24. Dezember

Pia Winter wurde vom Rauschen des Regens geweckt, den der Wind gegen die Fenster trieb und an den Scheiben hinablaufen ließ, bis er schließlich auf das Fensterblech der Altbauwohnung in München-Haidhausen tropfte. Tock, tock, tock.

Blinzelnd hangelte sie nach dem Handy. Erst Viertel nach acht. Ein wenig konnte sie noch liegen bleiben. Sie kuschelte sich wieder unter die warme Bettdecke. Endlich Ferien!

Eine Böe klatschte die nächste Ladung Wasser gegen die Fenster. Tock, tock, tock. Weiße Weihnachten fiel aus. Definitiv. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn es doch noch Schnee gegeben hätte. Das Sahnehäubchen auf Mams Bemühungen, die perfekten Feiertage hinzukriegen. Die Wohnung der Familie Winter war total durchgestylt, als könnte jederzeit ein Trupp Redakteure einer Wohnzeitschrift für eine Reportage einmarschieren. Überschrift: Makellose Festtage bei den Winters! Jedenfalls was die Oberfläche betraf.

Das Handy fiepte. Eine WhatsApp ging ein. Seufzend setzte Pia sich auf und sah nach, von wem sie kam. Von Tami, ihrer besten Freundin. Genau genommen ihrer einzigen Freundin. Das war einfach so. Sie war keine, die einen Hofstaat als Gefolge brauchte. Für Pia war es okay, so wie es war. Sie war nun mal eine Einzelgängerin, eine, die lieber am Rand stand und nicht im Mittelpunkt. Lieber Beobachterin als jemand, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie hatte kein Problem damit.

Skypen?

Pia wuzelte sich aus dem Bett, holte den Laptop vom Schreibtisch und startete Skype, bevor sie sich in den Sitzsack fallen ließ. Sicher hatte Tami Stress mit ihrer Mutter, weil es gestern so spät geworden war. Nach dem Kino waren sie noch in einen Club gegangen und erst gegen eins heimgekommen. Entschieden zu spät selbst für beinahe Siebzehnjährige und zwei Stunden über der vereinbarten Zeit.

Tamis Gesicht erschien auf dem Monitor. Die schwarzen Locken waren vom Schlaf total verstrubbelt, in ihren Koboldaugen tanzten jedoch bereits freche Funken. »Moin, moin Pia. Alles gut?« Tami stammte aus Cuxhaven und würde das Moin, moin nie gegen ein Grüß dich oder Servus eintauschen.

»Bei mir schon, und bei dir? Hat deine Mam die Verspätung überlebt?«

Tami rollte die Augen. »Kaum war ich zur Tür rein, hat sie mich in Grund und Boden gebrüllt. Total hysterisch. Und dann hat sie mich abgeknutscht wie verrückt und dabei fast geheult. Ich sag dir, das war echt gruslig. Als sie wieder bei klarem Verstand war, gab es eine Predigt. Ich soll mich gefälligst an die Regeln halten und dass sie mir das Handy wegnimmt, wenn ich noch einmal wage, es auszuschalten.«

»Ist ja irgendwie verständlich.«

»Ich will diese elektronische Hundeleine aber nicht ständig anhaben. Es reicht, wenn die NSA uns überwacht, da müssen es die eigenen Eltern nicht auch noch tun. Als ich ihr das erklärt habe, ist sie erst recht ausgetickt. So kenne ich sie gar nicht. Sie sich auch nicht«, fügte Tami grinsend hinzu. »Das hat sie später immerhin zugegeben. Sie hatte Angst, mir könnte was passiert sein, und war schon kurz davor, alle Krankenhäuser abzutelefonieren. Fehlt nur noch, dass sie zur Polizei gerannt wäre. Mütter eben! Warum können die nicht ein bisschen entspannter sein?«

»Meine Eltern waren total entspannt. Wie immer.«

»Wollen wir nicht mal für ein paar Wochen tauschen?«

»Warum nicht?« Pia lachte, doch für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie es ernst. Es wäre schön, wenn sich mal jemand Sorgen um sie machen würde.

Irgendwie kriegten ihre Eltern es nicht hin, ihre Gefühle zu zeigen. Paps noch eher als Mam. Immer waren sie sachlich und distanziert. Total abgeklärt. Sogar wenn es mal Zoff gab, lief das zivilisiert ab. War doch eigentlich gut so. Oder sehnte sie sich etwa nach Geschrei, Türknallen und Tränen? Ganz sicher nicht.

»Okay. Ich nehme dich beim Wort«, sagte Tami. »Noch so ein Auftritt und ich ziehe für ein paar Tage bei euch ein. Hast du am Nachmittag Zeit für unsere Bescherung?«

»Aber sicher!« Sie verabredeten sich für drei Uhr in ihrem Lieblingscafé, dem Mozart. Pia klappte den Laptop zu und kroch wieder ins Bett. Noch ein wenig dösen. Doch es gelang ihr nicht. Etwas lag ihr quer im Magen. Weihnachten. Eigentlich hatte sie keine Lust darauf.

