Eva Rajnak

1.

Ein Handelsvertreter brachte die Nachricht, daß in der Grabsiedlung etwas Ungewöhnliches geschehen sei. Natürlich wurde ich, Baum, mit der Angelegenheit betraut, soll doch er die Reise hinter den Rücken Gottes machen, wenn es, witzelten seine Kollegen, überhaupt eine Region gebe, die nicht hinter dem Rücken Gottes liege. Baum zuckte mit den Achseln, schnupfte und nahm noch am selben Tag das Tagegeld und die Dienstwaffe entgegen. Vor Anspannung hörte er sein Herz klopfen. Zehn Jahre hatte er auf die Grabsiedlung gewartet, ganze zehn Jahre. Baum bin ich, des öfteren muß ich von ihm sprechen, als wäre er ein anderer. Baum bin ich, und er muß in den Süden reisen, um die Sache mit Popačka zu Ende zu bringen. Vor zehn Jahren hatte Popačka damit angefangen, seit genau zehn Jahren zog er durch dieses schrumpfende, in Blut, Haß und Frühlingslicht erstickende Land, und Baum wußte seit langem, daß es die Grabsiedlung sein würde, wo die Menschen zum letzten Mal das Kreuz aufrichten, um Gott zu versuchen. Oder zu korrigieren, wer weiß. Mit der Grabsiedlung endete die Geschichte. Und alles war nur eine Frage der Zeit, ein Monat, oder zwei, Popačka wird bestimmt kommen, und schließlich erschien er auch, denn an jenem lauen Frühlingstag, der leichte Windbrocken über die Saat fegte, blieb ein Handelsvertreter vor dem Büro stehen, klopfte verlegen an die Glastür, um dann in langen, ein wenig umständlichen Sätzen, mit fiebrig glänzenden Augen und zuckender Stirn darzulegen, daß in der Grabsiedlung etwas Außergewöhnliches geschehen sei, ein Ereignis, das unbedingt gemeldet werden müsse. Baum hatte den Ort längst auf der Karte markiert. Die Siedlung war so unbedeutend, daß man sie darauf nicht fand. Von der Wandkarte blickte ihm seit Wochen ein Gesicht entgegen. Die von einer Ansiedlung zur nächsten verlaufenden Linien erinnerten an die Züge des berühmten und geheimnisvollen Jesus Partisan, ein Werk des Belgrader, später in Paris begrabenen Malers Miloš Vetrov.

2.

Süden, das ist die Hoffnung. Wenn du nach Süden unterwegs bist, erreichst du am Ende das Meer und kannst darin ertrinken. Im Süden sind die Berghänge wärmer, die Worte lauter, aber sie verflüchtigen sich auch leichter, und wenn es dämmert, ist von den Legenden nur noch eine armselige Episode übrig. Ich war glücklich, weil ich nicht anders konnte. Die Grabsiedlung wartete, Popačka wartete. Baum brach auf, und er lächelte nicht. Ich dachte, daß nichts hilft, in keiner Lage, es aber Hilfe dennoch gibt. Jemand warf auch die Frage auf, wie aus nichts etwas wird. Eva Rajnak hieß das Mädchen, und was für ein Geschöpf sie tatsächlich war, weiß ich nicht. Ich war bis jetzt natürlich nichts und niemand, einfach nur Baum. Ich weiß nicht einmal, seit wann. Baum, der Beobachtungen macht. Die Erinnerung an den Winter öffnet der Reihe nach ihre Schubladen und wirft uns Kittel über, von denen wir gar nichts gewußt haben. Ich reiste also. Es war eine Landschaft, wo die Hoffnung kuscht und sich zwischen Strünke, rieselnde Grassamen und verschimmelte Schierlingsstengel ducken muß, während sich die Hoffnungslosigkeit laut und selbstgefällig aufbäumt. Süden, das ist die Hoffnung. Ausgemergelte Gestalten schleppten sich am Straßenrand dahin. Sie schaufelten Mist, verbrannten durchnäßtes Unkraut, beschnitten Bäume oder saßen einfach nur da und starrten rauchend in das graue Land, in dem sie geboren waren. Kinder liefen mit übernächtigten, zerknitterten Gesichtern die sandigen Steigungen hinauf und hinab. Der Himmel war von schimmeligem Nebel verdeckt, und sobald das Licht durch die schmutzigblauen Schwaden drang, schien es schon mit einer korrumpierten Naivität zu verkünden, daß alles, was du von einem Tag in den anderen hinüberretten darfst, nur Verschwendung der Hoffnungslosigkeit sein kann. Mein Name ist Baum, und oft spreche ich von mir wie von meinem Feind. Das Mädchen heißt Eva Rajnak. Ich beobachte meine Bewegungen und Gedanken, wie ich es bei meinem Feind tun würde, weil ich nicht mehr fähig bin, gut oder böse zu sein, Als Kind habe ich einmal in einem Schulbuch einen Aufgehängten gesehen, die Henker standen neben ihm, es war Krieg, sie waren Soldaten. Sie rauchten, lächelten blinzelnd. Einer von ihnen löffelte eine Konserve. Die beklemmende Angst, die mich damals ergriff, begleitet mich bis heute, die Ungehörigkeit des Todes, sozusagen, aber dann beruhigt mich der Gedanke, daß ähnlich auch unsere einsame Agonie auf einer sonnigen Waldeslichtung von der Welt, von den Käfern, den silbrig zitternden Birkenblättern, den Kamillenblüten, vom Wind, von einem streunenden Tier, von wem auch immer, belauscht werden könnte. Ich glaube, auch deshalb bin ich Dokumentar geworden. Damals glaubte ich, daß auch die Geschichte nur aus Bildern besteht, aus Büchern und Ansichtskarten, einer Jahreszahl und noch einer, die Zeit, wie sie eine Form sucht und alles, alles ausprobiert, und alles ohne Erfolg. Auch ein Buch ist nur ein Schaukasten. Tote, schwerfällige Formen. Was jedoch mit meiner Hand und meinem Gesicht geschieht, entspringt dem Schicksal. Ich habe mich noch nicht an die Nähe des Todes gewöhnt. Schmerzen ertrage ich bis zu einem gewissen Grad. Das Leiden habe ich mir als eine Art Gnade vorgestellt, obwohl ich noch nie richtig gelitten habe. Manchmal schrecke ich aus dem Schlaf, weil neben mir jemand niederkommt. Du wirst geboren, sage ich dann zu dem tiefen Dunkel, das in meinem Körper herrscht, du wirst geboren und kannst noch nicht mal laufen, aber die Erde wartet schon auf dich.

3.

Zur Grabsiedlung gab es keinen Zug, auch kein anderes öffentliches Verkehrsmittel, weder Bus noch Mietlastwagen, deshalb legte er die letzten Kilometer zu Fuß zurück. In der Siedlung, das wußte er natürlich, weil er es vor seiner Abreise überprüft hatte, wohnten nur ein paar Familien, wenig mehr als fünfzig Menschen. Nachkommen von Einheimischen, Inselbewohnern, Veteranen, Engeln und Tieren. Wesen, deren Gesichter Gräben waren. Später kam Baum der Gedanke, daß er noch nie einer solch seltsamen, trotz ihrer Tierhaftigkeit unschuldig wirkenden Verschlossenheit begegnet war wie hier in der Grabsiedlung. Mir kam der Gedanke, daß im Gegensatz zur verbreiteten Meinung nicht die Unwissenheit die Voraussetzung der Unschuld ist, ganz im Gegenteil. Die Unschuld ist mit beachtlichem und giftigem Wissen gewappnet, denn sie kennt die Sünde, auch wenn sie vielleicht kein Wort dafür hat.

Wer den Mut aufbringt und seine Stimme erhebt, soll auch die Konsequenzen tragen.

Wer seine Stimme erhebt, geht in die Irre.

Wer seine Stimme erhebt, steht auf und wandelt.

Du stehst auf und wandelst und gehst in die Irre.

So ist das, Herr.

Nach einem sanften Anstieg tauchten die ersten Häuser der Grabsiedlung auf, aufgequollene Brösel unter einem dreckigen, von Spätzle übersäten Himmel. Die Lieblingsgegend von Popačka, und egal, ob du im Norden oder Süden bist, solch jämmerliche Siedlungen findest du überall.

