Elena Schnee

Gestern brachte der Briefträger einen eingeschriebenen Brief von meinem Schwager Bogdan Pirat, in ein paar Tagen werde ein amerikanischer Regisseur zu uns kommen, und zwar nicht irgendeiner, sondern die weltberühmte Elena Schnee, die zuletzt beim Filmfestival in Cannes jenen denkwürdigen Skandal verursacht habe. Ich hatte keine Ahnung, auf was für einen Skandal mein Schwager anspielte. Ich wußte nicht einmal, wer Elena Schnee war, leider hatte ich keinen einzigen Film von ihr gesehen, obschon ihr Name mir bekannt vorkam.

Schnee, Schnee, Elena Schnee.

Eine Regisseurin aus Amerika.

Hm, wir werden sehen, was das Schicksal bringt. Jedenfalls kann es nicht schaden, vorsichtig zu sein, soviel wußte ich auch schon. Bei den weiblichen Regisseuren muß man stets mehr aufpassen. Sie lächeln wie ein an Zahnschmerzen leidender Nebendarsteller, und dann bitten sie dich sanft, ach was, sie bitten gar nicht, sie befehlen mit leiser Stimme, jene Version des Drehbuchs umzuschreiben, die du für endgültig und fast perfekt erachtet hattest. In diesen Tagen beschäftigte ich mich mit dem Krieg. Dabei legte ich beträchtlichen Ehrgeiz an den Tag. Ich schrieb Kriegsdialoge und novellistische Szenen. Ich bin Schriftsteller, weil ich mich für einen Schriftsteller halte und auch andere mich seit geraumer Zeit dafür halten. Für das Carica-Ensemble verfasse ich Theaterstücke und dramatische Episoden, manchmal arbeite ich für die Ungarn oder die Rumänen. Gelegentlich schicke ich Ideen für Seifenopern in den Westen. Es ist eine gute und genußreiche Arbeit, und sie wird anständig bezahlt, sonst würde ich sie nicht machen.

Es war also ein Brief von meinem Schwager Bogdan Pirat gekommen, und ein paar Tage später sandte mir Elena Schnee persönlich eine Nachricht. Ich habe keine Ahnung, woher sie wußte, daß ich schreibe. Elena Schnee bat mich, meine Meinung zum Krieg zu überdenken und möglichst aufrichtig und sachlich zu sein, wenn ich ihr meine Weltsicht erläutere. Daß sie das Wort Aufrichtigkeit gebrauchte, erstaunte mich. Ich glaube, ich habe tief geseufzt, als ich Elena Schnees druckfrisches Telegramm las. Schon seit langem war ich der Auffassung, daß es Wahrheit gewiß gibt, Aufrichtigkeit, nun ja, eher selten.

Elena war eine große, schlanke Frau, und sie verströmte einen typisch amerikanischen Duft. Wer jemals ein Carepaket aus Amerika erhalten hat, weiß, wovon ich spreche. Es ist die süßliche Mischung aus Haselnuß, aromatischem Kaugummi und Billigkleidern, ein unvergeßlicher Duftcocktail. Ich erzählte ihr alles, was ich über den Krieg denke. Sie saß mit übergeschlagenen Beinen vor mir und trank Mineralwasser. Ein lauer Donauwind spielte mit ihren Locken. Auf dem Bulevard Revolucije hupten die Autos. Die Linden blühten. In den Parks öffneten sich die Tulpen, und das Gras, das Gras, das Gras. Elena Schnee war schön – und gut vorbereitet. Zum Beispiel kannte sie die Kriegsberichte von Jovanovič und Mihajlovič vom Isonzo. Delaks The slopes of Triglav liebe sie sehr, lächelte sie mich an, vor allem wegen der außergewöhnlichen Naturaufnahmen. Auch Slavicé, Das weiße Dunkel und Warte nicht auf den Mai habe sie sich angesehen, und sie sei ganz und gar nicht enttäuscht gewesen.