Als Kind hatte sie sich natürlich nicht vorstellen können, dass sie Weihnachten einmal am liebsten verschlafen würde. Doch in den letzten Jahren war dieses Fest immer ätzender geworden und vor allem immer durchgestylter. Wenn die Feiertage nur schon vorüber wären.

Alles würde perfekt sein. Wie immer. Der Baum toll geschmückt. Das Essen aufwendig und ausgefallen. Die Geschenke teuer und schön verpackt. Nur ein Fest der Liebe würde es nicht werden. War es eigentlich noch nie gewesen. Denn wenn eines fehlte in dieser vollkommenen Familie in ihrer vollkommenen Wohnung, dann Liebe. So kam es Pia jedenfalls oft vor. Sie existierte nur an der Oberfläche. Freundliche Worte, die eigentlich Floskeln waren und Gleichgültigkeit kaschierten; herzliches Lächeln, dem man bei genauerer Betrachtung, das Bemühen ansah. Nach außen stimmte alles, doch innen drinnen fehlte etwas. Schon immer. Wie bei einer Schüssel mit Sprung, die einen falschen Klang hatte.

Plötzlich fröstelte Pia und zog die Decke enger um sich. Es lag an ihr. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ein Tabu umgab sie. Schon ihr Leben lang. Ein dunkler Schatten, der in einer Ecke lauerte und sich anschlich, wenn sie nicht aufpasste. So wie jetzt.

Hallo! Was dachte sie denn da? So schlimm war Weihnachten nun auch nicht, dass sie derart trübe Gedanken wälzen musste. Ging es noch! Sie warf die Decke von sich und stand auf. Es war Zeit, ins Bad zu gehen. Um neun Uhr gab es das Weihnachtsfrühstück, und das durfte man nach Mams Regeln nicht im Schlafanzug zu sich nehmen. In der Wohnung roch es bereits nach Kaffee, Zimt und Kardamom. Mam hatte Rosinenbrötchen gebacken. Lecker! Superlecker!

Der alte Parkettboden knarrte unter ihren Füßen. Im Flur begegnete ihr Paps. Er trug Cordhosen und einen lässigen Pulli und erinnerte Pia wieder einmal an einen gemütlichen Bären. Saloppe Kleidung stand ihm viel besser als die Anzüge, die er in der Firma tragen musste. »Na, schon ausgeschlafen, obwohl die Nacht so kurz war?«, fragte er mit einem Augenzwinkern. Das Lächeln blieb allerdings auf halber Strecke stecken, als ob ihn etwas bedrückte.

»Aber sicher.«

Aus der Küche klang das Rattern der Saftpresse. Pia ging ins Bad. Von blonden Wimpern eingerahmte blaue Augen blickten ihr aus dem Spiegel entgegen. Eine Milliarde Sommersprossen auf der blassen Haut, dazu kupferrote Locken, die sich derart wild kringelten, dass sie ihren Kopf wie eine windzerzauste Wolke umgaben. Das Einzige, das an ihr hübsch war, war ihr Mund. Schön geschwungene volle Lippen und eine schmale Nase, die etwas geradezu Aristokratisches gehabt hätte, wenn ihre Spitze sich nicht nach oben biegen und Pia so einen kecken Ausdruck verleihen würde. Eine glatte Lüge, denn sie war weder keck noch wortgewandt oder witzig. Eher zurückhaltend und schüchtern.

Nach dem Duschen griff sie zum Kamm, um die Locken zu bändigen. Eigentlich mochte sie die Farbe, auch wenn sie damit auffiel wie ein Feuermelder. Fuchsrot nannte Oma sie manchmal. Du bist ein Fuchserl. Diese Bemerkung fiel ihr plötzlich wieder ein. Sie legte den Kamm beiseite und sah ihr Spiegelbild forschend an. Plötzlich war das Gefühl wieder da, nicht dazuzugehören, anders zu sein. Und das lag sicher nicht an ihrer Haarfarbe. Der dunkle Schatten wartete lauernd in der Ecke.

»Pia, wo bleibst du? Frühstück ist fertig!«, rief Mam aus der Küche.

»Komme gleich.« Sie atmete durch und verscheuchte den Schatten. Was war heute nur los mit ihr? Es war Weihnachten und nicht Halloween, wirklich nicht die passende Zeit für unheimliche Gedanken.

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Ihre Eltern saßen bereits am Tisch. Alle Kerzen am Adventsgesteck brannten, ebenso zahllose Teelichter in weihnachtlich dekorierten Halterungen. Es duftete nach Kaffee und Pias Chai-Tee, nach Croissants und Stollen, nach Honig und Rosinenbrötchen. Die Gläser waren mit frisch gepresstem Orangensaft gefüllt und eine Schale mit Sternenfrucht und Ananas. Wie im Luxushotel. Einfach perfekt. Warum machte Mam sich derart viel Arbeit?

Mit Block und Stift saß sie an ihrem Platz am Fenster, gegen das der Regen trommelte, und sah hoch, als Pia eintrat. »Was für ein Wetter. Und das an Weihnachten. Ostern sitzen wir dann wieder im Schnee.«

»Der Wetterbericht kündigt für morgen leichten Schneefall an«, erwiderte Paps mit einem Blick auf sein iPad.