Schließen wir einen Bund, sagte ich im Geiste.

Du darfst auch stärker und größer sein.

Er blieb stehen, den Koffer in der Hand. Auf einmal fiel ihm das Gesicht des Handelsvertreters ein. Seine Farbe hatte zwischen totenbleich und knallrot gewechselt, sein Ohrläppchen hatte gezuckt, als müßte er jeden Moment niesen. Doch er schwitzte nur penetrant, dicke Tropfen kullerten ihm übers Gesicht. Das Verhörzimmer war vom Tageslicht durchflutet. Baum hatte die Fenster geöffnet. Ich liebte es, wenn während der Unterredungen der Lärm der Welt hereindrang. Wie nicht anders zu erwarten, bestand der Vertreter darauf, daß in der Siedlung ein Mensch gekreuzigt worden sei. Da dauerte das Verhör schon Stunden, und offenbar hatte die Jammergestalt den Moment, als sie vor der Tür des Büros stehengeblieben war und geklopft hatte, bereits tausendmal verflucht.

»Es ist also nur eine Vermutung«, bemerkte Baum nach einigem Schweigen und wandte sich an den Handelsvertreter, als wäre er der Angeklagte. War er natürlich auch. Weil ja jeder Zeuge zuletzt selbst beschuldigt wird. Doch auch wenn du nicht als Zeuge aussagst, wird dir die Strafe aufgebrummt.

»Ich muß mal«, bemerkte er leise.

»Sie haben die Leiche also gesehen«, nickte ich.

»Einmal im Monat kommen wir zur Grabsiedlung. Wir bringen ihnen Seife, Streichhölzer, Alaun, Batterien, Magazine.«

»Pornographie«, nickte ich.

»Auch das.«

Er sah mich unruhig an. Auf seiner Stirn pulsierte eine rote Narbe.

»Haben Sie den Gekreuzigten nun gesehen oder nicht?«

»Das habe ich Ihnen bereits gesagt«, antwortete er und räusperte sich nervös. Baum stand auf und kehrte ihm den Rücken zu. Er massierte sich den Nacken, während er starr zum Fenster hinaussah. Unten das kahle Gärtchen mit ein paar Rosensträuchern, die parkenden Dienstwagen und die düstere Brandmauer gegenüber. Wie der Rücken Gottes, dachte ich.

»Sie haben ihn nicht gesehen, aber Sie haben ihn sich vorgestellt«, sagte er leise, fast wie zu sich selbst.

»Ich bin nur ein Händler«, flüsterte der Vertreter.

»Das heißt, Sie denken sich nichts aus?«

»Ich rechne. Ich kaufe und verkaufe, mein Herr.«

»Warum sind Sie dann hier?« fragte ich.

»Es hat einen Toten gegeben. Ich bin wegen eines Toten hier.«

Plötzlich tat er mir leid. Zugleich wurde ich unruhig. Ich hatte das Gefühl, daß er etwas verschwieg. Er hatte vieles gesagt, aber vielleicht doch nicht genug.

»Sagen Sie, sind Sie gläubig?«

»Sehnen Sie sich nach einem Bund?« fragte er und lächelte einen Moment lang. Nein. Es war eher ein Grinsen, jenes Zusammenspiel der verschiedenen Partien des menschlichen Gesichts, des Blicks, der Muskeln, der Kinnlade, der Stoppeln, des Lichts und natürlich der Zähne, aus dem die Zufriedenheit nur so strahlte. Es war nur ein Augenblick. Eine Flocke über der Asche. Sein Gesicht verdüsterte sich wieder.

»Haben Sie keine Angst«, sagte ich und faßte ihn am Arm. »Sie können gehen.«

Dann rief ich ihm noch nach.

»Schließen wir einen Bund!«

Müde setzte ich mich und starrte vor mich hin. Ich dachte, daß ich nun endlich zur Grabsiedlung fahren konnte. Als hätte man mich vergiftet, so kam ich mir vor. Vielleicht brach ich auch in Gelächter aus. Da hörte ich, daß hinter mir jemand atmete. Er stand in der Tür, ich erkannte ihn erst nach geraumer Zeit. Dabei war es nur der Handelsvertreter; ob er noch gar nicht gegangen oder schon wieder zurückgekommen war, ich weiß es nicht. Er stand auf der Schwelle, starrte meine Karte an, die Züge Jesus Partisans, und lächelte, daß seine Zahnreihen schimmerten.

»Gut, schließen wir einen Bund«, sagte er.

4.

Langsam wischte er sich mit der Hand über die Stirn. Die Blätter an den Bäumen glänzten schleimig, die Grashalme ragten weiß in diesen Vorfrühlingstag. Er war stark ins Schwitzen gekommen. Vielleicht weil er angezogen war, als hätte er mit Regen und Kälte gerechnet. Er besah den ungeordneten Haufen der kleinen Häuser, deren Stirnseiten bemalt waren, die grauen Ställe am Ende der Gärten, die notdürftig zusammengezimmerten Scheunen, die halbvollen, schiefen Maisspeicher, die Gleichförmigkeit der Misthaufen. Er fand, daß das Ganze schön sei, schön und entsetzlich, entsetzlich und ergreifend. Hier leben, wie der Schnee. In der einen Jahreszeit bist du, in der anderen wartest du im Nichts. Er spuckte aus und ging weiter. Die Siedlung war ausgestorben. Die Häuser standen auf winzigen, staubigen Grundstücken, die halbblinden Fenster, die Türen mit ihren schiefen Rahmen, die engen Toreinfahrten starrten einander an, und im Zentrum des Blickfelds ragte ein blankes Holzkreuz in die Höhe. Ich blieb stehen. Langsam ließ er seine Reisetasche in den Staub gleiten. Er putzte sich umständlich die Nase und trat näher. Ein verirrter Lichtstrahl durchbrach den schimmeligen Nebel. Mit einem herben Blinzeln betrachtete er das zusammengeschusterte Gebilde. Das Kreuz zitterte schmutzigblau im Licht. Er blinzelte eine ganze Weile, schließlich verlor er die Geduld.

»Na, was ist!«

Und wie ein gestern verlorener Klotz im Wasser eines morgendlichen Sees, erschien in dem Strahlen auf einmal die Gestalt des Gekreuzigten, sein seitwärts geneigter Kopf, die klassische Körperhaltung. Er war es, von ihm hatte der Handelsvertreter gesprochen. Auf der Stirn eine Dornenkrone, der Bauch aufgetrieben und tonnenförmig, wie bei Hungernden. Die Glieder waren dünn und zart. Zwischen seinen geschwollenen Lippen sickerte blutiger Schaum hervor. Sein Blick war unruhig, entschlossen, ermutigend. Ja, es war tatsächlich das Gesicht von Jesus Partisan.

Der Ort, wo man steht, um den weiß man, dachte Baum.

Ich dachte, wohin wir sehen, dort sind wir zu Hause. Der Gekreuzigte war nackt. Sein Geschlecht schien angeschwollen. Baum sah die großen, schwarzen Nägel in den Händen, und er sah auch, daß die Unterschenkel gebrochen waren. Als hätte sich alles vorschriftsgemäß zugetragen. Nein, er ist nicht zu Hause. Hier ist Schnee, Warten auf den Frühling, Schnee, Schnee, Schneien.

»Gibt es einen Bund?« fragte Baum, der unter dem Kreuz stand.

Ein Wind erhob sich. Ein bunter Schal schien von der grauen Erde aufgewirbelt zu werden.

»Gibt es einen Bund?«

»Guten Tag«, sagte schließlich jemand hinter ihm. Er mußte sich notgedrungen umdrehen. Er wußte, daß ihm der Anblick des Geopferten nun verlorengehen würde, denn daß er ein Opfer zu Gesicht bekommen hatte, dessen war er sicher. Baum hatte keine Träume, er vergaß sie regelmäßig. Er hatte nie Angst, dazu blieb ihm keine Zeit. Er gehörte zu jener kleinen Gruppe Menschen, die sich nach der Angst sehnen, nach ihrer Genauigkeit, aber seine Einbildungskraft war so groß, daß er immer, wenn er es mit Angst oder Beklommenheit versuchte, sich sogleich etwas auszudenken begann. Die Angst denkt sich nichts aus, denn sie ist Mittelpunkt, Zentrum.

