2. Januar
Die neunte Raunacht

Bis zum Morgengrauen zerbrach Pia sich erfolglos den Kopf. Es gelang ihr nicht, weitere Erinnerungen an die Unglücksnacht heraufzubeschwören. Wie sollte sie nach dreizehn Jahren beweisen, dass sie das Haus nicht angezündet hatte, wenn ihr partout nicht einfallen wollte, was damals wirklich geschehen war? Es hatte keinen Sinn hierzubleiben. Auch wenn sie seit gestern glaubte, dass sie keine Schuld am Tod ihrer Mutter hatte.

Das Feuer war in der vorletzten Raunacht ausgebrochen. Sicher hatte Sonja Kerzen in die Fenster gestellt, so wie Bettina das heute noch tat. Wenn eine umgefallen war oder der Luftzug etwas in die Flammen geweht hatte, eine Gardine oder ein Stück Papier … Es war doch möglich. Ein Unfall.

Doch so konnte es nicht gewesen sein. In ihren Träumen wurde sie gejagt und verfolgt. Jemand wollte sie töten. Der Brandstifter? Hatte sie ihn etwa gesehen?

Pia stopfte einen Pulli in die Reisetasche. Es waren nur Träume. Sie reimte sich da etwas zusammen und brachte Wirklichkeit und Fantasie durcheinander. Fuchs und Schlange. Feuer und Eis. Hirngespinste und nicht Realität!

Das Schlafshirt landete in der Reisetasche, gefolgt von noch einem Pulli. Sie konnte nicht wissen, ob nicht doch sie das Haus angezündet hatte. Aber sie spürte es, seit sie in der vergangenen Nacht plötzlich diese Gewissheit gehabt hatte: Ich war es nicht. In der Unglücksnacht musste noch jemand im Haus gewesen sein. Warum fiel ihr nichts dazu ein? Blöde Frage, würde Tami sagen. In deinen Träumen wirst du gejagt. Jemand ist hinter dir her. Wenn das der Realität entspricht, dann ist es für ein kleines Kind nicht die schlechteste Strategie, das alles zu verdrängen und zu vergessen.

Ein Windstoß fuhr herein. Gleichzeitig krachte etwas donnernd gegen das Häuschen. Pia schrak zusammen und wirbelte herum. Ansgar. Es war nur Ansgar, der hereinkam.

»’tschuldige. Der Wind hat mir die Tür aus der Hand gerissen. Habe ich dich erschreckt?«

»Puh! Ja! Könnte man so sagen.« Ihr Herz machte noch ein paar wilde Sprünge. Ob vor Schreck oder vor Freude, war im Moment nicht so ganz klar. Wie er da stand, mit seinen dunklen Locken, die der Wind total zerzaust hatte. Mit diesen breiten Schultern, an die sie sich jetzt gerne gelehnt hätte. Sie stellte sich vor, wie er nette Worte in ihr Ohr flüsterte.

»Packst du?«

Pia erwachte aus diesem Tagtraum und ließ den Blick zwischen der zusammengelegten Jeans in ihrer Hand und der Reisetasche pendeln. »Ne. Sieht nur so aus.«

Okay. Null Punkte. Total missglückter Versuch, witzig zu sein.

»Gott sei Dank. Ich dachte schon, du fährst zurück nach München.« In seinen Augen lag ein schelmisches Leuchten. »Und was ist nun mit der Entschuldigung?«

Die Jeans landete in der Tasche. »Entschuldige.«

»Was eigentlich?«

»Dass ich so kompliziert bin. An Silvester … du weißt schon. Es tut mir leid. Ich wollte nicht …« Irgendwie wusste sie nicht weiter.

»Nicht wirklich mit mir vor Amelie rumknutschen«, vollendete er ihren Satz. »Ich ja auch nicht.« Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Pia wurde es abwechselnd heiß und kalt. Wie er das sagte … Es war Zeit, ihm die Abfuhr zu erklären.

»Es gab da mal einen Jungen …«, begann sie und stockte. Es war einfach unmöglich, ihm zu erzählen, wie dämlich sie gewesen war. Wie sehr Sebastian sie gedemütigt hatte. Sie schämte sich noch immer so entsetzlich dafür. Für Gadgets! Für Zauberpunkte eines doofen Rollenspiels! Ihr erster Kuss! Wenn sie nur daran dachte, wäre sie am liebsten im Boden versunken. »Na ja, der hat es nicht ernst gemeint.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. »Für ihn war es nur Spaß.«

Ansgar zog die Schultern hoch. »Das geht doch jedem von uns mal so.« Das Thema schien ihn nicht weiter zu interessieren. Er schob die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. »Warst du inzwischen bei der Polizei?«

Pia nickte und erzählte ihm, dass der Martl aus dem Schneider war. Er konnte es nicht gewesen sein.

»Ich war vorhin unten am Inn und habe mir die Stelle genauer angesehen. Es gibt einen Platz, von dem aus kann man den Weg recht gut einsehen. Das Blaubeergestrüpp ist dort niedergetrampelt und in der dünnen Schicht aus Harsch und Eis kann man Spuren erkennen. Ich glaube, der Kerl ist dir von Wasserburg aus gefolgt. Er hat dich in der Kurve überholt, indem er vom Weg runter und am Ufer entlang ist. Du bist kein zufälliges Opfer. Der Kerl hatte es auf dich abgesehen.«

Wenn Ansgar ihr Angst machen wollte, war ihm das prima gelungen. Ein weiterer Pulli landete in die Tasche. »Quatsch. Es war Zufall, dass er mich erwischt hat.«

»Das glaube ich nicht. Nachts ist dort niemand zufällig unterwegs. Der Kerl hat auf dich gewartet. Oder er ist dir gefolgt.«

Plötzlich spürte sie wieder diesen eisigen Sog, der in ihren Träumen immer von hinten kam. Das Böse, das ihr auf den Fersen war und sich unerbittlich näherte.

