Emilia Kaštja

Auch Emilia Kaštja hatte als Kriegshure angefangen, aber neuerdings ging sie mit Predrag Nagy. Emilia Kaštja war von Kopf bis Fuß mit Gold und Schmuck behängt, und sie war schön wie das gefrorene Lächeln der Toten. Ich hatte trotzdem keine Angst vor ihr. Mein Vater war Totengräber gewesen, darum bin wohl auch ich einer geworden, mir war gar nicht in den Sinn gekommen, daß ich genausogut einen anderen Beruf hätte wählen können, daß ich auch, sagen wir, Lastwagenfahrer, Soldat oder Schmuggler hätte werden können. Bei uns ist jeder zweite Schmuggler, das sind die Verhältnisse. Lange schon habe ich mich den Toten verschworen, ich habe keine Angst vor ihnen, ich halte sie weder für schön noch für häßlich. Ich rede mit ihnen, lobe oder tadle sie, sage zu ihnen Dinge wie: Hej, Vladimir Kozma, war doch schade, sich so zu beeilen! oder: Tante Mara, Tante Mara, wie oft sich schon der Vollmond auf Sie gestürzt hat! Einmal hat mein Vater ein zehnjähriges Mädchen namens Mamia beerdigt, das gestorben war, weil – zumindest hieß es in Belgrad so – ihr Herz zu wachsen begonnen hatte. Sie trug Zöpfe, bunte Schleifen, ich erinnere mich genau. Ich stieg zu ihr in den geöffneten Sarg, legte mich neben sie. Und dann, zum ersten Mal in meinem Leben, wurde es gut. Ich rührte das Mädchen nicht an, lag nur daneben, bis sich endlich mein Samen ergoß, dann schlief ich ein, und so, glaube ich, fand mich die Mutter des Kindes, eine Hebamme aus Jakulevo. Es war ein großer Skandal, denn die Eltern von Mamia wollten mich anzeigen, sie zischten und schrien, ich hätte ihre kleine Tochter im Tod entehrt, worauf ich sie nur anschaute, und der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß der Tod mit mir ist, und ausgerechnet da, genau in diesem Moment ertönte Radio Gibraltar.

Es sagte die Namen durch.

Ich hörte die Namen von Bekannten und Unbekannten, und sie waren alle schon tot, doch einmal, vielleicht vor zehn, vielleicht vor hundert, vor tausend Jahren hatten sie auf diesem Acker gescharrt, Mauern errichtet und Zäune zusammengetakelt, hatten hier mit dem Wind getanzt, mit dem Mondschein, hatten in den Armen des Scheiterhaufens gelegen, sich unter Schneeberge verkrochen, und manchmal hatten sie, einer Decke gleich, den Sternenhimmel über sich gezogen und darunter gebibbert.

Seit etwa zehn Jahren gab es nicht einen Augenblick, in dem Radio Gibraltar in mir verstummt wäre. Manchmal wurde es sehr leise, aber nie ging es ganz aus. Ich halte das für keinen natürlichen Zustand, und ehrlich gesagt leide ich auch darunter, besonders seit ich verliebt bin.

Ich habe zum Beispiel beobachtet, daß der Schatten von Emilia Kaštja unablässig tanzt, wenn sie geht. Ich habe auch beobachtet, daß sie oft Johannisbrot kaut, was bei uns als Zeichen unerträglicher Leidenschaft gilt. Ich habe auch gehört, und das gefiel mir ganz besonders, daß sie an Sommertagen ihren Körper mit Zuckerwasser begießt, sich dann unter den vor Hitze erstickenden Himmel legt und wartet, bis die Schmeißfliegen und Wespen sie über und über bedecken. Ihr Haar hat sie sich schon vom Friedhofswächter kämmen lassen und von der Hebamme. Jetzt geht sie mit Predrag Nagy, doch besonders glücklich scheint sie nicht zu sein.

