie ließ ihre Gedanken auf diesen Bildern treiben. Langsam lösten sich andere aus dem Nebel lange vergessener Erinnerungen. Das kleine Haus, hoch oben auf dem Hügel. Das Tipi auf der Wiese. Ein Lagerfeuer brannte davor. Sonnenblumen vor einem dunklen Lattenzaun. Ein Geburtstagskuchen. Vier Kerzen darauf. Ich will die Kerzen anzünden. Bitte! Du bist dafür noch zu klein, Pia. Feuer ist kein Spielzeug. Es ist gefährlich. Ich will aber, Mama. Ich will. Bitteee lass mich! Na gut, mein Schatz. Ich helfe dir. Du musst aber vorsichtig sein.

Pia schreckte hoch. Ihr war schlecht. Zu viele Plätzchen gefuttert, noch immer lagen sie ihr im Magen. Sie stand auf und ging in die Küche. Dort brannte das Licht. Kathrin saß am Küchentisch mit rot geweinten Augen, vor sich einen Becher Tee. Das Blech mit der kalten Pizza stand noch immer auf dem Herd.

»Kannst du auch nicht schlafen?« Kathrins Hände umklammerten den dampfenden Teebecher wie einen Rettungsring.

»Ich habe schlecht geträumt.« Pia füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Ein Pfefferminztee würde vielleicht gegen das Gefühl helfen, gleich kotzen zu müssen. Sie setzte sich zu Kathrin. »Was war das eigentlich für ein Unfall, bei dem Sonja gestorben ist?«

Kathrin fuhr mit der Hand über die glatte Oberfläche des Tischs. »Das weißt du doch. Sonja ist selten mit dem Auto gefahren. Sie hatte zu wenig Fahrpraxis.« Über den Tisch hinweg griff Kathrin nach Pias Hand. Das war so ungewohnt, dass es Pia irritierte, und doch fühlte es sich gut an. »Sonja war einen Moment unaufmerksam. Sie ist mit dem Wagen von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Er ging in Flammen auf.«

Daher kamen also die Träume vom Feuer. »Wo war ich? War ich dabei?«

Kathrin nickte. »Ich bin mit meinem Auto hinter euch hergefahren und konnte dich gerade noch rausziehen. Es war so furchtbar.« Kathrin löste den Händedruck und fuhr sich über die Augen. Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen.

»Und das ist an meinem vierten Geburtstag passiert? Wohin wollten wir denn?«

»Zu unseren Eltern nach Wasserburg.«

»Nachts?«

Verwundert schüttelte Kathrin den Kopf. »Es ist nachmittags passiert. Gegen fünf Uhr. Wie kommst du auf die Idee, es könnte nachts geschehen sein? Kannst du dich etwa daran erinnern?«

»Nein.« Pia schüttelte den Kopf. »War nur so eine Idee. Sicher wegen meiner Albträume vom Feuer. Darin ist es immer Nacht.«

Das Wasser kochte. Pia brühte einen Becher Pfefferminztee auf. »Ich kann mich auch nicht an die Beisetzung erinnern. Oder wie mir jemand sagt, dass meine Mutter tot ist. Das ist doch nicht normal.«

»Du hast dich bei dem Unfall verletzt und warst im Krankenhaus. Deshalb konntest du nicht bei der Beerdigung dabei sein. Es ging nicht.«

Okay, dann gab es dafür eine Erklärung. »Gute Nacht … Kathrin.« Sie hatte schon wieder Mam sagen wollen.

»Gute Nacht, Pia. Schlaf gut. Wir werden das hier schon auf die Reihe bekommen und uns neu justieren.«

Ja, sicher, genau wie sie gedacht hatte. Kathrin arbeitete bereits an ihrer Liste Wie sortiere ich mein Leben neu.

»Sag mal, Mam, Sonja und du, ihr wart Schwestern. Habt ihr euch gut verstanden?«

»Natürlich. Auch wenn wir sehr unterschiedlich waren. Wir waren eher Freundinnen als Schwestern. Warum fragst du?«

»Hat sie dir wirklich nie gesagt, wer mein Vater ist?«

»Nein. Das hat sie nicht. Obwohl ich natürlich gefragt habe. Sie wollte nicht, dass er bekannt wird. Warum sie daraus ein solches Geheimnis gemacht hat … Ich weiß es nicht. Um ihn zu schützen, hat sie mal gesagt. Aber nicht, wovor oder vor wem.«

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Das bisschen Schnee, das am ersten Weihnachtstag gefallen war, hatte sich unter dem Einfluss von Salz und Splitt und Tausender trampelnder Füße längst zu grauem Matsch verwandelt. In den Schaufenstern hing noch Weihnachtsdeko. Und dazwischen kündeten überall neue Plakate und Aufkleber von Rabattaktionen. Sale! Bis zu 80%. Die Geschäfte waren genauso überfüllt wie an den Tagen vor Weihnachten, als hätten die Leute nicht erst vor ein paar Tagen bergeweise Geschenke ausgepackt und könnten nie genug bekommen.

