Julia Sunce

Schon fünf Tage hatte ich nicht geschlafen. Von Westen war ich quer durchs Land gezogen. Es war Spätsommer, die erste Septemberwoche, ein Freitag, glaube ich, oder doch eher Samstag. Ich saß da und rauchte, in den von leisen Geräuschen erfüllten, windigen Nächten. Aber meine Müdigkeit wurde nicht größer und der Reisesack nicht schwerer, ich durchquerte einfach nur das Land, als ginge ich über den Acker meines Nachbarn. Meine Hand, mein Fuß, meine Stirn lebten ihr eigenes Leben, meine Glieder kannten einander nicht mehr. Vielleicht hatte ich schon fünf Tage nicht mehr geschlafen. Ich dachte, ich werde sterben. Ich hatte kein Mitleid mit mir, es war egal. Irgendwo hinter Jakulevo stieß ich auf den Stall, sie mußten hier Pferde und Rinder gehalten haben, einige Pferche standen noch, die anderen hatten sie abgerissen, fortgeschafft und verheizt, aber den Auslauf mit den zahnlückigen Trümmern der weißgestrichenen Einzäunung ringsum, den gab es noch. Ich fand im Hof ein Brunnenloch mit Betonrand, doch der Blecheimer hatte keinen Boden. Auf dem Fahrweg, der in den Wald führte, rottete ein umgestürzter Lastwagen vor sich hin, seine abgerissene Plane flatterte im Wind. Es war Freitag oder Samstag. Im Stall hing ein fremder Geruch, lange wußte ich nicht, was für einer, bis ich merkte, daß es natürlich Menschengeruch war. Hier lebte jemand. Ich konnte ihn nicht gleich finden. Käfer summten vor meinem Gesicht, und es war, als hörte ich jedes Summen einzeln.

Sie lag mitten in der Scheune. Zuerst dachte ich, sie wäre tot. Sie lag auf dem Rücken, die Arme eng am Rumpf. Vielleicht habe ich irgendwas gesagt, he, Sie da, stehen Sie auf, wird’s bald, irgend so etwas. Es kann aber auch sein, daß ich nichts gesagt habe, nur etwas sagen wollte. Ich stieß sie mit dem Stiefel in die Seite. Ich weiß nicht. Oder ich näherte mich ihr und sah den Strohhalm vor ihrem Mund, wie er sich bog, sich hob und senkte, das verriet mir, daß sie lebte. Sie hatte starke Backenknochen und einen kräftigen Mund. Alles war ein wenig zu groß an ihrem Gesicht, auch geschlossen wirkten ihre Augen riesig, ein verdeckter, mächtiger Blick, dachte ich, und natürlich ihre Nase, ihre Brauen, ihre Ohrläppchen.

Ich saß neben ihr und betrachtete sie.

Eine Frau, eine schlafende Frau, und ich hatte schon fünf Tage nicht geschlafen.

Ich glaube, ich berührte ihre Schulter, aber sie reagierte nicht. Dann lief ich unschlüssig um sie herum, man müßte sie doch aufwecken, ich kratzte mich am Kopf, schrie sie an, glaube ich, vielleicht habe ich ihr ins Ohr geflüstert. Aber sie rührte sich nicht. Sie hörte mich nicht, schlief einfach fest weiter. Ich faßte sie unter und setzte sie auf, in dieser Haltung blieb sie, um dann langsam wieder aufs Stroh zurückzusinken. Als ich meinen Arm unter sie schob, berührte ich ihre Brust. Auch ihre Brust war groß, eine schlafende Frau, an der alles groß, an der alles zuviel ist und die man nicht aufwecken kann. Was ist das, was soll das. Fünf Tage habe ich nicht mehr geschlafen. Ich glaube, ich wurde wütend, oder eher nur gereizt, ich weiß nicht, jedenfalls schüttete ich ihr aus meiner Trinkflasche ein wenig Wasser ins Gesicht. Sie bewegte sich nicht, nur der Strohhalm blieb an ihrem Mund kleben, sie schlief weiter. Dann dachte ich, sie wäre krank. Das ist nicht normal, wenn jemand nicht aufwachen kann, wie es natürlich auch nicht normal ist, wenn einer absolut nicht schlafen kann, wie zum Beispiel ich, der ich jede Nacht nur im Gras sitze, an eine verfallene Hauswand oder den Stamm einer knorrigen Eiche gelehnt, und rauche, höchstens gehe ich ein bißchen herum, lege mich hin und schiebe die Arme unter den Kopf oder … egal, ich weiß nicht, unwichtig. Dann kam mir, glaube ich, der Gedanke, daß wir beide krank sind, sie, weil sie schläft und nicht aufwachen kann, und ich, weil ich ohne Unterbrechung wach bin und nicht schlafen kann. Wessen Zustand wohl ernster ist?