Unser Predrag Nagy war einer der wichtigsten Leute von Milenka Carica und ein echter Held. In Jakulevo war er sehr aktiv gewesen, er hatte lange nur mit einer Flinte in den Bergen um Sarajevo gelebt, im Sommer ging er auf Haifischjagd an der Adria, und es war ihm gelungen, die Schmugglerfürsten auf seine Seite zu bringen. In unserer Gegend gehörte ihm alles, die Kirche, der Friedhof, die Bibliothek und das goldgeschmückte Restaurant Adria. Predrag Nagy war ein derart großer Held, daß er vor Jahren sogar Schriftsteller gekauft hatte, noch dazu, wie man gern sagt, Schriftsteller unterschiedlicher Stilrichtungen, moderne und solche, die um die althergebrachten Worte wissen, gelehrte und intuitive, solche, die der Weisheit, andere, die der Sinnlichkeit zugetan waren. Predrag Nagy hatte sie gekauft, und seinen Blick, anders kann ich es nicht sagen, ließ er in die Seelen dieser Schriftsteller einziehen, denn niemand in unserer Gegend hatte einen schöneren Blick als Predrag Nagy. Sein Blick heilte Wunden, die aber, war Schmerz vonnöten, aufbrachen und purpurrot pulsierten, als wollten sie gleich entschweben. Predrag Nagy läßt es den Schriftstellern gutgehen, er kümmert sich um sie, wenn sie krank werden. Mit seinem Blick schlägt er ihnen Wunden, dann heilt er sie wieder. Wenn ihre Seele leidet, was bei Schriftstellern häufiger vorkommt, singt er für sie und prügelt sie, bis sie sich beruhigen und in einem stillen Kellerraum des Hotels Adria von neuem zu schaffen beginnen, ganz tief unter der Erde, fast wie im Leib von Milenka Carica.

Auch damals war ich gerade bei der Arbeit, ich erinnere mich genau. Bis zu den Knien stand ich in der Erde, als mein Gesicht von etwas sehr, sehr Feinem berührt wurde. Als hätte sich aus dem Stoff des müde gewordenen Abendwindes ein glänzender Faden gelöst. Ich ließ den Spaten fallen und wischte meine Hände an der Hose ab. Vorsichtig tastete ich über mein Gesicht. Ein langes, rotes Haar war an meine Stirn geweht und klebte dort fest.

Ha, lachte ich, ha, ha.

Emilia Kaštja hatte ein Haar verloren. Ich wünschte das Grab zum Teufel und rannte zu ihr. Das war natürlich keine leichte Sache. Zäune, Wächter mit Hunden, Neugierige überall, still, mit tödlichem Lächeln. Einem Wächter mußte ich versprechen, daß ich ihn beerdigen würde. Ein anderer Beamter befahl mir, wenn er sterbe, solle ich ihm heimlich die Bilder seiner Feinde mit ins Grab legen, damit er auch dort unten jemand habe, den er hassen könne. Endlich betrat ich den Hof des Restaurants Adria. Emilia Kaštja tanzte auf der Veranda und kämmte sich dabei. Ihr Blick streifte mich kurz.

Sie hatte als Kriegshure angefangen. Jetzt schaut sie an der Seite von Predrag Nagy in den Himmel.

Du erwartest sicher reiche Belohnung, Sascha Grab, sagte sie sofort, als ich vor ihr stehenblieb.

Ja, Emilia Kaštja, Belohnungen interessieren mich, sagte ich leise.

Ich fühle mich so sonderbar in letzter Zeit, sagte sie.

Sie starrte mich forschend an. Sie versuchte, mich zu durchschauen, wie man so sagt, meine Ziele zu ergründen. In mir tönte leise, wie der Himmel, Radio Gibraltar. Das Mädchen wühlte nervös in seinem Haar.

Ich habe Gold, soviel ich will.

Ich weiß, Emilia Kaštja, sagte ich.

Wenn ich will, beten alle Soldaten für mich.

Ich weiß, Emilia Kaštja.

Im Restaurant Adria erklang plötzlich Musik. Milenka Caricas Leute musizierten unter Tränen, wie es neuerdings üblich ist. Ein Schriftsteller, ich glaube, sein Name war Milorad Borzo, denn ich hatte schon einmal einen Verwandten von ihm begraben, stieg gerade in den gekachelten Pool des Restaurants. In die Kacheln waren die Namen von Milenka Caricas Helden eingebrannt, und der Anblick war phantastisch, denn es war, als schwömme der massige Milorad Borzo mit dem behaarten Rücken zwischen den lebendigen, lebenden Namen wie in einem Schwarm schillernder Goldfische. Niemand soll glauben, man könne die Vergangenheit nicht schmücken oder angenehm gestalten. Sicher kann man das. Milorad Borzo reckte beim Schwimmen den Hals aus dem mit goldglänzenden Namen bemalten Wasser. Eine schwarze Dogge folgte ihm auf weichen Pfoten, draußen, am Marmorufer.

