29. Dezember
Die fünfte Raunacht

Pia saß am Küchentisch, während Kathrin schon wieder bei geschlossener Tür im Schlafzimmer telefonierte. Der Chai-Tee schmeckte ebenso wenig wie die Nutellasemmel. Dieses vermaledeite Schlamassel, in das sich ihr Leben innerhalb weniger Tage verwandelt hatte, machte ihr zu schaffen. Es war zu einem Sack voller Lügen und Ungewissheit geworden. Das vor allem: Ungewissheit. Sie fühlte sich wie auf dünnem Eis, das jederzeit unter ihr brechen und sie in die Tiefe reißen konnte.

Und dann diese Träume! Vielleicht lag es an den Raunächten, dass sie nun ständig träumte, die wildesten Sachen. Gestern Nacht wieder. Zuerst vom Feuer und Fuchs. Wieder hatte sich darin etwas verändert. Sie floh aus dem Haus, aber nicht in den Wald, sondern hinunter zum Fluss, der sich als funkelndes Band durch die mondhelle Nacht schlängelte. Dort stand ein Baum am Ufer. Ein großer, mächtiger Baum, geradezu riesig. Unerschütterlich, als ob er alle Geheimnisse der Welt kannte und sie hütete. Kein Auto war daran zerschellt. Wie auch? Er stand abseits jeder Straße.

Pia schob den Teller von sich. Was rührte sich da in ihr und wollte an die Oberfläche? Warum jetzt? Dämliche Frage, würde Tami sagen. Weil du jetzt etliche Infos über deine Herkunft hast, die du vor ein paar Tagen noch nicht hattest, aber vor allem, weil dir eine ganze Menge davon fehlen.

Vielleicht wäre es doch besser, nach Wasserburg zu fahren und mit Oma und Opa zu reden. Oder mit Bettina. Wenn sie wirklich Sonjas beste Freundin gewesen war, hatte sie vielleicht Antworten auf die Fragen, die Pia eigentlich nicht stellen wollte. Seltsamerweise hatte Kathrins Spruch, sie sollte die Vergangenheit ruhen lassen, Trotz und Widerspruch in ihr geweckt. Obwohl es ja genau das war, was sie selbst auch wollte.

Was würde Oma sagen, wenn sie einfach auftauchte und Fragen stellte? Du bist eben … anders. Du bist böse. Würde sie das sagen?

Mit einem Ruck stand Pia auf. Genug Gedanken gewälzt. Sie suchte ihre Sachen zusammen, um sich mit Tami zu treffen. Bevor sie ging, wollte sie Kathrin Bescheid sagen, doch die telefonierte noch immer im Schlafzimmer. Die Tür war verschlossen. Klasse! Was sollte das jetzt? Sollte sie ihrer Adoptivmutter eine WhatsApp schicken? Bin mit Tami unterwegs. Never! Sie konnte sich ruhig mal für fünf Minuten Sorgen machen. Das iPhone war schließlich an. Pia machte sich auf den Weg und hätte am liebsten die Wohnungstür hinter sich zugedonnert.

Feuchte Kälte hing in der Luft und ein grauer Himmel über der Stadt. Im Schaufenster des Drogeriemarkts klebte ein Plakat, das den Verkaufsbeginn fürs Silvesterfeuerwerk ankündigte.

Übermorgen war ja schon Silvester! Und fünf Tage später ihr Geburtstag. Mit Kathrin und Paul wollte sie ihn nicht feiern und mit Tami konnte sie nicht, denn die war in Tirol und lernte Snowboarden. Am besten war es wohl, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und diese Feiertage einfach zu verschlafen. Mit einem Tritt beförderte Pia eine Coladose in den Rinnstein.

Sie passierte das Sperrengeschoss des U-Bahnhofs und plötzlich stieg ein Bild in ihr auf. Ihre Geldbörse, die neben dem Laptop lag. Mist. Hastig zerrte sie die Tasche von der Schulter und guckte hinein. Tatsächlich. Der Geldbeutel fehlte und damit die Monatsfahrkarte. Sie machte kehrt und spurtete nach Hause. Vor der Tür zögerte sie. Keine Lust, Kathrin zu begegnen. Leise schloss Pia die Wohnungstür auf und schlich über den Flur. Kathrin telefonierte inzwischen in der Küche. »Hallo Irene … Ja, danke, gut. Ich will dich nicht lange aufhalten. Eigentlich habe ich nur eine Frage: Deine Nichte besucht doch das Internat in Seeon … ja … ich wollte nur wissen, ob du es empfehlen kannst.«

Ein heißer Schreck durchfuhr Pia. Internat? Wieso denn Internat? Sie blieb stehen und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Hatte Kathrin echt Internat gesagt?

»Ja, mit der Internatsleitung habe ich schon gesprochen. Pia könnte gleich nach den Weihnachtsferien wechseln. Mir wird das zu viel …«

Das konnte doch nicht sein. Mam … Tante Kathrin wollte sie abschieben. In ein Internat! Weg von München und Tami und allen. Sie räumte sie einfach aus ihrem Leben fort, so wie Pauls Sachen!

Pia ging in ihr Zimmer und versuchte, den Druck zu ignorieren, der sich in ihrem Hals aufbaute, und das Brennen in den Augen. Hallo! Ging’s noch? Das konnte nicht sein. Sie war ganz eindeutig im falschen Film gelandet. Wo war hier bitte schön der Ausgang? Mit einer Hand wischte sie zornig die Träne weg, die sich einfach gelöst hatte, obwohl sie jetzt ganz bestimmt nicht heulen würde.

Dieses verlogene Weib! Gestern hatte sie noch auf fürsorgliche Mutter gemacht und nun wollte sie Pia loswerden, so schnell es ging. Die Erkenntnis, dass es außer Tami wirklich niemanden gab, der sie liebte und für den sie wichtig und unersetzlich war, trieb ihr wieder die Tränen in die Augen. Niemanden! Was war nur falsch an ihr? Mit einem Mal fühlte sie sich hilflos und ohnmächtig, wie der Spielball einer Kraft, auf die sie keinen Einfluss hatte.

Sie wollte hier nur noch weg! Weg von dieser Familie, weg von diesen verlogenen Leuten, die sich ihre Eltern nannten! Wie in Trance riss sie die Reisetasche aus dem Schrank und stopfte wahllos Klamotten und den Laptop hinein und das Glas mit ihrem Ersparten. Es klopfte an der Tür. »Pia?«

Shit! Einmal durchatmen. »Ja.« Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit. Kathrin stand davor.

»Ich fahre einkaufen. Soll ich dir das Müsli mitbringen, das dir neulich so gut geschmeckt hat?«

Wie kriegte sie das hin? Man sah ihr die Falschheit gar nicht an. Kann ich auch, dachte Pia. »Das wäre echt lieb«, säuselte sie zuckersüß.