Ob wir einander helfen können?

Es war Vormittag, als ich sie fand, und am Nachmittag sprach ich sie, glaube ich, zum ersten Mal an.

Wie heißt du, fragte ich.

Der Strohhalm an ihrem Mund war getrocknet. Sie sagte nichts, gab keine Antwort. Es macht mich unruhig, wenn die Dinge keinen Namen haben. Selbst ein schlechter, mißratener Name ist besser als die Namenlosigkeit. Deshalb beschloß ich, ihr einen Namen zu geben, weil ich sie irgendwie anreden mußte, auch wenn ich so gut wie keine Chance hatte, den Namen zu erraten, bei dem diejenigen sie genannt haben, die sie kannten. Ich hatte keine Chance, trotzdem dachte ich lange nach, das ist die Wahrheit. Oder vielmehr, ich glaube es. Eine komplizierte Sache, etwas benennen zu wollen, erst recht wenn es sich um eine schlafende Frau handelt. Der Name soll ihr ja kein Unheil bringen. Schließlich sagte ich Julia Sunce zu ihr. Ich sagte ihr, daß meiner Meinung nach dieser Name der beste von allen sei, die mir eingefallen wären, und daß ich sehr hoffe, sie damit nicht zu kränken.

Von nun an werde ich sie Julia Sunce nennen.

Am nächsten Tag sah ich, daß sie träumte. Das freute mich, denn wer träumt, lebt zum Beispiel stärker als einer, den die Träume meiden, so dachte ich wenigstens. Die Geschehnisse des Traumes spiegelten sich in ihrem Gesicht, wie ihre Wimpern zuckten und unter der Haut eine unruhige Welle hindurchlief. Ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie schreien. Auch ihre Hände träumten. Sie machte eine zögernde Bewegung, in der etwas wie Abwehr, Leidenschaft, Weigerung lag. Das hatte ich nicht gewußt. Daß auch die Haut, die Hände, der Brustkorb und der Atem träumen. Plötzlich sog sie die Luft tiefer ein, und im nächsten Moment beruhigte sie sich. Sie atmete wieder gleichmäßig. Ich saß neben ihr, sah ihr ins Gesicht und rauchte. Da hatte ich, glaube ich, schon sechs Tage nicht mehr geschlafen.

Julia Sunce, sagte ich zu ihr, es ist Vollmond, wissen Sie, und der Himmel ganz ohne Wolken. Julia Sunce, dort oben strahlen die Sterne, man kann den Großen Wagen, die Pleiaden und den Kleinen Bären sehen. Julia Sunce, wissen Sie, die Pferde sind weggetrieben worden, und ich habe in der Nähe einen Gutshof gesehen, nur Asche, nur Schlamm, nur rauchende Trümmer sind übriggeblieben, verkohlte Balken, Julia Sunce, und ich glaube, sie haben sogar die Brunnen vergiftet.

Ich saß neben ihr und rauchte. Dann deckte ich sie zu.

Gute Nacht, Julia Sunce, sagte ich, und zündete mir wieder eine Zigarette an.

Am Morgen schoß ich ein Brakelhuhn. Es war ein verwildertes Tier, das zu einem der ausgebrannten Höfe gehört hatte, es liefen einige von der Sorte in der Gegend herum. Manchmal tauchten Schafe, Ziegen und Kühe auf. Oft kam auch ein Ziegenbock vorbei, er war zahm. Ich briet das Huhn und hielt es Julia Sunce vors Gesicht, vielleicht riecht sie den Braten. Auch wenn man nur schläft, essen muß man trotzdem. Langsam lösten sich ihre Lippen voneinander, und ihr Mund nahm den Bissen auf. Sie aß ein wenig, doch ihre Augen öffnete sie nicht.

Was ist mit Ihnen, Julia Sunce, fragte ich sie.