Du scheinst ein schlauer Mensch zu sein, Sascha Grab, sagte Emilia Kaštja leise und schlug mir mit ihrer goldbesetzten Hand ins Gesicht. Blut floß mir ins Hemd.

Ich bin nicht schlau, Emilia, nur verliebt wie der Wind.

Ich fühle mich so sonderbar, wiederholte sie träumerisch.

Die Dogge begann jämmerlich zu winseln, doch Milorad Borzo schwamm weiter.

Ich gehe jetzt, Emilia Kaštja, ich muß noch Bauer Pedrić beerdigen, dem es im Herzen dunkel geworden ist.

Ich wußte nicht, was jetzt werden würde, denn ich bin wirklich kein schlauer Mensch. Nur wie all die anderen Staubpuster und Himmelfresser, ich tue meine Arbeit, manchmal bleibt mir Fleisch zwischen den Zähnen hängen, manchmal weine ich ohne Grund und tue mir leid, dann wieder stolpere ich zwischen den Erdhügeln in meinem Friedhof herum und versuche die efeuüberwucherten grauen Grabsteine davon zu überzeugen, daß man es hier, selbst wenn es nicht ganz so gut ist, wie manche behaupten, ganz gut aushalten könne. Und dabei tönt in mir Radio Gibraltar. Wenn jemand das für einen Trick von mir hält, so sollte er bedenken, daß ich nie jemanden betrogen habe. Aber nicht, weil ich etwa so rechtschaffen wäre. Sondern weil mich die Lüge nicht interessiert. Und auch das Morden interessiert mich nicht. Höchstens, wenn man mich ermorden wollte, das schon, ein bißchen würde mich das vielleicht interessieren. Denn am meisten interessiert mich die Liebe.

Am nächsten Tag fiel Emilia Kaštja zum ersten Mal in Ohnmacht. Man feierte den Namenstag eines Helden von Milenka Carica. Einige Birken, Bauernhäuser und Jungfrauen aus der Umgebung waren in Gold und in Silber gekleidet worden, an einigen altehrwürdigen Orten hatte man Kränze niedergelegt, und als von der Veranda des Restaurants Adria die Gewehrsalve zum Ehrensalut ertönte, glitt Emilia Kaštja langsam neben Predrag Nagy auf die funkelnden Fliesen hinab und blieb reglos liegen.

Ihre Augen standen weit offen, als sähen sie Engel.

Ihre Hände waren kalt, als berührten sie Engel.

Ihre Beine waren steif, als träten sie auf Engel.

Nur ihr Schoß war heiß, als habe sie während des Festes ständig an einen anderen gedacht, während Milenka Caricas Leute musizierten, während sie ihre üblichen Flüche ausstießen, während sie ihre Gewehrläufe leckten. Keiner wußte, was Emilia Kaštja hatte, nur ich, dabei bin ich kein schlauer Mensch. Sie musizierten ihr in die Ohren, rieben ihr die Brust mit Mentholwasser ein, wärmten ihr die Achselhöhlen mit Salz, träufelten ihr Honig auf die Scham, doch sie kam nicht zu sich. Erst einige Tage später erwachte sie, als ich endlich einen jungen Kämpfer namens Aljoša Papa begraben hatte und von der Arbeit derart müde geworden war, daß ich auf seinem Grab einnickte und mir eine Schnecke über die Stirn kroch.

Es folgten sonderbare Wochen, und dabei bin ich, wie gesagt, kein schlauer Mensch. Emilia Kaštja verlor immer wieder das Bewußtsein, mal beim Tanzfest, dann beim Rezitierabend auf der Veranda des Restaurants Adria. Emilia wurde beim Tanzen ohnmächtig. Das Johannisbrot fiel ihr aus dem Mund, ihr Schatten und ihre Stirn wurden ohnmächtig, ohnmächtig wurde auf ihren nackten Schultern das strahlende Licht des frühen Nachmittags. Eines Tages kam Predrag Nagy zu mir. Auch da war ich gerade bei der Arbeit, wie gewöhnlich. Na klar. Ich hob gerade das Grab für Bora Klein aus, in dessen Körper sich der Wind verirrt und ihm zuerst die Zunge, dann die Hände und schließlich die Augen gemordet hatte. Der arme Bora Klein war dick gewesen, man mußte für ihn eine ganz schön große Grube schaufeln. Predrag Nagy stand neben dem frischen Erdhügel, er sagte nichts, starrte mich nur an. Ihm zu Füßen saß ein Hund, eine riesige schwarze Dogge.

