Achtzehn Jahre zuvor

Galsterried am Inn

Es war ein kalter, klarer Tag. Einer der ersten im Februar. Der Himmel spannte sich in einem sphärischen Blau über dem Tal mit den sanften Hügeln, an dessen Grund sich der Inn wie ein grünes Band gen Norden schlängelte. Es war ein magischer Tag, dem eine magische Nacht folgen sollte.

Seit Wochen bereitete Sonja sich darauf vor. Zum zweiten Mal in diesem Jahr würde der Mond voll am Firmament stehen. Es war die ideale Zeit.

Lautlos zog der Inn jenseits des Pfades dahin. Breit und kraftvoll. Wie ein schlafendes Tier, das jederzeit erwachen und zum reißenden Ungeheuer werden konnte. Wenn erst die Schneeschmelze in den Bergen einsetzte, bestand die Gefahr, dass der Fluss die Auen und das Tal überflutete. Noch ließ der Frühling auf sich warten, sandte lediglich erste Boten. Schilf und Gräser am Ufer waren von Raureif überzogen und in den schattigen Tiefen des Waldes lag noch Schnee. Am Himmel glitt ein Vogel vorüber. Über ihr, im Dorf auf der Anhöhe, schlug die Kirchturmuhr drei. Es war Zeit zurückzukehren. Ihre Arbeit im Verve-Zentrum hatte sie für heute beendet, doch für den Abend war noch einiges vorzubereiten.

Seit Jahresbeginn hatte Sonja den Kontakt zu Mutter Natur gesucht. Intensiver als sonst. Stundenlang war sie Tag für Tag und bei jedem Wetter über die noch ruhenden Felder und Wiesen gestreift, durch die Flußauen und den Wald, den sie für sich den Märchenwald nannte. Er war verwunschen, wie verzaubert. Besonders jetzt, in diesen Februarwochen, in denen man bereits den Frühling ahnen konnte. Vogelbeeren vom Vorjahr hingen erfroren in den zartgliedrigen Zweigen. Verschrumpelt und dunkelrot, von Eiskristallen überzuckert. Sie hatte die Spur eines Fuchses in der harschigen Schneeschicht jenseits eines Bachs entdeckt und von weit her den Ruf des Birkenzeisigs vernommen, als wollte er den Frühling locken. Die Sonne sandte an manchen Tagen erste Wärme und ließ tagsüber die dünnen Eisplatten auf den Pfützen und die im Matsch hart gefrorenen Spuren von Traktorrädern schmelzen.

Ein ruppiger Wind griff nach Sonjas Haar und wehte den Duft von Rinde und Schilf zu ihr, während vom Fluss Feuchtigkeit aufstieg und sich in Zweige und Äste setzte. Wochenlang war sie dem Lauf des Wassers gefolgt, dem Ruf der Vögel, dem Duft des Waldes, dem Lauf der Sonne. Mit offenen Sinnen hatte sie all das in sich aufgenommen, um eins zu werden mit den Elementen und mit Mutter Natur. Täglich hatte sie Joghurt aus Schafsmilch gegessen. Oimelc lautete das keltische Wort dafür, das gleichzeitig die Bezeichnung für Februar war, für die Zeit der großen Freude und Erneuerung des Lebens. Nun war sie bereit.

Sonja bog auf den Weg ein, der den Hügel hinauf ins Dorf führte. Galsterried. Ein Dutzend Häuser, ein paar Bauernhöfe, eine Kirche. Und oben, am höchsten Punkt, mit einem weiten Blick über das Tal, der ehemalige Moar-Hof, den sie vor sechs Jahren von den Erben der alten Moar-Bäuerin gekauft hatte. Dort hatte sie ihren großen Traum verwirklicht. Heute beherbergte der alte Hof ein Zentrum für Entspannung und Harmonie. Das Verve-Zentrum.

Meditation. Yoga. Thai Chi. Qi Gong. Massagen und vieles mehr, das Geist und Körper in Einklang brachte, bot Sonja dort in Seminaren, Kursen und Einzelstunden an, gemeinsam mit ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Bettina, deren Mann Stefan und einigen freien Mitarbeitern.