»Guten Tag«, hörte er nochmals.

Das Mädchen hatte kurzes Haar, wie ein Junge. Ihre großen tiefblauen Augen sahen ihn durchdringend an, immer wieder verirrte sich ihre Zungenspitze zu einer schorfigen, dunklen Wunde auf der Lippe. Baum hielt ihrem Blick einige Augenblicke stand, dann sah er weg. Ich erwiderte den Gruß nicht. Wolken schoben sich wieder vor die Sonne. Eine bleiche Scheibe bewegte sich über den Himmel. Nun sah Baum auch die braunen Flecken auf dem Kreuz, prächtige Blutflecken, dunkle Schmuckstücke. Das gestreifte und gesprenkelte Muster auf dem groben Balken hielt den Augenblick fest, als das Blut verspritzt wurde und langsam abwärts zu rinnen begann.

»Wer sind Sie?« fragte das Mädchen.

»Ich heiße Baum«, sagte ich.

»Woher kommen Sie?«

»Hier aus der Gegend«, knurrte ich. Vielleicht lächelte das Mädchen, vielleicht blickte es gedankenverloren in die Richtung, in die Baum gedeutet hatte. Vielleicht rührte es sich gar nicht. Dort lagen Felder, auf denen Kohl, rote Rüben und Sonnenblumen angebaut wurden. Man kann tagelang gehen und ist noch immer in der Gegend.

»Wer sind Sie?«

»Ein Dokumentar.«

»Detektiv?«

»Ich merke mir die Dinge.«

»Sie können wirklich das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden?«

»Mich interessieren vor allem die Opfer.«

»Was war er Ihrer Meinung nach, Täter oder Opfer?«

Ich schwieg.

»Ihre Stimme klingt wie aus einem Brunnen«, sagte das Mädchen. Baum wandte sich mit einer heftigen Bewegung um. Er hatte das Gefühl, daß man ihn reizen, ärgern wollte. Erst jetzt bemerkte ich, daß das Mädchen in anderen Umständen war. Sie trug einen Herrenmantel mit großen Knöpfen und dickem Kragen und hielt sich, als würde ihr Bauch gar nicht zu ihr gehören. Sie mochte im letzten Monat sein.

»Wie hieß er?« fragte er, auf das Kreuz deutend.

»Egal«, schüttelte das Mädchen den Kopf. »Er war total verrückt.«

»Er war nicht verrückt. Wie hieß er?« fragte Baum nochmals.

»Popačka«, sagte sie. »Er nannte sich Popačka.«

»Und Sie heißen?«

»Eva Rajnak.«

»Wo ist er?« fragte Baum und trat näher. Er beugte sich vor, bis sein Gesicht das Ihre fast berührte. Er betrachtete die aufgesprungenen, geschwollenen Lippen, die schöne, trockene Wunde. Dann starrte ich ihr ins Gesicht. So einen Blick hatte Baum noch nie gesehen. Ich spürte, daß ich sie begehrte. Aber nicht, wie man Huren oder eine Frau begehrt, anders. Nicht daß es für sie und für mich gut sein soll, während ich in ihrem Körper bin, weil sie mich in sich aufgenommen hat oder weil ich sie bezwungen, erobert, in Besitz genommen habe, nicht danach sehnte ich mich. Ich weiß nicht. Gott sitzt mitten in einer Wiese und sieht gedankenverloren zu, wie das Gras wächst, während neben seinen Fingern ein Kind einschlummert und stirbt. Ich weiß nicht. Baum hatte das Gefühl, daß er diesem Mädchen niemals nahekommen würde, egal, was er mit ihr anstellte.

»Wo ist der Leichnam?« fragte er.

»Er ist auferstanden.«

Eva Rajnak schien zu lächeln, ihre Finger flatterten zu ihrem kurzen jungenhaften Haar. Wortlos drehte sie sich um und eilte in das größte Gebäude am Platz, das Wohnhaus und Scheune zugleich war und dessen Erdgeschoß, wie sich später herausstellte, als Kneipe diente, denn nachmittags versammelten sich hier die Siedlungsbewohner und tranken Schnaps und Bier im Stehen, die Betagteren und Kränkeren saßen auf der Altenbank, den Rücken an die Wand gelehnt hielten sie ihre Schnapsgläser, die Jungen aber standen da, als würden sie nur darauf warten, endlich selbst alt zu werden. Hier trat das Mädchen ein, denn hier wohnte es. Hier war sein Zuhause. Ich folgte ihr.

5.

Rajnak war der Siedlungsvorsteher, er bestimmte auch über Alkohol, Fleisch, Video und Kartoffeln. Der Vater des Mädchens, ein massiger, schwerfälliger Mann. Baum quartierte sich bei ihm ein. Noch am selben Tag machte ich mich an die Arbeit. Die grobschlächtigen, von gepanschtem Alkohol und der Knechtarbeit abgestumpften Bewohner der Grabsiedlung erwiesen sich als überraschend mitteilsam. Sie schienen sich sogar zu freuen, daß Baum bei ihnen weilte. Ich konnte fragen, was ich wollte, sie antworteten ohne die geringste Verlegenheit. Höchstens, daß sie logen, natürlich. Sie logen oder sie dachten sich etwas aus. Oder sie logen gar nicht, sondern kannten nur nicht die Wahrheit, sie redeten, brummten, fragten zurück, auch egal, glaube ich, egal. Der Grashalm wächst, mehr und mehr, weil er weiß, daß Gott existiert und ihn sieht. Und er wächst nicht weiter, weil er erkannt hat, daß auch das vergeblich ist. Die Leute starrten Baum offen ins Gesicht, der dann das Gefühl hatte, daß es ihnen Vergnügen bereitete, Zeugnis abzulegen. Als ob sie nicht wüßten, daß auch ein Vogel nur ein Diener ist. Flieg nur, deine Schwingen gehören dir. Aber das Sich-in-die-Höhe-Schwingen wird niemals dein sein.

»Wer war der Gekreuzigte?« fragte Baum.

»Irgendein Durchreisender«, sagten sie.

»Ein Tourist?«

»Nur einer, der sich verirrt hat.«

»Ich habe nach seinem Namen gefragt.«

»Popačka«, sagte eine ältere Frau und trat näher zu Baum. Dann spuckte sie ihm ins Gesicht. Es war Frau Hopp, sie hatte keinen Sohn mehr. Und sie hatte auch keinen Mann, kein Haus, sie hatte niemanden. Frau Hopp war vom äußersten Westen des Landes zur Grabsiedlung gekommen. Wegen des Krieges kamen viele von dort.

»Hat er etwas versprochen?« wandte sich Baum an einen anderen.

»Er hat gesagt, er verhilft uns zu einem Bund mit der Erde, auf der wir stehen«, antwortete ein Mann namens Rapić.

»Wer ist das?« fragte ich, weil ich eine Gestalt am Rande des Platzes erblickt hatte, sie war einsam, wie ein kümmerlicher Baum, feindlich musterte sie die Menschen, die sich um mich geschart hatten. Wenn jemand auf sie zuging, stahl sie sich sogleich davon. Der Mann war nicht mehr jung, das heißt, er war es natürlich doch. Er war unbestimmten Alters. Sein schwarzer Filzmantel reichte fast bis zur lehmigen Erde.

»Wer ist dieser Mann?« fragte Baum.

»Bekičev«, sagte Rajnak verächtlich, »und wenn er so weitermacht, bringen wir ihn um.«

»Auch Popačka ist umgebracht worden, nicht?«

»Das war kein Mord«, sagte Frau Hopp leise.

Wieder spuckte sie Baum ins Gesicht.

Ihr Speichel war warm und süß.

6.