Ich höre, du hast ein Radio, Sascha Grab, sagte er schließlich.

Sie haben richtig gehört, mein Herr, blickte ich zu ihm auf, dabei bin ich kein schlauer Mensch. Ich wußte nur, daß sein Blick mir nichts anhaben kann.

Was ist denn das für ein Radio, Sascha Grab?

Ich nenne es einfach nur Radio Gibraltar.

Also, lächelte Predrag Nagy, das Todesradio.

So kann man es auch sagen, Herr Predrag.

Warum, wie kann man sonst noch sagen?

Ich wünsche Emilia Kaštja gute Besserung, antwortete ich.

Du bist ein schlauer Mensch, Sascha Grab, sehr schlau.

Ich bin nicht schlau, Herr Predrag, ich habe in meinem Leben nur schon ziemlich viele Gruben geschaufelt, versuchte ich jetzt tatsächlich schlau zu sein. Aber dabei hätte ich fast den kürzeren gezogen. Die behaarte Hand von Predrag Nagy senkte sich auf den Kopf der Dogge.

Hier ist dieser gute Hund, sagte er leise, sanft. Er heißt Slava Caesar. Du müßtest eine Nacht lang auf ihn aufpassen.

Ich schaute den Hund an wie Erde, in die man keine Grube graben kann.

Das tue ich gern, sagte ich leise.

Na, dann geh, Slava Caesar, sagte Predrag Nagy und gab dem Hund mit dem Gewehrlauf einen Klaps auf den Hintern. Aber das Tier machte sich steif. Es begann die Zähne zu blecken, besudelte mich mit weißem Geifer. So sehr Predrag Nagy sich auch abmühte, der Hund kam nicht zu mir, er blieb keine zwei Minuten, von einer ganzen Nacht gar nicht zu reden. Vielleicht weil er den Geruch des Todes nicht ertrug. Vielleicht weil er Angst vor mir hatte. Leise, wie der Himmel, tönte in mir Radio Gibraltar, zählte die Namen auf. Predrag Nagy packte mich am Hemdkragen und zischte mir aus solcher Nähe ins Gesicht, daß ich den Totenkopf sehen konnte, der in seinen goldenen Eckzahn eingraviert war.

Sehr schlau von dir, Sascha Grab!

Dann schlug er mich nieder und ging.

Dabei bin ich gar nicht schlau, ich liebe nur. Oder ich könnte auch sagen, mir gehört der Tod, und mir gehört die Liebe. Ich weiß nicht, woher ich die Fähigkeit habe, so zu lieben, so stark, und warum und vor allem weshalb manche, wenn sie etwas von der Kraft meiner Leidenschaft spüren, dies für Schlauheit halten. Ich sage nicht, daß ich etwas von Liebe verstehe. Wer das von sich glaubt, vermodert schon zu Lebzeiten vor lauter Klugheit. Auch ich verstehe nichts von Liebe, nur kann ich mich eben nicht zügeln. Denn ich sehe sogar den Toten an, wer in seinem Leben geliebt hat und wer nicht. Dieser wußte um seine Seele, jener ließ sie flattern, und dem dritten war sie zu nichts nutze. Ich bin verliebt, so sehr, daß Emilia Kaštja von dieser Liebe ständig in Ohnmacht fällt, denn sie vermag sie nicht zu ertragen. Ganz schutzlos ist sie geworden, und ob sie das wollte oder nicht, ob sie sich nach dieser Schutzlosigkeit sehnte, mir ist es gleichgültig. Sicher leidet auch sie darunter. Daß sie so sehr geliebt wird. Und ausgerechnet von einem Totengräber.

Emilia Kaštja ging auf den Markt und fiel in Ohnmacht.

Sie lauschte den Gedichten von Milorad Borzo und fiel in Ohnmacht.

Sie spielte mit Slava Caesar und fiel in Ohnmacht.

So ging das. Predrag Nagy ließ für viel Geld Ärzte aus dem Ausland kommen, aber auch sie konnten dem Mädchen nicht helfen. Allenfalls murmelten sie, daß ihr eine Luftveränderung guttäte. Eine Reise nach New York, nach Den Haag, ein Tag in Sarajevo, das gerade wieder aufgebaut wurde. Schließlich kam Predrag Nagy wieder zu mir. Der Militärjeep fuhr auf den Friedhof, rollte über einige Grabhügel. Predrag Nagy entstieg ihm, schön wie ein König.