Das letzte Wegstück war steil. Ein wenig atemlos erreichte Sonja das Dorf und passierte die Kirche in dem Moment, als die alte Mühlbauerin herauskam. Sonja grüßte. Die Alte bekreuzigte sich und ging eilig davon, ohne den Gruß zu erwidern.

Sonja lächelte. Würde sich das denn nie ändern? Doch eigentlich war es nicht verwunderlich, dass manche Vorbehalte hatten. Sie war nun mal eine ungewöhnliche Frau. Genau wie ihre Ahnin, die Wegscheider Barbara, die man vor über zweihundert Jahren als Hexe verbrannt hatte. Bis heute war die Geschichte vom Fuchserl nicht in Vergessenheit geraten. Manche sahen auch in ihr eine Hexe und sprachen das offen aus. Meist augenzwinkernd. Doch ein paar der Alten meinten das durchaus ernst. Das Schicksal ihrer Ahnin folgte ihr wie ein zweiter Schatten.

Sonja gab nichts auf das Gerede. Sie war so wenig eine Hexe, wie es ihre Urururgroßmutter gewesen war. Doch leider hatte sie deren roten Haare geerbt und – Gott sei Dank – deren Selbstbewusstsein und Liebe zur Natur. Sie war eine unabhängige Frau, die wusste, was sie wollte, und meistens auch eine Vorstellung hatte, wie sie ihre Ziele erreichen konnte. So auch heute.

Sie war schon fünfunddreißig Jahre alt und wollte Mutter werden. Sie durfte nicht länger warten. Tama wusste das. Auch er wollte Kinder. Das hatte er in den drei Jahren ihrer Beziehung stets bekräftigt. Es war höchste Zeit. Sie hatte sich vorbereitet und sowohl ihr Geist als auch ihr Körper waren nun bereit dafür. In dieser Nacht würde es geschehen.

Sonja erreichte den Hof. Freude und Stolz erfüllten sie bei seinem Anblick. Dunkles Holz. Weißer Rauputz. Nachtblaue Fensterläden. Holzbalkone über zwei Etagen, bis zur Wohnung unterm Dach, in der Bettina und Stefan lebten. Die übrigen Räume waren zu Seminarräumen umgebaut worden. Auf den Wiesen unterhalb des Haupthauses befand sich der Meditationsgarten, ein Labyrinth aus mannshohen Ligusterhecken, die sie eigenhändig gepflanzt hatte. Im Streuobstgarten daneben stand das Tipi, das Tama ihr geschenkt hatte, vor dem Feuerplatz und dem Tauchbecken. Das benutzten die ganz Abgehärteten sogar im Winter, selbst wenn sie die Eisdecke erst mit einem Pickel aufschlagen mussten.

Sie steuerte das Austragshaus der Bauern an, das hinter dem Hauptgebäude lag. Hier wohnte sie mit Tama. Es war nicht groß. Zwei Zimmer, eine Kammer, eine große Wohnküche, die beim Umbau durch das Einreißen einer Wand entstanden war. Kein Palast. Doch sie fühlte sich dort wohl. Wenn das Kind erst einmal da war, würde sie das alte Waschhaus als Übungsraum für Tama ausbauen lassen. Damit sie alle drei genügend Platz hatten, um sich zu entfalten.

Als sie um die Ecke bog, traf sie Stefan, der aus dem Schuppen kam. Bettinas Mann hatte eine Aura, die ihresgleichen suchte. Ein Mann, der mit sich in Einklang war und über eine unglaubliche physische Präsenz verfügte. Groß, schlank, muskulös. Blaue Augen, kräftiges Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte und sie an Treibholz denken ließ. Von der Sonne gebleicht, wellig und rau. Haar, in das man hineingreifen, das man in seinen Händen spüren wollte. Er lächelte und blieb stehen. »Gut siehst du aus, Sonja. Du strahlst wie das blühende Leben. Gibt es einen Grund?«

»Natürlich. Aber ich verrate ihn nicht.«

»Selbst mir nicht?«

»Gerade dir nicht«, erwiderte sie lächelnd.