Das erste Mal hatte ich 1990 von Popačka gehört, da wurde bereits getötet. Er tauchte in einem fernen Dörfchen im Süden oder eher Südwesten auf, und es schien sich um einen Einzelfall zu handeln. Wir hätten die Sache wohl vergessen, wenn sie sich nicht zwei Wochen später ein paar Kilometer weiter in einem anderen Dorf wiederholt hätte, einer ähnlich armen, mit Entbehrungen reich gesegneten Siedlung. Man spricht von Elend, obschon auch das keine genaue Formulierung ist. Popačka wußte, daß das Elend gewisse Möglichkeiten des Glücks nicht ausschließt, die Sehnsucht aber geradezu aufpeitscht. Gott nimmt zuerst, er schafft eine Leere, denn anders könnte er auch nicht geben. Gott plündert aus, um in dir Platz für sich zu schaffen. Im ersten Jahr trat Popačka an sechs Orten auf, seine Aktivität folgte fast stets demselben Drehbuch. Damals begannen wir, uns genauer damit zu befassen. Gesetzwidriges tat er nicht. Genaugenommen war nicht er es, der gegen den Geist des Gesetzes verstieß, und ganze Dörfer zu verurteilen, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Wiewohl unsere Organisation gar nicht vorhatte, auf staatsrechtlicher Grundlage vorzugehen, dazu hatten wir weder eine Vollmacht noch die juristischen Mittel. Jedenfalls rückten wir Popačka ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Daß aber die Grabsiedlung sein letzter Ort sein würde, wußte von meinen Kollegen nur ich. Ich markierte die Siedlung auf der Landkarte. Im dritten Jahr entdeckte ich, daß man sich die Orte, an denen Popačka auftauchte, mehr oder weniger erschließen konnte. Als ich die Siedlungen, die Popačka besucht hatte, nach einem speziellen, nicht übermäßig komplizierten System miteinander verband, erschien schließlich ein menschliches Gesicht auf der Karte. Im fünften Jahr wußte ich bereits, wer es war, wessen Gesicht die Karte Popačkas zeigte. 1962 hatte Miloš Vetrov sein Bild »Jesus Partisan oder Schließen wir einen Bund« gemalt, es war das vielleicht bekannteste Kunstwerk unserer neuzeitlichen Geschichte. Der »Jesus Partisan« machte innerhalb weniger Jahre eine erstaunliche Karriere. Er wurde in New York, Helsinki, Brüssel, Moskau, Havanna und Paris und noch an vielen anderen Orten ausgestellt, bis er 1968 spurlos aus einer Belgrader Ausstellung verschwand, in jenen Tagen, als die Tschechoslowakei von fremden Truppen überschwemmt wurde. Mutmaßungen gab es natürlich reichlich. Die einen behaupteten, die Russen hätten das Bild als Geschenk für den Patriarchen von Moskau mitgenommen. Die anderen meinten, die Amerikaner, Türken oder Ungarn hätten es gestohlen. Vielleicht sei es den Mönchen vom Berg Athos in die Hände gefallen. Im Grunde auch egal. Das Gemälde war verschwunden, man mußte sich daran erinnern, und da die Erinnerung die intensivste Form der Auslegung ist, zog das zahllose Komplikationen nach sich. Der »Jesus Partisan« war auf einmal ein skandalöses, schändliches Bild, eine niederträchtige Provokation und Blasphemie, für andere wieder erzeugte gerade die Darstellung des Heldenhaften, des Geheimnisvollen eine ästhetische Spannung, wie sie nur die spektakulärsten künstlerischen Lösungen erzeugen, die Mona Lisa, Rousseaus Jadwiga, Vermeers Gitarrenspielerin.

Du sitzt vor dem Jesus Partisan und spürst nach einigen Augenblicken, daß es nicht wichtig ist, wie du heißt, daß deine Mutter und auch dein Vater nicht wichtig sind, dein Stückchen Erde, dein Besitz, wird eins mit dir, als wärest auch du nichts anderes, als ein mit Seele gefüllter Brocken Erde auf dem Acker des Landes, ein strahlendes Wort in den Blutgewittern der Geschichte deines Volkes. Die meisten Berichte und Deutungen untersuchten, freilich ergebnislos, die Eigenheit des Bildes, wie sich der Betrachter mit Jesus identisch fühlen konnte, wie und auf welche Weise das Bild den Eindruck erweckte, daß wir, wenn wir Jesus Partisan ansehen, uns selbst ansehen. Es gab Leute, die nahmen eine kleine Kopie des Bildes mit zur Hochzeit, ins Krankenhaus oder in das Geburtszimmer.

Jesus Partisan hatte eine Soldatenmütze auf, er mochte den Rang eines Feldwebels bekleiden. Rechts und links neben ihm lagen zwei blutüberströmte Soldaten im Sterben, in einiger Entfernung standen weinende Frauen, ein Panzer war umgestürzt und qualmte. Auch ein Weiler brannte in der Ferne, und im Himmel schien ein unachtsamer Engel Feuer gefangen zu haben. Man konnte nicht erkennen, ob die Sterbenden Leidensgefährten Jesu oder seine Feinde waren, die er selbst zur Strecke gebracht hatte. Man konnte nicht erkennen, ob die Frauen die Sterbenden oder Jesus beweinen.

In den Dörfern, in denen Popačka auftauchte, spielte sich nach einigen Tagen fast immer die gleiche Geschichte ab. Ein Steinkreuz am Straßenrand verschwand, ein Tafelbild in der Kirche, eine wundertätige Ikone, um die sich die Einheimischen meist mit schwärmerischer Inbrunst scharten, und im Dorf wurde jemand gekreuzigt, manchmal an der Stelle des verschwundenen Steinkreuzes, in anderen Fällen am Hauptplatz oder, wenn es keinen gab, in der Mitte der Siedlung, aber immer an einem gut sichtbaren, öffentlichen Ort. Der Gekreuzigte war Popačka, jener Mann, der aus Jakulevo aufgebrochen war, dort war er zu Beginn des Blutvergießens Militärgeistlicher gewesen, und die er segnete, junge, namenlose Burschen und wortkarge Söldner, zogen alle in den Tod, bis sich Popačka dann von der Armee verabschiedete, ohne Begründung und ohne Erklärungen, er gab sein bisheriges Leben auf, wie ein heiliger Franz das eigene skandalöse Elend, er packte einfach zusammen und ging, er wurde zum segenspendenden Deserteur, und dann wanderte er nur noch durch das schrumpfende Land, weil ihm ja, ohne Zweifel, Erleuchtung widerfahren war. Offenbar war irgendein Trick dabei, denn wer konnte mit nüchternem Verstand glauben, daß Popačka jedesmal wieder auferstand. Einmal hätte es ihm vielleicht gelingen können, einmal kann jeder auferstehen, wie es auch dem Sohn Gottes gelungen ist. Aber nicht hundertmal, oder noch öfter. Doch Popačka ist gewiß hundertmal sogar öfter als hundertmal auferstanden und hat ein leeres Kreuz mit Blutspuren zurückgelassen und die Hoffnung, daß denjenigen, die ihn gesehen und erlebt haben, die Erde von nun an ein Zuhause sein und es bleiben werde, solange die Welt steht.

7.

Ich blieb vor Bekičev stehen, so daß er nicht weitergehen konnte. Er hatte einen großen Kopf mit struppigen Haaren und dichte Brauen. Er war wie ein verkümmerter Baum, der nicht mehr weiterwachsen will. Ich gab ihm eine Zigarette. Verlegen betrachtete er sie, vielleicht, weil er nicht gewohnt war, eine zu bekommen. Er versteckte sie in seinen Lumpen, als hätte er sie gestohlen. Ich berührte ihn an der Schulter.

»Sie sagen, sie werden dich umbringen«, begann ich.

»Na und?« zuckte er die Schultern.

»Vielleicht wird es weh tun.«

»Trotzdem werden auch sie krepieren.«

»Niemand wird dasein, der Sie segnet«, zuckte Baum die Achseln.

»Darauf scheiße ich«, knurrte er. »Ich scheiße auf die Neuen. Ich scheiße auf jeden, der lebt und sich rührt. Die sind wie die Schakale.«

»Wo ist euer Pope?«

»Tot«, knurrte Bekičev. Er starrte Baum an, wie man ein Tier anstarrt. Nicht grob, nur war in seinem Blick etwas Drohendes, wovon er vielleicht selbst nichts wußte.