Ein schlauer Mensch bist du, Sascha Grab, rief er.

Ich bin nicht schlau, Herr Predrag, keuchte ich aus der Tiefe des Grabes. Leise, wie der Himmel, tönte in mir Radio Gibraltar. Predrag stieß mir Erde ins Gesicht.

Wenn Emilia Kaštja noch einmal in Ohnmacht fällt, gebe ich dich Slava Caesar zum Fraß.

Er zündete sich eine Zigarre an, schnippte das Streichholz in die Grube. Ich wußte, daß das eine leere Drohung war. Slava Caesar würde von mir nicht einmal so viel wie ein kleines Kinderherz abbeißen, so sehr widere ich ihn an. Und dann hatte ich das Gefühl, daß auch Slava Caesar verliebt ist.

Ich verstehe, Herr Predrag, nickte ich trotzdem.

Ich wußte nicht, was werden würde. Ich plante auch nicht, ich wartete nur, denn ich war so verliebt, daß ich mir dachte, Warten genügt. Und eines Tages mußte Predrag Nagy dringend in den Süden reisen. Seine Geschwister riefen ihn, die von den Bergen begraben zu werden drohten, vor deren Gärten Feuer aufflammten, aus deren Seen die Wellen gestohlen wurden. Predrag Nagy tanzte eine Nacht durch, ließ sich eine hungrige Wildkatze in den Sack nähen und einige Bienen in den Schnurrbart kämmen, dann ging er. Vom Friedhof aus sah ich, wie die Militärjeeps aus dem Hof fuhren. Schüsse krachten, Gegröle, dann wurde es still. Es war Vollmond. Leise tönte Radio Gibraltar. Und ich beerdigte, denn ich mußte beerdigen, doch einige Tage später torkelte Emilia Kaštja zittrig, schwindelig, halb ohnmächtig auf den Friedhof. So lange hatte ich warten müssen. Doch nicht länger. Es war Nacht. Vorwurfsvoll blickte Emilia Kaštja mich an. Ihre Lippen bebten, ihre nackten Schultern leuchteten in der Nacht.

Was willst du von mir, Sascha Grab?

Dich will ich, Emilia Kaštja, sagte ich.

Sie starrte wie hinter einem fleckigen Fensterglas hervor. Sie steckte sich die Nägel in den Mund und kaute in ihrer Ratlosigkeit daran. Ich habe nicht gewußt, daß Frauen sogar an Kunstnägeln kauen.

Aber warum ausgerechnet mich, Sascha Grab?

Ich möchte, sagte ich, während ich mir die verschwitzten Hände an der Hose abwischte, daß du dabei schreist. Oder kreischst. Sing für mich. Sei sehr laut, darum bitte ich dich, Emilia Kaštja.

Ich mag es aber stumm, widersprach Emilia Kaštja.

Mit mir muß es aber laut sein. Sehr laut. So laut, daß dabei alles andere verstummt. Verstehst du?

Ich verstehe, sagte Emilia Kaštja und setzte sich auf einen frischen Erdhügel. Sie warf das Gold von sich ab, schmiß alles in das Grab. Sie schlüpfte aus ihrem leichten Sommerkleid, auf dem griechische Schwalben einander jagten, und ihre Schultern bewegten sich kaum. Emilia Kaštja war nackt, aber noch lächelte sie nicht.

Ich bin kein schlauer Mensch, sagte ich.

Emilia Kaštja lächelte endlich und lehnte sich zurück, langsam und vorsichtig, alles darbietend, was sie nur zu bieten hatte. Sie sagte nicht, ihr Körper gehöre mir, sondern daß sie mir bei allem helfen würde. Und das war, glaube ich, mehr als alles andere. Ich ließ mich auf sie nieder und tat mein Glied dorthin, wo sich ihr Körper mir öffnete. Ich drang in ihr Fleisch. Und ich war darin und rührte mich nicht. Es war gut, in ihr zu sein, und daß es damit auch genug war. Vielleicht hatte ich auch ein bißchen Angst. Man muß sich nicht bewegen, man muß nur in einem anderen Menschen sein, lange, reglos. Leise tönte Radio Gibraltar, zählte die Namen auf. Emilia Kaštja wandte den Kopf ab und keuchte laut. Ich war auf ihr, in ihrem Fleisch, als mich ein seltsames Gefühl ergriff. Daß wir nicht allein waren. Daß, wenn man es tut, immer jemand von oben zusieht.