»Jemand hat es auf dich abgesehen.« Noch immer stand Ansgar unten neben dem Ofen und sah zu ihr nach oben auf die Galerie. Sie unterbrach das Packen und ging zu ihm hinunter. »Niemand konnte wissen, wann ich nach Hause gehen und dass ich diesen Weg benutzen würde. Ausgemacht war schließlich, dass du mich fährst.«

»Jeder konnte das wissen. Jeder, der dich in den letzten Tagen beobachtet hat. Du hast immer diesen Weg genommen.«

»Aber nicht um Mitternacht. Es war Zufall. Es hätte jede andere treffen können. Du siehst echt Gespenster. Wer sollte es denn auf mich abgesehen haben?« Pia versuchte, ein Lächeln hinzukriegen. Doch es gelang ihr nicht. »Außer vielleicht …«

Ihre Gedanken kehrten zu den Träumen zurück. Wie viel Realität verbarg sich darin? Wenn sie als Vierjährige den Feuerteufel gesehen hatte, musste er befürchten, dass sie sich irgendwann an ihn erinnerte. Und nun war sie in Galsterried aufgetaucht und stellte Fragen. Sicher wusste er das.

Abwartend sah Ansgar sie an. »Außer vielleicht …«

Die Angst kroch in ihr hoch wie ein schuppiges Tier. Etwas verschob sich tief in ihrem Innersten, katapultierte sie aus Raum und Zeit und dreizehn Jahre zurück in die Vergangenheit.

Mama! Wo war ihre Mama? Sie wollte schreien, doch es wurde nur ein Flüstern. Mama! Ihre Hände fanden die Lampe nicht und tasteten ins Leere. Rote Trolle tanzten an der Wand. Ein flackernder Schein kroch durch die Fenster. Formen schälten sich aus der Dunkelheit. Eine Kommode, ein Schaukelstuhl, der Ofen.

»Pia? Alles in Ordnung?«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich war hier. Ich war gar nicht drüben im Haus, als es brannte.« Ein Stück Erinnerung war plötzlich da. »Ich bin in der Nacht aufgewacht und war wütend auf Mama, weil sie mich geschimpft und mir wehgetan hatte. Ich war richtig böse auf sie und wollte sie bestrafen. Deshalb habe ich meine Kuscheldecke genommen und mir aus der Küche Proviant geholt. Ein Stück vom Kuchen. Ich wollte auswandern, übers Meer segeln und über hohe Berge klettern. Mama sollte ganz traurig sein. Es war eine kalte und stürmische Nacht. Ich bin natürlich nur bis hierher gekommen. Bis zur Villa Krachmach. Ich habe hier geschlafen. Ich war gar nicht drüben. Verstehst du, was das heißt?«

»Du hast das Haus nicht angezündet. Wie kommst du darauf?«

Sie erzählte ihm von ihren Träumen und von dem Fitzelchen Erinnerung, das sie gerade gestreift hatte. Während sie sprach, stiegen weitere Bilder an die Oberfläche. Es war, als habe sich eine Tür geöffnet. Mama hatte ihr das Feuerzeug weggenommen und ihr dabei wehgetan. Ein Marienkäferkuchen mit Kerzen. Bettina und Stefan, die sich flüsternd unterhielten. Das ist das Letzte, dich so auszunutzen. Eine Puppe mit roten Haaren. Ihre Kuscheldecke und das Stück Kuchen in ihrer Hand. Sie erinnerte sich, wie sie hier aufgewacht war, in der Villa Krachmach, wie sie sich gefürchtet hatte und zu ihrer Mama wollte.

»Ich bin nach draußen gelaufen. Erst habe ich nicht verstanden, was los war. Dieses rote Licht … Das Haus brannte … Und da war noch jemand … Unter dem Baum … Und dann … Ich weiß nicht … Ich bin weggelaufen. Ich habe mich versteckt. Das ist der Grund, warum Kathrin mich am nächsten Morgen im Wald gefunden hat. Ich habe das Haus nicht angezündet. Ich habe mich vor dem versteckt, der das getan hat.«

»Und dich damals töten wollte«, sagte Ansgar. »Das ist es, was du mir sagen willst, oder?«

Sie nickte wie in Trance. »Ich habe mich schrecklich gefürchtet. Warum sonst hätte ich mich verstecken sollen?«

»Passt doch. Das erklärt, wer dir in der Silvesternacht unten am Fluss aufgelauert hat. Nach dreizehn Jahren bist du zurückgekommen. Du stocherst in der Vergangenheit, fragst die Leute aus und beginnst, dich zu erinnern. Wenn jemand das Haus deiner Mutter angezündet hat, dann reden wir hier nicht von einem schrecklichen Unfall, sondern von Totschlag oder vielleicht sogar von Mord. Wer das getan hat, wird verhindern wollen, dass es herauskommt. Und du bist die einzige Zeugin.«

Fröstelnd zog Pia die Arme um sich. Sie sollte zusehen, dass sie so schnell wie möglich von hier wegkam.

