Rosalia Fugger-Schmidt

Als Ali Batazar nach Köln zurückfuhr, bat er mich, etwas Wichtiges in meine Obhut zu nehmen. Selbstverständlich, sagte ich zu dem Rasenmeister, für ihn würde ich das tun. Ali Batazar hatte Melinda Pipo in der Stadt Canakkale unweit der Ruinen von Troja gekauft. Das Mädchen war ein echter Flüchtling, und diese Tatsache, das braucht man wohl nicht zu sagen, versprach nichts Gutes. Damals hieß meine Frau Rosalia Fugger-Schmidt, sie war eines der letzten Mitglieder einer sächsischen Familie aus Kronstadt. Um dem Vorwurf berechnender Rührseligkeit zu entgehen, muß ich erwähnen, daß Rosalia Fugger-Schmidt eigentlich nur drei deutsche Wörter kannte: ja, nein und Nille. Zuweilen zischte, schrie, zwitscherte sie auch Warum, meist nur, wenn sie fluchte, die Bedeutung des Wortes kannte sie ja gar nicht. Es stimmt übrigens nicht, daß alle Sachsen in jenen Jahren nach Aachen, Stuttgart oder Kiel übergesiedelt sind, als es genügte, einem Bukarester Beamten ein paar tausend lumpige Mark in den Hintern zu stopfen, damit sich an der Grenze der verrotzte Schlagbaum hob. Etliche sächsische Familien waren geblieben, wie zum Beispiel die Fugger-Schmidt, Petz, Leihofer und Waldhof, die dann für den deutschen Geheimdienst arbeiteten, oder sie ließen sich lebendig begraben, um mit ihren Knochen die geschändete Erde ihrer Vorfahren zu wärmen.

Es gab Tage, an denen sogar der Schnee heimlich fiel.

Als zum Beispiel der Schusterdiktator hingerichtet wurde, lockten die rumänischen Revolutionäre diese sächsischen und ungarischen Dönchen hinter den Büschen hervor, und die Auserwählten mußten das Glied des blutüberströmten toten Despoten, das immer noch zitternd aufragte, mit ihrer Spucke besänftigen. Diese Erde hat die autarke, wilde und unfruchtbare Sinnlichkeit weltverbesserischer Ideen schon immer weit mehr geschätzt als den vorbildlich unterdrückten Achselgeruch der Reformer. Wir haben die Ameisen zertreten, nur um davon träumen zu können, woher sie gekommen sind und wohin sie den Brosamen schleppen. Unsere Träume machten wir dann öffentlich und waren stolz.

Melinda Pipo stand vor mir, den Kopf geneigt, ihre Stirn glänzte, doch sie lächelte nicht, denn sie konnte gar nicht lächeln. An ihrem Kinn sah ich den Glanz von Mohammeds süßem Atem. Einst hatte ihr Jesus persönlich mit einem billigen Schwamm aus Dubrovnik die Knöchel poliert. Irgendein serbisches Lied muß sie verwundet haben, denn an ihrer Schulter schimmerte ein blütenblattförmiger dunkler Fleck. Ich konnte auch sehen, daß sie in ihrer Kindheit zwischen die felshohen Schmerzensschreie rumänischer Baptisten geraten sein mußte, und ihr Befreier, vielleicht ein verwirrt stotternder Ungar, hatte klebrige Asche in ihrem Haar zurückgelassen.

Melinda Pipo strich sich zögernd übers Gesicht. Sofort begann Schnee zu fallen. Dabei war Herbst. Seit Jahrhunderten ist es eine Angewohnheit der Flüchtenden, auf den Himmel einzuwirken und immer hungrig zu sein. Ich wußte auch, daß die Waldhofs aus Torockó sie in einem Bergwerk festgehalten, sie in einem Kippwagen gewiegt und das Glitzern der Steinkohle in ihren Blick geschmuggelt hatten. Im Backfischalter hatte ein jüdischer Zaddik sie begehrt, doch er bat nur um ein Stück ihres Fingernagels. Egal. Vor mir stand das Mädchen, das Eigentum von Ali Batazar, und innerhalb eines einzigen Augenblicks war mir all das durch den Kopf gegangen.

Ich liebe dich, sagte ich zu Melinda Pipo, leise, verloren.

Ja, ich habe tatsächlich Hunger, flüsterte sie.

In diesem Moment stürmte Rosalia Fugger-Schmidt aus dem Haus, meine Frau, die es nicht besonders schätzte, wenn ich anderen Frauen Liebeserklärungen machte, wenn ich für sie sang, wenn ich meinen Samen in ihren Schoß hineinstöhnte. Der bauchige Kölner Karren von Ali Batazar wirbelte den Staub längst unter einem anderen Himmel auf, und nur ein Satz blieb zurück und flatterte über meinem Haus wie ein blutiges Tuch.