»Wann ist er gestorben?«

»Als der Krieg ausbrach.«

»Ihr habt einen Popen gehabt, aber keine Kirche. Wo betet ihr?«

»In der Schule.«

»An den Bänken, wo die Kinder schreiben lernen?«

»Manchmal auch im Freien.« Er wies in Richtung der Acker.

»Warum ist der Pope gestorben?«

»Er war alt.«

»Wo ist sein Grab?«

»Sie haben der Leiche eine Nummer gegeben und sie weggebracht. Das Amt hat sie abgeholt. So ein Militärlastwagen mit Plane, wie sie auch Flüchtlinge gerne benutzen. Sie haben sie in die Hauptstadt gebracht, glaube ich. Wenn ein Pope stirbt, wird er weggebracht. Und ob ein neuer geschickt wird, bleibt offen.«

»Sie haben keinen anderen Popen geschickt?«

»Wir haben ihn fortgejagt.«

»Wolltet ihr ihn nicht?«

»Wir kannten ihn nicht.«

»Einen Popen muß man nicht kennen.«

»Er kannte uns auch nicht.«

»Ihr habt ihm keine Zeit gelassen, euch kennenzulernen.«

»Schon recht. Aber dann kam dieser … dieser Popačka.«

»Du hast ihn nicht gemocht, stimmt’s?!«

»Ich habe den alten Popen gemocht.«

»Hat dir Popačka etwas getan?«

»Er hat allen etwas getan, aber nicht handgreiflich. Das wissen Sie sicher, Baum. Wie das ist. Mir hat er immer etwas getan, ohne daß ich überhaupt wußte, wo er war. Seit meiner Kindheit quält er mich. Wie Gott. Sieht mich nicht einmal, aber quält mich. Er sieht uns nicht, oder es ist höchstens sein Quälen, das uns sieht, Baum. Ach, Baum!« schrie er leidenschaftlich. »Die Liebe Gottes ist blind, denn sie ist allgemein. Aber sein Quälen sieht, denn es ist immer konkret. Als mir Popačka seine Idiotenfresse entgegenstreckte, als er mich angrinste und ich seinen Atem und seinen Geruch spürte, wußte ich, daß er es war, der mich das ganze Leben lang mit Unglück, Krankheit und Angst geschlagen hat.«

»Und Sie haben es ihm heimgezahlt.«

»Ich war ihm dankbar, daß ich ihn hassen konnte«, sagte er leise, schüttelte den Kopf, dann ging er schwerfällig, das Bein nachziehend davon, er ließ mich stehen, dort, wo die Straße nach Budapest begann. Ich starrte ihm hinterher, wie er auf die Felder zustolperte, wie er in Richtung der ungeheuren Misthaufen davonwankte, die man am Ende der Siedlung aufgetürmt hatte.

8.

Ein Mensch, auf den nie jemand wartet, lebt vergeblich. An einem verregneten Morgen habe Popačka plötzlich mitten auf dem Platz gesessen, erzählten die Einheimischen, genau dort, wo sie zuletzt das Kreuz aufgestellt hatten. Er saß im Dreck und grölte den Ochsen zu, die Benda, der Hirte, gerade auf die Weide trieb. Der Speichel lief ihm, er lachte dröhnend. Es sah aus, als hätte flüssiges Silber seine Schulter gefärbt. Sie hätten ihn aufgenommen, erzählten die Siedlungsbewohner, aber nicht aus Mitleid oder Sympathie. Popačka habe Abwechslung, eine angenehme Unruhe in ihr Leben gebracht. Natürlich wußten sie nicht, worauf sie sich einließen.

Sie hatten keine Ahnung, was auf dem Spiel stand. Popačka wirkte wie ein Verrückter, ein ausgemachter Idiot. Wie es sich auch von selbst versteht, daß er keineswegs auf den Kopf gefallen war. Hattest du ihn betrogen, sagte Frau Hopp mit verdrossenem, grauem Gesicht, hattest du das Gefühl, du hast dich selbst betrogen. Wenn du ihn belogen hast, war es, als hättest du dich selbst belogen. Wer ihn schlug, schien sich selbst zu schlagen. Der betrunkene Rapić versetzte ihm Tritte und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht, und als Popačka zu Boden stürzte, spuckte er ihn auch noch an. Doch Augenblicke später kniete er nüchtern und zitternd vor dem Blutenden nieder und flehte um Vergebung.

»Und Popačka hat ihm verziehen?« fragte Baum.

»Wer hat gesagt, daß er verrückt war?« erwiderte Rajnak blinzelnd.

»Er war verrückt«, mischte sich Eva Rajnak ein.

»Nein«, Rajnak spuckte aus. »Aber das ist auch nicht das Wesentliche.«

»Was ist denn das Wesentliche?« fragte ich.

»Daß wir hier leben, Baum. Und wir werden hier leben, solange die Welt steht. Das Wesentliche ist, daß wir niemals von hier weggehen. Wir warten nicht, sondern wir sind hier. Verstehen Sie, Baum?«

»Ich verstehe«, sagte ich, während ich daran dachte, daß Kriegsflüchtlinge, als sie ihre Stadt verließen, ihre Toten ausgegraben und die Särge auf den Wagen festgebunden hatten und nach Osten gezogen waren. Auf einmal kam es mir so vor, als würde ich Popačkas Geheimnis kennen. Wenn es überhaupt ein Geheimnis gab, versteht sich. Es ist leichter, sich einen einzelnen Menschen zu merken, als eine vielköpfige Familie, eine Gesellschaft oder eine Menschenmasse beschreiben zu müssen. Popačka war ein einzelner, einer von uns, und dennoch handelte er so, als stünden die Massen hinter ihm. Er hatte so viele Gesichter, wie es in der Steppe Spuren von Wanderern gibt. Jesus sonderte sich ab, er war Außenseiter. Popačka hingegen blieb innerhalb. Popačka konnte deinen Blick benutzen, auf einmal wurde er wie du, seine Bewegungen wurden wie deine, seine Stimme klang wie deine Stimme. Er machte sich das künstlerische Geheimnis des Jesus Partisan zunutze, er machte sozusagen praktischen Gebrauch davon.

»War die Grabsiedlung auf die Auferstehung angewiesen?« fragte ich.

»Die Menschen waren aufeinander angewiesen.«

»Das ist es, was Popačka verkündet hat«, nickte Baum.

»Er hat nie etwas Derartiges gesagt«, knurrte Rajnak.

»Er hat es eben nur gespürt«, lächelte ich.

»Wollen Sie sich in unser Leben einmischen, Baum?« fragte Rajnak.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sie sind ausgeplündert worden.«

»Sie glauben die Leere zu sehen?« lachte Rajnak.

»In welche Richtung ist der Handelsvertreter gegangen?« fragte ich unvermittelt.

Rajnaks Gesicht verdüsterte sich.

»Sie halten sich für ganz besonders schlau, stimmt’s?«

»Ist er nicht Richtung Budapester Straße gegangen?« warf Eva Rajnak ein.

»Wer hat dich denn gefragt, dumme Gans!« explodierte der Wirt.

»Ich habe von Schneefall geträumt«, sinnierte das Mädchen. Sie sah aus wie in den dicken weißgestrichenen Türrahmen hineingemalt. Ihre Hände ruhten auf dem gewölbten Bauch. Als sie mich ansah, spürte ich wieder Verlangen nach ihr.

»Ich habe einen Bräutigam«, sagte sie.

»Ich habe einen Mann unter euch gefunden«, setzte sie hinzu und sah ihren Vater an.

9.

Der Leichnam lag in einem verlassenen Schuppen. Nicht einmal zugedeckt hatten sie ihn. Er stank gewaltig. Sein Blick war zerfallen, das eine Auge war offen, sein Gesicht aber strahlte dennoch Ruhe und Frieden aus. Spuren äußerer Verletzungen waren nicht zu erkennen, die Todesursache ließ sich nicht feststellen. Er machte den Eindruck, als habe er sein Leben im Schlaf ausgehaucht. Neben ihm lag ein grauer Leinensack, darin Schnaps, ein Säckchen Mohn, Salz und Zeitungen. Nachrichten aus aller Welt, nackte Menschen, die sich paarten, und Politiker, die verhandelten. Am Rand der Scheune schaufelte ich die Grube. Baum sann darüber nach, ob er beten sollte. Er nickte, faltete die Hände, räusperte sich und begann.