»Der Baum steht nicht mehr«, sagte Ansgar. »Er musste für das neue Haus gefällt werden. Weißt du, wer darunterstand?«

»Nein. Keine Ahnung. Es war nicht mehr als ein Schatten. Zuerst dachte ich, es wäre meine Mutter.«

Eine Weile saß Ansgar schweigend neben ihr. »Der Brandherd lag in der Küche. So viel steht fest. Aber ob es wirklich die Kerzen am Geburtstagskuchen waren … Ich glaube nicht, dass man das so genau feststellen kann. Du hast am Nachmittag mit dem Feuer gespielt und dann brennt nachts das Haus. Vermutlich hat man sich mehr zusammengereimt, als tatsächlich nachgewiesen, was geschehen ist. Ein zündelndes Kind. Eine furchtbare Tragödie.«

Pia zog die Arme enger um sich. Es war so einfach gewesen, so simpel. Die erstbeste Erklärung. Und hast du nicht gesehen, war sie zur Brandstifterin geworden. Das arme Kind, das seine eigene Mutter umgebracht hat und das am besten nie erfahren sollte.

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In den letzten Tagen war so viel passiert. Ihr ganzes Leben war aus den Fugen geraten. Und jetzt würde sie nicht kneifen und zurück nach München fahren. Sie würde das zu Ende bringen und die Brandstifterin nicht länger auf sich sitzen lassen.

Entschlossen stand sie auf. »Ich besorge mir die Zeitungen von damals. Vielleicht finde ich darin einen Hinweis, der meine Erinnerungen auf Trab bringt.« Im Netz suchte sie nach der Telefonnummer der Wasserburger Nachrichten.

»Es ist besser, wenn du den Weg am Fluss nicht mehr benutzt. Ich fahre dich.«

Pia wählte bereits die Nummer. »Danke. Das ist echt nett von dir.« Ein Mann meldete sich. Sie fragte, ob es möglich war, Kopien der Zeitungen vom Januar 2001 zu bekommen, speziell Artikel, die sich mit dem Brand in Galsterried beschäftigten. »Kein Problem. Die Kopien kosten eine kleine Gebühr. Morgen Mittag sind sie abholbereit.«

»Morgen erst? Wenn ich einen kleinen Panikzuschlag zahle, ginge es dann schon heute?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte. »Du hast es ja eilig. Geht es um ein Referat, das bis zum Ende der Ferien fertig sein muss?«

Ging ihn das was an? »So ähnlich«, flunkerte Pia.

»Also gut. Eine Spende in die Kaffeekasse und du kannst die Kopien in einer halben Stunde in der Redaktion abholen. Frag nach Achim Stiebig.«

Mit Ansgar fuhr sie nach Wasserburg. Er stoppte vor dem Verlagsgebäude. »Ich muss für meinen Vater noch etwas erledigen. Können wir uns nachher im Stadtcafé treffen?«

Pias Herz machte einen kleinen Satz. »Klar.« Sie sah ihm einen Moment nach und betrat durch einen Arkadengang die Räume der Wasserburger Nachrichten. Am Empfang saß eine junge Frau mit grüner Haarsträhne und Lippenpiercing. Sie spielte auf dem iPad Dots und sah nicht auf, als Pia eintrat. »Guten Tag. Ich habe einen Termin bei Achim Stiebig.«

»Ich hole ihn sofort.« Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis die Spielrunde vorbei war und sie aufstand und Pia musterte. »Oder besser, du kommst gleich mit.«

Pia folgte ihr in ein Büro mit drei Arbeitsplätzen. Doch nur einer war besetzt. Achim Stiebig arbeitete an seinem PC. Nickelbrille, halblange graue Fusselhaare. Er erinnerte Pia an einen Typen auf einem Plattencover. Paul hörte nämlich noch immer Musik auf Vinyl.

»Achim, dein Termin.«

»Sicher das Fräulein Ungeduld.« Stiebig sah auf und stutzte bei Pias Anblick. Sie sah das Räderwerk in seinem Kopf anlaufen. »Oder eher das Fräulein Bachmayr?«, fragte er schließlich.

»Winter. Pia Winter.«

»Geborene Bachmayr. Du siehst runtergerissen wie deine Mutter aus.« Er schob den Stuhl zurück, während das Mädchen vom Empfang das Büro verließ. »Kein Referat also. Wozu brauchst du die Artikel?«

Keine sehr clevere Frage. »Einmal dürfen Sie raten.«

»Entschuldige. Du warst damals ja erst fünf oder sechs.«

»Vier. Ich war vier, als ich das Haus meiner Mutter …« Sie wollte schon sagen nicht angezündet habe, doch es war besser, damit nicht hausieren zu gehen.