Stefan war genau der Typ Mann, in den sie sich verlieben könnte. Doch sie würde niemals mit dem Mann ihrer besten Freundin etwas anfangen, auch wenn er gelegentlich versuchte, bei ihr zu landen. Es war ein offenes Geheimnis im Verve-Zentrum, dass Stefan häufig Affären hatte. Mit freien Mitarbeiterinnen ebenso wie mit Frauen, die hierherkamen, um ihre innere Balance wiederzufinden. Nur Bettina schien davon nichts zu wissen oder nichts wissen zu wollen.

»Ich kann schweigen wie ein Grab, wenn es darauf ankommt.« In seinem Tonfall schwang gespielter Vorwurf mit.

»Natürlich, mein Lieber. Ich aber auch.«

Damit brachte sie ihn zum Lachen. Einen Moment ging dieses Geplänkel noch weiter, bis ihr Blick auf die Kirchturmuhr fiel. Tama kam in einer Stunde. Sie hatte versprochen, ihn abzuholen.

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Der Zug kam mit Verspätung. Sonja wartete im Auto und beobachtete, wie Tama ausstieg. Ein großer, sehniger Mann mit leicht gebeugtem Gang. Wieder einmal erinnerte er sie an einen Baum, der Wind und Wetter trotzte. Unverrückbar und fest verwurzelt. Was, wie sie wusste, ein falsches Bild war, aber das, von dem sie wünschte, dass es ihm entspräche. Tama war mehr wie das Wasser, das sich stets den leichtesten Weg suchte.

Er war Schlagzeuger und hatte sich heute mit den Mitgliedern der Band in München zur Vorbereitung einer Studioaufnahme getroffen, die sie selbst finanzieren mussten. Obwohl er ein abgeschlossenes Musikstudium vorzuweisen hatte, konnte er wie die meisten Künstler von der Kunst nicht leben. Schon vor Monaten hatte er einen Job als Kellner in der Bar jeden Verstands in der Wasserburger Altstadt angenommen und sparte jede Mark, um seinen Anteil an der Aufnahme bestreiten zu können. Am Ende würde es dennoch nicht reichen und Tama sie um einen Zuschuss bitten. Was ja kein Problem war. Sie verdiente zwar nicht viel, aber ausreichend und sie teilte gerne.

Lächelnd stieg er ein und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Mit seinen Gedanken war er noch in München.

Als er daheim am Küchentisch saß, massierte sie ihm erst einmal Nacken und Schläfen. Er sollte sich entspannen und hier bei ihr ankommen.

»Das hat gutgetan.« Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück, als sie fertig war, und sah zu, wie sie die Suppe servierte. »Es riecht lecker. Indisch?«

»Eine Eigenkreation mit verschiedenen Kräutern und Gewürzen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das er erwiderte.

Das tiefe Grün seiner Augen, seine schmale Nase, sein energisches Kinn. Ihre Haare, seine Augen. Es würde ein schönes Kind werden. Sie gab ihm einen Kuss auf die Schläfe und setzte sich zu ihm.

»Du riechst gut«, sagte er. »Nach Erde und frisch gemähtem Gras. Wie ein Frühlingstag.«

»Das ist ein schönes Bild. Und passend. Der Frühling ist die Zeit, in der die Natur sich bereitmacht für neues Leben.« Sie aß einen Löffel Suppe und sah ihn abwartend an. Doch er reagierte nicht. Eine leise Ungeduld stieg in ihr auf. »Auch wir sollten unser Feld bestellen, bevor es zu spät ist.«

Überrascht sah er hoch. »Wie meinst du das?«

Musste sie ihm nun wirklich erklären, was er wissen sollte? Die Ungeduld verwandelte sich in Gereiztheit. Das war nicht gut. Sie atmete durch, sandte ein stilles Omm durchs Fenster in die Nacht. »Unser Kind. Wir sollten nicht weiter darüber reden. Wir sollten es tun. In meinem Lebenszyklus neigt sich der Frühling dem Ende zu. Wir können nicht länger warten.«

Sein Gesicht wurde zum Spiegel seiner Gefühle. Irritation. Verwirrung. Angst. Hatte sie gerade Angst gesehen?