Ich sah ihren Zähnen beim Kauen zu. Auch die Zähne waren groß, große weiße Zähne, die langsam kauten. Am Nachmittag wusch ich sie und staunte über ihren Schoß. Denn er war so klein, unter einem kleinen Haarknäuel die Scham, so klein, daß ich gar kein Begehren verspürte. Mit lauwarmem Seifenwasser wusch ich sie am ganzen Körper. Julia Sunce atmete gleichmäßig weiter, eine schlafende Frau, ich hatte sie gefunden, ich war auf sie gestoßen, ich, der ich schon sechs Tage nicht geschlafen hatte, sechs oder sieben, ich weiß nicht.

Eines Nachts öffneten sich plötzlich ihre Augen. In der Scheune schien es heller geworden zu sein. Sie sah mich an, so schien es wenigstens, aber ich kenne solche Blicke, deshalb wußte ich genau, daß sie nicht sehen. Und wenn doch? Wenn ihr Blick sieht, dann sieht sie mich jetzt zum ersten Mal.

Beruhigen Sie sich, Julia Sunce, sagte ich leise zu ihr, ich bin nur ein Mann.

Ich werde Ihnen nichts tun, Julia Sunce.

Ich nenne Sie Julia Sunce, wenn es Ihnen nichts ausmacht.

Und als ich im Begriff war, meinen Namen zu sagen, schlossen sich ihre Augen langsam wieder. Ich habe ihren Blick, glaube ich, nie wieder gesehen.

Eines Tages entdeckte ich Mäuse auf ihr. Ich kannte Leute, die Mäuse mit einer einzigen Bewegung packten, zerquetschten und die leblosen Körper fortwarfen. Das gehörte nicht zu meinen Gewohnheiten. Wie man eine Fliege im Flug erwischt, so fing ich die Maus auf dem Bauch des Mädchens. Sie nagte an einem Knopf, ganz vertieft. Aber ich zerquetschte, ich zerdrückte sie nicht, ich hielt sie nur. Nach einer Stunde lebte sie nicht mehr. Ich konnte ruhig meine Hand öffnen und sie auf den Boden lassen. Nach der sechsten Maus kam keine mehr.

Ich trug Julia Sunce in die Sonne hinaus. Damit sie auch mit dem Wind, ein wenig frischer Luft in Berührung kommt und Licht in ihr Haar dringt. Und als ich um mich blickte, hatte ich plötzlich ein Bedürfnis nach Krach, nach dem beißenden Geruch von Schießpulver, nach Explosionen. Ich legte mich neben sie und schoß ein paarmal zwischen die Bäume. Ich hatte auch noch ein paar Handgranaten übrig, eine warf ich hinter die Weißdornbüsche, die neben dem Auslauf wucherten. Die Erschütterung tat gut, das Beben der Bäume und Sträucher, und dann die ringsum versickernde, beunruhigende Stille. Eine Rauchwolke stieg von der Erde auf, wie eine Seele.

Da hatte ich schon einen Monat nicht geschlafen, glaube ich, und es war, als würde ich doch schlafen. Dir ist schwindelig, als könntest du nie wieder nüchtern werden. Ich dachte, glaube ich, auch darüber nach, was wichtig ist. Dort steht ein Baum mit seiner mächtigen Krone, eine alte Buche, Käfer kriechen auf seinem Stamm, eine richtige Straße führt aus der Erde unter seine Rinde und zurück, ein Vogel kreist am Himmel, ein Seeadler, glaube ich. Es ist warm, aber die Abende werden zunehmend kälter. Die Sache ist die, und das ist nicht schlecht, zumindest nicht unbedingt, daß nichts zu dir gehört. Es gibt keine Verantwortung, weil man keine Verantwortung übernehmen kann. Nur Julia Sunce, könnte man sagen, störte in dem Ganzen, eine schlafende Frau, die nicht einen Funken Bereitschaft zeigt, aufzuwachen. Wenn es sie nicht gäbe, würde ich, glaube ich, eines Nachts in den Tod hinübergehen, wach, doch ohne jedes Gefühl. Wenn du einen Monat nicht geschlafen hast, ist es wie im Wartezimmer des Todes. Irgend etwas tut weh, vielleicht deine Hand, dein Fuß, auch das gehört nicht zu dir, du findest einfach in deinem Körper die Stelle des Schmerzes nicht. Es gab eine Zeit, da stellte ich mir vor, daß mein Atem, die Luft, die ich aus meinem Mund strömen lasse, die sich über dieses Land, über diese Acker verteilt, mir gehört, und daß dadurch alles zu mir gehört, was ich sehe und was ich anspreche oder was vielleicht mich anspricht. Einmal betrachtete ich Obst in einer Schüssel, bis es verdarb. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Es ist mir nie wieder gelungen. Es gab auch einige Frauen. Menschen. Wenn du einen Monat lang nicht schläfst, der Schlaf, ich meine, du hast also das Gefühl, daß das alles nichts mehr mit dir zu tun hat. Ein Leichtes, aber trotzdem nicht leicht. Wenn jemand aufwacht, stirbt vielleicht ein Mensch. Ich glaube nicht an dich, Herr, ich glaube nicht, daß es dich gibt, ich schlafe nicht. Musik erklingt, daß mir die Tränen kommen. Nur Julia Sunce stört. Sie läßt mich nicht sterben. Sie schläft.