»Wir beuten aus und lassen ausbeuten. Wir sind Händler hier auf der Erde, und handeln werden wir auch oben im Himmel. Auch mit Dir, Herr, machen wir Geschäfte, denn ein Händler bist auch Du. Amen.«

Ich trottete zurück zur Grabsiedlung, auf der von Traktoren aufgewühlten, von Reifenspuren gemusterten Budapester Straße. Der Wind trieb Strohhalme über die Erde. Es stank nach Mist. Und aus dem Blau des Himmels schien Jesus Partisan zu mir zu sprechen.

10.

Am nächsten Tag winkte ihm das Mädchen, er solle ihr folgen. Kahle, schiefe Bäume mit schwarzbraunen Stämmen reihten sich am Rand der Siedlung aneinander. An den Zweigen raschelte leise und monoton das trockene Johannisbrot.

»Ja, liebe Eva, auf diesen Bäumen ist immer Weihnachten«, sagte ich.

»Wir nennen sie Jesusbäume.«

»Sehr treffend«, lachte Baum. »Die Frage ist nur, ob Jesus sich über den Vergleich gefreut hätte.«

»Jesus konnte sich nicht freuen«, sagte sie.

»Weil er unglücklich war?«

»Er war nicht unglücklich. Er hat bloß seine Freude unter uns aufgeteilt.«

»Wenn Gott nicht glücklich ist, wie können dann wir es sein?« fragte ich kopfschüttelnd.

»So bläst der Wind jeden Sonntag. So singen sie jeden Sonntag«, sagte das Mädchen und wies mit einem seltsamen Lächeln auf die Bäume. »Ich bitte Sie, Herr Baum, machen Sie sich keine Hoffnungen. Ich habe bereits einen Bräutigam.«

»Haben Sie singen gesagt? Das ist kein Gesang, Eva Rajnak«, sagte ich.

»Einmal habe ich mich ihm hingegeben, nur einmal. Er hatte es nicht gewollt. Ich war es. Ich habe ihm gesagt, er soll Leben unter mein Herz bringen. Ich wollte nur einen Mann, aber ich wußte, das bedeutet, den Schmerz in mich einzulassen.«

Ich deutete auf die Grabenböschung.

»Hier haben Sie es gemacht?«

»Als er in meinen Körper eindrang, begann er zu mir zu sprechen.«

»Von Jakulevo?«

»Auch davon.«

»Er hat vom Krieg gesprochen.«

»Ja. Während er mir vom Krieg ins Ohr keuchte, empfing ich ein Leben von ihm. Er roch wie ein nasser Hund. Es war, wie Sie sicher wissen, als würde ich zu mir selbst sprechen.«

Baum hatte den Blick starr zur Erde gerichtet, dann stampfte er auf.

»Es ist möglich, daß er gar nicht gesprochen hat. Daß Sie nur das Rascheln des Johannisbrots gehört haben«, sagte er leise.

»Möglich«, sagte das Mädchen, »ja, es ist möglich, daß er gar nicht gesprochen hat, und nur das Johannisbrot hat leise geraschelt.«

11.

Baum saß in der Kneipe und trank Schnaps. Es war ein starker selbstgebrannter Trester, ein Siedlungsbewohner spritzte ihn auf den schwarzen Fußboden und zündete ihn an. Jeder Tropfen schien einzeln in Flammen aufzugehen. Die Leute lachten, es klang, wie wenn Johannisbrot raschelt. Sie lachten, als würden sie beten. Auch Bier gab es natürlich. Ein Rätsel, wo sie in der Grabsiedlung Bier herhatten. Und doch war es da, es war alles da, wie in jüdischen Hilfssendungen an notleidende Glaubensbrüder, wo es höchstens mit dem Verfallsdatum der Heringskonserven Probleme gibt. Das Besondere an solchen Gegenden ist ja, daß es trotz ihrer Verlassenheit alles gibt, denn die Lastwagen, die tote alte Popen fortschaffen, kommen nicht immer leer zurück, mitnichten. Sie transportieren Waffen, Käse, Benzin, Illustrierte. Mit den Fahrern kann man handeln, feilschen. Oder es ist ein einsamer Vertreter gekommen, dem du mitteilst, du würdest gerne eine Nat Sherman rauchen, bei einem Glas französischen Cognacs namens Otard, und am nächsten Tag hast du beides. Du erfährst nicht, woher, aber es ist da. Rajnak zog die Kiste in den Ausschank, und wer ein Bier wollte, öffnete es sich selbst. Manch einer biß einfach den Verschluß ab oder drückte ihn mit dem Daumen auf.

»Wann ist es passiert?« fragte Baum.

»Vor ein paar Wochen«, antwortete Rajnak und nahm einen Schluck aus der Flasche.

»Vielleicht hieß er gar nicht Popačka«, stotterte Frau Hopp. Sie hatte graue Augen. Ein graues Tuch. Baum hatte plötzlich das Gefühl, daß auch ihre Zunge, die die Worte formte, grau war. Offenbar war auch der Speichel grau, mit dem sie ihn neuerlich anspuckte. Grau und süß.

»Wie kommen Sie darauf, Frau Hopp?«

»Ich habe ihn einmal angesprochen. Und er hat nicht reagiert. Wie ich sage. Er ist einfach weitergegangen.«

»Sind Sie sicher, daß Sie ihn angesprochen haben?«

»Womöglich wollte ich es nur«, lächelte sie.

»Er hat Sie an Ihren Mann und Ihren Sohn erinnert, nicht wahr, Frau Hopp?«

»Mein Sohn wurde in einem Grab gefunden, das er selbst ausgehoben hatte. Er war nicht allein. Mein Mann wurde beim Pflügen erschossen. Soviel ich weiß, jedenfalls. Ich habe Popačka gefragt, ob es Trost gibt. Da bückte er sich und hob eine Handvoll Erde auf, die gab er mir.«

»Wie hieß Ihr Mann?« fragte ich.

»Dragan«, antwortete Frau Hopp und lächelte.

»Sie haben ihn, Popačka, Dragan genannt, nicht wahr?«

Frau Hopp zog eine Plastiktüte hervor. Darin war Erde, Popačkas Erde. Sie löste die Schnur, mit der die Tüte verschlossen war. Dann spuckte sie hinein.

»Ich dünge sie. Damit sie nicht austrocknet.«

Benda war schon beim dritten Bier, doch man merkte es ihm nicht an, dabei trank er Hochprozentigen dazu. Er rauchte Marlboro, und das war seltsam, das Qualmen der leichten Marlboro im Mund des Hirten war ganz eigenartig. Nach jedem Zug besah er die Glut, als hätte er Angst, sie könnte verlöschen.

»Mich hat er an die Tiere erinnert«, erläuterte Benda. »Er war wie meine Tiere, wie sie sprechen, denn ich verstehe, was sie sagen. So hat er zu mir gesprochen. Für mich war er wie eins von meinen Schafen. Manchmal schlafe ich bei dem Tier, das ich am nächsten Tag schlachte.«

Rapić trank im Moment nur Schnaps.

»Ich hatte einen Traktor. Ein irreparabler Scheiß. Ein alter deutscher Traktor. Er hat ihn in Ordnung gebracht. Jetzt ist er laut und stinkt höllisch, aber er läuft. Der stellt sich vor den Traktor und singt. Hat jemand so was schon gehört? Für einen Traktor singen. Dann hat er ihn natürlich noch mit Erde beworfen.«

Es wurde still im Ausschank.

Ich sah aus dem Fenster.

Eva Rajnak stand draußen auf dem Platz, vor dem leeren Kreuz und lächelte.

»Eva Rajnak«, sagte Baum, und auch er bückte sich nach einem Bier.

»Eva Rajnak«, sagte ich.

12.

Die Morgenden schienen unter einer gewaltigen Decke hervorkrabbeln zu müssen. In den Höfen der Siedlung krakeelte das Geflügel, quietschten die Schweine, und auf Gras und Bäumen strahlte der Tau in bleiernem Glanz. Die Ochsen brüllten, als seien sie Werkzeug des Menschen. Meistens schlief Baum in Kleidern, wie die Einsamen, manchmal zog er sich nicht einmal die Stiefel aus. Öfters erwachte er vom Summen des Mädchens. Eva Rajnak trällerte nicht, sie sang auch nicht, sondern summte vor sich hin.