Stiebig nahm ein braunes Kuvert vom Schreibtisch und reichte es ihr. Offenbar interpretierte er ihren abgebrochenen Satz anders. »Du hast das nicht gewollt. Es war ein Unfall.« Er klang wie Kathrin, Bettina und Paul. »Oder macht dir etwa jemand Vorwürfe?«

»Ich will einfach wissen, was damals geschehen ist. War es eigentlich von Anfang an klar, dass ich das Feuer gelegt habe? Oder gab es noch einen anderen Verdacht?«

Stiebig setzte sich auf die Schreibtischkante und wies auf das Kuvert in Pias Hand. »Diese Artikel sind von mir. Ich war damals vor Ort und habe mit allen Beteiligten gesprochen. Es gab keine Zweifel. Ein Gutachter hat das untersucht. Der Brandherd lag in der Küche, genauer gesagt war es der Küchentisch, der zuerst Feuer fing. Auf ihm stand der Geburtstagskuchen, dessen Kerzen du unbedingt anzünden wolltest. Und dort wurden auch die Reste des Feuerzeugs gefunden, das deine Mutter oben auf den Küchenschrank gelegt hatte, damit du nicht darankommst.«

»Und wer sagt, dass ich es heruntergeholt habe? Das könnte doch auch jemand anderer gewesen sein.«

Stiebig schüttelte den Kopf. »Weißt du, was ein Tritt ist?«

Was sollte das jetzt? »Sie meinen einen Fußtritt?«

»Nein. Eine kleine Ausklappleiter mit nur drei Stufen. Die nennt man Tritt. Einen solchen gab es im Haushalt deiner Mutter. Er war aus Aluminium. Man hat ihn vor dem verkohlten Küchenbuffet gefunden. Du musst ihn dorthin gestellt haben, um auf die Arbeitsfläche zu klettern, und von dort war es nur ein Griff, um ans Feuerzeug zu gelangen. Ein Erwachsener hätte dieses Hilfsmittel nicht gebraucht.«

»Man hat also nie untersucht, ob es auch anders gewesen sein könnte?«

»Sieht nicht so aus. Wobei sicher auch in andere Richtungen ermittelt worden wäre, wenn sich ein Hinweis ergeben hätte. Allerdings …« Achim Stiebig fuhr sich über das Kinn und schüttelte den Kopf.

»Allerdings … Was?«, hakte Pia nach.

»Ach, nichts.«

»Aber Sie wollten doch gerade etwas von einem anderen Hinweis sagen.«

»Hinweis ist übertrieben. Es war ein Gerücht. Keine Ahnung, woher es kam. Die Polizei ist ihm trotzdem nachgegangen. Doch da war nichts dran.«

»Welches Gerücht denn?«

Einen Moment zögerte Achim Stiebig, doch dann gab er sich einen Ruck. »Du wirst früher oder später sowieso davon hören. Es ging um einen Bauunternehmer. Seine Frau hat ihn kurz nach dem Unglück verlassen und es wurde gemunkelt, dass sie das nicht getan hat, weil die Ehe zerrüttet war, sondern weil sie es mit dem Feuerteufel nicht länger unter einem Dach aushielt.«

»Meinen Sie den Lippert?«, fragte Pia völlig überrascht.

»Ach, das ist dir also schon zu Ohren gekommen?«

Pia nickte. Einerseits, weil sie total perplex war, andererseits, weil Stiebig sonst vielleicht nicht weiterreden würde. »Aber das war ja wohl nur Gerede.«

»Völlig richtig. Nur weil er vom Tod deiner Mutter profitiert hat. Indirekt natürlich. Sie wollte ihm die Wiesen ja nicht verkaufen, obwohl er einen guten Preis geboten hat. Jedenfalls für landwirtschaftlichen Grund. Nach ihrem Tod hat er sie dann bekommen. Sehr günstig sogar. Denn niemand wusste, dass sie bald Bauland würden. Wobei sich das Gerücht nach wie vor hält, dass der Lippert es schon wusste. Er war damals sehr eng mit dem Bürgermeister. Jedenfalls hat er damit das Geschäft seines Lebens gemacht.«

Das hatte Bettina neulich auch angedeutet. Der immense Wertzuwachs der Grundstücke hatte den Lippert gerettet. »Danke für die Kopien.« Pia zog den Geldbeutel aus dem Rucksack. »Wo steht denn nun die Kaffeekasse?«

Stiebig lachte. »Lass mal. Das ist schon in Ordnung.«

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Zwanzig Minuten später betrat Pia mit Ansgar das Stadtcafé. In ihrer Tasche steckte das Kuvert mit den Kopien. Die Glöckchen bimmelten. Die Kaffeemaschine dampfte. Hinter dem Tresen richtete Ayla Kuchen auf Teller. Sie begrüßte die beiden und wünschte ihnen ein gutes neues Jahr. »Bin in fünf Minuten bei euch.«

Das Café war gut besucht. Am Fenster wurde ein Tisch frei. Dort setzten sie sich. Aus dem Kuvert zog Pia einen dünnen Stapel Blätter. Es waren nur drei Artikel. Auf dem ersten prangte über die gesamte Breite ein Foto des abgebrannten Hauses. Verkohlte Balken, geborstene Fenster. Der Kamin ragte aus den Trümmern wie ein Mahnmal.

Wasserburg, 8. Januar 2001
Tragisches Unglück in Galsterried
Zündelndes Kind steckt Haus in Brand

In der Nacht zum 6. Januar 2001 brannte im Wasserburger Ortsteil Galsterried ein Wohnhaus bis auf die Grundmauern nieder. Dabei kam die Hausbesitzerin Sonja B. ums Leben. Ihre zunächst vermisste vierjährige Tochter fanden Mitglieder einer Suchmannschaft im Morgengrauen im Wald, wo sich die Kleine versteckt hatte. Das Kind wurde stark unterkühlt ins Klinikum Wasserburg gebracht. »Hätte man das Kind nur eine Stunde später gefunden, wäre es nicht zu retten gewesen«, so Oberarzt Dr. Wilfried Heckel.

Die Erkenntnisse des Brandsachverständigen und die Aussagen von Freunden und Verwandten der Familie fügen sich zu einem tragischen Bild.