Pia sah sich das fasziniert und angewidert zugleich an. Eigentlich war das total pervers. Sonja würde sicher genauso über diesen Konsumwahnsinn denken. Kaufen, kaufen, kaufen. Das sollte der Sinn des Lebens sein? Ein Graffiti fiel ihr wieder ein, das sie neulich gesehen hatte und das sie mit Schreck erfüllte. Geboren werden. Zur Schule gehen. Arbeiten. Sterben. Diese Worte hatte jemand an die Wand einer Lagerhalle gesprüht. Seither musste sie immer wieder mal daran denken. Wie wahr! Das konnte es ja wohl nicht sein! Doch es war das, was man ihnen beibrachte. Du musst einen guten Schulabschluss haben, damit du eine gute Ausbildung machen kannst und einen guten Job bekommst und gutes Geld verdienst.

Sonja hatte sich mit wenig begnügt und das getan, was ihr wichtig gewesen war. Und was hatte es ihr gebracht? Sie war viel zu früh gestorben. Jemand rempelte Pia an. Sie erwachte aus ihren Überlegungen und folgte Tami, die noch immer nach einer Snowboardjacke suchte, in ein Kaufhaus. Irgendwie tat es gut, in all diesem Chaos etwas so Normales zu tun wie Shoppen.

Mit der Rolltreppe ging es in die Sportabteilung. An einem Verkaufsständer mit Snowboardjacken einer exklusiven Marke herrschte dichtes Gedränge. Gab es die umsonst? Ne, nur fast. 70% Preisnachlass. Vor Weihnachten waren sie begehrenswerte Objekte gewesen, da teuer und somit ein passendes Geschenk und Statussymbol für jeden, der sich nicht lumpen ließ. Und nun wurden sie verramscht. Noch immer begehrenswert, da billig. Das war doch echt krank. Tami kämpfte sich durch und tauchte schließlich mit ihrer Beute auf. »Was meinst du?« Fragend hielt sie eine türkisfarbene Jacke mit weißen Einsätzen vor sich.

»Sieht gut aus. Türkis passt super zu deiner Haarfarbe.« Während Tami die Jacke probierte, erzählte Pia von ihrem neuesten Albtraum, in dem es ausnahmsweise einmal nicht brannte, und was sie in der vergangenen Nacht über den Unfall in Erfahrung gebracht hatte.

Tami zog den Reißverschluss hoch und drehte sich vor dem Spiegel. »Ich weiß nicht. Darin sehe ich irgendwie krank aus, außerdem beult sie am Bauch.« Sie zog die Jacke aus, verschwand in der Menge und kam kurz darauf mit einer neongrünen zum Vorschein. »Die hat doch was.« Prüfend stellte sie sich damit vor den Spiegel und zog sie schließlich an. »Aber irgendwas gefällt dir nicht an diesem Unfall.«

»Meine Albträume spielen alle nachts und der Unfall geschah nachmittags gegen fünf. Das sagt Kathrin.«

»Passt doch. Es ist am fünften Januar passiert. Da ist es um diese Zeit schon dunkel.«

Stimmt! Tami hatte recht. Dass sie nicht selbst darauf gekommen war? »Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Kathrin lügt oder zumindest nicht die ganze Wahrheit sagt.«

Kritisch betrachtete Tami ihr Spiegelbild. »Neongrün ist auch nichts für mich. Pink auf keinen Fall. Und in einer anderen Farbe gibt es die nicht.« Sie hängte die Jacke zurück an den Ständer. »Hier finde ich nichts. Lass uns noch ins Sporthaus am Rindermarkt gehen. Du denkst, dass Kathrin schwindelt, was den Unfall betrifft?«

Sie fuhren mit der Rolltreppe nach unten. Pia zögerte. »Ne, eher wegen meinem Vater. Ich glaube, sie weiß, wer er ist.«

»Das ist unlogisch. Du gehst ja davon aus, dass sie dich nur deshalb adoptiert haben, weil ihnen die gesamte bucklige Verwandtschaft die Hölle heißgemacht hat. Nehmt das arme elternlose Kind. Ihr wolltet doch immer eines. Wenn Kathrin und Paul gewusst hätten, wer dein Vater ist, dann hätten sie dich doch postwendend bei ihm abgeliefert.«

Da ist was dran, dachte Pia.