Ich nickte, dann erklärte ich ihr meine Meinung über den Krieg.

Ich sprach lange und äußerst umständlich.

So denken Sie sich das also, fragte Elena Schnee, nachdem ich geendet hatte.

Ich weiß nicht, was ich denke, sagte ich.

Sie verstehe, seufzte Elena Schnee, was ich mit dieser einigermaßen weitschweifigen und nebulösen Argumentation bezwecke, doch sie könne mir nicht zustimmen. Das mache aber alles nichts. Mit einer fast ätherischen Bewegung schob sie mir das fertige Drehbuch hin. Sie habe mich für eine Rolle in dem Film vorgesehen, lächelte Elena Schnee, die Regisseurin aus Los Angeles. Der Held des Drehbuchs, ein englischer Major, übrigens eine reale Figur, geht durch die Infernos verschiedener Kriege und kämpft auch in der Fremdenlegion, Gegenwärtig kämpft er gegen Milenka Caricas Leute, eine Zeitlang sei er der international beauftragte Leiter der Grabungen von Jakulevo gewesen.

Was für eine Rolle haben Sie für mich, fragte ich versonnen.

Ich müßte einen bekannten Schriftsteller spielen, der die Grabungen von Jakulevo besichtige, erklärte Elena Schnee.

Ich verstehe, nickte ich, und wo soll gedreht werden?

Natürlich in Jakulevo, sagte Elena Schnee, winkte dem Kellner und zahlte in Dollar. Ich habe bereits alles geregelt.

An einem einzigen Vormittag hatte ich das Drehbuch durch, und ich muß sagen, es war echte Profiarbeit. In Los Angeles versteht man, worauf es ankommt, sie verwenden nicht mehr Attribute als nötig und angebracht, vermeiden überflüssige Verwicklungen, und die Wirkung bleibt nicht aus. Das Volk drängt sich an den Kassen, um anschließend weinend und glücklich und nach Popcorn riechend wieder seiner Wege zu gehen. Ich hätte das Heft auch gern meiner Frau, Lina Pirat, gegeben, doch die war zu diesem Zeitpunkt schon unauffindbar. Oder nein. Bestimmt war sie irgendwo, meiner Meinung nach war sie noch am Leben, wenn ich auch nicht wußte, an welchem Ort. Der Schriftsteller, den ich darstellen sollte, weicht bei den Grabungen von Jakulevo dem englischen Major nicht von der Seite und versucht zu schreiben. Thema seines Romans ist natürlich Jakulevo, seine zahllosen Höhlen, Spalten, Stollen, Wohnungen, Hügel und Brunnen, seine erschlossenen und unerschlossenen Gebiete. Hier recherchiert der Schriftsteller für den Roman, den er über Jakulevo verfassen will. Schließlich war das die einzige Rolle, die man für mich hatte. Gar nicht mal eine schlechte, zudem brauchte ich kaum moralische Bedenken zu haben, ich mußte ja nur mich selbst spielen. Also sagte ich der amerikanischen Filmregisseurin Elena Schnee zu, die mir sogleich die Hälfte meiner Gage auszahlte. In Dollar, versteht sich.