Ich ging öfter spazieren. Weil ich nicht immer bei ihr sein kann. Und als ich zurückkam, schlief ein Hund neben Julia Sunce. Ein struppiger, kleiner Köter. Ein Hund, der sich an sie gekuschelt hatte und hingebungsvoll schlief. Ab und zu knurrte er. Anfangs kümmerte er mich nicht, glaube ich. Ich machte mich im Stall zu schaffen, einen Teil des Pferchs hatte ich in eine Art Zimmer umgewandelt, ich zimmerte einen Holztisch zusammen, der Sitz des Lastwagens war der Stuhl, und ich baute eine Pritsche und ein Regal, denn ich wußte, bald kommt die Kälte, und wer nicht schläft, der friert noch mehr, und ich fror auch schon damals sehr in der Nacht, sechs Wochen hatte ich nicht geschlafen, glaube ich, sechs oder sieben Wochen. Ich hatte das Gefühl, meine Stirn eingebüßt zu haben, und daß die Sonne mir das Hirn verbrennt, daß der Regen mir aufs Hirn prasselt, daß der Wind mir ins Hirn bläst. Der Hund tauchte mal auf, mal blieb er für Tage fort. Lange hat mich das nicht gekümmert. Doch dann übermannte mich plötzlich die Leidenschaft. Fluchend trat ich ihn von Julia Sunce fort. Und es packte mich ein Gefühl, wie schon lange nicht mehr, und ich versuchte mich zu erinnern, was das war, was für ein Gefühl, und es brauchte eine gute halbe Stunde, bis ich darauf kam, daß ich staunte.

Seit Jahren hatte ich nicht mehr gestaunt.

Ich staunte, daß ich auf den Hund eifersüchtig geworden war.

Ich legte mich neben Julia Sunce, auf den Platz des Hundes, der übrigens meinen Platz in Beschlag genommen hatte, und umarmte sie. Ich hielt sie in den Armen. Ich näherte mich ihrem Gesicht und atmete aus ihren sich öffnenden Lippen ihren Atem heraus, Julia Sunce, Julia Sunce, atmete ich in ihren Mund hinein. Ich verstand nicht, warum ihr Körper immer den gleich Duft hatte, auch wenn ich sie gewaschen hatte, verströmte sie immer den gleichen Duft. Unveränderlich dieser süße, etwas bittere Geruch. Der Duft des Schlafs? Ich weiß nicht. Er tat gut, mehr und mehr. Ich schlief nicht. Eine Musik erklang, daß mir die Tränen kamen.

Anderntags kam das Tier zurück. Es saß vor Julia Sunce und beobachtete sie mit seinen schwarzen Knopfaugen. Manchmal schlug es leise an. Ich aber sagte Stranac zu ihm. Ich gab ihm einen Namen, um ihn hassen zu können.

Dein Name ist Stranac, du Hund, sagte ich zu ihm. Er sah mich an, duckte den Kopf und trabte davon. Ein heimtückischer Köter, dieser Stranac, das war es, was ich dachte, glaube ich. In der Nacht bemerkte ich, daß er zurückgekommen war, daß er wieder da war, bei uns. Er störte mich bereits so sehr, daß ich nicht einmal mehr Julia Sunce sagen konnte. Stranac, du Mistvieh. Wenn ich aß, schaute er. Wenn ich mich wusch, schaute er. Auch wenn ich mich erleichterte, schaute er. Ich hatte an die zwei Monate nicht mehr geschlafen, und es war Herbst und ich fror immer mehr.