»Jede Frau ist eine Niederlage der Schöpfung!«

Diese Botschaft genügte, um zu ahnen, daß niemand zurückkommen und Melinda Pipo holen würde. Flüchtlinge, teure Freunde, werden stets auf halbem Weg im Stich gelassen. Na gut, Melinda Pipo bleibt hier in meinem Haus, weil sie unheilbar hungrig ist. Ich nehme sie auf, etwas anderes kann ich ohnehin nicht tun. Dachte ich. Während meine Frau, Rosalia Fugger-Schmidt, sich dem Gesicht des Mädchens näherte, als sei es ein Spiegel. Sie begann sie auszufragen und tastete sie ab.

Bist du hungriger als dein Vater oder deine Mutter?

Ich bin hungrig wie der Tod, sprach leise Melinda Pipo.

Wie alt ist das Glück, fragte Rosalia Fugger-Schmidt.

Nur einen Wimpernschlag älter als das Unglück.

Was ist demütigender als der Irrtum?

Wenn wir zufällig die Wahrheit sagen.

Wo bist du am hungrigsten?

In meiner Seele, liebe Rosalia Fugger-Schmidt.

Was tun wir, wenn wir mitten im Winter ein Stückchen Sommer finden?

Wir essen es.

Was tun wir mit dem Guten, dem Bösen, dem Schönen und dem Wahren?

Wir essen es.

Wer uns essen will, wie lieben wir den?

Wir essen ihn.

Dergestalt lernten die beiden sich kennen, plaudernd und scherzend, meine teure, gute Frau und ein echter Flüchtling. Dann tanzten sie ins Haus und verschlossen die Tür hinter sich. Ich aber begann wie wild zu trinken. Ich weiß nicht, ob ich das schon erzählt habe, aber ich kannte auch einen Leichenbeschauer, der ebenfalls Ali Batazar hieß, dem Ali Batazar, der mir Melinda Pipo in Obhut gegeben hatte, jedoch überhaupt nicht ähnlich sah, ganz im Gegenteil, der andere Ali Batazar, der im nahe gelegenen Makó als Leichenbeschauer tätig war, hatte feingliedrige Finger und neigte zur Melancholie, während Ali Batazar, der für gutes Geld den Rasen der Fußballmannschaft Fortuna Köln mähte, ein verlogener, aber freundlicher Typ war. Der Makóer Ali Batazar war deshalb Leichenbeschauer geworden, weil für ihn rein äußerlich alle Menschen einander ähnlich sahen – ein charakteristisches, unheilbares Symptom einer verschleppten Melancholie. Ich brauche wohl kaum zu sagen, wie entsetzlich Ali Batazar dort in Makó litt.

He, Jan Mošterović, rief er einer dicklichen Gestalt hinterher.

Aber das war doch Ivan Akoporsjan, der ihn anblinzelte!

Er ging mit Géza Basa in die Kneipe.

Dušan Pavlović soff seinen Schnaps.

Er machte Jennifer Blagas wiegenden Hüften den Hof.

Rosalia Fugger-Schmidt spuckte ihm Gift in die Augen.

Meine Frau, die Rosalia Fugger-Schmidt heißt, schloß sich mit Melinda Pipo in meinem Haus ein. Genügt es, wenn ich sage, daß mein Haus so war wie die Welt? Es sollte genügen. Hoho, und ich wußte sehr wohl, was sie taten. Rosalia Fugger-Schmidt fütterte Melinda Pipo, sie hatte beschlossen, sie aufzupäppeln, dafür zu sorgen, daß sie satt wurde. Das war einfältig, naiv, unverantwortlich, mir fehlen die Worte. Die Monate vergingen. Ali Batazar kam nicht zurück. Einmal bat ich einen meiner näheren Bekannten, einen albanischen Lastwagenzähler namens John McCoy, mir von der gesegneten Pforte der Berliner Volksbühne ein Programmheft mitzubringen. John McCoy lachte herzhaft, und einige Wochen später wand er mir die große Schnapsflasche aus der Hand, um den letzten Schluck abzukriegen. Wieder hatte ich richtig vermutet: Ali Batazar war nicht mehr Rasenmeister bei Fortuna Köln. Er war Schriftsteller und Regisseur geworden, und sein erstes Stück, der marathonhafte Einakter »Lauf zu den Dardanellen« wurde bereits mit alle Erwartungen übertreffendem Erfolg an der Volksbühne gespielt. Das Stück handelte davon, daß das so sehr zur Selbstironie neigende deutsche Volk sich im nächsten Jahrhundert auf die Flucht begeben wird, vor allem in Richtung Türkei, Kurdistan und Afghanistan. Die Deutschen arbeiten bei türkischen Familien, säen und ernten auf weitläufigen pakistanischen Feldern und verkaufen Zeitungen in Kabul, Warschau und Istanbul. Es wurde nicht ganz klar, was den Exodus ausgelöst hatte, das Stück jedenfalls wollte von existentiellen und wirtschaftlichen Gründen wissen, beziehungsweise von tiefenpsychologischen Zusammenhängen. Mir fiel sofort ein, daß ich meine Frau, Rosalia Fugger-Schmidt, und Melinda Pipo seit Monaten nicht gesehen hatte. Ich brach in mein Haus ein und begann sie fluchend und blindwütig zu suchen. Blieb ich in der Küche stehen, hörte ich vom Wohnzimmer her das Schmatzen. Kletterte ich auf den Dachboden, rülpste jemand im Keller.