»Wie seltsam«, sagte Baum eines Morgens zu Rajnak.

»Was ist seltsam?« fragte Rajnak.

»Ich weiß noch nicht«, sagte Baum, während er an seiner Waffe herumfingerte. Er hielt sie gegen das Licht, wie im Film, und entsicherte sie.

»Möglich, daß ich mich in Ihre Tochter verliebt habe, Rajnak«, sagte ich. Unterdessen kämmte sich Rajnak sorgfältig. Er spuckte auf den schwarzen Stielkamm und zog ihn mehrmals durchs Haar. In einem billigen Spiegel mit Metallrahmen betrachtete er unverwandt sein Gesicht. Mit der Zunge putzte er sich die Zähne. Er wiederholte die Bewegung des Kämmens. Schließlich setzte er sich umständlich seine Pelzmütze auf.

»Es ist also seltsam, aber Sie wissen nicht, was seltsam ist?« fragte er. Er griff nach der langhalsigen Literflasche, schüttelte sie und betrachtete die Blasen.

»Ich weiß es nicht«, nickte Baum.

»Na schön. Wenn Sie meine Tochter wollen, lassen Sie’s mich wissen«, sagte Rajnak.

»Ich weiß es nicht«, krächzte Baum.

»Wollen Sie sie oder nicht?«

»Sie hat gesagt, sie hätte einen Bräutigam.«

Rajnak lachte.

»Der ist auferstanden und gegangen.«

13.

Auch Baum hielt sich viel bei dem Kreuz auf, den Blick auf die Blutflecken geheftet. Manchmal berührte er das wurmstichige Holz, kratzte an den Fasern und Splittern. Aber die Vision kam nicht wieder. Eines Tages blieb Rapić mit seinem Traktor neben ihm stehen. Er sprang von seinem Fahrzeug und trat zum Kreuz. Er tätschelte es fast zärtlich. Sein Blick war dankbar und selbstgewiß.

»Dort hinten im Hof haben sie gelegen. Meine guten alten Balken. Ich hätte nie gedacht, daß sie noch mal gebraucht werden. Und auf einmal, als Popačka gesagt hat, die Zeit ist gekommen, sind sie mir eingefallen.«

»Popačka hat gesagt, die Zeit ist gekommen?« fragte Baum.

»Wenn nicht er, dann irgendwer anders. Ich vielleicht. Oder Herr Rajnak. Und Popačka hat sich auf dem Platz ausgezogen. Er hat seine Kleider in den Dreck geschleudert. Es regnete.«

»Habt ihr ihn betrunken gemacht?«

»Er hatte Schnaps dabei. So eine Kälte, gefrierendes Nieseln. Nackt stand er da und wartete auf uns. Sie sagten, ich soll mich beeilen. Das Kreuz zimmern. Im Grunde keine große Sache. Ich war schnell fertig.«

»Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte Baum. Er hätte den Mechaniker gern geschlagen. Zusammenklappen sollte er und aufhören zu lächeln. Er wünschte, daß es ihm weh tun solle, nicht daß man nicht lächeln und zugleich Schmerzen haben kann. Ich hätte ihn gern geschlagen, bis ihm das Mentholbonbon, an dem er lutschte, aus dem Mund fiele.

14.

Als er aufwachte, saß Eva Rajnak an seinem Bett. Baum hielt ihre Hand umklammert.

»Sie haben im Schlaf gewimmert«, sagte sie.

Baum rieb sich mit der Faust die Stirn.

»Das mache ich immer, wenn …«

»Sie haben um Hilfe geschrien«, lächelte das Mädchen. Ich betrachtete ihr winziges Kinn. Den kleinen Schnitt an ihrem Hals. Ihre Hände, ihre Finger waren rot, wie nach einer Schneeballschlacht. Eine anziehende, begehrenswerte Hilflosigkeit ging von ihr aus, in die ich mich, glaube ich, verliebt hatte. Eine Hilflosigkeit, wie wenn Gras unter einem Betonweg zu wachsen beginnt, den Beton durchdringt, und wenn es sich endlich freuen könnte, unter freiem Himmel zu sein, wird es von einem verirrten Schaf abgefressen. Es war Frühling. Gott saß mitten auf einer Wiese, Engel brachten ihm ein neues schlummerndes Kind. Noch halb im Schlaf blinzelte ich das Mädchen an. Vor einigen Wochen hatte Popačka verkündet, die Erde, auf der wir stünden, sei die Lösung. Er hob sich von der Erde und stieg auf, dann ließ er sich wieder herabsinken. Das hat er getan. Und jetzt ist er irgendwo hier, er ist nicht fort, das Gesicht von Jesus Partisan ist vollendet. Die Lippen des Mädchens waren aufgesprungen. Schorf war keiner mehr darauf. Mir kam in den Sinn, daß unser Wort gesund sein kann, auch wenn unser Mund krank ist. Doch wenn das Wort krank ist, dachte Baum, ist auch der Mund krank. Und auch das Gesicht.

»Ich kann nicht gut lieben«, sagte sie. »Ich glaube, meine Bewegungen sind ungeschickt. Gesagt hat es mir noch keiner, aber … aber man hätte es sagen können, glaube ich. Mir kommt es immer seltsam vor, wenn ein anderer Körper in meinem Körper ist. Was hat ein Atem in einem anderen Atem zu suchen? Dann fürchte ich mich vor meinem Mund, meinem Schoß, meinen Hüften, und ich fürchte mich auch vor meinen Brüsten. Ich habe Angst, mich zu bewegen, denn das wäre Einmischung. Dabei tanze ich gut, glaube ich. Oder ich tanze auch nur gern, ich weiß nicht. Aber schwimmen kann ich gut. Ich lege mich aufs Wasser und spüre meine Muskeln. Und ich laufe auch gern.«

»Ich liebe dich«, sagte ich.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Vor dem Tod habe ich keine Angst. Damals mit Popačka, als er mich nahm, dachte ich, ich würde von nun an mehr Vertrauen in meinem Körper haben.«

Sie öffnete ihre Bluse.

»Faß an«, sagte sie.

Baum spürte, daß er eine Erektion bekam.

»Ich bin Dokumentar.«

Das Mädchen lächelte.

»Wie anders ist es, wenn ein Mann oder eine Frau stirbt!«

Baum schüttelte den Kopf.

»Ich meine«, fuhr sie nachdenklich fort, »wenn eine Frau stirbt, scheint irgendwie weniger aus der Welt zu gehen. Obwohl die Frauen gebären. Trotzdem ist es weniger. Ob es am Wesen des Herrschens liegt?! Wenn ich vor der Leiche eines Mannes stehe, selbst wenn ich ihn nicht ausstehen konnte, wenn ich ihn verachtet, wenn ich ihn für den letzten Schuft gehalten habe, spüre ich stärker das Unwiederbringliche. Ich verstehe das nicht. Eine Frau …« Sie schüttelte den Kopf, ihre Hand glitt auf ihren Bauch. »Die Männer haben sich der Todesangst bemächtigt. Denken Sie nicht auch?«

Ich nahm meine Hand von ihrer Brust.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß Jesus Partisan zu mir sprach.

15.

Ich folgte Bekičev. Er blieb lange vor Rajnaks Haus stehen, dann verließ er hinkend, das schmerzende Bein nachziehend, die Siedlung. Unweit zeichnete sich die weiße Gebäudereihe der Mästerei ab. Bekičev ging darauf zu. Neben der Mästerei erhob sich ein gewaltiger Misthaufen, ein Hügel von der Höhe mehrerer Menschen. Er betrachtete ihn eine Zeitlang, dann steckte er seinen Arm bis zur Schulter in den noch warmen, dampfenden Mist.

Manchmal ging Baum auch zu dem Hügel hinaus, blieb davor stehen und glotzte ihn an. Auch Siedlungsbewohner kamen. Sie standen vor dem Berg aus Scheiße, und ihre Lippen bewegten sich. Wenn sie zurückkehrten, wirkten sie verlegen.