Einige Tage später kamen mit großem Aufwand die Dreharbeiten in Gang. Mit einer Sondergenehmigung traf der Stab in Jakulevo ein, eine Unzahl nichtsnutziger, sich wichtig nehmender Filmritter, Maskenbildner, Requisiteure, Fundusleute und Packer, Beleuchter, Garderobiers und der Knabenliebe huldigende Kaffeeköche mit weicher Stirn. Die Gegend wurde noch immer bombardiert. Auch im Film kamen inszenierte Bombardements vor, und es war eine ziemlich vergnügliche Sache, die Wut, die Schmach und die Angst zu spielen, die wir eben noch selbst beim Auftauchen der echten Bomber empfunden hatten. Ehrlich gesagt, war es leichter, die Demütigung darzustellen, als sie in Wirklichkeit zu erleben. Über den Film als Ganzes hatte ich keinen Überblick, obwohl ich das Drehbuch zuvor gelesen hatte und ein Gefühl für den Rhythmus der Regie Elena Schnees entwickelte, denn ich beobachtete, wie sie mit den Schauspielern umging, wie sie, von einer plötzlichen Idee geleitet, von ihrer früheren Konzeption abwich, trotz alledem konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Film nach seiner Fertigstellung sein würde, obwohl ich einer seiner Akteure war, das war ich zweifellos. In den Drehpausen unterhielt ich mich oft mit den amerikanischen Filmrittern, nun schienen sie nicht mehr so dubios. Sie fragten mich natürlich in erster Linie über die Grabungen von Jakulevo aus, wie und auf welche Weise denn so etwas hatte geschehen, wie denn Jakulevo so unerhört groß hatte werden können, worauf ich gewöhnlich antwortete, daß Jakulevo deswegen ein so unerhört großes Gebilde ist, weil es sich nicht nur im Raum, das heißt in der Materie, die man Heimat nennt, in den Weizenfeldern, Bachbetten, Grabenböschungen, Hügeln, im Gestrüpp am Straßenrand, auf kalkweiß schimmernden Felsrücken und in Höhlensystemen ausdehnt, sondern auch in der Zeit, es drängt sich sozusagen in den Körper der Zeit hinein und wird selbst zu Zeit, Ausdehnung, zu ewiger Existenz. Wir tranken viel und regelmäßig. Wir hörten den Bombern zu, die Nacht für Nacht über uns hinwegflogen, irgendwann auch im Morgengrauen, und nicht nur einmal zerschnippelten sie am Vormittag das dünne Leinen des Himmels. An einem solchen Vormittag blieb mein Schwager Bogdan Pirat vor mir stehen, er arbeitete bei den Dreharbeiten als Dolmetscher von Elena Schnee und zückte immer seine Pistole, wenn der Himmel zu dröhnen begann. Mein Schwager sah mich lange prüfend an. Ich dachte, auch er würde mich nach Jakulevo fragen, wie es so viele während der Dreharbeiten getan hatten.

Ach übrigens, begann Bogdan Pirat, was ist mit meiner kleinen Schwester, Schreiber.

Ich war ein wenig überrascht. Nein, was sage ich – ich glaube, ich bekam einen furchtbaren Schreck. Die kleine Schwester von Bogdan Pirat hieß Lina Pirat, sie war Schauspielerin, in letzter Zeit hatte sie ein wenig Fett angesetzt, aber sie war ja trotzdem meine Frau. Es war Krieg, und ich hatte eine Frau. Ihr ganzes Leben sehnte sich Lina Pirat nach einer einzigen Rolle. Sie wollte die Julia spielen, das verliebte, tragisch endende junge Mädchen, danach sehnte sie sich, und manchmal, nach einer Brecht-, Wedekind- oder Ibsenpremiere, wurde sie von einer solchen Traurigkeit ergriffen, daß sie so lange trank und sang, bis niemand mehr in der Kantine war, nur sie und der Wirt Romeo Bogdanović, der sie dann auf den Armen zu mir nach Hause brachte.

Habe ich das nicht gesagt, fragte ich, während ich mich am Kopf kratzte.

Ganz und gar nicht, bleckte Bogdan Pirat die Zähne.

Deine Schwester, Bogdan Pirat, ist während einer Vorstellung verschwunden.

Was heißt verschwunden, Schreiber?

In jener Nacht, das heißt ungefähr am zehnten Tag der Luftangriffe, begann ich leise, wir haben gerade die Balkonszene geprobt …

Aus Romeo und Julia, brüllte Bogdan Pirat dazwischen.