Kathrins Brauen stiegen in die Höhe. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, klar.« Und dann kam die Idee, wie aus dem Nichts. Sie war einfach da. »Ich werde das Müsli nicht essen. Denn ich fahre mit Tami eine Woche nach Tirol. Tiefschneekurs. Hast du offenbar ganz vergessen. Ich packe gerade.«

»Was? Davon war nie die Rede.«

»Weil du mir nie zuhörst. Ich habe es euch an Weihnachten erzählt. Ein Platz war noch frei und ich habe zugesagt, bevor er weg war. Kann dir doch nur recht sein, wenn du hier deine Ruhe hast.«

»Also beim besten Willen, mir fällt dazu nichts ein.«

»Ich nehme nicht an, dass du was dagegen hast, wenn ich mir ein paar schöne Tage mache. Oder?«

»Von mir aus. Mach, was du willst.« Kathrin war sichtlich genervt. »Weiß Paul davon?«

»Logisch.« Ganz wohl fühlte Pia sich nicht in ihrer Haut. Noch nie hatte sie ihren Eltern eine so faustdicke Lüge aufgetischt.

Kathrins Stirn glättete sich. »Also gut. Frische Luft, Bewegung, junge Leute. Das wird dich auf andere Gedanken bringen. Ist der Kurs schon bezahlt?«

Pia geriet kurz ins Schlingern und wurde ganz rot. »Hat Paul erledigt.« Hoffentlich sprach Kathrin ihn nicht darauf an. Lange würde sie diesen Schwindel nicht durchziehen können.

»Also gut. Ich gebe dir noch Taschengeld mit.« Kathrin zog ihr Portemonnaie hervor und nahm hundert Euro heraus. »Wann bist du wieder zurück?«

Ich habe keine Ahnung, dachte Pia. »Am sechsten Januar.«

»Melde dich, wenn du angekommen bist.« Ein Blick auf die Uhr. »Ich muss los.« Mit einer flüchtigen Umarmung verabschiedete sich Kathrin und verschwand. Pia steckte das Geld in die Jeanstasche und ließ sich aufs Bett fallen.

Wohin sollte sie? Es war ja Tami gewesen, die den letzten Platz ergattert hatte. Vielleicht hatte jemand abgesagt. Mit wenig Hoffnung rief sie Tami an.

»Hi, Pia. Wo brennt’s denn, dass du anrufst, anstatt zu whatsappen? Ups … sorry, brennt ist vielleicht nicht die passende Wortwahl.« Tami war gut drauf, wie immer.

»Ich haue ab.«

»Was? Wieso denn?«

»Keine Lust, Silvester und meinen Geburtstag mit Kathrin und Paul zu feiern. Echt nicht. Außerdem will Kathrin mich ins Internat stecken. Gleich nach den Ferien. Können wir uns treffen?«

»Ja klar. In einer halben Stunde im Mozart.«

Pia suchte im Bad ihre Sachen zusammen und stopfte sie zu den Klamotten in die Reisetasche. Mit Kathrins Zuschuss und ihrem Ersparten hatte sie über dreihundert Euro. Auf dem Taschengeldkonto war auch noch was. Das reichte vorerst. Wofür auch immer. Sie nahm den Geldbeutel vom Schreibtisch, warf ihn in den Rucksack und donnerte die Wohnungstür hinter sich zu, als sie ging. Falls es mit der Hüttenwoche klappte, konnte sie das Snowboard später aus dem Keller holen.

Als Pia kam, war Tami schon da. Den obligatorischen Caramel-Macchiato vor sich auf dem Tisch. Sie sprang auf und stand da wie das Ampelmännchen bei Rot. »Hugs, Pia. Mensch, du brauchst jede Menge Hugs.« Sie warf ihre Arme um Pia und zog sie an sich. »Du hast es echt nicht leicht. Deine Eltern sind das Letzte.«

»Das kannst du laut sagen.« Schniefend löste Pia sich schließlich aus der Umarmung und erzählte von Kathrins Plänen, sie nach Seeon ins Internat abzuschieben.

»Was sagt Paul dazu?«

»Keine Ahnung. Vermutlich weiß er von nichts.«

»Dann sprich mit ihm.«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Er hat auch was dazu zu sagen. Sie kann das nicht allein durchziehen und außerdem können sie das sowieso nicht gegen deinen Willen tun. Du gehst einfach nicht. Basta. Sie kann dich ja nicht an den Haaren hinschleifen.«

»Und dann? Dann setzt sie mich vor die Tür?« Pia wollten die Tränen kommen. Sie verkniff sie sich. »Ist auf der Hütte noch Platz für mich?«

Tami zog die Nase kraus. »Die ist eigentlich voll belegt. Aber ich kann ja mal Phillip fragen, den Kursleiter. Vielleicht hat jemand abgesagt oder es gibt ein Notbett oder so.« Sie zog das Handy aus der Tasche und schickte ihm eine Nachricht. »Wenn du mitkommen würdest, das wäre cool. Aber es löst dein Problem nicht.«

»Schon klar. Aber ich gewinne Zeit und kann mir überlegen, wie es weitergehen soll. Außerdem muss ich da raus. Jeden Tag ein neuer Schlag in den Magen. Darauf kann ich verzichten.«

»Es ist aber auch echt too much, was sie da abziehen.« Tamis Handy vibrierte. Phillip hatte geantwortet. Bedauernd schüttelte Tami den Kopf. »Restlos belegt.«

Pia zuckte mit den Schultern. »Hab es mir fast schon gedacht.«

»Aber es war den Versuch wert. Was machen wir nun?« Nachdenkliche Falten erschienen an Tamis Stirn. »Weißt du, was? Du kriegst meinen Platz. Ich bleibe hier.«

Das war so lieb von Tami! »Du fährst. Du hast dich so auf den Kurs gefreut und was ist mit Tobi?«

»Er muss eben noch ein wenig auf mich warten.«

Eine Woche auf einer Hütte mit über fünfzig Leuten. War das wirklich das Richtige für sie? Eigentlich nicht. Wenn sie Probleme hatte, war sie lieber allein. Dann zog sie sich zurück, igelte sich ein und besprach sich eigentlich nur mit Tami. Also gut, dann würde sie es doch tun. »Quatsch. Du fährst in die Berge.« Pia holte Luft. »Und ich mache es. Ich fahre nach Galsterried. Ich quartiere mich im Austragshäuschen ein. Es gehört schließlich mir.«

»Prima Idee. Könnte glatt von mir sein. Sollen wir mal nachsehen, wann ein Zug fährt?«

Pia zog das iPhone aus der Tasche und ging online. Fünf Minuten später war sie schlauer. »Der nächste fährt um halb vier am Ostbahnhof los.«

»Da sollten wir uns sputen. Du brauchst ja noch ein Ticket.«

Sie zahlten und machten sich auf den Weg. Kurz vor halb vier stand Pia neben Tami am Bahnsteig und wartete auf den Regionalexpress nach Wasserburg, der jeden Augenblick einfahren sollte. Der Wind pfiff eisig aus Osten. Tami rieb sich die kalten Hände. »Was erzählst du eigentlich Kathrin, wenn sie anruft?«

»Ich bleibe bei der Story vom Tiefschneekurs. Wenn sie mitbekommt, dass ich in Galsterried bin, wird sie mich nach Hause beordern. Falls sie also bei dir einen Kontrollanruf macht, dann sagst du, dass ich grad im Bad bin oder auf der Piste. Und gib mir Bescheid, damit ich sie zurückrufen kann. Ich glaube allerdings nicht, dass sie sich melden wird. Sie ist froh, mich für ein paar Tage los zu sein.«

»Okay. So machen wir es.«

Mit quietschenden Bremsen rollte der Zug am Bahnsteig aus. Ein undefinierbares Gefühl, irgendwo zwischen Angst und Erwartung, legte sich flatternd in Pias Magen, als sie mit Rucksack und Reisetasche beladen einstieg und sich in der offenen Tür noch einmal umdrehte.