Rosalia Fugger-Schmidt, schrie ich.

Ich bin hungrig, hörte ich Melinda Pipo.

Meine teure Frau, flüsterte ich gequält.

Ich bin hungrig, ächzte Melinda Pipo.

Leicht betrunken, ich leugne es nicht, dachte ich, daß alles vom Wohlwollen des Schicksals abhängt. Denn wo man mit den Launen des Schicksals rechnen kann, dort gibt es gewiß auch Geschichte, zumindest kann man von ihr sprechen. Und was tue ich jetzt anderes?! Der Weg einer Ameise hat etwas Schicksalhaftes. Doch muß man wissen, daß das Schicksal eine Aufgabe ist, in der wir die Gleichung sind, das heißt, daß niemals wir selbst es sind, die die Aufgabe lösen, wir unterziehen uns ihr nur. Und auch das Ergebnis ist nicht unseres, denn wir können aus unserem Schicksal weder lernen noch Ruhe schöpfen. Wenn aber eine unachtsam oder mutwillig erhobene Stiefelsohle einen ganzen Ameisenhaufen zertritt – darin liegt nun keinerlei Schicksalhaftigkeit. Ein am Unterarm tätowierter Schriftsteller hatte recht, als er es für das bedenkenswerteste Ereignis des Jahrhunderts hielt, daß eine bestimmte Gruppe von Menschen ihres persönlichen Schicksals beraubt wurde. Doch auch der Schnee hatte recht, wenn er zuweilen heimlich fiel. Ich hatte in Makó, Novi Sad, Segedin unzählige Freunde, doch irgendwann mußte ich einsehen, daß ich nur der Chronist des Verlustes sein konnte. Mir wurde bewußt, daß ich mich mein ganzes Leben nach Rosalia Fugger-Schmidt sehnen, daß die Erinnerung an sie meine Tage ausfüllen würde. Nicht Melinda Pipo ist meine Liebste. Aber da war es schon zu spät. Als es Frühling wurde, hatte Melinda Pipo, die aus Troja gekommen war, meine Frau aufgegessen. Ich glaube, sie hat sie mit Haut und Haar verschlungen. Eines Morgens setzte sich das Mädchen auf die Veranda und lächelte. Vielleicht hatte sie um dieses sanften Lächelns willen meine Frau aufgefressen. Ich weiß es nicht. Der Himmel sah aus wie mit strahlenden Hirsekörnern bestreut.

Ja, nein, Nille.

Warum.

Ich bin hungrig, sprach Melinda Pipo.

Gib mir zu essen, bettelte sie.

An jenem Vormittag besuchte mich Ali Batazar. An seinem Ledergürtel funkelte ein ziemlich großes Skalpell, er hatte auch einen Zwiebelkranz und murmelte, daß es den Jungs in Köln jetzt nicht gerade gutgehe. Der Direktor sei nervös wie der Wind.

Ei, Ali Baltazar, mach dich nicht über mich lustig!

Es war nicht ernst gemeint, sagte Ali Batazar aus Makó.

Endlich bemerkte er den Körper des Mädchens. Sie lag im Staub, vor der Veranda, wo ich sie liegen gelassen hatte. Es gibt kein Verzeihen. Wirklich nicht.

Arme Melinda, kratzte er sich die Stirn, was hat sie nur?

Naja, sie ist erstickt.

Hat sie sich beim großen Fressen verschluckt?

Ich habe sie erwürgt, Ali Batazar.

Ich verstehe, nickte er wichtigtuerisch.

Von wegen, schüttelte ich den Kopf, du verstehst überhaupt nichts, Ali Batazar, solange du dein Skalpell nicht durch Menschenfleisch geführt hast. Dann trugen wir das tote Mädchen ins Haus. Nun ja. Mein Haus. Daß mein Haus so ist wie die Welt. Man brauchte Melinda Pipo fast nicht zu bewegen. Dann öffnete mein guter Freund aus Makó den Körper und betrachtete mit Genuß das makellose System des Gewebes, des Fleisches, der Organe und Blutgefäße.

Kompliziert, nicht, sagte er, sich umblickend.

Was läßt Rosalia Fugger-Schmidt ausrichten, fragte ich.

Ali Batazar aus Makó betrachtete lange das starre Herz.

Sie läßt dir sagen, du sollst sie heimbringen.

Rosalia Fugger-Schmidt läßt dir sagen, du sollst das Mädchen heimbringen, nach Canakkale, Köln oder Troja.

Damit nähte er den Körper zu und stellte ihn ordentlich auf die Beine. Er gab dem Mädchen etwa zwei nach Zwiebeln aus Makó duftende Ohrfeigen. Melinda Pipo schüttelte sich.

Ich bring dich heim, sagte ich zu Melinda Pipo.

Ich bin hungrig, antwortete sie.

Heimlich begann Schnee zu fallen.