»Wobei das nur passt, wenn sie dich tatsächlich nicht adoptieren wollten. Falls doch, war es natürlich besser, nichts zu sagen, falls er es selbst nicht wusste«, fügte Tami hinzu. »Oder es ist wirklich der Pfarrer. Dann ging das natürlich gar nicht.« Nun grinste sie.

Sie waren im Erdgeschoss angekommen und verließen das Kaufhaus durch den Ausgang Richtung Rindermarkt. Pia wurde langsam sauer. Tami fand das anscheinend alles ziemlich komisch, während sie noch immer das Gefühl hatte, langsam den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wer war sie? Wem konnte sie überhaupt noch glauben?

»Und der Unfallstory traust du auch nicht so recht.« Fragend sah Tami sie an.

»Story? Das ist keine Story!« Die Worte brachen einfach aus Pia heraus. Sie war wütend und blieb stehen. »Das ist wirklich passiert. Meine richtige Mutter ist dabei verbrannt und ich beinahe mit ihr. Das ist nicht komisch. Das ist überhaupt nicht komisch!« Sie verdankte ihr Leben Tante Kathrin. Das wurde ihr erst in dieser Sekunde klar und zog ihr beinahe die Füße weg.

Einen Augenblick lang starrte Tami sie erschrocken an. »Sorry!«, stammelte sie, breitete die Arme aus und drückte Pia an sich. »Sorry!«, wiederholte sie bestürzt. »Du weißt doch, dass ich so bin. Immer ein wenig flapsig. Ich wollte mich nicht lustig machen. Tut mir leid. Echt. Mir ist schon klar, dass dein ganzes Leben grad ein wenig kopfsteht … Siehst du, ich tue es schon wieder. Trotzdem Freunde?« Tami sah aus, als würde sie gleich losheulen.

Auch Pia wollten wieder die Tränen kommen. Wie so häufig in den letzten Tagen, seit ihr Leben mit jedem Tag ein Stückchen mehr aus den Fugen geriet. »Logisch. Natürlich: Freunde. Kopfstand trifft es eigentlich ziemlich gut.«

Eine Weile blieben sie so stehen, eng umschlungen. Beste Freunde. »Weißt du, was?«, fragte Tami und ließ los. »Die Snowboardjacke kann ich auch später noch besorgen. Wir laufen jetzt durch den Englischen Garten und quatschen.«

Mit der U-Bahn fuhren sie bis zur Giselastraße, kauften sich bei einem Coffee-to-go zwei Cappuccino und Bagels und gingen mit den dampfenden Bechern in den Park. Die Luft war klar und kalt und die dünne Schneedecke hier noch beinahe weiß. Die wenigen Menschen verliefen sich rasch. Von der Leopoldstraße klang ein leises Brausen herüber, unter ihren Schritten knirschten Kies und Schnee. Der Kleinhesseloher See lag unter einer dünnen Eisschicht verborgen. Enten watschelten darauf herum. Pia warf ihnen Bagelstückchen zu. Gierig schnappten sie danach und kamen näher, voller Erwartung auf mehr dieser leckeren Happen. Tami wiederholte die Frage von vorhin. »Du glaubst nicht an die Version des Unfalls, die Kathrin dir aufgetischt hat, oder?«

Pia zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, während mir ein paar andere Sachen aus dieser Zeit wieder eingefallen sind. Sonja war mal mit mir bei einem uralten Baum. Der Stamm war so dick, dass sie ihn gar nicht ganz umfassen konnte. Sie hat ihr Ohr an den Stamm gelegt und gesagt: Hör mal, was er wispert. Daran erinnere ich mich, aber an den Unfall nicht. Das ist doch komisch.«

»Das nennt man Amnesie und ist ganz normal. Wir erinnern uns nun mal lieber an die schönen Sachen und die schrecklichen vergessen wir. Und du warst ja erst vier. Außerdem hast du ihn nicht so ganz vergessen. Denke nur an deine Albträume vom Feuer. Die kommen bestimmt daher.«