Mam wandte sich wieder ihren Notizen zu. Bestimmt legte sie eine ihrer To-do-Listen an, in denen sie festhielt, was zu erledigen war und wie sie es am sinnvollsten auf die Reihe bekam. Der Stift wippte zwischen ihren schmalen Fingern. Wenn Paps ein kuscheliger Bär war, was war dann Mam? Ein fleißiges Eichhörnchen? Bei diesem Gedanken musste Pia lächeln. Die rotbraunen Haare waren zu einem modisch gestuften Bob geschnitten. Sie war schlank und drahtig vom Judo. Auch darin war sie perfekt und sogar einmal bayerische Meisterin in ihrer Altersklasse gewesen. Vor allem aber war sie flink und effektiv. Pia setzte sich. Ihre Mam sah gut aus. Niemand würde denken, dass sie bereits dreiundfünfzig war. Lediglich dieser Zug um die Mundwinkel, der sich im Laufe der Jahre dort eingegraben hatte, wies auf ihr Alter hin.

Paps hatte das iPad neben sich liegen und las die aktuellen Nachrichten. Sein dunkles Haar wurde langsam licht und von grauen Fäden durchzogen. Seit Kurzem brauchte er zum Lesen eine Brille, die er nun auf die Stirn schob. »Hilfst du mir nachher beim Baumschmücken?«

»Natürlich. Das ist doch Tradition.« Solange Pia denken konnte, hatte sie ihm dabei geholfen. Laut Mam hatte das an einem ebenso verregneten Weihnachtstag begonnen wie dem heutigen. Pia musste vier oder fünf gewesen sein. Es hatte aus Kübeln gegossen. Unmöglich, einen Spaziergang zu machen, damit Paps den Baum heimlich dekorieren konnte. Er hatte es dennoch versucht. Bis Pia Mams Bewachung entkommen war und ihn dabei erwischt hatte. Seither durfte sie ihm helfen. Ein Privileg, das endlich weihnachtliche Gefühle in ihr weckte, genau wie der Duft der Rosinenbrötchen, die es nur an Weihnachten gab. Sie waren noch warm.

Mam legte den Stift beiseite. »Gut geschlafen?«, fragte sie, doch ihr Blick ging durch Pia hindurch. Sicher war sie mit ihren Gedanken bei den restlichen Vorbereitungen für diesen Tag. Pia konnte es nicht lassen. Ein kleiner Test, wie viel Aufmerksamkeit tatsächlich ihr galt. »Danke. Ich hatte einen Albtraum«, erwiderte sie so leichthin, als ob sie das Gegenteil sagte.

»Wie schön«, antwortete Mam gedankenverloren. »Hoffentlich ist die Lachsterrine über Nacht fest geworden, sonst haben wir morgen ein Problem mit der Vorspeise.«

War das nun komisch oder tragisch? Pia versuchte, es mit Humor zu nehmen. Ihre Mutter war häufig so. Zerstreut. Abgelenkt. Mit ihren Gedanken ganz woanders. Ob sie sich in ihrem Job auch so verhielt? Wohl eher nicht. Sie war Grundschullehrerin. Da musste sie voll bei der Sache sein, sonst würden ihr die Kiddies auf der Nase herumtanzen. Und niemand tanzte Mam auf der Nase herum.

Pia bestrich ein Rosinenbrötchen mit Nutella und trank dazu ihren heiß geliebten Chai-Tee, während sie den Blick weiter durch die Küche wandern ließ. Edel ramponierter Landhausstil, den Mam mit reichlich Deko auf Weihnachten gestylt hatte. Überall stand etwas herum. Rot lackierte Elche aus Holz auf dem Fensterbrett. Christbaumkugeln in hohen Gläsern. Kerzenleuchter und Windlichter auf Tisch, Fensterbrett und der Kommode. Kissen mit Weihnachtsmotiven auf der Bank unter dem Fenster. In dieser Menge war das echt too much. Die Küche sah aus wie ein Laden für Weihnachtsdeko.

Pia nahm sich noch ein Rosinenbrötchen, als ihr die Stille auffiel, die zwischen ihren Eltern herrschte. Eine kühle Stille. Sie ließ ihren Blick zwischen den beiden pendeln. Etwas hing unausgesprochen in der Luft. Hatten ihre Eltern wieder einmal Stress? Vermutlich ging es um das Urlaubsziel. Mam wollte in den Osterferien in die Toskana, Paps an die Nordsee. Wie sollte da ein Kompromiss aussehen?

Nach dem Frühstück verschwand Pia in ihr Zimmer und verpackte die Mütze für Tami. Die hatte sie selbst gestrickt. Anschließend half sie Paps beim Baumschmücken. Wie jedes Jahr schob er die CD mit kitschigen Weihnachtsliedern in den Player. Doch diesmal sang er nicht mit, wie er es sonst tat. Ihr Eindruck hatte sie also nicht getäuscht. Es herrschte dicke Luft zwischen ihren Eltern. Die gedrückte Stimmung übertrug sich auf sie. Frohe Weihnachten! Echt jetzt!