»Das hat doch keine Eile. Du bist doch erst Anfang dreißig.«

Sie rang sich ein Lächeln ab, während die Gereiztheit zurückkehrte. »Ich bin fünfunddreißig, Liebling. Wie du sehr wohl weißt. Und ich bin mehr als bereit, Mutter zu werden.«

»Ein Kind … Das ist eine große Verantwortung. Du meinst das ernst, oder? Jetzt? Heute Nacht?«

Dieses Gespräch hatte sie sich anders vorgestellt. Es lief in die falsche Richtung.

»Eine Entscheidung mit solcher Tragweite für unser Leben sollte man nicht übers Knie brechen«, fuhr Tama fort. »Ich bin noch nicht so weit.« Seine Arme verschränkten sich. Er verschloss sich, machte dicht.

»Aber ich. Ich bin so weit und es ist höchste Zeit. Du kannst immer ein Kind haben, auch wenn du schon sechzig oder siebzig bist. Wir Frauen haben diese Freiheit nicht.«

Tama begann herumzudrucksen. Eine so große Verantwortung. Ein Kind großzuziehen, dieser Aufgabe fühlte er sich noch nicht gewachsen.

Noch nicht? Seit zwei Jahren sprachen sie davon. Verantwortung war dabei nie ein Thema gewesen. Er musste sie doch nicht alleine tragen. »Liegt es etwa daran, dass ich den größten Teil zu unserem Lebensunterhalt beisteuere?«, fragte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend.

Schlagartig veränderte sich Tamas Aura. Sie wurde kühler und abwehrend. Sie spürte Anspannung und Ablehnung und war fassungslos. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Geld war doch nie ein Thema gewesen! Sie verdiente mehr als er. Na und? Bei Millionen Paaren war es zwar andersherum, doch sie hatten die Rollen getauscht.

Seine Hände landeten auf dem Tisch neben dem Teller, in dem die Suppe langsam kalt wurde. Angriff. »Wenn du so direkt fragst: Ja, es ist ein Problem für mich. Als Mann sollte ich die Familie ernähren. Dazu bin ich nicht in der Lage. Ich würde mich ständig als Versager fühlen.«

»Bisher hattest du kein Problem damit, auch von meinem Geld zu leben. Du hast es genossen, denn es hat dir die Freiheit gegeben, dich deiner Berufung zu widmen: deiner Musik.«

»Irrtum. Genossen habe ich das nie. Ich hätte es vielleicht früher thematisieren sollen. Du bist zu stark für mich. Es ist schwierig, an deiner Seite Mann zu sein.«

Sonja verschlug es die Sprache. Sie hatte geglaubt, sie hätten die traditionellen Rollenbilder hinter sich gelassen.

»Man kann doch in diese Welt, die täglich mehr vergiftet wird, keine Kinder setzen«, fuhr er fort. »Tschernobyl ist erst ein paar Jahre her. Von Kriegen ganz zu schweigen.«

Nun hatte er es selbst ausgesprochen. Er wollte keine Kinder. Nicht heute und nicht morgen. Nie! Händeringend suchte er nach Ausreden. Trauer stieg in ihr auf und Wut. Auch auf sich selbst.

All die Jahre hatte sie ihm geglaubt und hätte es immer erkennen können. Er würde stets den Weg des Wassers gehen und nie zu dem Baum werden, den sie so gerne in ihm gesehen hätte. Das Fundament ihrer Beziehung war Täuschung und Selbsttäuschung gewesen.

Tama war nichts weiter als ein Schmarotzer. Er war ganz einfach ein egoistisches Arschloch, das sie jahrelang hingehalten hatte, erkannte Sonja in diesem Moment verblüffender Klarheit. Er würde wieder eine finden, die ihn durchfütterte.

Sie schob den Stuhl zurück. »Heute Nacht kannst du im Wohnzimmer schlafen. Morgen früh, wenn ich aufstehe, bist du weg. Mitsamt deinen Trommeln und Bongos und mit deinem ganzen Krempel.«

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Am nächsten Morgen war Tama tatsächlich fort. Auf dem Küchentisch fand Sonja einen Zettel. Wohne vorübergehend bei Michael und hole meine Sachen in den nächsten Tagen ab. Mehr nicht. Kein Wort des Bedauerns. Kein Gruß. Natürlich war er verletzt und es tat ihr beinahe leid, dass sie so radikal reagiert hatte. Mit einem Becher Tee stellte sie sich ans Fenster und sah den Hügel hinab ins Tal. Eine Beziehung mit Tama oder ein Kind?