»In meinen Träumen brennt aber ein Haus.«

»Du glaubst also, dass der Unfall anders abgelaufen ist, dass Kathrin dir auch in diesem Punkt etwas verheimlicht, genau wie mit der Adoption.«

»Ist doch möglich.«

»Warum sollte sie?«

»Keine Ahnung.« Pia zog den Schal enger um sich. Ihr war so kalt. »Sie hat mir das Leben gerettet. Ohne sie wäre ich tot und ich rede schlecht über sie.« Sie fühlte sich schäbig und schuldig. Der Rest ihres Bagels war an die Enten verfüttert. Sie gingen weiter. Tami schob die Hände in die Jackentaschen. »Du könntest doch mal nach dem Unfall googeln. Du kennst das Datum und den Ort. Dürfte nicht schwer zu finden sein.«

»Das ist dreizehn Jahre her.«

»Das Netz vergisst nichts.«

»Gab es damals überhaupt schon das Internet? Wenn, dann steckte es noch in den Kinderschuhen. Ich glaube nicht, dass es damals schon Online-Zeitungen gab.«

»Da hast du auch wieder recht. Du könntest aber einen kleinen Ausflug nach Wasserburg machen und im Archiv der Zeitung suchen. Was heißt du? Wir! Wir fahren zusammen und …«

»Du fährst auf die Hütte. Und ich fahre nicht nach Wasserburg.«

»Und wenn wir schon dort sind, wie wäre es mit einem Ausflug nach Galsterried, um mal ein wenig mit den Leuten zu reden? Denn, wie schon gesagt: Irgendwer wird wissen, wer dein Vater ist, oder wenigstens eine Vermutung haben.«

Wieder baute sich diese Mauer an Widerstand in Pia auf. »Wenn mein Vater von meiner Existenz wüsste und ihm etwas an mir läge, hat er siebzehn Jahre Zeit gehabt, um Kontakt zu mir aufzunehmen. Hat er nicht getan. Also weiß er entweder nicht, dass es mich gibt, was eher unwahrscheinlich ist in einem Kaff wie Galsterried, deine Worte. Oder er will nichts mit mir zu tun haben. Ich werde einen Teufel tun und ihn ausfindig machen, um dann nur deshalb vor seiner Tür zu stehen, damit er sie mir postwendend vor der Nase zudonnern kann. Echt nicht. Und wenn er von meiner Existenz nichts weiß, dann weiß es auch sonst niemand. Denn das hätten sie ihm sicher im Laufe der Jahre mal unter die Nase gerieben.«

»He, so kenne ich dich ja gar nicht. So angriffslustig.« Bewunderung schwang in Tamis Stimme mit. Pia kannte sich so auch nicht.

»Hm?« Tamis Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Vielleicht ist er ja einer der Seminarteilnehmer. Lauter Typen auf dem Selbsterfahrungstrip, die über glühende Kohlen laufen und so. Dann kommt er vielleicht gar nicht aus dem Dorf oder aus Wasserburg, dann wohnt er weiß Gott wo und hat vielleicht wirklich keine Ahnung von dir. Du solltest mal Sonjas Unterlagen durchsehen. SMS. E-Mails. Briefe.«

»Gab es 1996 vermutlich noch nicht. Ich glaube, zu der Zeit wurde das Handy grad erst erfunden.«

»Briefe und Postkarten aber nicht. Die gibt es schon seit dem Mittelalter.«

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Es wurde schon dunkel, als Pia sich von Tami verabschiedete und nach Hause fuhr. Wie lange würde die Wohnung in Haidhausen das noch sein, ihr Zuhause? Nicht allzu lange, denn gleich nach dem Abi würde sie hier die Segel streichen. In diesen trotzigen Gedanken mischte sich unversehens Schmerz. Pia reckte die Schultern. Es brachte ebenso wenig, in Selbstmitleid zu versinken, wie in der Vergangenheit zu graben. Sie konnte es ohnehin nicht ändern.