Paps’ Blackberry fiepte. Immer war er für die Firma erreichbar. Mam hasste das. In diesem Moment konnte Pia sie gut verstehen. Konnte er nicht mal an Weihnachten ein Privatleben haben? Als Leiter eines auf Sicherheitssoftware spezialisierten Unternehmens offenbar nicht. Denn er zog das Teil sofort aus der Tasche und beantwortete die SMS.

Pia hatte keine Lust mehr und verließ das Wohnzimmer. Sie waren ohnehin fast fertig. Die Christbaumspitze konnte Paps auch ohne sie aufstecken.

Die Stimmung besserte sich auch beim Mittagessen nicht. Mehr oder weniger schweigend aßen sie Weißwürste mit süßem Senf. Pia war froh, als sie sich endlich auf den Weg machen konnte, um Tami im Mozart zu treffen.

Es regnete noch immer, aber nicht mehr so heftig. Am Haus gegenüber erklomm seit Wochen ein mannsgroßer Nikolaus aus Stoff und Plastik die Hausfassade, ohne auch nur einen Zentimeter vorangekommen zu sein. Heute hing er pitschnass und schlaff im Seil, wie erhängt. Auf der Rolltreppe zum S-Bahnhof Rosenheimer Platz kam ihr ein grölender Penner entgegen. Last Christmas I gave you my heart. Über dem Weihnachtsmarkt am Sendlinger-Tor-Platz schwebte eine Duftmischung aus gebrannten Mandeln und Bratwürsten. Während ein paar Passanten noch Maroni und Lebkuchen aßen, begannen die Standbesitzer bereits, ihre Buden dichtzumachen. Die Mülleimer quollen von ketchupverschmierten Papptellern und Plastikbechern über, aus denen Glühweinreste in die Pfützen tropften. In Pias Kehle rutschte ein Klumpen Schritt für Schritt tiefer. Ihre Laune war nahe null, als sie das Café Mozart betrat.

Darin war es gemütlich warm. Ein Song von Jake Bugg schlug ihr entgegen. Pia musste grinsen. Morning, it’s another pure grey morning. Wie passend! An ihrem Lieblingsplatz in der Ecke saß bereits Tami und winkte. »Moin, moin, Pia. Ich habe schon einen Chai-Tee für dich mitbestellt. War doch okay?«

»Super. Ohne den bin ich nicht lebensfähig.« Sie umarmten sich und wünschten sich frohe Weihnachten. Pia reichte Tami ihr Geschenk. »Aber erst heute Abend auspacken.«

»Klar doch. Das Gleiche gilt für dich.« Mit diesen Worten drückte Tami ihr ein Päckchen in die Hand. »Merry XMas, Pia. Das ist von mir. Und das ist von meiner Mutter.« Eine Dose mit Weihnachtsgebäck landete auf dem Tisch. »Drei Millionen Kalorien. Mindestens. Aber du kannst es dir ja leisten. Sag mal, bist du schlecht drauf? Alles in Unordnung bei euch daheim?«

»Zwischen meinen Eltern herrscht anscheinend dicke Luft.«

»Ups.« Tami verzog den Mund. »Und das ausgerechnet an Weihnachten. Sollen wir dir Asyl gewähren?« Die Brauen zogen sich runzelnd zusammen, bis sie Wellen schlugen, während Tami das Kinn in die Hand stützte und sie abwartend ansah.

»Das passt schon. Zur Not kann ich mir ja ein halbes Dutzend Bollywood-Blockbuster runterladen und die Keksdose leer futtern, bis Weihnachten vorüber ist.«

Die Bedienung brachte die Getränke und kassierte gleich ab. Das Café schloss in einer halben Stunde. Alle wollten nach Hause zu ihren Lieben.

»Woran liegt es?«, fragte Tami.

»Vermutlich am Urlaubsziel. Die beiden streiten ja nicht. Jedenfalls nicht, wenn ich dabei bin. Und vermutlich auch nicht, wenn sie allein sind. Wenn es mal einen Schlagabtausch gibt, dann nur mit wohlgesetzten Worten. Die fressen alles in sich hinein, bis sie eines Tages platzen.« Erst jetzt merkte Pia, wie wütend sie auf die beiden war. Mussten sie mit ihrem stillen Kleinkrieg wirklich die Feiertage versauen? »Wenn es so weit ist, dann ist es sicher besser, wenn ich nicht da bin. Aber jetzt lassen wir das Thema. Schließlich ist Weihnachten. Das Fest der Liebe. Apropos Liebe …?« Nun war sie diejenige, die das Kinn in die Handfläche stützte und Tami abwartend ansah.

Tami schwärmte für Tobias aus der 12 c, was eigentlich nicht zu übersehen war. Nur Tobi war der Einzige, der das noch nicht mitgekriegt hatte. Auch nicht, seit Tami im selben Snowboardverein war wie er. Man musste wirklich kein Kriminalist sein, um zu kapieren, warum sie sich plötzlich derart fürs Snowboarden interessierte.

