Petruša Carica

Milenka Carica hatte drei Töchter, aber nur die kleinste, Petruša Carica, konnte nicht schwimmen. Vielleicht weil Milenka Carica beschlossen hatte, ihre Tochter unschuldig zu verheiraten und ihr von der schmutzigen, ausgehungerten Welt nicht mehr als unbedingt nötig zu zeigen, damit sie ihr ganzes Leben lang singen könne. Die arme Petruša Carica durfte nicht sprechen. Selbst die einfachsten Sätze mußte sie singend und trällernd äußern. An ihrem Körper durfte keine Behaarung wachsen, sogar auf ihrem Venushügel wurde der blutfarbene, weiche Flaum ausgezupft. Sie durfte nicht ins Licht der Abenddämmerung sehen, ihre Müdigkeit mußte sie verbergen. Leidenschaft aber hatte sie reichlich mitbekommen. Ich selbst war Zeuge des Vorfalls, wie ihr ein Granatapfel aus der Hand glitt. Die Frucht rollte in eine kleine Gruppe von Kriegsversehrten. Diese unmöglichen Gestalten vertrieben sich die Zeit immer bei den Leuten auf dem Markt, spielten Karten, tranken, spielten Schach und bettelten, und mit grauen Gesichtern drehten sie sich eine aus ihrem Duvan von der Kriegsrente. Petruša Carica, ohne zu bedenken, unter was für Volk sie sich mischte, rannte erschrocken der Frucht hinterher, ließ sich auf die Knie und suchte hektisch zwischen den Krücken, Beinstümpfen und vollgespuckten Lumpen herum. Sie trug übrigens immer einen Korb mit Deckel am Arm, ihr Schritt war beschwingt, ihr Blick aufmerksam, wenn auch nicht von dieser Welt, und ausschließlich auf die ausliegenden Waren, das Obst und das Gemüse geheftet. Petruša Carica war ein häßliches Mädchen, und mir gefiel besonders, daß sie sich dennoch nicht nach Schönheit sehnte. Sie sah einen Haufen ungarischer Jabuka und wählte dann lächelnd einen aus, auf dessen den Blicken verborgener Seite bereits der Fleck der Fäulnis bräunlich schimmerte. Den Früchten konnte sie die Würmer heraussingen. Manchmal blieb jemand vor ihr stehen, ein Fremder mit schlechten Zähnen oder der Dorftrottel mit rasiertem Nacken, und begann mit lauter Stimme, ihre Mutter, die teure Milenka Carica zu beschimpfen. Petruša Carica schaute ihn nur sanft an, sie verstand die Flut von Flüchen, Anschuldigungen und diversen Abstrusitäten nicht, vielleicht hat sie nicht einmal gesehen, wie die beiden Musiker, die sie immer auf den Markt begleiteten, den Unglücklichen zu Boden schlugen.

Es war nicht schwierig, das Mädchen zu verführen. Ich sagte ihr nur, daß ich ihr beibringen würde, auf dem Wasser zu schweben. Seit vor ein paar Jahren die Leichen von Menschen herausgefischt werden mußten, badete niemand mehr im Teich von Kupatila, außer Milenka Carica, die sich dann immer ihre Festtagsprothese anschnallen ließ und im Gummireifen eines ausgedienten Militärjeeps sitzend von den langsamen Strömungen des Meerauges aufs Wasser hinausgetrieben wurde, während ihr die Musiker am Ufer aufspielten. Milenka Carica weinte klagend und sang von einem Schwan. Vor dem Massaker war der Teich von Kupatila ein beliebter Ferienort gewesen, doch heute waren die Fischerstege zerfallen, die Datschen am Ufer abgetragen oder niedergerissen, das Ufer war verschlammt und stank.

Auch an diesem Tag kaufte Petruša Carica Obst für ihre Schwestern. Ihre Musiker trotteten hinterher und spielten leise auf ihren Geigen. Petruša Carica feilschte singend, was natürlich kein echter Handel war, denn die Bauern wußten genau, mit wem sie es zu tun hatten, und so senkten sie lachend, zähneknirschend die Preise. Nur einer, ein gewisser Imre Portinkó, machte vor seinen Melonen eine abwehrende Geste, die seien nicht zu verkaufen. Die Ware sei schon vergeben. Petruša Carica wunderte sich. Sie ließ ihren Korb fallen und fragte summend, aber guter Mann, warum gehen Sie zum Markte dann, wenn sie nichts verkaufen, ach, warum tun Sie so, als würden Sie verkaufen, worauf Imre Portinkó mißmutig knurrte, das sei seine Sache und er schulde niemandem eine Erklärung. Es ging das Gerücht, seine Familie sei vor einigen Jahren aus dem Meerauge geborgen worden, und der unglückselige Bauer warte darauf, daß im Gewühl der Käufer plötzlich seine Frau und seine drei Kinder auftauchten, damit er ihnen die süßeste Melone aufschneiden könne. Seit er seine Familie verloren habe, biete Imre Portinkó seine Ware feil, aber nie verkaufe er jemandem etwas. Die Musiker hatten aufgehört zu spielen. Während sie auf Imre Portinkó eindroschen, trat ich zu dem Mädchen. Petruša Carica verfolgte zerstreut die Szene und wollte gerade weitergehen. Wie zufällig stieß ich sie an.