Sie betrat die Wohnung und fühlte sich plötzlich wie in einer Zeitschleife gefangen. Etliche Umzugskartons standen im Flur. Und ewig grüßt das Murmeltier, dachte Pia in einem Anfall von Sarkasmus. Alle Schachteln waren mit Paul beschriftet. Aus dem Schlafzimmer drangen merkwürdige Geräusche. Pia warf einen Blick hinein. Kathrin donnerte einen Stapel gefalteter Pullis so in einen Karton, dass sie durcheinanderpurzelten. Ein Knäuel Krawatten folgte, etliche Gürtel landeten daneben, ebenso der Rahmen mit Pauls Foto vom Nachttisch. Kathrins Gesicht war gerötet, die Stirn schweißfeucht. Sie bemerkte Pia und hielt kurz inne. »Ich will einfach nichts mehr von ihm um mich haben. Ich will ihn nicht mehr sehen und nichts, was mich an ihn erinnert. Hätte er seinen Kram doch gleich ganz mitgenommen.«

Vor Schreck wollte Pia die Standardfrage, ob sie helfen konnte, ganz automatisch über die Lippen kommen. Ging’s noch! Es gelang ihr gerade noch, sich das zu verkneifen. Kathrin riss die Kommodenschublade auf und pfefferte Hemden und Socken in den Karton. So wütend kannte Pia die sonst so kühle und beherrschte Kathrin gar nicht.

»Du kannst mir später helfen, die Kartons in den Keller zu bringen.«

Pia schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht. Deinen Mann kannst du alleine aus deinem Leben räumen. Dafür bin ich nicht zuständig.« Zornig knallte sie die Tür hinter sich zu und ging, ein wenig erstaunt über sich, in ihr Zimmer. Sie hatte Mam … Tante Kathrin echt die Stirn geboten. Ging doch!

Diese Neuigkeit simste sie Tami und ging dann in die Küche, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Dort traf sie Kathrin, die dieselbe Idee gehabt hatte und direkt aus der Flasche trank. Was war hier los? Kathrin, die immer auf gute Manieren achtete, warf sie über Bord! Sie setzte die Flasche ab. »Entschuldige. Daran solltest du dir kein Beispiel nehmen.« Wut und Zorn waren verflogen oder ausgeschwitzt oder was auch immer. Kathrin fand zu ihrer normalen Tagesform zurück. »Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch.« Eine Geste mit dem Arm Richtung Schlafzimmer. »Ich liebe Paul noch immer, aber ich war auch schon immer für klare Verhältnisse. Dieses Ausziehen auf Raten ist nichts für mich.«

Ne, dachte Pia. Ganz bestimmt nicht. Dir ist der radikale Schnitt lieber. Merkwürdigerweise konnte sie das gut verstehen. Auch sie hätte gerne gewusst, woran sie war. »Sag mal, gibt es auch solche Kisten von Sonja im Keller?« Ups! Die Frage war raus, obwohl sie die nicht hatte stellen wollen. Tami und ihre Ideen!

»Was für Kisten denn?«

»Mit Sonjas Sachen. Die müssen doch irgendwo geblieben sein.«

Kathrin schraubte den Verschluss auf die Flasche. »Es war nicht viel. Sie hat sehr bescheiden gelebt. Wir haben ihren Haushalt nach ihrem Tod aufgelöst. Warum fragst du?« Forschend sah sie Pia an. »Du solltest die Vergangenheit ruhen lassen. Es ist besser so.«

Da sind wir ausnahmsweise mal einer Meinung, dachte Pia. Ihre Mutter war also einfach verschwunden, ihre Sachen verkauft oder weggeworfen worden, als hätte es sie nie gegeben. Was blieb am Ende? Nichts, außer ein paar Erinnerungen. Und auch die würden rasend schnell in Vergessenheit geraten. Wir sind von solchem Stoff, wie Träume sind. Wo hatte sie das mal gehört? Es fiel ihr nicht ein. War ja auch egal. Es stimmte jedenfalls.

Kathrin stellte die Flasche in den Kühlschrank. »Es tut mir leid, dass wir dir nicht früher die Wahrheit gesagt haben. Wir dachten, es sei richtig so.«

»Eigentlich komisch. Du bist Lehrerin und hättest es besser wissen müssen«, konterte Pia. Die Rebellin in ihr war offenbar aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht und probierte gleich mal aus, was sie so draufhatte. »Vermutlich steht in jedem Erziehungsratgeber ein Kapitel darüber, wie wichtig es ist, seine Wurzeln zu kennen.«

»Wir wollten dir das nicht vorenthalten. Es war eine Frage des richtigen Zeitpunkts.«

Lügnerin! Pia darf das nie erfahren. Das war die Vereinbarung. Nur über meine Leiche. Das hatte Kathrin gesagt. Von wegen richtiger Zeitpunkt. »Und Sonja habt ihr wirklich total aus eurem Leben geräumt? Das gibt es doch nicht. Sie war deine Schwester und meine Mutter. Ihr müsst doch irgendetwas für mich aufbewahrt haben. Gibt es echt nichts mehr? Keinen Ring oder eine Kette? Keine Fotos oder Briefe, kein Erinnerungsstück? Nichts?« Auf einmal hätte Pia heulen können.