Tamis Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Von Silvester bis zum Dreikönigstag veranstaltet der Verein einen Tiefschneekurs in Tirol. Rate mal, wer den letzten Platz ergattert hat?«

»Hm?« Pia tat so, als müsste sie nachdenken. »Du etwa?«

»Logisch. Aber jetzt brauche ich noch tausend Sachen. Vor allem ein Snowboard. Vielleicht leiht mir meine Cousine ihres.« Tami hatte noch nie auf einem Snowboard gestanden, geschweige denn einen Kurs besucht. Cuxhaven war so eben wie ein Brett und selten schneereicher als die Sahara. Der Tiefschneekurs war für Fortgeschrittene, doch Tami traute sich das zu. »Mehr als hinfallen kann ich nicht. Und wenn, dann falle ich in weichen Pulverschnee.«

Sie war nun mal durch und durch Optimistin. Knochenbrüche, Sehnenzerrungen und ausgerenkte Gliedmaßen gab es in Tamis Fantasie nicht. Sie traute sich echt was und Pia bewunderte sie dafür. Mut und Selbstvertrauen zählten nicht zu ihren Stärken. »Und bei dir so?«, fragte Tami.

Pia verstand nicht, was sie meinte.

»Na, du bist beinahe siebzehn. Und du lebst wie eine Nonne, seit dieser Geschichte mit Sebastian, die ja längst verjährt ist.«

Pia hatte keine Lust auf dieses Thema. Schon gar nicht heute. Sie lenkte ab. »An meinem Geburtstag bist du dann ja auf der Hütte in Tirol.«

»Stimmt! Daran habe ich gar nicht gedacht.« Tami guckte echt bestürzt. »Schlimm?«

»Nicht wirklich. Wir feiern einfach später.«

Bevor die Bedienung sie kurz vor vier rauskehren musste, gingen sie freiwillig. Am Marienplatz verabschiedete Pia sich von Tami, die auf der Rolltreppe runter zur U-Bahn fuhr. Pia musste zur S-Bahn. Während sie am Bahnsteig wartete, begann ihr kleiner Zeh zu jucken. Das tat er vor allem, wenn ein Wetterwechsel anstand. So wie er kribbelte, würde es doch noch weiße Weihnachten geben. Er juckte wie verrückt, obwohl er vor einer Ewigkeit amputiert worden war. Es machte sie ganz kirre, sodass sie sich auf eine Bank setzte, den Stiefel auszog und den Fuß massierte. Ganz schön crazy, einen nicht vorhandenen Zeh zu kratzen.

Sie war erst vier gewesen, als sie mit dem Fuß in die Fahrradspeichen gekommen war und sich so schlimm verletzt hatte, dass der Zeh nicht heilte und schließlich abgenommen werden musste. Seltsam war nur, dass sie sich daran überhaupt nicht erinnern konnte. Angeblich reichten Erinnerungen nicht so weit zurück. Doch Tami wusste noch genau, wie ihr wunderschöner Papageienluftballon davongeflogen war, den ihr Vater ihr auf einem Volksfest gekauft hatte. Ein traumatisches Erlebnis. Sie war damals auch erst vier gewesen und ein amputierter Zeh war ja wohl traumatischer als ein davongeflogener Luftballon.

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Als Pia nach Hause kam, roch es in der Wohnung wie in einem Gourmettempel. Bei Tami gab es an Heiligabend immer Würstchen mit Kartoffelsalat. Groß aufgekocht wurde erst an den Feiertagen. Bei den Winters wurde schon am Vierundzwanzigsten ein mehrgängiges Menü serviert. Mam musste den ganzen Tag in der Küche verbracht haben. Kochen war ihre große Leidenschaft. Heute war es sicher auch eine gute Möglichkeit, Paps aus dem Weg zu gehen.

Pia sah in die Küche und sagte Bescheid, dass sie wieder da war. Ihre Mutter pulte die fruchtigen Kerne aus einem Granatapfel und wies darauf hin, dass der Gottesdienst um sechs begann. Sie wollte rechtzeitig da sein, um auch einen Platz zu bekommen.

Auf die Weihnachtsmesse hatte Pia ungefähr so viel Lust, wie den Mont Everest zu besteigen. Doch sie wollte die schlechte Stimmung nicht mit Widerworten anfachen. Am Ende musste sie ohnehin mit. Also fügte sie sich. Auf dem Weg in ihr Zimmer kam sie am Wohnzimmer vorbei. Der Baum stand zwischen den beiden Fenstern. Er war schön. Wenn auch ein wenig abweisend, wie vom Polarkreis importiert, so ganz in Weiß und Silber. Auf dem Sofa saß Paps und hörte eine seiner Jazz-CDs. Lächelnd schrieb er eine SMS. Vielleicht war der Streit ja beigelegt. Erleichtert ging Pia in ihr Zimmer, legte Tamis Geschenk auf den Schreibtisch und suchte aus der Dose mit den Weihnachtsplätzchen einen Stern mit rosa Zuckerguss und Cremefüllung heraus. Während sie ihn futterte, überlegte sie, was sie anziehen sollte. Jeans und Weihnachtsgottesdienst waren Mams Meinung nach nicht kompatibel. Sollte sie das Kleid anziehen, das Mam vor drei Wochen für sie gekauft hatte? Ein kleines Schwarzes kann man immer brauchen. Damit bist du nie verkehrt angezogen. Never! Das war eher etwas für Beerdigungen. Schließlich entschied sie sich für die neue senfgelbe Chino, dazu eine weiße Bluse und darüber den petrolfarbenen Pulli mit V-Ausschnitt. Sah ganz schön farbenprächtig aus in Kombination mit ihren roten Haaren.