Stranac, sagte ich eines Morgens zu dem Hund, ich bringe dich um.

Er bellte kurz und trabte in die Büsche, schaute aber noch einmal zurück. Plötzlich riß ich das Gewehr hoch und schoß ihm hinterher. Es wurde still.

Julia Sunce, sagte ich zu dem Mädchen, das schlief. Endlich konnte ich es wieder aussprechen, Julia Sunce. Ich saß da und rauchte. Ich schlug Nägel ein, hämmerte, zerlegte den Lastwagen. Am Nachmittag kam Stranac zurück. Er blutete. Ich hatte ihn am Morgen in die Flanke geschossen, er war blutüberströmt und schleppte sich mühsam heran.

Stranac, sagte ich zu ihm, worauf er haltmachte und mich ansah.

Selbst jetzt schaute er. Und vielleicht bellte er, winselte er, ich weiß nicht, aber er setzte sich wieder in Bewegung und schleppte sich an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da, zu Julia Sunce hinein, und legte sich neben sie.

Stranac ist krank, sagte ich zu Julia Sunce, die schlief.

Am nächsten Morgen war er tot. Ich lud ihn auf die Schaufel, trug ihn vor die Scheune und verscharrte ihn.

Ich liebe dich, Julia Sunce, sagte ich zu dem Mädchen und steckte mir eine an. Es war Spätherbst. Ringsum auf den Feldern der gelbe, braune Blätterteppich und das Rascheln, Rappeln, wenn der Wind am Werk ist. Einmal habe ich den Ausdruck gehört, daß die Zeit dahinzieht. Nun wußte ich, wie das ist, das Dahinziehen der Zeit, zwei Monate hatte ich nicht geschlafen, mindestens zwei, glaube ich. In einer Nacht hatte es bereits Frost gegeben.

Ich überlegte, ob ich Julia Sunce töten sollte. Ich dachte, daß ich ohnehin fortgehen mußte von hier, daß ich eines Tages weiterziehen würde, oder Leute würden kommen, viele Leute, die stärker sind als ich und mich vertreiben, und ich kann Julia Sunce nicht mitnehmen, wie denn auch, das ist unmöglich, und jene, die mich vertreiben oder einfach nur gefangennehmen, erschießen, nun, auch die werden sie finden, und Julia Sunce wird ihnen gehören, oder sie töten sie, es könnte aber auch sein, daß sie sie gut behandeln, verwöhnen, alles Mögliche kann ihr geschehen, aber wenn ich nicht mehr bei ihr bin, wird sie mit Sicherheit nicht mehr Julia Sunce genannt. Wenn ich sie töte, gehört sie mir. Julia Sunce schlief, und ich habe schon zehn Wochen nicht mehr geschlafen. Oder elf. Ich weiß es nicht. Und was ich bis dahin überhaupt nicht empfunden hatte, plötzlich überfiel mich unwiderstehlich die Angst. Ich wußte noch nicht genau, wovor ich Angst hatte, aber manchmal mußte ich im Hof stehenbleiben, der Schweiß trat mir auf die Stirn, und mit einemmal wußte ich, daß mir die Hand weh tat. Meine Hand tat mir weh! Ganz unerwartet überkam mich dieses Gefühl, in dem ich mich wieder als Ganzes empfand, mein Fuß kannte meine Hand, mein Gesicht wußte von meinen Lenden, und wenn mir etwas weh tat, kannte ich die Stelle des Schmerzes. Manchmal trat ich vor den Stall hinaus und brüllte. Ich weiß nicht, vielleicht hatte ich irgendwo gelesen, daß der Schrei nur in einer erschaffenen Welt Sinn hat, und wenn es keinen Schöpfer gibt, ist es überflüssig, durch Schreien auf sich aufmerksam zu machen, ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Man kann nur zu Gott schreien?! Ich glaube, wenn ich schreie, rufe ich nicht Gott. Ich schreie, weil diese Musik erklingt. Und weil ich nicht schlafe. Und weil Julia Sunce schläft. Wenn ich zu Gott spreche, gebe ich keinen Ton von mir.