Tami winkte. »Pass auf dich auf. Und melde dich mal.« Der Schaffner pfiff, die Türen schlossen sich. Ruckelnd fuhr der Zug an.

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Tami verschwand winkend aus dem Blickfeld. Pia suchte sich einen Platz im Abteil. Der Zug war beinahe leer, sie hatte freie Wahl und setzte sich ans Fenster. Die Sitze ihr gegenüber waren frei.

Am Fenster nebenan saß ein altes Ehepaar und löste gemeinsam ein Kreuzworträtsel. In der Reihe schräg gegenüber holte ein Mädchen in Pias Alter Lipgloss und Spiegel aus der Handtasche. Sie war einfach wunderschön. Lange blonde Haare, schräg stehende Katzenaugen, schlank wie Williams Kate und toll angezogen. Das Grün ihres Pullis passte perfekt zur Augenfarbe. Lässige Jeans, Stiefel aus weichem Leder, die bis zum Knie reichten. Pia konnte den Blick nicht abwenden. Sogar die Bewegungen waren besonders. Weich, fließend, irgendwie elegant. Tami würde sagen: Elegant? Echt jetzt? Eher zickig, oder? Bei diesem Gedanken entglitt Pia ein Grinsen. Im selben Moment sah das katzenäugige Mädchen hoch, fing Pias Blick auf und interpretierte ihn prompt falsch. Ihre Augen wurden ganz schmal. Sie dachte offenbar, dass Pia sich über sie lustig machte. Mit einem Ruck wandte sie sich ab und verstaute Lipgloss und Spiegel in der Tasche.

Ups. Das war ja blöd gelaufen. Irgendwie tat es Pia leid. Auch sie wandte sich ab. Neben diesem Mädchen fühlte sie sich mit ihren krausen roten Haaren, den unzähligen Sommersprossen und der bleichen Haut wie Aschenputtel. Oder wie ein Fuchserl. Oma hatte das nie nett gemeint. Immer hatte ein stummer Vorwurf diesen Spruch begleitet. Wieso eigentlich? Sonja war auch ein Fuchserl gewesen und Oma hatte sie geliebt. Sie war mein Ein und Alles.

Nun würde sie also doch in der Vergangenheit wühlen. Vielleicht war es gut so. Zwei große Rätsel musste sie lösen: Was war falsch an ihr? So falsch, dass man sie nicht lieben konnte. Und natürlich musste sie herausfinden, wer ihr Vater war. Denn eines hing mit dem anderen zusammen. Wollte sie das wirklich?

Der Zug fuhr durch die Vororte. Die Dämmerung senkte sich herab. In den Häusern gingen die Lichter an. Sie konnte sich natürlich auch einfach einigeln, die Vergangenheit vergangen sein lassen und darüber nachdenken, wie sie die Zeit bis zum Abitur überstehen sollte, ohne ins Internat zu müssen. Sie wollte nicht aus ihrer Klasse gerissen werden und Tami nur an den Wochenenden oder in den Ferien sehen.

Das konnte sie morgen entscheiden. Jetzt galt es, praktische Fragen zu lösen. Vielleicht sollte sie Bettina Bescheid sagen, dass sie kam und im Austragshäuschen wohnen wollte. Hoffentlich war es frei! Es war ja möglich, dass Bettina es vermietet hatte. Pia zog das iPhone hervor, googelte die Kontaktdaten des Verve-Zentrums und rief an. Es lief nur der Anrufbeantworter. Das Zentrum war zwischen Weihnachten und Heilige Drei Könige wegen Betriebsferien geschlossen. Super! Vielleicht war Bettina gar nicht da. Pia googelte die Privatnummer von Bettina und Stefan Salger. Sie war nicht eingetragen.

Wie sollte sie hineinkommen? Sie hatte keinen Schlüssel. Hoffentlich gab es einen Hausmeister, der sich um das Anwesen kümmerte. Pia sah sich schon auf der Straße stehen. Was sollte sie tun, wenn niemand sie einließ? Notfalls musste sie zu Oma und Opa oder in ein Hotel. Erst einmal sah sie auf Google Maps nach, wie sie von Wasserburg nach Galsterried kam. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Zu Fuß oder mit dem Taxi. Ein Rad- und Wanderweg führte am Inn entlang. Wenn sie den nahm, waren es nur zwei Kilometer, während der Weg entlang der Straße mehr als doppelt so lang war.

Der Zug fuhr durch hügeliges Land. In diesem Winter gab es kaum Schnee. Eine nur wenige Zentimeter dicke Schicht lag auf Feldern und Wiesen, wie eine löchrige Decke. Vertrocknetes Gras und dunkle Ackerschollen lugten daraus hervor.

Nach einer Stunde Fahrt kamen der Schaffner und eine Kollegin und kontrollierten die Karten. Pia reichte ihm das Ticket. Vom Band lief die Durchsage für die nächste Station. »Nächster Halt Reithmering. Endstation. Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet dort.«

Verwirrt sah Pia hoch. Wieso das denn? Saß sie etwa im falschen Zug? »Fährt der Zug nicht nach Wasserburg?«

Der Schaffner reichte ihr das Ticket zurück. »Fast. Von Reithmering sind es vier Kilometer nach Wasserburg.« Seine Kollegin rief nach ihm. Und weg war er. Super. Wie sollte sie nun nach Galsterried kommen?

Dass sie von Wasserburg aus zu Fuß weitermusste, darauf hatte sie sich eingestellt. Doch so wie es aussah, wurde ihr Spaziergang deutlich länger. Sechs Kilometer. Vielleicht gab es ja einen Bus in die Stadt.

Der Zug wurde langsamer und rollte aus. Das alte Ehepaar hatte das Abteil bereits verlassen und stand vor der Tür. Die blonde Schönheit schlüpfte in den Mantel und prüfte ihr Aussehen in der spiegelnden Fensterscheibe. Einen Augenblick überlegte Pia, sie zu fragen, wie sie am besten nach Wasserburg kam. Doch sie ließ es bleiben. Sicher gab es am Bahnhof in Reithmering einen Hinweis.

Die Menschen verliefen sich schnell in Richtung eines Parkplatzes, während Pia den Bahnsteig entlangging und nach einem Hinweisschild für einen Bustransfer suchte. Nichts. Sie umrundete das Bahnhofsgebäude. Etliche Autos fuhren an ihr vorbei. Weiter vorne startete ein Bus. Wasserburg stand im Display. So viel konnte sie noch erkennen, bevor die roten Rücklichter um die Kurve verschwanden. Das hatte sie ja prima hingekriegt!