Eines Abends faßte Rajnak Baum am Arm.

»Sie ahnen doch was, oder?«

Baum lachte gezwungen.

»Geben Sie mir einen Schnaps.«

»In einem dunkleren Moment haben Sie einmal gesagt, daß in Jakulevo ein Hügel nach ihm benannt worden ist. Wissen Sie, was das bedeutet?«

»Ja«, sagte ich. In Jakulevo waren Ausgrabungen im Gange, seit Jahren durchwühlten sie die Erde nach Toten. In Jakulevo gab es Massengräber. Baum trank und sah dabei das Mädchen an, das in der Ecke stand.

»Einmal habe ich ihn gebeten, mich zu schlagen«, sagte Rajnak.

»Sie wollten, daß er Ihnen Schmerzen zufügt?«

Der Wirt dachte nach.

»Wissen Sie, was interessant ist? Wenn er schlug, tat es nicht weh. Einmal legte ich mich vor ihm auf die Erde. Ich bat ihn, mich gegen den Kopf zu treten. Es tat nicht weh. Ich gab ihm einen Knüppel. Ich sagte ihm, er solle mich schlagen. Auch das tat nicht weh. Und während wir so spielten, denn für ihn, muß man wissen, war es eher Spiel als Lust, kam ich darauf, daß es mir nicht weh tun würde, egal, was er mit mir anstellt. Da begann ich ihn zu schlagen, und das tat weh. Er bekam Schläge, und mir tat es weh.«

»Ich will Ihre Tochter, Rajnak.«

Der Schankwirt starrte mir lange ins Gesicht.

»Was für ein Detektiv sind Sie eigentlich?« fragte er plötzlich.

»Ich bin Beobachter«, sagte Baum, und darüber lachten sie beide.

16.

Baum hätte nie gedacht, daß er einmal so viel Scheiße schaufeln würde. Als er sich an die Arbeit machte, war es Nacht und der Himmel hell und klar. Ich bemühte mich, ruhig zu arbeiten. Gemessene Bewegungen, auch mit Scheiße muß man umzugehen wissen, egal, von wem sie ist, egal, wer drinsitzt. Auf einmal spürte ich, daß ich nicht allein war. Es war, als würde mir mein Schatten, mein Atem gestohlen. Die Hunde verstummten, und über mir schwebte der Abendwind wie ein riesiges dunkles Seidentuch. Ich weiß nicht. Was ist in der Liebe das Unendliche, wenn sie doch einmal zu Ende gehen kann. Und eine Geschichte war zu Ende gegangen.

»Popačka«, sagte ich.

»Baum«, sagte er mit einer Stimme, die selbst mich überraschte. Ich hatte Popačka noch nie sprechen hören. Ich weiß nicht, warum ich geglaubt hatte, er müsse so eine warme, beruhigende Stimme haben. Doch nein. Es klang, als würde er mich aus einem tiefen Brunnen rufen.

»Hier bin ich, Baum.«

Ich wies auf das Steinkreuz, das weiß unter dem Mist hervorleuchtete. Das Kreuz, das mitten in der Siedlung gestanden hatte, bevor Popačka gekommen war. Ich grub es aus.

»Helfen Sie mir?«

Er trat näher. Der Mond beleuchtete sein Gesicht. Ich hatte geahnt, daß es so sein würde. Der Partisanenchristus von Miloš Vetrov blickte mir entgegen, er, der in New York, Moskau und Belgrad gewesen und dann spurlos verschwunden war. Nun war er wieder aufgetaucht.

»Ich habe zehn Jahre gebraucht, um so zu werden wie er«, flüsterte Popačka.

»Wie oft sind Sie deswegen auferstanden?« höhnte ich.

»Ich habe es nicht gezählt«, sagte er.

»Deshalb mußte der Handelsvertreter umgebracht werden?«

»Auch er hätte auferstehen können.«

»So leicht ist das für einen Vertreter aber nicht«, sagte ich lächelnd. »Wollten Sie auf Nummer sicher gehen? Sind Sie deshalb zu mir ins Büro gekommen? Es hat mich gekränkt, daß Sie so wenig Vertrauen zu mir haben, Popačka!«

Ich sah schon, daß er nicht helfen wird. Die Hundemarke an seinem Hals blitzte auf. Er hob sein Gewehr.

»Vielleicht, wenn ich Sie niederschieße«, sagte er.

Ich lächelte, dabei hatte ich Angst, glaube ich. Ich bückte mich und zog ächzend, immer wieder ausrutschend, das Steinkreuz aus dem Dreck. Misthalme, Scheiße bedeckten das Gesicht des steinernen Jesus. Popačka wankte vor und zurück. Er dachte tatsächlich ernsthaft daran, mich niederzuschießen. Ich weiß nicht. Vielleicht hätte er es getan, wäre nicht plötzlich Bekičev gekommen, wäre er nicht unerwartet aufgetaucht, hätte er nicht das Holzkreuz der Siedlungsbewohner hinter sich hergezogen. Keuchend blieb er hinter Popačka stehen. Er warf das Kreuz zu Boden und nahm den Sack vom Rücken. Popačka drehte sich um, und ich spürte, daß er Bekičev anlächelte.

»Du willst, daß ich wieder gehe, Bekičev?«

»Ja«, sagte jener. Popačka stand eine Weile da, brummte, rieb sich das Gesicht. Er glich Jesus Partisan. Es war, als würde ich mich selbst sehen. Ich glaube, daß Bekičev einen ganz ähnlichen Eindruck hatte.

»Schließen wir einen Bund«, sagte ich.

»Schließen wir einen Bund«, sagte Bekičev.

Popačka zog sich langsam aus. Er war ein magerer, sehniger, altersloser Mann. Er legte sich auf das Holzkreuz. Bekičev holte Nägel und Hammer aus seinem Sack. Popačka muckste sich nicht. Nur einmal gab er etwas von sich, da nagelte Bekičev bereits seine Füße.

»Sie werden Sie umbringen.«

»Ich scheiße auf sie«, sagte Bekičev vor dem letzten Hammerschlag. Er half mir noch, Popačka in die Grube zu legen und die Scheiße zurückzuschaufeln. Das Steinkreuz trugen wir in die Siedlung und stellten es an seinem alten Platz auf. Kein Hund bellte, und der Wind ruhte wie unter einer Decke. Es kommt vor, daß die Nacht größer ist als der Himmel. Bekičev zündete sich die Zigarette an, die ich ihm vor ein paar Tagen gegeben hatte.

»Hier warte ich auf sie«, sagte er, an das Kreuz gelehnt.

17.

Eva Rajnak schlief, ihre Hand lag auf dem Bauch. Ich blieb dicht vor ihr stehen und wartete, bis sie die Augen öffnete. »Er war hier, nicht wahr?«

»Ja, er war hier«, nickte ich.

»Hat er Ihnen etwas getan?«

»Er ist fort.«

»Er kommt nicht zurück?«

»Nie mehr.«

»Wie Sie stinken«, sagte sie, doch ohne die Nase zu rümpfen.

»Ich habe Scheiße geschaufelt, Eva Rajnak.«

»Haben Sie sich eingemischt? Haben Sie nicht gesagt, daß Sie nur Dokumentar sind?«

»Zieh dich aus«, sagte ich zu ihr.

»Zuerst sollte ich das Kind zur Welt bringen«, sagte sie achselzuckend, eher nachdenklich als vorwurfsvoll. Sie rührte sich nicht. Ihre weiße Hand leuchtete im Dunkeln. Sie ruhte immer noch auf ihrem Bauch.

»Zieh dich aus«, wiederholte ich.

Sie blickte auf.

»Warum?«

»Weil ich dich liebe«, sagte ich, während ich meine Hose öffnete.

»Ich liebe dich, Eva Rajnak«, sagte ich.

»Ich liebe dich, Eva Rajnak«, sagte Baum.

Am Fuß des Steinkreuzes versetzten die Siedlungsbewohner Bekičev die ersten Schläge, ich aber hörte sogar im Körper des Mädchens, durch ihr unterdrücktes Keuchen und das Todesröcheln Bekičevs hindurch, wie über unseren Feldern das Johannisbrot raschelt, raschelt, raschelt.