Diese Frage war falsch gestellt. Es ging nicht um Entweder- oder. Selbst wenn sie auf ein Kind verzichtete, was sie auf keinen Fall wollte, war die Beziehung mit Tama gescheitert. Er hatte ihr etwas vorgemacht und sie sich auch. Bach, nicht Baum. Es war vorbei und es tat weh.

Vor dem morgendlichen Meeting der Mitarbeiter sprach Bettina sie darauf an. Sie hatte gesehen, wie Tama mit einem Koffer in der Hand ins Dorf gegangen war. »Mit Leichenbittermiene. Habt ihr Streit?«

»Es ist aus. Ich habe mich in ihm getäuscht. Er will kein Kind. Während ich um jeden Preis eines möchte.«

»Ach, Sonja.« Bettina nahm sie in den Arm. »Es tut mir leid. Tama und du … Ihr habt so gut zusammengepasst. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Ein Kind … Das kann man doch nicht erzwingen.« In Bettinas Augen lag Besorgnis. »Wenn du dich darauf fixierst, wird es nicht klappen.«

»Jetzt klappt es sowieso nicht mehr.« Trauer stieg in ihr auf. »Und mit Tama ist es aus.«

Stefan kam herein und mit ihm eine Aura von Vitalität und Kraft. Die Sonne zauberte Reflexe in sein dichtes Haar. »Na, was ist denn hier los. Ist jemand gestorben?«

»Nur eine Hoffnung.« Sonja atmete durch und sammelte sich. »Zeit für die Teambesprechung.«

Der Tag nahm seinen gewohnten Gang. Am Nachmittag fuhr Sonja mit dem Bus in die Stadt, um Besorgungen zu machen, denn Stefan war mit dem einzigen Auto unterwegs, das es im Verve-Zentrum gab. Als sie fertig war, suchte sie das Stadtcafé auf, das ihre Freunde Ayla und Mark betrieben.

Er war ein bodenständiger Bayer, der Sonja allerdings mit seinen rotblonden Locken eher an einen Iren erinnerte, und sie eine dunkelhaarige Schönheit wie aus Tausendundeiner Nacht. Seit vier Jahren waren die beiden nun schon verheiratet und auch ihr Kinderwunsch war bisher unerfüllt geblieben. An Mark lag es nicht, denn er hatte einen Sohn aus einer früheren Beziehung.

Sonja bestellte bei Mark eine Schale Milchkaffee und eine Dinkelrosinenschnecke und beobachtete Ayla, die flink wie immer die Kaffeemaschine hinter dem Tresen bediente und dafür sorgte, dass alles reibungslos lief. Sonja spürte die angespannte Stimmung, die zwischen den beiden herrschte, und fragte Mark, was los sei. »Sie hat ihre Tage bekommen«, sagte er und hob die Hände. »Sie setzt sich einfach zu sehr unter Druck. Nun will sie es mit künstlicher Befruchtung versuchen. Das will ich nicht. Ich wichse doch nicht in einen Plastikbecher. Das geht echt zu weit. Entweder es klappt oder es klappt nicht. Mir reicht dieser ganze Zirkus allmählich.«

Ein Gast wollte zahlen. Mark musste weg. Sonja sah ihm nach. Die schlechte Stimmung zwischen ihm und Ayla übertrug sich auf sie. In ihrem Innersten saß ein dumpfer Druck. Bisher hatte sie alle ihre Ziele verwirklicht. Mit Fleiß und Disziplin und natürlich auch mit Glück, das einfach dazugehörte. Doch ihr größter Wunsch würde unerfüllt bleiben. Der Schmerz darüber fraß sich durch ihr Innerstes.

Ihr lief die Zeit davon. Mutterschaft war ein Geschenk, das sie nicht mehr erwarten durfte. Bedrückt und erfüllt von einem Gefühl der Ohnmacht verließ sie schließlich das Café und ging durch die Altstadt zum Busbahnhof. In der Lederergasse stieß sie beinahe mit Kathrin zusammen.