Gut, dann musste sie eben auf den nächsten warten. Sie stapfte zur Verkehrsinsel mit der Haltstelle und studierte den Plan im Schein einer Straßenlaterne. Der nächste fuhr in zwei Stunden, wenn wieder ein Zug aus München eintraf. Also laufen. Oder trampen? Laufen. Sie nahm die Reisetasche hoch, um die Straße zu überqueren, als vom Parkplatz ein Auto kam, das langsamer wurde und schließlich neben ihr hielt. Was sollte das jetzt werden? Trampen würde sie nicht. Man wusste ja nie, zu wem man ins Auto stieg. Am Ende zu einem Serienmörder.

Das Fenster wurde heruntergelassen. Ein Kopf voller brauner Locken erschien. Der Fahrer war ein paar Jahre älter als sie und sah einfach nur wow aus. Wie war das doch gleich mit der Weggabelung im Mondschein gewesen?, schoss es Pia durch den Kopf. Verwegener Gedanke!, folgte auf dem Fuß, denn ihre Weggabelung würde total verwaist bleiben.

Der Kerl sah sie einfach nur an. Gefühlt eine Stunde. Realzeit vielleicht zwei Sekunden. Ein komisches Ziehen setzte sich in ihre Kniekehlen. Warum starrte er sie so an? »Kann ich irgendwie helfen? Oder was ist los?«

»Tatsächlich die Pia.« Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Hallo? Was war das? Sollte sie ihn etwa kennen? Ganz sicher nicht. An diese Wuschellocken würde sie sich erinnern und an diese Augen erst recht. So dunkel und unergründlich wie die Nacht.

»Die Bachmayr Pia. Das bist du doch? Klar bist du das. Kennst mich denn nicht? Ich bin der Ansgar. Der Lippert Ansgar. Der Bruder vom Florian, mit dem du in den Kindergarten gegangen bist. Der Bus ist grad weg. Soll ich dich mitnehmen?«

Der Florian aus dem Kindergarten. Klar konnte sie sich an ihn erinnern. Ihm verdankte sie die kleine Narbe an der Stirn. Nur seinetwegen war sie ganz hoch hinauf aufs Klettergerüst gestiegen, weil er es ihr nicht zugetraut hatte und sie ihm das Gegenteil beweisen musste. An der obersten Sprosse war sie abgerutscht und auf den Boden geknallt. Damals war sie mutiger gewesen und wilder. Sie hatte sich echt was getraut.

Und jetzt? Traute sie sich, zu Ansgar mit den geheimnisvollen Augen ins Auto zu steigen? Ein leichtes Kribbeln zog über ihren Nacken. Sollte sie? »Ich muss weiter als bis nach Wasserburg. Nach Galsterried. Das liegt zwei Kilometer weiter flussabwärts.«

Ansgar lächelte. »Ich weiß, wo Galsterried liegt. Ich fahr dich dorthin. Kein Problem. Ich muss vorher nur Amelie nach Hause bringen. Okay?«

Erst jetzt bemerkte Pia die katzenäugige Schönheit aus dem Zug. Sie saß auf dem Beifahrersitz und musterte sie mit einem abschätzenden Blick. Offenbar war sie Ansgars Freundin, der es nicht gefiel, dass er den Gentleman für die Kindergartenfreundin seines Bruders gab. Von ihr hatte sie nichts zu befürchten. Von ihr wollte keiner was. Jedenfalls nicht wirklich. Ansgar war einfach nur höflich. Die Alternative war, sechs Kilometer zu laufen. Bei Dunkelheit und Kälte. Musste eigentlich nicht sein.

»Das wäre echt nett.« Pia nahm die Reisetasche hoch und kletterte auf die Rückbank.

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Amelie sah schweigend aus dem Fenster, während Ansgar den Wagen sicher durch den Verkehr lenkte. Für einen Moment fing sie seinen Blick im Rückspiegel auf. »Was willst du in Galsterried machen?«

Ging ihn das etwas an? »Verwandte besuchen.«

Überrascht kehrte sein Blick zurück in den Spiegel. Du hast Verwandte in Galsterried?

Der Lippert. Jetzt fiel es Pia wieder ein. Der Lippert war ihr Vermieter gewesen. Ein Bauunternehmer aus Wasserburg, der das Haus gebaut hatte, in dem sie mit Kathrin und Paul in Galsterried gelebt hatte. Fünf Jahre lang, bis Paul die Stelle in München bekommen hatte und sie umgezogen waren. Fünf Jahre. Das hatte sie jedenfalls bisher geglaubt. Doch die ersten vier davon musste sie oben auf dem Hügel gewohnt haben. Bei ihrer richtigen Mutter.

Sie kamen an einen Kreisverkehr. Ansgar bog ab und erreichte die Straße, in der Amelie wohnte. Vor einer Doppelhaushälfte stoppte er. Amelie nahm ihre Tasche, gab Ansgar einen Kuss auf die Wange und drehte sich zu Pia um. »Pass bloß auf dich auf. Da draußen soll es ja spuken. Und in den Raunächten ist es besonders schlimm.« Es klang total zickig.

Pia konnte es sich nicht verkneifen. »Keine Sorge. Mit bösen Geistern werde ich fertig. Ich stamme aus einer Familie von Hexen.«

»Ach, wirklich?« Anmutig strich Amelie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und stieg aus.

Pia ebenfalls. Sie setzte sich neben Ansgar auf den Beifahrersitz, während Amelie zum Haus ging, sich noch einmal umdrehte und ihm eine Kusshand zuwarf. »Wir sehen uns morgen, Honey.«

Honey! Pia verkniff sich mühsam ein Grinsen. Honey! Echt jetzt? Ein albernes Kichern stieg in ihr auf. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut zu lachen. Ansgar war mehr ein dunkler Prinz als ein Honigbär. Seine Hände umfassten das Lenkrad fester. Die Knöchel traten weiß hervor. Ups. Hatte er bemerkt, dass sie kurz davor war loszuprusten?

Er scherte aus der Parklücke aus. »Nächste Station Galsterried.« Wieder streifte sie sein Blick. Doch er sagte nichts.

Inzwischen war es stockfinster geworden. Ansgar fuhr zurück auf die Bundesstraße und bog von dort auf eine Nebenstraße ein, die immer schmaler und holpriger wurde. In einer engen Kurve ging es hinunter ins Tal. Das Licht der Scheinwerfer streifte ein Ortsschild. Galsterried, Gemeinde Wasserburg am Inn. Sie waren da. Zwei Dutzend Häuser und Gehöfte. Hinter der Kirche die drei Doppelhäuser, an die Pia sich erinnerte. Mit Paul und Kathrin hatte sie im mittleren gelebt. Sie fuhren am Maibaum und dem Kriegerdenkmal vorbei. In einer Minute war das Dorf durchquert. Am Ende gabelte sich die Straße. Rechter Hand wurde sie zum Wanderweg, der hinunter zum Inn führte und für Autos und Motorräder gesperrt war. Links wand sie sich den Hang hinauf. Pia entdeckte das Hinweisschild. Verve-Zentrum für Wellness und Entspannung. Ansgar schien zu wissen, wohin sie wollte, denn er fragte nicht, sondern folgte dem Wegweiser.