Pia stöhnte, als sie weiterlas. Es war, wie Striebig gesagt hatte. Alle hatten geglaubt, dass sie nachts heimlich mit dem Feuerzeug gespielt, den Brand ausgelöst und sich aus Angst versteckt hatte. Die Tatsachen, dass das Feuer in der Küche seinen Ursprung hatte, wo noch der Kuchen mit den Kerzen stand, und sie in den Wald geflohen war, stützte diese Vermutung. Doch Fakten gab es eigentlich nicht. Bis auf die kleine Trittleiter mit den drei Stufen.

Fragend sah Ansgar sie an. »Hast du was entdeckt?«

»Nur wie einfach es war, mich zum Sündenbock zu machen. Es gibt keine Beweise. Jedenfalls steht hier nichts davon. Sie haben sich einfach was zusammengereimt, das einigermaßen schlüssig klang, und fertig.«

Ayla trat an den Tisch. Pia bestellte ein Sandwich und Wasser. Es war schon Mittag und sie hatte noch nicht einmal gefrühstückt. Ansgar wollte nur einen Cappuccino.

»Sag mal, Ayla, darf ich dich was fragen?«

»Aber natürlich.«

»Hatte Sonja damals Streit mit jemandem oder hatte sie sich Feinde gemacht?«

Ayla wischte sich die Hand an der Schürze ab. »Feinde? Nein. Die meisten hier in Wasserburg und auch in Galsterried hielten deine Mutter und Bettina für ein wenig spinnert. Mehr nicht. Manche verstanden nicht, was es mit dem Verve-Zentrum auf sich hatte und was die beiden dort oben trieben. Das waren die, die ihnen aus dem Weg gingen und hinter vorgehaltener Hand tuschelten, dass sie Orgien veranstalten würden und Drogen nähmen. Und dann gab es noch ein paar Alte, die meinten, dass Sonja eine Hexe sei und mit den bösen Mächten im Bund. Aber Feinde? Nein. Man hat sie in Ruhe gelassen.«

»Und Streit?«

»Höchstens mit Bettina. Die beiden waren sich nicht einig, wie es mit dem Zentrum weitergehen sollte. Bettina wollte es schon damals zu einem Wellnesszentrum umbauen. Aber es war sonnenklar, dass Sonja dabei nicht mitmachen würde. Das Thema flackerte immer wieder mal auf. Aber Zoff gab es meines Wissens deswegen nie. Warum fragst du?«

»Nur so. Es interessiert mich einfach.«

Ein Gast wollte zahlen. Ayla ging zu ihm. Inzwischen hatte Ansgar sich die Kopien genommen. Mit gerunzelter Stirn las er einen Artikel. »Ist was?«, fragte Pia.

Irritiert sah er hoch. »Ich wusste gar nicht, dass mein Vater das Feuer entdeckt hat.«

»Dein Vater?«

»Hier steht es.« Er reichte ihr die Seite und wies auf einen Absatz. Tatsächlich. Karl Lippert, Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Wasserburg, hatte gegen Mitternacht den Brand bemerkt und die Kollegen informiert. Bis sie kamen, versuchte er, ins Haus zu gelangen, um die Bewohner zu retten. Doch es war zu spät. Das Erdgeschoss stand komplett in Flammen. Als die Feuerwehr eintraf, schlugen sie schon aus dem Dach.

Ansgar legte die Zeitung weg. »Vielleicht solltest du dir das Gutachten besorgen. Das muss ja noch irgendwo sein.«

»Gute Idee. Aber vorher sollte ich mit deinem Vater reden. Wenn er als Erster dort war, hat er vielleicht jemanden bemerkt.«

»Du meinst, den Schatten unterm Baum? Das hätte er sicher gesagt.«

»Vielleicht hat er es in dem Trubel vergessen.«

Ayla brachte das Sandwich und die Getränke. Pia stürzte sich darauf, als wäre sie kurz vor dem Verhungern. Ansgar trank seinen Cappuccino. »Gut«, sagte er schließlich. »Er ist im Geschäft. Ich bringe dich zu ihm.«

Sein Angebot hatte eher verhalten geklungen. Pia schob die Kopien ins Kuvert, zahlte und folgte Ansgar zu seinem Wagen. Die Firma seines Vaters befand sich auf der anderen Seite des Inns. Sie fuhren über die Brücke und erreichten einen Komplex aus drei Gebäuden, die sich u-förmig um einen Hof gruppierten. Links war das Wohnhaus. In der Mitte das Büro und rechter Hand das Lager. Unter einem weit vorgezogenen Dach standen Paletten mit Ziegel- und Pflastersteinen, ein Gestell mit Plattenmustern, zwei Lieferwagen und ein dunkelblauer Mercedes.

»Im Büro brennt Licht.« Ansgar wies auf ein Fenster. »Er ist also da. Komm.« Es klang ein wenig harsch. Weshalb war er plötzlich so einsilbig?

Durch eine Glastür betraten sie die Geschäftsräume der Karl Lippert GmbH. Ansgar klopfte am Büro seines Vaters und trat mit Pia im Schlepptau ein. »Hallo Pa. Stören wir?«

Hinter einem Schreibtisch aus dunklem Holz saß ein vierschrötiger Mann mit einem mächtigen Schädel, den ein grauer Haarkranz einfasste. Kantiges Kinn, Stiernacken, ebenso dunkle Augen wie Ansgar. Die Augen waren tatsächlich die einzige Ähnlichkeit, die Pia auf den ersten Blick zwischen Vater und Sohn ausmachen konnte. So sympathisch ihr Ansgar auf Anhieb gewesen war, so unsympathisch fand sie sofort seinen Vater.