Für eine Sekunde schloss Kathrin die Augen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ein Fotoalbum muss noch irgendwo sein.«

»Wo?«

»Hier, bei uns.«

»Kann ich es haben?«

»Ich sehe morgen mal nach, wo es ist.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Du weißt, wo sich jeder Löffel, jede Socke und jedes Staubkorn in dieser Wohnung befindet. Ein Griff und du hast es. Ich will es sehen, und zwar jetzt.« Verdammt, das wollte sie nicht. Sie wollte nicht in der Vergangenheit wühlen. Aber sie wollte wissen, wie ihre Mutter gewesen war.

Kathrin seufzte. »Also gut.« Sie ging ins Schlafzimmer. Pia folgte ihr. Aus dem Sekretär, der zwischen den beiden Fenstern stand, holte Kathrin das Album und setzte sich damit auf die Bettkante. Pia nahm neben ihr Platz.

»Das ist der alte Moar-Hof in Galsterried. Sonja hat ihn mit dem Geld gekauft, das sie von unserer Großtante geerbt hat.« Kathrin wies auf eines der Bilder. Es zeigte ein weiß verputztes Gebäude, das auf der Kuppe eines Hügels thronte. Ein für die Gegend typisches Bauernhaus mit weit vorgezogenem Dach, dunklen Holzbalkonen und dunkelblauen Fensterläden. Auf der Wiese ein Stück unterhalb am Hang stand ein Tipi zwischen den Obstbäumen. Genau wie in Pias Erinnerung. »Darin gab es einen Steinkreis, in dem man Feuer machen konnte, und auf der Wiese daneben ein Labyrinth. Oder?«

Kathrin nickte. »Der Seelengarten. So hat Sonja das Labyrinth genannt. Sie hat die Ligusterhecken selbst gepflanzt. Dahinter lag die Meditationswiese. Und das in den Neunzigerjahren auf dem Land. Die Leute aus dem Dorf waren argwöhnisch, was Sonja und Bettina dort oben auf dem Hügel wohl trieben. Bestenfalls hielten sie es für Humbug und Spinnerei, manche dachten, dass sie den Leuten das Geld aus der Tasche zogen für nichts, und andere hielten Sonja tatsächlich für eine Hexe.« Kathrin lachte und schüttelte den Kopf. »Die Geschichte von der Wegscheider Barbara ist nicht auszurotten. Die Leute im Dorf sind einfache Bauern, die mit Esoterik nichts am Hut haben. Kein Wunder, dass Sonja im Ort kaum Kontakt hatte. Sie war eine Einzelgängerin. Eigentlich schon immer. Auch schon, als wir noch in Wasserburg bei unseren Eltern gelebt haben.«

»Und was ist das hier?« Pia wies auf das Foto eines kleineren Hauses mit dunkler Holzverkleidung. Etwas rührte sich in ihr, ein schmerzhaftes Ziehen.

»Das Austragshaus. Früher haben die alten Bauern ihren Ruhestand dort verbracht, wenn sie den Hof an den ältesten Sohn übergeben hatten. Sonja hat darin gelebt. Zuerst allein, dann mit Tama, ihrem damaligen Freund, von dem sie sich aber getrennt hat, und dann später mit dir.«

Pia fiel dazu nichts ein. Sie konnte sich an dieses Haus nicht erinnern. Nicht an die Zimmer, nicht an die Einrichtung, nur das sehnsüchtige Ziehen blieb und die plötzliche Gewissheit, dass sie dort glücklich gewesen war. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und blätterte weiter. Endlich Bilder von Sonja. Immer lachend. Immer exotisch gekleidet. Pluderhosen und Blusen in allen Farben. Selbst gestrickte Pullis und Sandalen, sogar im Winter. Rote Locken, blaue Augen. Sie strahlte so viel Lebensfreude aus, dass es Pia nun doch die Tränen in die Augen trieb. Warum hatte sie so früh sterben müssen? Es war so ungerecht.