Am Fuß des Hangs streiften die Lichter des Wagens etliche Häuser. Sie standen dort, wo die Streuobstwiesen gewesen waren und der Meditationsgarten samt Tipi. Die Fenster waren erhellt. Lichterketten hingen in Bäumen und an Balkonen. Oben auf dem Hügel hingegen war alles dunkel. Das ehemalige Bauernhaus zeichnete sich als schwarze Silhouette vor dem Nachthimmel ab. Es war noch nicht einmal halb sechs und schon stockfinster.

Ansgar stoppte vor dem Haupthaus und schaltete den Motor ab. »Scheint niemand da zu sein.«

»Das Zentrum ist bis zum sechsten Januar geschlossen.« Pia stieg, von Ansgar gefolgt, aus, nahm die Reisetasche vom Rücksitz und schulterte den Rucksack. Der Wind hatte die Wolken vertrieben. Das Firmament war sternenklar. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel. In der kalten Luft kondensierte ihr Atem. »Woher wusstest du eigentlich, wohin ich will?«

Ansgar schob die Hände in die Jackentaschen. Das Licht der Straßenlaterne reichte kaum bis zu ihm. Die Schatten des Hauses verbargen seine Augen, sein Gesicht. »Weil du von hier oben stammst und weil du keine Verwandten in Galsterried hast. Wohin also sonst, wenn nicht hierher?« Leichte Verärgerung schwang in seiner Stimme. »Und jetzt?«

Wieso wusste Ansgar so viel über sie? Offenbar war nicht nur Galsterried ein echtes Kaff, sondern auch Wasserburg. Wusste hier jeder über jeden Bescheid? Sogar über Leute, die schon ewig nicht mehr hier lebten? »Ich gucke mal, ob jemand da ist.«

Ein Bewegungsmelder schaltete die Beleuchtung über dem Eingang an, als Pia darauf zuging. Die plötzliche Helligkeit blendete sie. Blinzelnd suchte sie nach dem Klingelschild. Es gab nur eines fürs Verve-Zentrum. Bettina wohnte also nicht hier, sondern im Austragshaus. Das befand sich hinter dem Haupthaus. Pias Stiefel knirschten auf der dünnen, gefrorenen Schicht aus Schnee und Graupel. Sie bog um die Ecke und blieb abrupt stehen.

Wo sie das Austragshaus erwartet hatte, befand sich ein modernes Gebäude aus Holz und Glas. Ein schmerzhaftes Ziehen rührte sich in ihrem Magen. Den Ort, an dem sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, gab es nicht mehr. Er war einfach weg. Ersetzt durch einen modernen Klotz, hinter dessen Fenstern sich Dunkelheit ballte. Pia drehte sich um und stieß beinahe mit Ansgar zusammen. Erschrocken atmete sie durch. Sie hatte gar nicht gehört, dass er ihr gefolgt war.

So wie es aussah, wusste er auf alles, was im Dorf geschah, eine Antwort. Also fragte sie am besten ihn. »Gibt es hier einen Hausmeister?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Und weshalb wurde das Austragshäusel abgerissen?«

»Das weißt du nicht?«, fragte er überrascht.

»Was denn? Ich war gerade einmal fünf, als meine Adoptiveltern mit mir weggezogen sind. Dass Sonja Bachmayr meine Mutter ist, weißt du ja offenbar, denn du hast mich mit Bachmayr angesprochen.«

Ansgar nickte. »Natürlich weiß ich das. Das weiß hier jeder.«

»Und was ist nun mit dem Häusl?«

Fröstelnd rieb er die Hände aneinander. »Erkläre ich dir später. Es ist saukalt. Wir sollten zusehen, dass du ins Warme kommst. Willst du bei uns wohnen? Wir haben ein Gästezimmer.«

»Danke fürs Angebot.« Eher würde sie sich bei Oma und Opa einquartieren. Ein Bild aus dem Fotoalbum kam ihr in den Sinn. »Hier muss es noch ein Nebengebäude geben. Sonja hat es als Gästehaus hergerichtet. Steht das noch?«

»Sicher.«

»Wieso sicher? Das Austragshaus steht schließlich nicht mehr.«

Mit dem Kinn wies Ansgar Richtung Wald. »Dort hinten.«

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Vor der dunklen Silhouette des Waldrands erhob sich der Umriss eines Gebäudes, das Pia magisch anzog. »Ich übernachte dort.«

»Bettina hat offensichtlich keine Ahnung, dass du kommst, sonst wäre sie da oder hätte dafür gesorgt, dass du in Haus kannst.«

»Ein Überraschungsbesuch. Außerdem gehört das Zentrum mir. Ich werde hier für ein paar Tage wohnen.«

»Gut, wenn du meinst …«

Pia hob ihre Tasche hoch und folgte einem gekiesten Weg, der an einem Schuppen vorbei zum Häuschen führte. Weiß verputztes Mauerwerk, dunkle Holzverschalung am Giebel. Zwei Fenster, deren Läden ein wenig schief in den Angeln hingen. Dazwischen eine Tür aus Holz. Pia drückte die Klinke herunter. Sie gab nicht nach. Schade. Für eine Sekunde hatte sie gehofft, dass sie eintreten konnte, wie ein willkommener Gast. Irrtum. Sie brauchte den Schlüssel, doch sie besaß ihn nicht.

Abwartend blieb Ansgar neben ihr stehen. »Willst du einbrechen oder doch lieber das Lippert’sche Gästezimmer in Anspruch nehmen?«

Eine Ahnung, wo der Schlüssel sein könnte, stieg in ihr auf. Er war irgendwo hier versteckt. Sie wusste nicht, woher sie das wusste. Sie spürte nur, dass es so war. »Ich muss nur den Schlüssel finden.« Eine Taschenlampe wäre nicht schlecht. Da sie keine hatte, musste das anders gehen. Sie zog ihr brandneues Smartphone hervor, schaltete das Display an und leuchtete die Stufen ab. Keine Fußmatte, kein umgedrehter Blumentopf. Sie ging ums Hauseck. Der Lichtkegel erfasste einen hüfthohen Holzstoß. Kein Haken an der Wand dahinter, kein Nagel weit und breit, an dem etwas hing. Unter einem löchrigen Eimer befanden sich nur ein paar vertrocknete Blätter und in der Gießkanne eine dünne Schicht Eis. Das Licht streifte die Regenrinne und das mit Schindeln gedeckte Dach. Pia kletterte auf den Stoß und ließ ihre Finger tastend über Laub und Moos wandern, das zu eisigen Klumpen gefroren war, bis sie an ein Stück Holz stießen, an dem eine Kordel hing, und an deren Ende baumelte etwas. Der Schlüssel! Als ob dreizehn Jahre lang niemand das Häuschen betreten hatte. Dreizehn. Eine Unglückszahl. Ein böses Omen. Ein kalter Schauer lief Pia über den Rücken, wie die Ahnung nahenden Unglücks. Quatsch! Sie war nicht abergläubisch. Der Wind war kalt. Kein Wunder, dass sie fror. Ansgar hatte völlig recht. Es war Zeit, dass sie ins Warme kam. Sie sprang auf den Boden. »Ich hab ihn.«

Es knirschte und quietschte, als sie ihn im Schloss umdrehte und die Tür aufstieß. Muffige Luft schlug ihr mit einem Eishauch entgegen. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Es blieb dunkel.