Julia Sunce, schrie ich draußen auf dem Hof.

Julia Sunce, Julia Sunce!

Aber sie schlief, ich weiß nicht, seit wann, und ich war wach, seit vier Monaten, vielleicht, glaube ich. Ich machte alles instinktiv. Und alles tat mir weh, und dennoch war es gut. Ein paar Minuten vom Stall entfernt entdeckte ich eine Anhöhe, von wo aus ich die Landschaft überblicken konnte, die entkleideten Wälder, das sich schlängelnde Band eines schmutzigblauen Flusses, auf die Wiesen geworfene Schneeflecken, eingeäscherte Gutshöfe, ich sah das und nannte es Milenka Carica. Neben dem Stall fand ich eine englische Konservendose und nannte sie Herr Major Oxford, und manchmal schoß ich hinein. Südlich vom Stall zeichnete sich groß wie ein Haus ein dunkler Grabhügel ab, frisch aufgeworfen, kaum ein Jahr alt, noch nicht einmal von Gras überwachsen. Du bist Jakulevo, sagte ich zu ihm. Mein Gewehr nannte ich Anna-Mária Mohács. Manchmal trug uns der Wind Glockengeläut zu, ach, ich grüße Sie, liebe Vera Domitun, nickte ich. Es gab einen Ziegenbock, ein zahmes, doch scheues Tier, das manchmal aus dem Wald kam, voller Schlamm, ich tat ihm nie etwas. Du bist Emil Arbanassi, sagte ich zu ihm. Und so weiter. Ich gab Namen, womit ich natürlich Namen wegnahm, und ich schlief auch weiterhin nicht. Es war Winter, ich weiß nicht, wie lange ich schon nicht geschlafen hatte, wirbelnd fiel der Schnee, aus dem Wind wurde Eis, und wie die Äste in der Dunkelheit zittern. Bis ich eines Tages dachte, wie schlimm es doch ist, daß ich nicht schlafe. Der Schnee strahlte. Eisiges Funkeln überall, die kahlen Äste, der Horizont, und die Musik erklang, daß … ja, genau die. Ich saß neben dem Mädchen und rauchte.

Ich habe Angst, Julia Sunce, sagte ich ihr.

Sie antwortete nicht, sie schlief mit offenem Mund.

Ich verprügelte Julia Sunce, ich trat sie, glaube ich. Julia Sunce blutete, ihr Gesicht war wund, ihre Lippen aufgeplatzt, und es kann sein, daß ich ihr auch einen Finger gebrochen hatte, das kümmerte mich nicht, ich liebte sie. Ich schlief nicht. Sie schlief. Ich zog sie aus und nahm sie. Julia Sunce war unschuldig, und sie schlief.

Und eines Tages, vielleicht war Samstag, oder auch Freitag, brach mir abermals der Schweiß aus, mein Körper glühte, ich begann zu zittern. Es dauerte nicht lange, aber als es vorbei war, wußte ich bereits, was folgen, was jetzt kommen würde, was. Ich hatte bereits ein halbes Jahr nicht mehr geschlafen, glaube ich, und ich wußte, daß ich bald schlafen würde. Das war es wohl, glaube ich, wovor ich Angst hatte, wenn so etwas überhaupt Angst ist. Wenn es das ist. Ich stand am Waldrand, starrte ein neugieriges Reh an, das schieße ich sicherheitshalber noch ab, dachte ich, dann schlossen sich meine Augen von selbst.

Ich stand mit geschlossenen Augen da, wie schon lange nicht mehr.

Das scharfe, blendende Sonnenlicht strahlte durch meine Lider. Mein Gott, sagte ich leise. Mein Gott. Ich schrie nicht. Ich glaube, ich hatte Angst. Langsam ging ich zu Julia Sunce in den Stall, sie schlief immer noch. Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagte. Vielleicht sagte ich auch gar nichts. Meine Augen schlossen sich, während ich spürte, daß ihre sich öffneten.

Julia Sunce, sagte ich leise und öffnete die Augen.

Ihre Brauen zitterten und ihre Augen waren wieder geschlossen. Auch ich zitterte, ich lag neben ihr. Ich wußte, was geschehen würde. In dem Moment, in dem ich einschlafe, wird Julia Sunce erwachen.