Ich nickte wortlos, ich wußte, im nächsten Augenblick schießt er mich nieder wie einen Hund, nur weil ich an jenem tragischen Tag wieder einmal den Souffleur vertreten mußte, ausgerechnet in Romeo und Julia. Deshalb konnte ich mich nicht um seine Schwester kümmern, das heißt um meine Frau, Lina Pirat. Auf dem Balkon einer zu bombardierenden Bühne kann man nämlich leichter umkommen als in einem Souffleurkasten, wo ich mich zu jenem Zeitpunkt aufhielt. Freilich war auch der Romeo nicht mit dem ursprünglich vorgesehenen Schauspieler besetzt, für ihn war unser Kantinenwirt Romeo Bogdanović eingesprungen. Oben auf dem Balkon, hinter dem Vorhang stand meine Frau, unten Romeo Bogdanović.

Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt, deklamierte unser Kantinenwirt.

Dann fuhr er leise und verzückt fort.

Doch still, was schimmert durch das Fenster dort?

Es ist der Ost, und Julia die Sonne!

Weh mir, schrie daraufhin Lina Pirat, meine Frau, um einiges früher als vorgesehen, denn die erste Bombe hatte in unser Theater eingeschlagen. Rauch, Staub und Asche. Schmerzensschreie. Vom Balkon war nur ein aufragender Stumpf geblieben. Das erzählte ich meinem Schwager, der mich ansah, als hätte ich die Bomben abgeworfen. Von Kunst hatte er noch nie etwas verstanden. Er wollte nicht einsehen, daß ich in dieser Vorstellung nur ein schäbiger kleiner Souffleur gewesen war.

Bogdan Pirat hob gerade seine Pistole und hätte auch schon geschossen, als plötzlich ein realer Bombenangriff begann. In unserem Film wurde gerade ein gewöhnlicher Tag im Leben der Leute Milenka Caricas gedreht, die Männer machten Musik und tranken, die Frauen tanzten, sangen hingebungsvoll, und wahrscheinlich war das der Grund für das Mißverständnis, dachte ich. Etwas schroff ausgedrückt könnte ich auch sagen, daß die Flieger die Dreharbeiten mit der Wirklichkeit verwechselt hatten. Die Bomben fielen, unter irrwitzigem Krachen zerstörten sie die Kulissen, die Wohnwagen und die Paravents, die Schauspieler und Statisten flohen in Panik, und auch Bogdan Pirat rannte brüllend, dem Himmel fluchend, davon, nachdem er sein ganzes Magazin auf einen Bomber abgefeuert hatte. Ich war außerstande, mich zu bewegen. Und in diesem Chaos, in diesem unwirklich wirklichen und dennoch filmischen Spektakel erblickte ich plötzlich Elena Schnee. Sie war zerzaust, blinzelnd beobachtete sie den Himmel, neben ihr gähnte ein Bombentrichter. Wie mir schien, hielt sie ein Exemplar des Drehbuchs in den Händen und blätterte aufgeregt darin.

Haben Sie wieder einen Skandal verursacht, Elena?

Das stand nicht im Drehbuch, schüttelte sie den Kopf.

Haben Sie die Bomber denn nicht bestellt, Elena?

Sie umarmte mich, drückte mich an sich. Sie schlotterte vor Angst.

Ein Bombenangriff kann doch nicht so tragisch sein, versuchte ich sie zu beruhigen, während ich spürte, daß ich mich nach ihr sehnte. Elena Schnee, aus Amerika. Na klar. Ihr Mund, ihre Augen, ihre strahlende Stirn. Ich wollte sie. Sie macht Filme und ist eine Frau. Ich werde sie küssen, dachte ich. Bevor sie mir ihre Lippen bot, warf sie einen verärgerten Blick zum Himmel.

Seien Sie mir nicht böse, lieber Schreiber, flüsterte sie.

Ich bin Ihnen nicht böse, Elena.

So ist der Krieg, sagte sie.

So ist er, sagte ich.

Ich sage es nur, lieber Schreiber, weil ich mir vor lauter Angst in die Hosen gemacht habe, sprach sie, dann küßte sie mich, lange und leidenschaftlich, während oben die Flugzeuge schon auf dem Heimweg waren.