Ansgar stand hinter ihr in der offenen Tür. »Sicher ist der Strom abgestellt. Im Auto habe ich eine Taschenlampe. Ich hole sie.« Seine Schritte entfernten sich. Mit dem iPhone leuchtete Pia ins Häuschen. Es war winzig, soweit sie das erkennen konnte. Ein einziges Zimmer mit einer Küchenzeile und einem Schwedenofen. An den erinnerte sie sich. An flackerndes Feuer hinter der Scheibe. Der Widerschein an den Wänden. Wieder fröstelte Pia. Sie schlang die Arme um sich und vertrieb den kalten Schauer, der sie bei dieser Erinnerung gestreift hatte. Es war ja auch wirklich lausig kalt hier drinnen.

Ansgar kehrte mit einer Stabtaschenlampe zurück. Ein Monsterteil, das sicher ein Kilo wog. »Weißt du, wo der Sicherungskasten ist?«

»Keine Ahnung.«

Ein breiter Lichtkegel tanzte durch den Raum und tauchte die erfassten Bereiche kurz in Helligkeit. »Vermutlich in der Küche.« Ansgar leuchtete in alle Ecken und Schränke und ging schließlich in die Hocke. »Ich habe ihn.« Etwas klackte. Das Licht einer Lampe ging an. Sie hing über dem Spülbecken. Offenbar hatte nur diese eine Glühbirne all die Jahre überstanden. Immerhin eine. Ihr Licht reichte aus, um sich einen Überblick zu verschaffen. Tatsächlich nur ein Raum im Erdgeschoss. Küchenzeile mit wackligem Kiefernholztisch linker Hand. Rechter Hand der Schwedenofen und davor ein altes Sofa, Schaukelstuhl und Tisch. Ein paar Regale. Bunte Flickenteppiche. Alles mit einer feinen Staubschicht bedeckt. In den Ecken hingen Spinnweben. Neben dem Küchenschrank befand sich eine weitere Tür. Sie war verschlossen. Der Schlüssel passte nicht. Pia spähte durch das kleine Fenster, das sich darin befand, hinaus in die Dunkelheit. Ein Staketenzaun war schemenhaft zu erkennen. Offenbar ein kleiner Garten. Hinter der Küche entdeckte sie ein winziges Bad. Dusche, Waschbecken, WC. Das war doch perfekt.

Vom Wohnbereich führte eine schmale Treppe nach oben zu einer Art Galerie. Dort stand unter dem Dachflächenfester ein altmodisches Bett. Eine Matratze lag darauf. Mehr nicht. Kein Kissen, keine Decke. Super! Doch das Gästezimmer der Lipperts? Unten rumorte etwas. »Ich habe den Hauptwasserhahn gefunden«, rief Ansgar.

Es war nett, dass er ihr half. Ohne ihn wäre sie jetzt ziemlich aufgeschmissen. Hauptwasserhahn. Sie hatte nicht mal gewusst, dass es so etwas gab.

»Super!«, rief sie zu ihm hinunter. Im Schrank fand sie schließlich Kissen und Decken und in der Kommode Bettwäsche. »Und ich Bettzeug.« Sie nahm es heraus. Es fühlte sich klamm und kalt an und roch so modrig, als habe es tausend Jahre in einem Burgverlies gelegen.

Die Treppenstufen knarrten. Ansgar kam nach oben. »Willst du wirklich hier wohnen?«

»Ist doch hübsch.« Sie mochte das Häuschen und konnte nicht sagen, warum. Es war kalt und feucht. Es roch wie Omas alter Keller und war dreckig. Überall Staub und Spinnweben. Doch es kam ihr so vertraut vor. Sie fühlte sich hier geborgen. Als Kind war sie bestimmt oft hier gewesen.

In den Tiefen ihres Bewusstseins formte sich ein Name, stieg auf wie eine Luftblase in einem sommerwarmen See, die schließlich an der Oberfläche zerplatzte. »Die Villa Krachmach.«

»Was?« Ansgar neigte fragend den Kopf.

»Die Villa Krachmach. So habe ich das Häuschen als Kind genannt. Hier war ich die Herrscherin. Es war mein Rückzugsort und mein Königreich. Ich war gerne hier.« Freude stieg in ihr auf, ein kleines Glück. Ein Stück ihrer Kindheit war gefunden. »Ich muss nur ein bisschen putzen, dann wird es hier schon gemütlich.«

»Ein bisschen?« Ansgar sah sich mit skeptischem Blick um. »Zuerst sollten wir einheizen, sonst erfrierst du noch, bevor du überhaupt einen Putzlappen in die Hand genommen hast. Ich hole Holz rein.« Er schnappte sich den Weidenkorb, der neben dem Ofen stand, und kehrte kurz darauf mit Fichtenscheiten und Reisig zurück.

Gemeinsam schürten sie den Schwedenofen ein. Es ging besser als gedacht. Der Abzug war frei und der Brennraum sauber. Es dauerte nicht lange, bis ein Feuer hinter der Scheibe prasselte und sich behagliche Wärme ausbreitete.

Pias Magen knurrte laut. Ansgar grinste. »An Proviant hast du anscheinend nicht gedacht.«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich am Ende des Tages hier sein würde.«

»In Wasserburg gibt es einen guten Italiener. Der macht die beste Pizza weit und breit. Da fahren wir jetzt hin. Wenn du zurückkommst, ist die Bude warm und du bist gestärkt für die Putzaktion. Deal?«

Er war echt nett. Schade, dass er eine Freundin hatte. Pia schüttelte unwillkürlich den Kopf. Was dachte sie denn da!

»Nicht?«, fragte er überrascht.

»Doch. Klingt nach einem guten Plan.«

Während der Fahrt bekam Ansgar eine Nachricht. Er sah nicht nach, von wem sie kam, und Pia war ihm echt dankbar dafür. Die Straße war kurvenreich. Es war besser, wenn er die Hände am Steuer behielt.

Irgendwo hier musste Sonja mit dem Auto gegen den Baum geknallt sein. Pia schob den Gedanken schnell wieder beiseite. »Was ist nun mit dem Austragshäusl? Du wolltest mir doch sagen, warum es abgerissen wurde.«

Wieder warf er ihr einen dieser komischen Seitenblicke zu. »Das mit deiner Mutter tut mir leid«, sagte er nach einer Weile.

In Pias Hals setzte sich ein Kloß. »Weißt du, wo der Unfall passiert ist?«

Überrascht sah er zu ihr hinüber.

»Sie ist mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Auf dem Weg von Galsterried nach Wasserburg. Also irgendwo hier.« Pia wies in die Dunkelheit.

Ansgar schüttelte den Kopf.

»Sie hatte zu wenig Fahrpraxis. Das hat jedenfalls meine Tante Kathrin gesagt. Wenn sie öfter gefahren wäre, dann wäre das vielleicht nicht passiert. Eine Sekunde nicht aufgepasst und zack, gegen den Baum geknallt, und das war es dann. Aus. Vorbei. Für immer.« Pia schluckte den Klumpen hinunter und hörte, wie Ansgar durchatmete. »Wusstest du das nicht?«

»Doch. Natürlich. Ich mach uns Musik an. Was magst du hören?«

»Hast du Kodaline?«

»A perfect world? Und ob.« Während Ansgar den MP3-Player einschaltete, wiederholte Pia ihre Frage nach dem Austragshäusl.