»Du hast jemanden mitgebracht. Magst du mir die junge Dame nicht …« Er hielt inne und musterte Pia.

Sie verdrehte innerlich die Augen und wappnete sich.

»Das ist Pia Winter«, kam Ansgar ihm zuvor. »Die Tochter von der Bachmayr Sonja. Pia, mein Vater.«

»Ja, natürlich. Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen.« Er streckte ihr über den Tisch hinweg die Hand entgegen. Sie fühlte sich an wie ein kalter Fisch.

»Was willst du hier?«

Dieselbe Frage hatte Ansgar ihr gestellt. In genau demselben Tonfall. Und dann wurde ihr klar, dass er zwar mit seinem Vater vor einigen Tagen über den Brand gesprochen hatte, aber offenbar nicht darüber, dass sie, Pia, in Wasserburg war. Die Art, wie Karl Lippert die Frage gestellt hatte, ärgerte sie. So nach dem Motto: Am besten verschwindest du gleich wieder. Kurzerhand entschloss Pia sich, sie wörtlich zu nehmen. »Ich will Sie etwas fragen. Ich habe die alten Zeitungsartikel über den Brand gelesen. In einem heißt es, dass Sie das Feuer entdeckt haben.« Noch immer stand sie vor seinem Schreibtisch und fühlte sich plötzlich wie eine Schülerin, die etwas ausgefressen hatte, beim Direktor.

»Was gibt es da zu fragen?« Argwöhnisch musterte er sie.

»Ich wollte wissen, ob Sie jemanden gesehen haben. Ich meine, war da noch jemand?« Verdammt! Warum stotterte sie plötzlich herum wie eine Fünfjährige? »Unter dem Baum. Ich kann mich erinnern, dass dort jemand stand.«

»Da war niemand. Das ganze Dorf hat geschlafen, als ich das Feuer vom Auto aus entdeckt habe. Ich bin hochgefahren, habe die Kollegen alarmiert und versucht, deine Mutter und dich zu retten. Doch da war nichts mehr zu retten. Jedenfalls deine Mutter nicht. Du hattest dich ja rechtzeitig aus dem Staub gemacht.«

Pia schluckte und zwang sich, nicht zu widersprechen. »Sie haben wirklich niemanden gesehen?«

»Ach, Mädchen. Wenn ich es dir sage.«

»Was hast du eigentlich um Mitternacht in Galsterried gemacht?«, fragte Ansgar.

Unwillig schüttelte sein Vater den Kopf. »Was wird das jetzt? Nimmt mein Sohn mich ins Verhör? Aber gut. Es ist ja kein Geheimnis. Um die Firma stand es damals nicht gut. Deine Mutter hat mir deswegen die Hölle heißgemacht. Die Bank saß mir im Nacken. Ich konnte nicht schlafen. Kein Wunder. Andere gehen spazieren. Ich fahre in solchen Nächten durch die Gegend. Einfach so. Und in dieser Nacht fuhr ich durch Galsterried. So war das. Und jetzt muss ich das Angebot hier fertig bekommen, sonst schnappt mir der Berger den Auftrag vor der Nase weg.«

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Das iPhone begann, Emily zu spielen, als sie mit Ansgar zum Auto zurückging. Es war Kathrin. Sie fragte, wo Pia blieb. Der Zug aus Wasserburg war schon vor einer Stunde am Ostbahnhof angekommen. Ups. Sie hatte ganz vergessen, Bescheid zu sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte. »Ich bleibe noch hier. Denn ich habe das Haus nicht angezündet. Ich war in der Nacht gar nicht dort, sondern in der Villa Krachmach. Und das will ich beweisen.«

Kathrin schwieg. War sie noch dran? Pia sah aufs Display. Die Verbindung stand noch. Auweia. Gleich würde sie eine Standpauke zu hören bekommen.

»Das ist Blödsinn«, erwiderte Kathrin schließlich. »Du solltest akzeptieren, was damals geschehen ist. Niemand macht dir einen Vorwurf. Du hast das nicht gewollt.«

»Ich kann nicht akzeptieren, was ich nicht getan habe.«

»Du denkst, es war ein Unfall?«

»Nein. Ich glaube, dass jemand das Haus absichtlich angezündet hat. Ich habe ihn gesehen. Er stand im Hof unter dem Baum.«

»Ach, Pia.« Ein Seufzer klang durchs Telefon. »Ich verstehe, dass es für dich schwer ist. Polizei und Staatsanwalt haben ermittelt, es gab ein Gutachten. Das Ergebnis war eindeutig. Du hast das nicht gewollt, aber du hast es getan. Lass die Vergangenheit ruhen und komm nach Hause.«

»Du denkst also, ich bilde mir das ein?«

»Wie willst du dich denn daran erinnern können? Es ist dreizehn Jahre her und du warst gerade mal vier Jahre alt. Du reimst dir da etwas zusammen. Das ist ja einerseits verständlich, aber es bringt dich nicht weiter. Pack jetzt deine Sachen und komm heim.«

»Ich bleibe hier, bis ich herausgefunden habe, was damals wirklich geschehen ist.«

»Herrgott! Du Sturkopf!«

Konnte man Zähneknirschen durchs Telefon hören?, fragte Pia sich. Es klang ganz so. »Dann bin ich eben ein Sturschädel. Mit dieser Meinung bist du nicht allein.« Lächelnd sah sie zu Ansgar.