Ihre Schwester kam aus dem Ärztehaus und sah elend aus. Fahl und eingefallen. Plötzlich erschien es Sonja, als sei die Welt mit dem Leid ungewollt kinderloser Frauen erfüllt. Denn Kathrin hatte kurz nach Weihnachten eine Fehlgeburt gehabt. Die zweite schon.

»Sonja. Entschuldige. Ich war ganz in Gedanken.« Mit einer fahrigen Geste strich ihre ältere Schwester sich das Haar aus dem Gesicht. Es saß so tadellos wie immer. Genau wie der Hosenanzug und der helle Mantel, den sie offen darüber trug. Konnte man sich zwei gegensätzlichere Schwestern vorstellen? Wohl kaum. Eine grüne Esoterikerin und eine stockkonservative Grundschullehrerin. Doch so gegensätzlich sie in ihrem Erscheinungsbild und ihren Ansichten auch waren, so gut verstanden sie sich. Eher Freundinnen als Schwestern.

»Was ist denn mit dir? Du machst einen ganz aufgelösten Eindruck.«

Kathrin schluckte. »Ich hatte gerade einen Termin bei meiner Ärztin.« Voller Schreck bemerkte Sonja, wie Kathrins Augen sich mit Tränen füllten. »Es ist aus. Vorbei. Ich kann keine Kinder mehr bekommen.«

Was für ein furchtbarer Tag. Es schien ihr, als habe sich Mutter Natur gegen sie und ihre Schwester verschworen. »Ach, Kathrin.« Sonja legte die Arme um sie und zog sie an sich.

»Paul wird so enttäuscht sein. Er wünscht sich so sehr ein Kind. Ich weiß gar nicht, wie ich es ihm sagen soll.« Kathrin löste sich von ihr. »Vielleicht verlässt er mich.«

»Paul? Dich verlassen? Nie.« Er war einer, der die Dinge nahm, wie sie kamen, keiner, der sein Leben anpackte und selbst gestaltete. Er war ein Stoiker. Er würde sich damit abfinden. All das sagte Sonja ihrer Schwester, während sie durch die Altstadt gingen. Doch Kathrin war restlos verzweifelt und niedergeschlagen. Auf Sonja machte sie den Eindruck, als stünde sie am Anfang einer Depression. »Du musst dein Schicksal annehmen und das Beste daraus machen. Das müssen wir alle.«

Sich mit Mutter Natur zu versöhnen, schlug sie gar nicht erst vor. Derzeit war sie selbst nicht gut auf sie zu sprechen und Kathrin glaubte sowieso nicht an die Energien, die sie umgaben. Unsichtbar und doch vorhanden, alles Leben mitgestaltend. Dafür war sie zu bodenständig und zu skeptisch. Womit sie sich beschäftigte, verstand Kathrin nicht wirklich. Dennoch bot Sonja Hilfe an. »Komm zu uns ins Zentrum. Ein Meditationskurs würde dir guttun. Du musst ja nur den Hügel rauf.«

Seit ein paar Monaten wohnten Kathrin und Paul nur einen Steinwurf vom Zentrum entfernt in einem der neuen Häuser, die der Lippert neben der Kirche auf dem Brunnauer-Anger gebaut hatte.

»Das ist nichts für mich, Sonja. Das weißt du doch. Vielleicht sollte ich zu einer Psychotherapeutin gehen. Doch Paul will das nicht. Er versteht es einfach nicht. Dass ich … dass ich das Kind verloren habe. Es macht mich ganz krank und er kriegt es einfach nicht mit.« Wieder traten Tränen in Kathrins Augen.

»Er leidet genauso wie du. Glaub mir.«

»Na, dann verbirgt er das jedenfalls ziemlich gut. So kann es nicht weitergehen.«

Auch wenn ihr Schwager nicht auf ihrer Wellenlänge war, mochte Sonja ihn. »Mit Paul hast du Glück. Er liebt dich. Ihr werdet einen Weg finden, damit umzugehen und euer Schicksal anzunehmen.«

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Das Schicksal annehmen, war leichter gesagt als getan. Sonja fand ihre innere Ruhe nicht und bat Bettina, sie zu vertreten. Sie musste an die frische Luft und machte einen Spaziergang.