»Bettina wollte das so. Sie hat nach dem Tod deiner Mutter das Zentrum übernommen. Deine Tante hat sich um alles gekümmert.«

»Sie verwaltet mein Erbe, bis ich volljährig bin.«

»Ich weiß.«

Gab es irgendwas, was er nicht wusste?, fragte Pia sich.

»Bettina hat Renovierungs- und Umbaumaßnahmen zur Bedingung für die Übernahme gemacht. Mein Vater hat sie ausgeführt. Wir haben ein Bauunternehmen. Das Häuschen musste abgerissen werden. Es war … baufällig. Eine Instandsetzung hätte sich nicht gerechnet.«

Schade, dachte Pia. Es war doch noch ganz gut in Schuss gewesen. Jedenfalls hatte es auf den Fotos so ausgesehen.

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Ansgar hatte nicht zu viel versprochen. Die Pizza war sagenhaft gut. Was sicher auch daran lag, dass Pia seit dem Frühstück nichts gegessen hatte und total hungrig war.

Das Lokal war hübsch eingerichtet. Holztische mit karierten Tischdecken, auf denen Kerzen in Gläsern brannten. Aus der Küche zog der Duft von gegrilltem Fleisch und Lasagne, von Pasta und Espresso. Beinahe alle Tische waren besetzt. Gesprächsfetzen und Geschirrklappern verwoben sich zu einem dichten Geräuschteppich. Es war warm und gemütlich. Pia fühlte sich sauwohl. Auf dem Teller vor ihr lag eine Pizza mit Schinken und Champignons und Oliven. Das heißt, was davon noch übrig war. Ein kleines Stückchen, das sie in den Mund schob, während sie Ansgar zuhörte, der erzählte, dass er in München Architektur studierte und nur während der Semesterferien in Wasserburg bei seinen Eltern war. Er verdiente sich etwas dazu, indem er in der Firma aushalf, zu der neben dem Bauunternehmen auch ein Baustoffhandel gehörte. Eines Tages würde er den Betrieb übernehmen, den sein Großvater nach dem Krieg aufgebaut hatte. Ein echtes Familienunternehmen, dann in dritter Generation.

Pia erkundigte sich, wie es ihrem Kindergartenfreund Florian ging, und erfuhr, dass er eine Lehre als Heizungsbauer in Mühldorf machte. Dort lebte er mit seiner Freundin zusammen.

Natürlich wollte Ansgar wissen, was sie so machte. Pia erzählte von der Schule und kam so auf das Internat, in das Kathrin sie gegen ihren Willen stecken wollte, und damit war sie bei der Trennung ihrer Eltern angelangt, die eigentlich Tante und Onkel waren. »Alles ein wenig kompliziert.«

Um Ansgars Mund legte sich ein ernster Zug. »Das muss eine schlimme Zeit für dich sein. Ich kenne das. Meine Mutter ist ausgezogen, da war ich acht und der Florian erst fünf. Das war kurz nachdem …« Er unterbrach sich. »Kurz nach der Sache mit deiner Mutter. Du kannst dich wirklich nicht daran erinnern?«

Ein Schatten legte sich über die unbeschwerte Stimmung. Pia schluckte. »Ich war ja noch so klein. Ich weiß nur, was Kathrin mir erzählt hat. Das Auto hat Feuer gefangen, nachdem es gegen den Baum geschleudert war. Sie konnte mich gerade noch herausziehen. Sonst wäre ich mit meiner Mutter verbrannt.« Sie wollte sich das nicht vorstellen. »Aber ich habe oft Albträume von Feuer. Die kommen wohl daher.«

»Entschuldige. Ich hätte wohl besser den Mund gehalten.«

»Ist schon okay.«

Wieder gab sein Handy den Signalton von sich, der den Eingang einer Nachricht signalisierte. Er zog es hervor und las sie lächelnd. Sicher von Amelie. Wenn er mich mal so anlächeln würde … Hallo! Ging es noch, rief sie sich zur Ordnung. Niemand lächelte sie so an, und wenn doch, dann meinte er nicht sie. Ansgar war einfach nur nett. Und er war mit Amelie zusammen.

Die schöne Stimmung kehrte nicht wieder. Nach dem Essen fuhr Ansgar sie zurück, obwohl sie sagte, dass sie auch laufen konnte. »Du hast mich heute schon genug durch die Gegend gefahren. Es sind nur zwei Kilometer, wenn ich am Inn entlanggehe.«

»Spinnst du? Es ist stockfinster und der Weg führt durch den Wald. Ich fahre dich.« Er klang ärgerlich, beinahe wütend, jedenfalls nicht so, als würde er sich vom Gegenteil überzeugen lassen. Plötzlich war er wieder der dunkle, geheimnisvolle Prinz, den Pia sofort in ihm gesehen hatte.

Während der Fahrt schwieg Ansgar. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Er fuhr sie bis vors Häuschen und stieg sogar aus, um Pia zur Tür zu begleiten. »Ist dir das nicht zu unheimlich, hier so ganz allein? Die nächsten Nachbarn sind dreihundert Meter entfernt.«

Tapfer schüttelte Pia den Kopf, obwohl sie gerade etwas Ähnliches gedacht hatte. Das war die Villa Krachmach. Ein Ort, den sie als Kind geliebt hatte. Hier würde ihr nichts geschehen. Für einen Moment erschien ihr dieser Gedanke geradezu lächerlich, wie Mut machendes Pfeifen im Dunkeln. »Ich komme schon klar.«

»Okay. Wie du meinst. Du bist ein Sturschädel.« Er schob die Hände in die Jackentaschen. »Pass auf dich auf, ja? Und wenn du etwas brauchst, dann rufe mich an.« Er gab ihr seine Handynummer und sie ihm ihre.

»Danke. Auch für deine Hilfe.« Die Bemerkung, dass erst seine Unterstützung es ihr ermöglicht hatte, ihren Sturschädel durchzusetzen, verkniff sie sich.

Zögernd wandte er sich zum Gehen und drehte sich dann doch noch einmal um. »Was willst du eigentlich hier?« Die Frage kam so spontan und unverblümt und beinahe aggressiv, dass sie Pia völlig überraschte. »Herausfinden, wer mein Vater ist.« Den Rest behielt sie für sich. Es ging ihn nichts an. »Du weißt doch eh so viel über mich und meine Familie. Vielleicht auch das.« Es hatte scherzhaft klingen sollen, doch sie hörte selbst, wie verärgert sie klang.

»Ne, leider nicht. So allwissend, wie du denkst, bin ich nun auch nicht.« Ein breites Lächeln zog über sein Gesicht. Er wirkte beinahe erleichtert. Wieso denn? Was hatte er denn befürchtet?

Zum Abschied hob er die Hand. »Gute Nacht. Und wie gesagt, wenn du was brauchst …«

»Dann melde ich mich.« Pia sah ihm nach, bis die Rücklichter seines Wagens um die Kurve verschwanden.