Kathrin gab widerwillig nach. »Na gut. Von mir aus. Zu Schulbeginn bist du aber wieder da. Wehe, wenn nicht.«

Puh! Pia steckte das Handy ein. Sie hatte sich tatsächlich gegen Kathrin durchgesetzt. Hallo Rebellin, gut gemacht!

»Und nun? Was willst du jetzt tun?«, fragte Ansgar und sah sie abwartend an. Irgendwie wirkte er verärgert. Hatte er von dem Gerücht gehört, sein Vater hätte das Haus angezündet? Und eben erst hatte er erfahren, dass sein Vater den Brand entdeckt hatte.

»Keine Ahnung, was ich jetzt machen will. Vielleicht erst mal in den Supermarkt. Der Kühlschrank ist leer.« Morgen würde sie Oma und Opa besuchen und den beiden auf den Zahn fühlen. Zuerst wollte sie allerdings die Zeitungsartikel gründlich lesen und vielleicht fand sie ja im Netz doch ein paar Infos. Außerdem musste sie noch einmal mit Bettina reden. Als beste Freundin sollte sie wissen, ob Sonja nicht doch Streit mit jemandem gehabt hatte. Beispielsweise mit einem abgewiesenen Mann. Und dann war da ja noch die Sache mit dem Zentrum.

Ansgar sah auf die Uhr. »Du weißt ja, wo er ist. Ich muss jetzt zum Eishockey-Training.«

»Äh … Ja. Klar.« Natürlich würde sie den Supermarkt finden. Was sie wunderte, war Ansgars abrupter Abgang. Sie versuchte, es leicht zu nehmen, und hob die Hand zum Gruß. »Man sieht sich.«

Seine ohnehin dunklen Augen wurden noch ein wenig dunkler. »Ja, man sieht sich.« Er klang wie ihr Echo und so schrecklich unverbindlich. Irritiert marschierte Pia los. Im Supermarkt kaufte sie das Nötigste ein und machte sich dann auf den Heimweg. Natürlich nahm sie den Weg am Fluss entlang. Es war helllichter Tag. Niemand würde sie überfallen. Dennoch war sie froh, als sie zwei Frauen in Wanderoutfit entdeckte, die etwa zweihundert Meter vor ihr gingen. Sie beschleunigte ihre Schritte, verringerte so den Abstand und blieb hinter den beiden, bis sie an die Weggabelung kamen und Pia ins Dorf abbog.

Daheim verstaute sie die Einkäufe und legte zwei Briketts auf die Glut. Mit einem Becher Chai-Tee verzog sie sich schließlich aufs Sofa und studierte die Zeitungsartikel. Mit keinem einzigen Wort wurde die Vermutung geäußert, dass nicht sie das Feuer verursacht hatte. Jedenfalls war nun klar, weshalb sie immer von einer Höhle träumte. Sie war weggelaufen und hatte im Wald Schutz gesucht. In einer Höhle. So musste es sein. Und Kathrin hatte sie dort am nächsten Morgen gefunden. Auf einem Foto war sie zu sehen. Neben Ansgars Vater stand sie vor dem Rettungswagen. Man sah ihr den Schrecken und die Strapazen an. Sie sah total fertig aus.

Die Dämmerung senkte sich über den Ort. Es wurde schnell dunkel. Pia machte Licht und holte den Laptop von der Galerie. Die Suche im Netz brachte nichts Neues. Sie fand nur einen der Artikel online, von denen sie bereits Kopien besaß. Als sie den Teebecher aufräumte und überlegte, ob sie sich Spaghetti kochen solle, klopfte es. Bettina kam herein. »Ich will nur sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Wolltest du nicht heute zurückfahren?«

»Ich bleibe noch bis zum Ende der Ferien. Kathrin weiß Bescheid.«

»Und Paul? Hast du mit den beiden schon gesprochen? Wissen sie, dass er dein Vater ist?«

Daran hatte sie seit gestern gar nicht mehr gedacht. »Das mache ich, wenn ich zurück in München bin.«

»Wenn es dir lieber ist, kann ich es den beiden erklären.«

Keine schlechte Idee. »Mir werden sie das eh nicht glauben. So gesehen wäre es gut, wenn du das übernehmen könntest.«

»Vermutlich ist es besser so.«

»Sag mal, Bettina, damals vor dreizehn Jahren … Hatte Sonja mit jemandem Streit?«

Als ob ihr plötzlich kalt wurde, strich Bettina sich mit der Hand über den Oberarm. »Sie war nicht der Typ, mit dem man streiten konnte. Sie war immer auf Ausgleich bedacht. Nur manchmal konnte sie sehr harsch sein. Aber richtig Krach … Nein. Sie hatte mit niemandem Ärger. Weshalb fragst du?«

»Auch nicht mit einem Mann? Gab es keinen, der etwas von ihr wollte, sie aber nicht von ihm? Einen, der eifersüchtig war und sie vielleicht stalkte?«

Bettina verschränkte die Arme. Plötzlich war sie ganz Abwehr. »Glaubst du am Ende, dass jemand Sonja absichtlich getötet hat?«

»Das Feuer habe jedenfalls nicht ich gelegt.« Pia erklärte Bettina, dass sie sich erinnerte, hier in der Villa Kramach gewesen zu sein, als es ausbrach. Sie erzählte auch von dem Schatten, den sie gesehen hatte. »Er stand unter dem Baum und hat nichts unternommen, obwohl jeder vernünftige Mensch etwas getan hätte. Er hat sich das einfach angesehen. Warum? Das ist doch klar. Weil er das Haus angezündet hat.«

»Das ist Wunschdenken, Pia. Die Polizei und die Feuerwehr haben die Ruine untersucht. Es wurden Kriminaltechniker damit beauftragt. Das sind Spezialisten. Die irren sich nicht.«

Na klar, die irrten sich nicht! »Gab es nun einen Mann oder nicht?«, fragte sie pampig.