Wir sind nicht allein, sagte ich.

Ich höre dein Radio, Sascha Grab.

Gott sieht uns zu, Emilia Kaštja.

Ich höre dein Radio, Sascha Grab!

Ich höre es! Ich höre es! Ich höre es!

Schließlich kam die Morgendämmerung. Über uns wälzte sich der Dunst. Aber natürlich. Ich hatte gedacht, daß es in meinem Leben einen Moment geben würde, wo ich Radio Gibraltar nicht hören würde. Einen einzigen solchen Moment würde es geben, und das würde auch genug sein. Das würde mich vielleicht beruhigen. Mein Plan, meine Sehnsucht war, daß Emilia Kaštja mir dabei half. Ich hatte mich getäuscht. Oder ich weiß nicht. Denn dort unter dem Nachthimmel, während ich im Körper des Mädchens war, während ich ihr zu beweisen versuchte, daß wir nicht allein waren, während sie kreischte, deklamierte und sang, winselte und keuchte, ganz wie ich sie gebeten hatte, geschah etwas mit Radio Gibraltar. Das Radio sagte auf einmal den Namen von Emilia Kaštja an.

Das Mädchen erstarrte plötzlich.

Gott mit dir, Sascha Grab, hauchte sie mir ins Gesicht.

Und Radio Gibraltar sagte wieder den Namen von Emilia Kaštja an, was ganz unüblich war, denn in der Vergangenheit treiben, schwimmen und drängen sich derart viele Namen, daß bei Radio Gibraltar Zeit und Platz nicht ausreichen, um den einen auf Kosten des anderen zu wiederholen oder besonders hervorzuheben, dachte ich, bisher zumindest, doch als Radio Gibraltar den Namen von Emilia Kaštja schon mindestens zum hundertsten Mal ansagte, wußte ich, daß es unwiderruflich war. Vielleicht geschah, was ich mir immer erträumt hatte.

Jetzt war schon Vormittag, denn der Rücken tat mir weh.

Ich hob das Grab aus und hörte Radio Gibraltar. Und auf einmal sah ich, wie sich Beine zögernd näherten, ich sah die hechelnde, zum Zubeißen bereite Fratze des Hundes, und Augenblicke später standen Milorad Borzo, der Schriftsteller, und Slava Caesar, die schwarze Dogge, neben mir. Sie starrten das Mädchen an, meine Geliebte, Emilia Kaštja, die ich auf den Boden gelegt hatte. Milorad Borzo nickte und zündete sich eine Zigarette an. Dann zeigte er auf den Hund.

Ich habe ihn nur für eine Nacht aufgenommen, sagte er leise.

Slava Caesar schaute uns an, als verstünde er die menschliche Sprache. Emilia Kaštja, Emilia Kaštja, Emilia Kaštja, tönte Radio Gibraltar. Der Hund leckte dem Schriftsteller die Hand, der sich daraufhin nervös ins Haar griff. Er rieb sich die Stirn.

Das ist Wahnsinn, wirklich nur ein einziges Mal, wiederholte er wieder und wieder.

Plötzlich bückte er sich zu mir. Er bemühte sich zu flüstern, damit nur ich es hörte.

Sag, Sascha Grab, wie machst du das! Ich bitte dich, sag es mir! Wenn er einmal ohnmächtig würde, könnte ich ihm vielleicht entfliehen.

Radio Gibraltar tönte in mir, wiederholte ständig den Namen Emilia Kaštja. Motorengedröhn und wilde, traurige Musik waren aus der Nähe zu hören, möglich, daß Predrag Nagy mit seinem Gefolge zurückgekehrt war. Der Held war zurückgekehrt, die Berge stehen fest, in den Gärten ist es wieder still, und auf den Seen wogen sacht die Wellen. Jetzt also muß ich Emilia Kaštja beerdigen. Und wie ich unter den Körper des Mädchens griff, näherte sich die Fratze des Hundes. Slava Caesar starrte Milorad Borzo an, den Schriftsteller.

Milorad Borzo, Milorad Borzo, Milorad Borzo, hörte ich aus dem Kopf des Hundes.

Und Slava Caesar weinte dabei.