Ich bringe Ihnen das Schwimmen bei, Petruša Carica, flüsterte ich und hauchte ihr ins Gesicht, so nah kam ich ihr.

Wer sind Sie, trällerte sie, die Augen weit aufgerissen, und an ihrem Blick erkannte ich gleich, daß sie immer mit einem von Honig triefenden Kruzifix zwischen den Schenkeln schlief. Ein junger Pope mit bitterem Blick betete Milenka Caricas Kruzifix nach Sonnenuntergang dorthin, und bevor der Morgen anbrach, entfernte er es wieder, ohne daß das Mädchen aufwachte. Petruša starrte mich verständnislos an, ihre Hand irrte über ihren Schoß. Hauche einem unberührten Mädchen nur ins Gesicht und achte darauf, wie ausgeliefert ihr Blick wird. Erfahrene Frauen hauchen zurück oder spucken dich an. Petruša Carica war ja noch nicht einmal gewohnt, daß Fremde ihr auf offener Straße Avancen machten.

Ich bin Bademeister, mein Name ist Luft, sagte ich.

Petruša Carica lachte, als habe sie schon verstanden. Die Musiker hatten aufgehört, Imre Portinkó zu malträtieren, und musterten mich. In ihren Gesichtern war nichts Menschliches. In ihren Gesichtern war weder Zweifel noch Mitleid oder Leidenschaft. Sie sahen mich, offenbar sahen sie mich gut, doch wer ich bin, das interessierte sie so wenig wie bei einer Ameise. Ich suchte schleunigst das Weite.

Am nächsten Tag trafen wir uns wieder auf dem Markt, so hatte ich es geplant. Bis dahin hatte ich es mir gründlich überlegt. Ich hatte schon vielen Menschen das Schwimmen beigebracht. Einigen Schwachköpfen natürlich vergeblich. Ich hatte gehört, daß dieser oder jener Unglückliche ertrunken war, die Strömung ihn mitgerissen oder ein Strudel ihn verschluckt hatte, und daran hätte ich mir die Schuld geben können, natürlich. Doch als Bademeister muß ich mit einer gewissen Fehlerquote rechnen, damit, daß eben nicht alle meine Anweisungen vollkommen sind, außerdem kann ich nicht für jeden meiner Schüler verantwortlich sein. Das Schwimmen ist eine nicht weniger ernsthafte Angelegenheit als die Nutzung der Erde oder das Zähmen des Feuers. Ich bemühte mich, die Abenteurer herauszufiltern, die hoffnungslos Ungeschickten. Man könnte natürlich auch fragen, woher ich den Mut und die Lust, woher die Bereitschaft nahm, ausgerechnet im Meerauge von Kupatila meine Arbeit zu tun, wo doch dort vor einigen Jahren Menschen herausgefischt worden waren, Leichen jeden Ranges und Alters, sogar Frauen und Kinder fand man im Wasser, ja, es könnten immer noch Tote darin liegen, Totenköpfe und kleine Brustknochen glitzern tief unten im Schlamm. Zu Recht könnte man fragen, wie ich überhaupt dazu komme, irgend jemandem in diesem See das Schwimmen und Schweben beizubringen, ja, ausgerechnet eine Frau darin auszubilden, mit der unverhohlenen Absicht, ihr die Unschuld zu nehmen, und darauf antworte ich nur, ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich habe einen Totengräber gekannt, Sascha Grab hieß er, trotzdem erzählte er die besten Witze weit und breit. Ich habe Menschen gekannt, die ihr ganzes Leben unter dem Himmel leise und auf Zehenspitzen herumgingen, Gott sei krank, sagten sie, man dürfe ihn nicht stören, und dabei lächelten sie ihr Leben lang. Ich kenne welche, die der Anblick von Toten geradezu in Hochstimmung versetzt.

Können wir denn aus Versehen leben, Herr Luft, fragte das Mädchen.

Nein, Petruša, wir können nicht aus Versehen leben.