Kurz vor halb sechs drängte Mam zum Aufbruch. Paps kam aus dem Schlafzimmer getrottet. Cordhose, Pulli. Großer Irrtum, dachte Pia. Der Streit war noch nicht vorbei. Mam musterte Paps mit einem abschätzigen Blick, hielt aber Gott sei Dank den Mund.

Die Kirche war schon beinahe voll, als sie kamen. In einer der hinteren Bankreihen fanden sie noch Plätze. Wider Erwarten wurde es Pia während der Messe ganz weihnachtlich ums Herz. Die feierliche Musik, der mit Äpfeln und Strohsternen geschmückte Baum und der Chorgesang versetzten sie in eine erwartungsfrohe Stimmung. Als der Gottesdienst vorüber war, fühlte sie sich unbeschwerter. Der Schatten, der sich heute ein paar Mal gezeigt hatte, war verschwunden. Auch ihre Eltern strahlten mehr Ruhe aus als noch vor einer Stunde.

Durch Zufall hatte Pia vor ein paar Tagen ein Plakat entdeckt. Im Filmmuseum gab es am zweiten Weihnachtsfeiertag The Purple Rose of Cairo. Bei diesem Film hatten ihre Eltern sich vor über zwanzig Jahren kennengelernt. Pia hatte sofort zwei Karten gekauft. Eine Weihnachtsüberraschung für Paps und Mam. Was sie wohl dazu sagen würden?

Vor dem Essen verzog Paps sich in sein Arbeitszimmer, während Pia half, den Tisch im Wohnzimmer zu decken. Ganz in Weiß und Silber, passend zum Baum. Feines Porzellan, dreierlei Gläser und für jeden Gang des Menüs eigenes Besteck. Mam steckte Kerzen in die Leuchter aus Kristallglas und drapierte Servietten aus Damast auf den Tellern. Als sie fertig war, betrachtete sie zufrieden ihr Werk.

Was für ein Aufwand und was für ein Prunk. Beschämt dachte Pia an Maria und Josef im Stall, die nichts gehabt hatten außer einem Dach über dem Kopf und einer Krippe voll Heu als Bett für ihr Kind. Sicher hätten ihnen Milch und Brot genügt. Oder Würstchen und Kartoffelsalat. Irgendwas war in den letzten zweitausend Jahren mit dem Weihnachtsfest grandios schiefgelaufen.

Mam sah auf die Uhr. »Um acht machen wir Bescherung und danach gibt es das Menü.« Ein musternder Blick glitt an Pia hinab, ein Lächeln erschien. »Die Farbe steht dir. Dieses Blaugrün passt wunderbar zu deinen Haaren.«

Doch diese Blau- und Grüntöne passen nicht zum Styling des Wohnzimmers, vollendete Pia den Gedankengang ihrer Mutter im Stillen.

»Zieh dich zum Essen doch um. Wie wäre es mit dem neuen Kleid?«

Volltreffer! Sie hatte keine Lust auf dieses Kleid. Doch noch weniger Lust hatte sie auf Streit. Also tat sie, was Mam erwartete, und zog es an. Darin sah sie steinalt aus. Mindestens wie fünfundzwanzig. Pia wand einen türkisfarbenen Schal um den Kopf und bändigte damit die roten Locken. Ein bisschen Widerstand musste schließlich sein.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte Mam einen verkniffenen Zug um den Mund. Kein Wunder. Paps trug noch immer die ausgebeulte Cordhose und den grob gestrickten Pulli. »Ich hoffe, ihr nehmt so mit mir vorlieb.« Lächelnd breitete er die Arme aus, als ob er sich entschuldigen wollte. »Ich fühle mich nun mal in salopper Kleidung am wohlsten und wir wollen uns heute Abend doch wohlfühlen, nicht wahr?« Er zwinkerte Pia zu. »Außerdem bist du schön für zwei. Mein hübsches Mädchen.«

»Aber sicher doch, Paul. Wir nehmen dich so, wie du bist«, sagte Mam, während sie den Sekt in Gläser schenkte.