»Nein. Sonja war solo. Es gab auch keinen Verehrer. Sie hatte mit niemandem Streit. Niemand hatte Grund, sie zu töten. Also vergiss das.« Bettina atmete durch. »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mit uns kommen willst. Wir sind bei Freunden zum Essen eingeladen. Sie haben eine Tochter in deinem Alter. Es würde dir guttun, für ein paar Stunden auf andere Gedanken zu kommen.«

»Ich will aber nicht auf andere Gedanken kommen. Ich bin froh, dass ich anfange, mich zu erinnern.«

»Schon gut.« Bettina hob beschwichtigend die Hände und verabschiedete sich. Kurz darauf hörte Pia den Wagen wegfahren.

Sie kochte sich Spaghetti und machte es sich nach dem Essen auf dem Sofa bequem. Wenn sie sich doch nur an mehr erinnern könnte. Sie schloss die Augen und versuchte, den Tag des Unglücks heraufzubeschwören. Doch es fiel ihr nichts weiter ein. Wenn die Fotos noch hier wären, würden sie vielleicht ihre Erinnerungen anstupsen. Doch die Schachtel war nicht wieder aufgetaucht. Auch das Märchenbuch blieb verschwunden. Hatte wirklich Lena sich die Sachen genommen und traute sich nicht, es zuzugeben? Irgendwann dämmerte Pia weg und schlief schließlich ein.

Als sie Stunden später von einem Klopfen aufwachte, war es stockfinster im Häuschen. War die Sicherung rausgeflogen, wie Ansgar prophezeit hatte?

Etwas schlug gegen das Fenster. Sicher ein Ast im Wind. Pia stand auf, tastete nach dem Feuerzeug, zündete das Windlicht auf der Fensterbank an und fuhr zusammen. Durch die Scheibe starrte sie jemand an. Funkelnde Augen. Eine Hand donnerte gegen die Scheibe. Ein klirrender Schlag. Pia sprang einen Schritt zurück. Ihr Herz wollte vor Schreck bersten. Ein flackernder Schein umgab den Kerl. Um ihn wurden weitere Schemen sichtbar. Grausiges Geheul erklang. Ein Scheppern, Rasseln und Trommeln setzte ein. Schaurig und schön. Perchten! Es waren nur Perchten, die dem Zentrum einen Besuch abstatteten. Erleichtert atmete Pia durch. Himmel, hatten die sie erschreckt! Ihr Puls raste noch immer. Was tat man, wenn die Perchten kamen? Ging man hinaus und sah ihnen bei ihrem Spektakel zu? Da Bettina und Stefan nicht da waren, sollte sie das wohl machen. Der Tanz im Hof wurde immer wilder und lauter. Im Licht der Fackeln warfen die Figuren gespenstische Schatten. Pia zog sich die Jacke an und trat vor die Tür.

Im selben Moment verstummte der Lärm, erstarb jede Bewegung, als hätte ihr Erscheinen einen Schalter umgelegt oder die Stopptaste gedrückt. Eine unheimliche Ruhe kehrte ein. Es waren sechs oder sieben. Durch die Augenlöcher ihrer geschnitzten Fratzen starrten sie Pia an. Alle hoben wie in Zeitlupe die Arme, deuteten den Weg hinunter zum Dorf.

Langsam und schweigend kamen die Gestalten auf sie zu, Schritt für Schritt, zogen den Kreis enger, umringten sie. Pia war unfähig, sich zu bewegen. Diese schrecklichen gehörnten Masken! Ihre stinkenden, zotteligen Felle! Diese grauenhafte Stille! Bis der erste seinen Stock auf den Boden schlug und der Ruhe ein Ende bereitete. Die anderen fielen ein. Das rhythmische Stampfen und Rasseln, Scheppern und Trommeln wurde schneller und schneller, lauter und lauter, wilder und wilder. Ein infernalischer Lärm, der fiebrig einem Höhepunkt entgegenjagte. Der Ring um Pia zog sich enger und enger. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Angst schnürte ihre Kehle zu. Tanzend und torkelnd nahmen die Perchten sie in ihre Mitte, schubsten sie hin und her. Trieben sie durch den Hof. Ein Knuff hier, ein Knuff da. Schneller und schneller. Waren das überhaupt Perchten und nicht doch Geister? Panik erfasste Pia. Ihre Gesichter wirkten plötzlich so lebendig. Höhnisches Grinsen. Böses Starren. Grausiges Zischen.

Ein Wagen bog in den Hof. Das Licht der Scheinwerfer erfasste die Gestalten. In Windeseile zerstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen, verschwanden in der Dunkelheit. Weg waren sie. Pia stand mitten im Hof und wusste nicht, wie ihr geschehen war.

Aus dem Wagen stieg Bettina. »Was war das denn?«

Pia zitterte am ganzen Körper. Sie schlang die Arme um sich. Das war eine Botschaft für sie gewesen. Sie sollte verschwinden.