Dann kamen die Fotos mit ihr, Pia, als Baby. Sonja trug sie in einem Tuch auf dem Rücken. Pia im Gras und auf dem Wickeltisch, in der Badewanne und bei den ersten Gehversuchen. Pia mit Kuscheldecke und Kuscheltier.

Fotos vom alten Waschhaus, das Sonja in ein Gästehaus umgebaut hatte. Fotos von Bettina und ihrem Mann Stefan. Sie mit Rastalocken bis zur Hüfte. Er in Cargohosen und Wollpulli. Fotos der Seminarräume mit Tatamimatten und Klangschalen, mit Trommeln und Rasseln, mit Steinen und Hölzern. Fotos eines Lebens, das Pia völlig fremd war. Sie blätterte weiter und landete schließlich auf der letzten Seite. Dort klebte ein Bild von ihrem vierten Geburtstag. Sonja trug sie auf dem Arm. Ein blasses Kind mit roten Locken und den großen blauen Augen seiner Mutter. Geburtstagskuchen und Geschenke waren auf dem Tisch aufgebaut.

Neben Sonja stand Kathrin. Sie trug ein blaues Kleid, Ohrringe und eine hübsche Kette, ein silbernes Band, dessen Enden verknotet waren. Paul hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Schon damals war er füllig gewesen, aber sicher zehn Kilo leichter als heute. Rechts und links neben der Gruppe hatten sich Oma und Opa aufgestellt. Und dahinter ein Mann und eine Frau, an die Pia sich schwach erinnerte. Vermutlich Freunde von Sonja. Der Mann hatte ein dünnes Mädchen auf dem Arm. Etwa in Pias Alter. Pia und Mia. Mia mit den dünnen Beinen und den großen Augen.

Pia schluckte. Das war also das letzte Foto von Sonja mit den roten Haaren, von der Einzelgängerin, die ein ungewöhnliches Leben geführt hatte. Nur wenige Stunden später war sie mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Einen Moment nicht aufgepasst und alles war vorbei. Pia gingen die Fotos nahe. Ein wunder Klumpen setzte sich in ihren Hals.

»Warum kann ich mich an Sonja nicht erinnern?«

Zaghaft strich Kathrin ihr über den Arm. »Du warst doch erst vier, als es passiert ist. So weit reichen Erinnerungen nicht zurück. Außerdem warst du nach dem Unfall traumatisiert. Dein Gedächtnis hat jede Erinnerung daran gelöscht.« Sie schlug das Album zu. »Du kannst es dir jederzeit ansehen. Ich lege es ins Wohnzimmer. Aber wenn du meinen Rat willst: Lass die Vergangenheit vergangen sein. Du solltest dich auf die Schule konzentrieren. Das ist jetzt wichtig. Dieses Schuljahr ist halb um. Nächstes Jahr machst du Abitur und danach steht dir alles offen. Verbaue dir das nicht.«

Ja, genau das war der Plan, dachte Pia. Sie ging in ihr Zimmer. Kathrin ins Wohnzimmer. Ihr Zorn auf Paul war weder verflogen noch ausgeschwitzt. Er hatte nur eine kleine Pause gemacht. Mit dem Schlafzimmer war Kathrin fertig. Nun suchte sie in den übrigen Räumen nach Pauls Sachen und pfefferte sie in Kartons, die sie mit Klebeband fest verschloss. Als hätte sie Angst, dass Pauls Krempel sich sonst protestierend befreite und seine alten Plätze zurückeroberte. In der Art, wie Kathrin versuchte, Paul aus ihrem Leben zu verbannen, lag nicht nur Kummer, sondern auch eine gehörige Portion Wut. So unbeherrscht kannte Pia sie nicht. Endlich ließ sie mal ihre Gefühle raus.

Irgendwann musste Pia auf Toilette. Kathrins Stimme drang aus dem Schlafzimmer. Sie telefonierte offenbar. Pia nahm das Fotoalbum vom Sideboard und sah sich die Fotos noch einmal an. Es gelang ihr einfach nicht, sich zu erinnern. Nur ein paar verschwommene Bilder tauchten auf. Ein Heuhaufen. Ein Kräutergarten. Sonja am Fluss. Sie ließ Steine übers Wasser hüpfen. Wie ihr richtiger Vater wohl war? Vielleicht nett und liebevoll. Vielleicht würde er sie mögen.