»Gut, dann wollen wir mal.« Paps schaltete die elektrische Beleuchtung des Baums an und schob die CD mit Weihnachtsmusik in den Player. Pia rollte innerlich die Augen. Alle Jahre wieder dieses Weihnachtsoratorium von Bach. Oder war es Beethoven oder Brahms? Da musste sie jetzt durch. Mam kam mit dem Gläsertablett auf sie zu. Die Musik setzte ein. Verwundert wandte Pia den Kopf. Was aus den Lautsprechern drang, war alles andere als klassisch. Eher irisch oder schottisch. Jedenfalls total rhythmisch. Was war das? Etwa Riverdance?

Paps grinste und begann, mit einem Fuß zu wippen. »Sting«, erklärte er, als er ihren verwunderten Blick bemerkte. »Mal was anderes.« Das Wippen verstärkte sich, bis er den Takt gefunden hatte, die Hände in die Hüften stemmte und mitzusingen begann. Herrlich falsch. »I saw three ships come sailing in, on Christmas day in the morning.« Der Rhythmus riss ihn mit. Stampfend begann er zu tanzen, wiegte sich wie ein Bär. Pia bekam einen Lachanfall. So kannte sie ihren Paps gar nicht.

»And what was in those ships all three, on Christmas Day, on Christmas Day? Komm, Pia, tanz mit mir.« Er griff nach ihrem Arm. Sie ließ sich bereitwillig mitziehen. Singend tobten sie durch den Raum. »And what was in those ships all three, on Christmas Day in the morning?« Den Refrain hatte sie schnell raus. Die Lichter wirbelten vorbei, Mam mit den Gläsern, der gedeckte Tisch, der geschmückte Baum. »The Virgin Mary and Christ were there, on Christmas Day, on Christmas Day; the Virgin Mary and Christ were there, on Christmas Day in the morning.«

Als das Lied endete, blieben sie atemlos stehen. Das Tuch in Pias Haar war verrutscht, Mam lachte kopfschüttelnd, auf Paps’ Stirn standen feine Schweißperlen. Er nahm sie in den Arm. »Frohe Weihnachten, Pia.«

»Frohe Weihnachten, Paps.« Sie spürte seine breiten Schultern, seinen mächtigen Körper. Für einen Augenblick fühlte sie Sicherheit und Halt. Dann gab er sie auch schon wieder frei. Es war eine dieser körperlichen Berührungen gewesen, die in ihrer Familie so selten waren. Der nächste Song startete. Christmastime von den Smashing Pumpkins. Paps und Mam wünschten sich ein frohes Fest und küssten sich auf die Wangen, was Pia seltsam erschien. Beinahe wie Händeschütteln. Was war los mit den beiden? Mam reichte die Gläser, sie stießen an und gaben sich die Geschenke. Paps’ Handy piepte. Er ließ es stecken.

Wahnsinn, war es lustig gewesen, mit ihm zu tanzen! Paps freute sich über den Schal, den sie für ihn in den Fünf Höfen gekauft hatte, und Mam über den Roman, den sie sich gewünscht hatte. Eine komplizierte Familiengeschichte. Zum Schluss überreichte Pia ihnen die Kinokarten. Paps’ Mund stand tatsächlich für einen Moment offen. »Na, so was! Da werde ich ja ganz sentimental.«

In Mams Augen traten mit einem Mal Tränen. Sie schluckte. »Das ist so lieb von dir. Dass du dich überhaupt daran erinnert hast.« Sie strich Pia kurz über den Oberarm und sah dann zu Paps, der sich abwandte und die Geschenke für Pia unter dem Baum hervorholte. Die CD von Kodaline und die Patchworktasche von Desigual, die sie sich gewünscht hatte. Die Tasche war echt lässig.

»Wir haben noch was für dich.« Paps gab ihr mit einem verschmitzten Schmunzeln ein Päckchen. Was war das? Etwa … Pia wagte es gar nicht zu hoffen. Ihr Handy war schon beinahe antik. Doch bisher hatten Paps und Mam sich geweigert, ein Smartphone für sie zu kaufen. So wie Paps nun grinste, war es genau das. Mit fliegenden Fingern löste Pia Schleife und Papier. Yeah! Sogar ein iPhone! Wie cool war das denn! Sie flog ihm an den Hals. »Danke.«

»Ich habe schon alles installiert. Du kannst es gleich benutzen. Internetflat ist auch dabei. Ich will ja nicht arm werden.«

Während Mam in der Küche verschwand, um die Vorspeise anzurichten, packte Pia das Geschenk von Tami aus. Ein limonengrüner Buff. Der sah voll stylish zu ihren roten Haaren aus! Sie streifte ihn über und bat Paps, mit dem neuen Smartphone ein Foto zu machen, das sie sofort mit einem Dankeschön an Tami simste.

Mam servierte das Essen. Erst ein Amuse-Gueule. Dann verschiedene Blattsalate mit Granatapfelkernen und einem ausgefallenen Dressing. Gefolgt von gebratenem Zander auf einem Gemüsebett und Hühnerbrust mit glasierten Karotten. Dazu Wein. Konnte es sein, dass Mam ein wenig zu viel trank? Sie war schon beim zweiten Glas. Und zur Bescherung den Sekt. Das Gespräch drehte sich um Belanglosigkeiten. Die angespannte Stimmung kehrte Bissen für Bissen zurück. Weshalb hatte Paps sich abgewandt, als Mam wegen der Kinokarten beinahe geweint hätte? Als Mam die Teller in die Küche trug, um das Dessert zu holen, war es schon nach elf. Paps zog sein Blackberry hervor und beantwortete die SMS, die vorhin gekommen war.

Super, dachte Pia. Aber sag mir bitte nie wieder, dass es unhöflich ist, bei Tisch zu simsen oder zu telefonieren. Mam kam mit der Nachspeise herein. Die sah wirklich sensationell aus. Kleine gefüllte Windbeutel waren zu einem spitzen Kegel aufgetürmt, den Fäden aus Karamell umgaben.

»Wer war das?« Mam stellte die Platte heftiger ab, als nötig. »Kannst du nicht mal an Heiligabend dein Handy auslassen?«

»Entschuldige. Ist schon erledigt.« Paps steckte das Telefon ein. Seine Schultern versteiften sich. Der allerletzte Rest von so etwas Ähnlichem wie guter Stimmung war dahin. Der Appetit war Pia vergangen. Sie stocherte in ihrem Dessert herum. Mam leerte ihr Glas und schenkte sich nach. In die betretene Stille hinein fragte sie Paps, was eigentlich mit ihm los sei. »Wir scheinen dich nicht mehr sonderlich zu interessieren. Immer bist du für die Firma verfügbar. Ständig SMS und Telefonate. Und wenn du daheim bist, bist du nicht wirklich bei uns, sondern meistens in deinem Arbeitszimmer und mit deinen Gedanken sowieso im Unternehmen.«

Konnte Mam das nicht lassen!

Paps wischte sich den Mund ab. »So ist das heute nun mal. Das ist der Preis für meine Karriere. Immerwährende Verfügbarkeit. Das hast du gewusst, als ich die Stelle angenommen habe. Wir waren uns einig. Im Nachhinein die Spielregeln ändern zu wollen, ist nicht fair.«

»Nicht fair!« Mam schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen und schluckte offenbar runter, was sie eigentlich sagen wollte, denn sie stand auf, um den Käse zu holen. Danach gab es einen Obstbrand. Natürlich nicht für Pia, die auch zum Essen nur ein halbes Glas Wein bekommen hatte. Doch Mam schenkte sich einen zweiten Williams ein. Paps lehnte dankend ab. Seine Sprache war ein wenig verwaschen. Die beiden hatten echt zu viel getrunken.

Plötzlich hätte Pia am liebsten geheult. Der Abend hatte so lustig angefangen, und jetzt das. Sie erklärte sich freiwillig bereit, den Tisch abzudecken und den Spüler einzuräumen. Gut möglich, dass sie sonst im Wohnzimmer erfrieren würde.

In der Küche standen Berge von Tellern, Gläsern und Töpfen. Während sie den Spüler ausräumte, drangen Gesprächsfetzen aus dem Wohnzimmer über den Flur. Der CD-Player schaltete sich aus. Nun gelangte jedes Wort zu ihr. Mam erklärte, dass sie langsam genug hatte von Pauls Heuchelei. »Ich glaube nicht, dass du mehr Überstunden machen musst als sonst. Ich glaube nicht, dass diese plötzliche Flut an SMS und Telefonaten rein beruflich bedingt ist. Und die Gespräche, die du abbrichst, wenn ich ins Zimmer komme, sind ja wohl auch nicht dienstlich.«

»Du denkst doch hoffentlich nicht, ich hätte eine Geliebte?«, entgegnete Paps leichthin. Doch Pia hörte einen metallischen Unterton. Ein dicker Klumpen setzte sich in ihren Hals. Hallo! Es ist Weihnachten. Könnt ihr bitte einfach mal den Mund halten!

»Ja, genau. Das glaube ich!« Mam klang ganz ruhig und sachlich, als ginge es hier lediglich um eine defekte Waschmaschine. Wie konnte sie nur!

»Das ist doch lächerlich. Du siehst Gespenster.«

Doch Mam ließ sich nicht beirren. Sie bohrte nach, nervte und ließ nicht locker. So kannte Pia ihre Mutter gar nicht. Sie gab einfach nicht auf. Pia knallte das Geschirrtuch ins Spülbecken, entschlossen dazwischenzugehen. In ihrer Anwesenheit würden sie das Thema wechseln. Hoffentlich!

»Ich will einfach wissen, woran ich bin. Das wäre nur fair von dir.«

»Muss das wirklich jetzt sein, Kathrin? Ausgerechnet an Heiligabend?«

»Es stimmt also.«

Paps seufzte. »Also gut.« Im tiefen Bariton ihres Vaters lag ein kaltes Klirren. »Also gut«, wiederholte er, während Pia über den Flur ging. »Ja. Es stimmt. Ich habe eine Freundin.«

Pia wurde ganz flau. Sie musste sich an den Garderobenschrank lehnen. Das konnte doch nicht sein.

Die Turmuhr von Sankt Johannes schlug Mitternacht. Frohe Weihnachten, dachte Pia und schaffte es nicht, nicht zu heulen.