Im Häuschen war es inzwischen gemütlich warm geworden. Das Feuer im Ofen war bis auf die Glut heruntergebrannt. Pia legte zwei Scheite nach. Züngelnde Flammen begannen, daran zu lecken. Ein kalter Schauer erfasste sie. Dieser Ofen … Sie musste darauf achten, dass sie ihn immer gut schloss.

Von der Galerie holte sie das klamme Bettzeug. Sie wollte es auf dem Sofa ausbreiten, damit es ein wenig warm wurde. Doch erst musste sie die über allem liegende Staubschicht irgendwie beseitigen.

Gab es hier einen Besen? Suchend sah sie sich um und entdeckte eine Tür unter der Treppe, die zu einem Wandschrank führte. Darin befand sich neben einigen Putzutensilien auch ein Staubsauger. Pia machte sich ans Werk. Eine Stunde später war das Häuschen einigermaßen sauber. Das Feuer prasselte im Ofen, das Bettzeug wärmte auf dem Sofa. Es war schon nach neun. Höchste Zeit, sich mal bei Tami zu rühren.

Sie zog den Schaukelstuhl vor den Ofen, das iPhone aus der Hosentasche und rief Tami an. Sie meldete sich sofort. »Ich wollte dir grad eine WhatsApp schicken, ob du im Inntal verschollen bist.«

»Ne, eher in einer Staubwüste.« Pia erzählte ihr vom Häuschen und von der Zugfahrt, von Amelie und dem missverständlichen Lächeln, mit dem sie sich Ansgars Freundin ungewollt zur Feindin gemacht hatte, und von Ansgar, dem großen Bruder ihres Kindergartenkumpels Florian, der sie nach Galsterried gefahren und ihr geholfen hatte, die Villa Krachmach bewohnbar zu machen.

»Und die Freundin deiner Mutter, diese Bettina, ist gar nicht da?«, fragte Tami. »Weißt du, wann sie zurückkommt?«

»Das werde ich morgen in Erfahrung bringen.«

»Hoffentlich nicht erst, wenn die Ferien um sind. Du brauchst einen Plan B für diesen Fall. Wen könntest du außer Bettina fragen? Vielleicht deine Großeltern.«

»Ich glaube nicht, dass sie es wissen. Sonja hat ein Geheimnis aus meinem Vater gemacht. Wenn sie es überhaupt jemandem erzählt hat, dann bestimmt nur ihrer allerbesten Freundin.«

»Und dieser Ansgar ist hoffentlich nicht nur nett. Sieht er gut aus?«

»Was du wieder denkst. Er ist mit Amelie zusammen.«

»Aber er wäre ganz dein Typ, oder?«

»Quatsch. Ich stehe auf keinen bestimmten Typ. Aber ja, er sieht gut aus. Und trotzdem … Irgendwie ist er seltsam.«

»Wie? Seltsam? Hoffentlich kein potenzieller Kettensägenmörder?«

Pia konnte das Grinsen beinahe sehen, das sich bei dieser Frage auf Tamis Gesicht ausbreitete. »Er hat gefragt, was ich hier will. Nicht auf die Art, wie man eine solche Frage normalerweise stellt. Eher so, als ob er etwas befürchtet. Oder als ob er es besser fände, wenn ich hier nicht aufgekreuzt wäre und am besten gleich wieder verschwinden würde.«

»Das hat er gesagt?«

»Nein. Nicht gesagt. Aber gemeint.«

»Bist du sicher? Ich meine, er hat nur gefragt, was du in Galsterried willst.«

Vielleicht hatte Tami ja recht und sie interpretierte zu viel in diese Frage hinein. Doch die Art, wie er sie gestellt hatte, ließ Pia zweifeln. Ein wenig zögernd, als ob er eigentlich nicht fragen wollte und ihn eine geheime Macht dazu zwang, und ein wenig aggressiv, als sei er wütend. Auf wen? Auf sich selbst? Oder auf Pia, die einfach hier aufgetaucht war?

Sie wechselte das Thema und kam auf den Tiefschneekurs zu sprechen. Morgen früh ging es los. Drei Stunden Busfahrt. Tami hoffte, dass ihr dabei ausnahmsweise einmal nicht schlecht wurde. Mit Grausen malte sie sich aus, wie sie in eine Tüte kotzte. Das würde Tobi total abturnen. Für immer und ewig. »Sag mal, ist es nicht grandios dämlich von mir, eine solche Tortur auf mich zu nehmen, nur weil Tobi so sweet ist?«

»Total dämlich«, pflichtete Pia ihr bei und wünschte Tami eine gute Fahrt und heile Knochen und Erfolg beim Unternehmen Tobi. Als sie sich nach über einer Stunde verabschiedeten, war der Akku fast leer war.

Pia zog das Ladekabel aus dem Rucksack und stöpselte das Handy an. Im Ofen knackten die Scheite. Die Fensterläden klapperten. Der Wind war stärker geworden. Wenn das die ganze Nacht so ging, würde sie kein Auge zutun. Pia zog die Läden zu und legte die Riegel davor. Das half.

Im Häuschen war es ruhig. Eine Stille, wie Pia sie nicht kannte. Sie war gewohnt, ständig Geräusche um sich zu haben. Verkehrslärm, der von der Straße nach oben drang. Das Summen des Fahrstuhls. Schritte im Treppenhaus. Das Geknister und Geraschel in der Wohnung. Spülmaschine, Fernseher, Kathrin und Paul, die sich unterhielten. Doch hier war nichts zu hören. Bis auf das leise Knacken des Feuers im Ofen und ihr Atem. Es war eine beängstigende Stille, die sich um sie legte. Zu dumm, dass sie die neuen Kopfhörer von Opi vergessen hatte. Die lagen noch daheim in ihrem Zimmer. Pia holte den Laptop hervor. Der Sound war zwar etwas blechern, aber besser als nichts. Sie startete in iTunes eine Wiedergabeliste mit Jake-Bugg-Songs und bereitete der Ruhe ein Ende.

Kurz vor elf nahm sie das Bettzeug vom Sofa und bezog das Bett. Aus der Reisetasche holte sie die Waschsachen und ging ins Bad. Jetzt eine heiße Dusche, dann würde sie gut schlafen. Auch ohne ihren obligatorischen Chai-Tee. Den hatte sie vergessen. Morgen musste sie als Erstes einkaufen gehen.

Aus dem Hahn kam nur eiskaltes Wasser. Es wurde auch nicht wärmer, als Pia es eine Weile laufen ließ. Irgendwo musste hier ein Boiler sein. Sie suchte und fand ihn nicht. Also gut, dann keine Dusche. Pia sperrte die Haustür ab, löschte das Licht und schrieb in Gedanken Glühbirnen auf die Einkaufsliste. Mit dem Handy leuchtete sie die Treppenstufen hinauf und schlüpfte ins Bett. Ein wenig klamm waren Decke und Kissen noch immer und auch der muffige Geruch hatte sich so schnell nicht vertreiben lassen.

Dunkelheit und Stille füllten das Häuschen bis in den letzten Winkel. Nur die Glut im Kaminofen spendete ein diffuses Licht. Die Einsamkeit griff mit kalter Hand nach ihr. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt.