Dreizehn Jahre zuvor

5. Januar 2001, Galsterried

Das Angebot vom Lippert ist gut. Er ist bereit, mehr zu bezahlen, als die Wiesen wert sind. Mit dem Geld könnten wir endlich das Zentrum renovieren und modernisieren. Stefan hat bereits einen Investitionsplan erstellt. Die Bank wird mitmachen, wenn wir einen Teil der Renovierungskosten selbst aufbringen.« Abwartend sah Bettina sie an.

Sonja verstand nicht, warum sie wieder damit anfing. Natürlich weil der Lippert gestern hier gewesen war und sein Angebot wiederholt und sogar verbessert hatte. Es war doch nicht ihr Problem, wenn ihm das Wasser bis zum Hals stand. Offenbar spekulierte er darauf, dass die Wiesen Bauland wurden. Doch das konnte er vergessen. Sie hatte sich beim Bürgermeister erkundigt. Niemals, hatte der gesagt. Sie liegen am Rand des Wasserschutzgebiets, das demnächst erweitert werden soll.

»Ich werde nicht verkaufen.«

»Du willst das Zentrum also verfallen lassen?«

Warum musste Bettina so maßlos übertreiben? »Natürlich nicht. Aber ich werde keinen Wellnesstempel daraus machen, wie er dir vorschwebt. Das ist nicht unser Konzept.«

»Mit dem ganzen Esoterikkram verdienen wir aber nichts.«

Sonja atmete tief ein, bis in ihr Energiezentrum, atmete aus, sandte ein stummes Omm zum Fenster hinaus und versuchte so, die Ruhe zu bewahren. Stefan ging wieder einmal fremd. Bettina war emotional völlig destabilisiert und suchte daher wie üblich materielle Sicherheit als Kompensation. Sonja wollte ihr jetzt nicht zum hundertsten Mal erklären, warum sie die Wiesen nicht verkaufte, warum aus dem Verve-Zentrum niemals ein Ort für die neureichen Schickimickis aus München würde, warum sie keinesfalls Spiritualität gegen klingende Münze eintauschen wollte. »Ich verkaufe die Wiesen nicht. Nicht heute, nicht morgen. Niemals. Das ist mein letztes Wort. Die Immobilie gehört mir. Ich alleine entscheide, was damit geschieht. Wenn dir die Ausrichtung und das Konzept des Zentrums nicht mehr gefallen, kannst du jederzeit aussteigen und deine Anteile verkaufen.« Sie war selbst überrascht von der Klarheit und Kompromisslosigkeit dieser Ansage. Was war nur los mit ihr?

»Was?« Fassungslos sah Bettina sie an. »Ich habe zehn Jahre meines Lebens hier investiert. Und jetzt willst du mich davonjagen?« Ihre Augen wurden ganz blank. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Ihr harscher Ausbruch tat Sonja sofort leid. Bestürzt nahm sie Bettina in den Arm. »Davon kann doch keine Rede sein. Ich brauche dich hier. Du bist meine beste Freundin, meine Vertraute. Wir haben das Zentrum gemeinsam aufgebaut und werden uns doch jetzt nicht zerstreiten.«

»Aber so können wir nicht weitermachen. Sieh das doch ein!«

»Lass uns morgen darüber reden. Ich muss Pia vom Kindergarten abholen und den Kuchen bei Ayla. Passt dir das?«

Bettina nickte resigniert. Um ihren Mund lag jedoch dieser angespannte Zug, der Sonja sagte, dass sie nicht bereit war, von ihren Vorstellungen abzurücken. Sauna, Hamam, Schwimmbad. Das alles wollte sie um jeden Preis und Sonja auf gar keinen Fall. Seit Wochen flackerte diese Diskussion immer wieder auf. Seit der Lippert ihr im Nacken saß, weil er unbedingt die Wiesen kaufen wollte. Ständig tauchte er hier auf. Lockte und machte Angebote. Einmal hatte er ihr sogar gedroht, dass sie sich hier nicht so sicher fühlen sollte. Sie, die Hexe. Eine wie sie hätte man früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sonja hatte sich das Lachen verkniffen. Wer war er denn schon? Ein geldgeiler Zwerg mit zu hohem Blutdruck und einem grauenhaften Karma.

Es war schon kurz vor eins. Sie musste los. »Bis später.« Sonja holte Pia ab und dann den Kuchen bei Ayla und Mark im Stadtcafé. Daheim angekommen, begann sie mit den Vorbereitungen für die Feier am Nachmittag. Wie hübsch der Geburtstagskuchen geworden war! Ein Marienkäfer mit vier Punkten. Sie nahm ihn aus der Schachtel und steckte in jeden eine Kerze.

Auf den Tisch legte sie die Papiertischdecke, die Pia und sie gestern bemalt hatten, und stellte den Kuchen in die Mitte. Dreimal feiern. War das nicht übertrieben? Am Vormittag im Kindergarten. Jetzt mit den Großeltern und Tante, Onkel und der Patentante und morgen dann die große Kindergeburtstagsfeier drüben in der Villa Krachmach.

Pia kam herein. »Ich will helfen!«

»Magst du den Tisch decken?« Sonja gab ihr Teller und Servietten und ließ sich von Pias Vorfreude auf die Feier anstecken. Trotzdem ging ihr der Streit mit Bettina noch nach. Sie schob die Erinnerung daran beiseite. Diesen Tag wollte sie sich nicht verderben lassen.

Heute vor vier Jahren hatte sich ihr größter Wunsch erfüllt. Sie hatte das kostbarste Geschenk bekommen, das man als Frau erhalten konnte. Es war der glücklichste Tag in ihrem Leben gewesen.

»Kommen Onkel Paul und Tante Kathrin auch?«

»Natürlich.«

»Und ich bekomme Cola?« Fragend neigte Pia den Kopf.

»Das habe ich dir versprochen. Und Versprechen hält man.« Cola und Süßigkeiten gab es sonst nie. Sonja achtete auf eine gesunde und vollwertige Ernährung. Doch an besonderen Tagen machte sie eine Ausnahme.

Natürlich kamen Paul und Kathrin. Es tat Sonja leid, dass sich das einst so gute Verhältnis zu ihrer Schwester abgekühlt hatte. Auch wenn sie verstand, warum sie sich im Laufe der Jahre zurückgezogen hatte. Kathrins Kinderwunsch war unerfüllt geblieben. Sonjas Glück mit anzusehen, überforderte sie. Ein wenig Neid, ein wenig Eifersucht. Du hast, was ich nie haben werde. Es war nur allzu menschlich, auch wenn es Sonja wehtat. Es war richtig gewesen, Paul anzulügen, als er besorgt nachgefragt hatte, ob er der Vater sei. Ihr Geheimnis teilte Sonja nur mit Bettina. Sie hatte versprochen, es für sich zu behalten, und Sonja wusste, dass sie sich darauf verlassen konnte.

Und sie wusste auch, dass es nicht allein an Kathrin lag, dass die Freundschaft zwischen ihnen geschmolzen war wie Schnee an den ersten Frühlingstagen. Auch sie war auf Distanz gegangen. Das schlechte Gewissen bedrückte sie. Sie hatte ein Kind von Paul. Während Kathrin nie eines von ihm bekommen würde. Das und die Schuldgefühle, ihn benutzt und ihre Schwester hintergangen zu haben, hatten sich langsam zwischen sie und Kathrin geschoben und die einst enge Bindung gelöst. Man wohnte zwar noch im selben Dorf, doch man sah sich nicht mehr so häufig. Es war der Preis, den sie für dieses wunderbare Kind zahlte.

»Jetzt gleich?« Mit dieser Frage riss Pia sie aus ihren Gedanken.

»Was? Jetzt gleich?«

»Die Cola. Darf ich?«

»Natürlich, mein Schatz.« Sie nahm die kleine Flasche aus dem Regal und schenkte Pia ein Glas halb voll. »Teil es dir ein. Es gibt nur eine.«

Pünktlich um drei kamen die Gäste. Als erste ihre Eltern aus Wasserburg. Sie schenkten Pia eine Puppe mit roten Haaren. »Ein Fuchserl, fürs Fuchserl.«

Sonja biss die Zähne aufeinander, um ihre Mutter nicht zurechtzuweisen. Als Kind hatte sie dieses Märchen natürlich hinreißend gefunden. Ein Märchen, das zum Teil wahr war und mit ihr zu tun hatte! In der Schule hatte sie damit angegeben. Mittlerweile konnte sie es nicht mehr hören. Sie wollte nicht, dass man auch in Pia ein Fuchserl sah, eine Hexe. So wie in ihr. Gerade die Alten im Dorf glaubten das wirklich. In einer ruhigen Stunde musste sie versuchen, ihrer Mutter das klarzumachen.

Kathrin und Paul brachten ein Memory aus Holz für Pia. Und Ayla, Mark und Mia schenkten ihr Jonglierbälle. Als Letzte kamen Bettina und Stefan mit einem Stoffhund. Viel zu viele Geschenke. Pia war damit überfordert. Sie drehte richtig auf und tobte durch das Zimmer. Ein kleiner Wirbelsturm mit fliegenden roten Locken, während Mia still auf ihrem Platz saß und sich das Treiben mit großen Augen ansah.

Bettina half Sonja beim Kaffeekochen. Alle nahmen Platz. Als Sonja die Kerzen am Kuchen anzünden wollte, sprang Pia auf. »Ich will das machen.« Sie schnappte sich das Feuerzeug.

»Das ist nichts für kleine Kinder. Gib es mir.«

»Neihein. Neihein. Kriegst du nicht.« Pia hüpfte lachend auf ihrem Stuhl und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Bitte, Pia. Das ist kein Spielzeug. Feuer ist gefährlich.«

»Ich will aber. Ich will!«

»Nein.« Sonja streckte die Hand aus. »Jetzt gib mir das Feuerzeug.« Sie sah, wie ihre Mutter die Brille zurechtrückte. »Kinder sollten nicht mit Feuer spielen. Gib deiner Mutter das Feuerzeug.«

Pia beachtete sie gar nicht. »Bitte Mama, bitteee.« Wieder legte sie den Kopf schief. Die hellblauen Augen wurden groß und sahen sie erwartungsvoll an. »Ich bin doch schon vier.«

Wie machte das Kind das nur? Sonjas Herz wurde ganz weit. »Also gut. Aber sei vorsichtig. Ich zünde die erste Kerze an, damit du siehst, wie man das macht. Du darfst dann die zweite.« Wieder streckte sie die Hand aus. Das schweißfeuchte Feuerzeug landete darin. Sie zeigte dem Kind, wie es funktionierte, und steckte den Docht einer Kerze in Brand. Dann durfte Pia. Sie kniete sich auf den Tisch und machte es Sonja nach. Die zweite Kerze brannte. »Und jetzt wieder ich und dann wieder du«, sagte Sonja.

»Neihein.« Kichernd betätigte Pia das Rädchen des Zippos erneut. Das ging zu weit. Sonja wollte das Feuerzeug. »Gib es mir.« – »Neihein!« Pia wich aus und stieß eine der brennenden Kerzen um. Sie kullerte auf die bemalte Tischdecke, ein paar Tropfen Wachs tränken das Papier und entzündeten es. Flammen schlugen aus der Decke. Oma schrie auf. Opa polterte etwas von einem frechen Mädchen, das lernen sollte zu folgen. Geistesgegenwärtig griff Kathrin nach der Kaffeekanne und löschte die Flammen, während Paul versuchte, sie mit der flachen Hand auszuschlagen, und Ayla aufsprang, um aus der Küche Wasser zu holen. Nur Stefan und Mark lachten. Mia begann zu weinen. Sonja saß der Schreck in allen Gliedern. Pia stand mit angstgeweiteten Augen auf dem Stuhl und ließ sich von Sonja widerstandslos das Feuerzeug abnehmen. »Ich habe doch gesagt, dass das kein Spielzeug ist.«

Als der Trubel sich gelegt hatte, deckten sie den Tisch neu, alle setzten sich, bis auf Pia. Sie lief in die Küche und kam mit dem Feuerzeug zurück. »Ich zünde die Kerzen an.«

Dieser Trotzkopf! »Das tust du nicht.« Sonja nahm der Kleinen das Feuerzeug ab und legte es auf den Teller. Doch ehe sie sich versah, hatte Pia es sich wieder geschnappt. »Tue ich doch!«

»Himmeldonnerwetter noch mal!« Opa ging dazwischen. »Wirst du wohl gehorchen!«

Pia kroch unter den Tisch. »Neihein!«

Sonja wurde es zu viel. Sie ging auf die Knie und zog Pia unter dem Tisch hervor. »Feuerzeug oder Cola? Was ist dir lieber?«

»Beides!«

Herrgott, dieses sture Mädchen. Sonja bog jeden Finger der kleinen Hand einzeln auf und entwand Pia so das Feuerzeug. Nun flossen die Tränen. Sonja fühlte sich schäbig. Was war sie doch für eine Rabenmutter! Sie hatte ihrem Kind wehgetan. Doch sie hatte jetzt nicht den Nerv, sich dafür zu entschuldigen. Zornig auf sich selbst legte sie das Feuerzeug ganz oben aufs Küchenbuffet und setzte das heulende Kind auf seinen Platz.

»Cola. Feuerzeuge sind nichts für kleine Mädchen.«

»Sind sie doch«, schniefte Pia und wischte sich den Rotz von der Nase. »Du wirst schon sehen! Ich zünde die Kerzen an.«

»Niemand zündet jetzt Kerzen an. Und basta!« Sonja schenkte Pia ein Glas Cola ein und drückte es ihr in die Hand.