Wie selbstverständlich trugen ihre Füße sie hinunter zum Fluss. Trauer und Schmerz lagen in ihr wie Bleigewichte. Noch war sie nicht so weit, den Wunsch loszulassen. Dafür würde sie Monate brauchen. Es war Arbeit. Schwere Arbeit. Und es war Zeit, damit zu beginnen.

Was war schon Zeit? Das Ticken der Uhr oben am Kirchturm war nur der Versuch, sie sichtbar zu machen und einzuteilen, sie messbar zu machen. Zeit war etwas ganz anderes. In ihrem Fall etwas, das in ihr lag und ihren Körper veränderte, bis er die Fähigkeit verloren haben würde, ein Kind zu empfangen.

Das Schicksal annehmen. Hatte sie denn eine Wahl? Theoretisch konnte sie sich einen neuen Lebenspartner suchen. Doch sie wusste aus Erfahrung, dass sie ein bis zwei Jahre brauchte, um mit einer gescheiterten Beziehung abzuschließen und sich auf eine neue einlassen zu können.

Sie wollte ihre ureigenste Aufgabe erfüllen. Sie wollte Mutter werden und ihre Weiblichkeit mit Schwangerschaft und Geburt krönen. Sie wollte an ihr Kind weitergeben, was sie von ihren Eltern mitbekommen hatte, von ihren Ahnen, über unzählige Generationen. Eine Kette, die bisher nicht gerissen war und nun reißen würde.

Die Erkenntnis, dass es nicht zu ändern war, fuhr wie ein Messer durch ihren Leib. Unten am Flussufer blieb sie tränenblind stehen. Sie konnte das ihr zugedachte Schicksal nicht annehmen. Sie wollte nicht! Der Inn zog ruhig dahin. Der Himmel war lichtgrau. Die Dämmerung senkte sich bereits herab. Ich sollte umkehren, dachte Sonja.

Es musste eine Lösung geben. Sie sah sie nur nicht. Noch nicht. Am gegenüberliegenden Ufer bewegte sich etwas. Ein Fuchs schnürte durchs Unterholz. Ein Zeichen. Natürlich. Plötzlich wusste sie, wo sie sich Rat holen konnte.

Sonja folgte dem Weg weiter am Ufer entlang. Knackende Äste unter ihren Füßen. Das Murmeln eines Bachs, der hurtig über sein steiniges Bett plätscherte, dem Inn entgegen. Die kalte Luft tat gut. Sie machte den Kopf klar. Von weit her klang das Zwitschern eines Vogels. Bei den fünf Buchen verließ sie den Weg und ging auf einem nur für geübte Augen sichtbaren Pfad tiefer in den Wald hinein, den der Fluss hier in einer weiten Biegung umfloss. Dürres Gestrüpp und vertrocknete Brombeerranken verhakten sich im Mantel und griffen nach ihren Haaren. Sie stolperte über eine Wurzel und wäre beinahe gefallen. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft sie aufhalten wollte. Sie kämpfte sich weiter voran und erreichte ihr Ziel in der Biegung des grünen Flusses. Die über fünfhundert Jahre alte Eiche zeichnete sich als kolossaler Schatten vor dem Abendhimmel ab. Knorrig und fest verwurzelt, Wind und Wetter und der Zeit trotzend. So hatte sie die Jahrhunderte überdauert. Mittelalter und Pest, Kriege und Könige, ein Monument der Macht der Natur.

Ihr Stamm war hohl, die Äste ragten weit in den Himmel, wie ausgebreitete Arme, die sie umfangen und aufnehmen wollten.

Sollte sie ihr Schicksal annehmen?

Sonja lehnte sich an den Stamm, umfasste ihn, spürte die schrundige Rinde an ihrer Wange, roch den Duft des noch winterschlafenden Holzes.

Sollte sie ihr Schicksal annehmen?

Sie hörte das Raunen des Windes in den Zweigen, wie wispernde Stimmen, die sich beratschlagten. Sie lauschte, was Mutter Natur ihr zu sagen hatte, sog es begierig auf. Staunend hörte sie eine alte Weisheit und fasste einen Entschluss. Als sie schließlich ging, hatte die Abenddämmerung sich über das Flusstal gesenkt.

Ja, sie würde ein Kind bekommen.