Sie sangen ein Geburtstagslied. Die Situation entspannte sich, nur Pia zog weiter trotzig einen Flunsch. Der Kuchen wurde angeschnitten. Doch der Kaffee reichte nicht für alle, ein Teil war fürs Löschen draufgegangen. Bettina bot sich an, frischen zu kochen. Sonja folgte ihr in die Küche.

Sie füllte den Wasserbehälter der Maschine. Bettina mahlte Kaffee. »Meine Güte, die Kleine hat Power. Was für eine Aufregung.«

»Power? Ich würde das eher einen Dickschädel nennen. Sie weiß, was sie will, und versucht, das durchzusetzen.«

Lachend gab Bettina ihr recht. »Vermutlich ganz der Vater. Paul ist ja auch so ein Sturschädel.«

»Gut möglich, dass Pia das von ihm hat. An das Feuerzeug kommt sie jetzt jedenfalls nicht mehr heran.« Sonja trug die Kanne mit frischem Kaffee ins Wohnzimmer.

Als die Gäste schließlich gegangen waren, brachte sie Pia zu Bett. Das Kind war fix und fertig und gleichzeitig total überdreht. Es dauerte eine Weile, bis sie einschlief. Sonja gab ihr einen Kuss aufs Haar, legte ihr die Kuscheldecke in den Arm und löschte das Licht.

Leise ging sie nach unten. Bettina saß am Küchentisch und sah den Wochenplan fürs Zentrum durch. Sie besprachen ihn und teilten die Mitarbeiter für die Kurse ein. Mit der Raumbelegung gab es ein Problem, das sich allerdings schnell lösen ließ. Als sie fertig waren, ging Bettina noch nicht. Wieder fing sie mit ihren Plänen an. »Du kannst doch die Augen nicht vor den Tatsachen verschließen. Unsere Umsätze sind rückläufig. Wir müssen investieren und dem Zentrum einen neuen Kurs geben.«

»Gegen eine Renovierung habe ich nichts einzuwenden. Aber ohne Marmor und Granit. Ohne Saunalandschaft und Schwimmbad und ohne Hamam. Kurz und gut: Kein anderer Kurs.«

Bettinas Gesichtsmuskulatur verhärtete sich. Die Sehnen am Hals traten hervor wie gespannte Seile. Sie wandte sich ab, dennoch sah Sonja, wie sie die Augen verdrehte. Total genervt. Das war zu viel. Sie hatte es nicht nötig, sich wie ein dummes Gör behandeln zu lassen. Sonja stand auf. »Okay. Es sieht nicht so aus, als könnten wir uns in dieser Sache einig werden oder wenigstens einen Kompromiss schließen. Es läuft wohl auf den klaren Schnitt hinaus. Auf eine Trennung. Die Gebäude und das Gelände gehören mir. Ich werde dich also auszahlen.«

»Was?« Bettina sprang auf. »Das hast du dir ja fein ausgedacht. Mich nach zehn Jahren einfach rauszuwerfen. Ich habe das alles mit aufgebaut. Das ist auch mein Zentrum und du willst mich jetzt mit einem Apfel und einem Ei in die Wüste schicken, weil du am längeren Hebel sitzt. Aber nicht mit mir. Das sage ich dir. Damit kommst du nicht durch.« Hasserfüllt starrte sie Sonja an, wirbelte auf dem Absatz herum und schlug die Tür hinter sich zu.

Sonja atmete durch. Eine Entscheidung war gefallen. Auch wenn sie das nicht gewollt hatte. Es ging nicht anders. Bettina und sie würden sich nie einig werden, wie das Zentrum geführt werden sollte. Die Trennung war unumgänglich, auch wenn es ihr leidtat. Natürlich würde sie damit durchkommen. Sie saß tatsächlich am längeren Hebel.

Das Unternehmen selbst besaß keinen nennenswerten Marktwert, da es nur wenig Gewinn abwarf. Bettinas Anteil war daher sicher nur einige Tausend Euro wert. Es war nicht viel für zehn Jahre Arbeit.

Gegen zehn Uhr trank Sonja einen großen Becher Schlaftee, sonst würde sie nach all der Aufregung kein Auge zutun. Um halb elf war es Zeit, zu Bett zu gehen.

Es war stürmisch geworden. Die Wilde Jagd war unterwegs. Die vorletzte Raunacht neigte sich ihrem Ende zu. Um Mitternacht begann die letzte. In sechsundzwanzig Stunden endete die Anderszeit, schloss sich die Tür zur Anderswelt für ein Jahr und hinter ihr verschwanden die bösen Geister.

Sonja zündete die Kerzen in den Gläsern an und stellte sie in die Fenster. Das Feuerzeug ließ sie achtlos auf dem Tisch liegen.