Gibt es denn dann eine Aufgabe, Herr Luft?

Willst du denn lernen, Kind?

Immer mehr werden, Herr Luft!

Wir vereinbarten, daß nach Mitternacht, wenn Milenka Carica ihre Musiker nach Hause schickte, bis auf den einen, von dem sie sich dann immer besteigen ließ, bis das Blut strömte, das Mädchen mir bis zur Abzweigung von Jakulevo folgen würde, wo zwischen zwei Grabhügeln ein Fußweg zu den Trockengärten von Kupatila führt. Es kommt vor, daß nachts die Bäume vergreisen, sich nicht einmal mehr vor dem stärksten Wind verbeugen, nur ächzen und knarren. Ich nahm Walnüsse mit und stach mir eine Nadel in die Schulter, damit auch der Schmerz bei mir war. Ich gehöre eben zur alten Generation. Für mich ist es wichtig, daß auch bei einer guten Umarmung noch etwas fehlt. Ich brauchte nicht lange in die tiefe, blutfarbene Dunkelheit zu starren. Petruša Carica kam, trällernd. Sie betrachtete den See, dann zog sie sich schnell aus, ohne sich bitten zu lassen. Ihre Schenkel waren voller Honig, natürlich.

Nimm das Kreuz heraus, mein Kind.

Das Mädchen sah verwundert auf. Dann berührte sie zögernd ihren Schoß und zog den kleinen, vergoldeten Gegenstand hervor.

Laß es am Ufer, Petruša.

Herr Luft, Sie sind so aufmerksam.

Sie ließ das Kreuz zu Boden fallen, ohne es eines Blickes zu würdigen.

Von jetzt an darfst du nicht mehr singen, sagte ich.

Wer singt denn dann, fragte sie singend.

Das Wasser, Petruša, das Wasser im See singt statt deiner.

Sie klammerte sich an mir fest wie an einem Ast. An einigen Stellen des Sees wurde man von einer geheimen, unwiderstehlichen Kraft nach unten gezogen, in die tödliche Tiefe. Wer bin ich, nur ein einfacher Bademeister, der seine Sache ernstnimmt. Ich legte mich auf den Rücken, zog den Körper des Mädchens über mich und begann, ihr ins Gesicht hauchend, zu erzählen. Ich erzählte von den endlosen Ausgrabungen von Jakulevo, ich erzählte ihr die Geschichte des Meerauges, nein, es sei nicht wahr, daß es hier früher einmal Schwäne gegeben habe, nur dieses eine unglückliche Exemplar, das irgendein Vorfahre von Milenka Carica hatte herbringen lassen, worauf es einige Tage später eingegangen und sein Leichnam tagelang auf dem See getrieben sei, während am Ufer der unglückliche Vorfahre von Milenka Carica brüllte und sich vor Schmerz die Augenbrauen auszupfte. Legenden überdauern immer, und sie können aus jedweder Regung entstehen. Ich erzählte ihr, daß es Physiker gibt, die das Funktionieren des Universums zu verstehen vermeinen, die, weil sie es errechnet haben, wissen, wie das Weltall entstanden ist, allein, sie wissen nicht, warum da ist, was da ist. So viel erzählte ich Petruša Carica, daß mir schließlich selbst ganz schwindlig wurde. Leise plätscherte das Wasser um uns. Es nahten die Minuten der Prüfung.

Wo wird die Einsamkeit geboren, Petruša?

In unserem Mund, Herr Luft.

Woher kommen die Frauen, Petruša?

Vom Friedhof, Herr Luft.

Nun, und wohin gehen sie, Petruša?

Zum Friedhof, Herr Luft.

Und was machen die Männer, Petruša?

Singend graben sie die Gräber, Herr Luft.

Petruša Carica sang nicht, sie summte nicht einmal. Sie sprach, wie wir alle, ihre Wörter schlugen trocken und unglücklich auf, doch sie hörte das Wasser. Sie hörte das Rauschen der Bäume, den Gesang der Nacht und die Musik der Sterne. Dann, von einem Moment auf den anderen, geschah etwas, wie wenn es plötzlich in Strömen zu regnen beginnt. Zuerst erklang wilde Musik, dann hagelten Steine auf uns nieder. Ich dachte, Milenka Carica habe ihre Tochter aufgegeben. Ja, natürlich. Sie hatte sie wahrscheinlich einem ihrer Musiker zugedacht. Und jetzt hatte sie am Ufer das Kreuz entdeckt. Ich verstand den Schmerz von Milenka Carica, nur daß die Steine jetzt auch auf mich niederhagelten. Kleine rauhe Kieselsteine pfiffen um unsere Köpfe. In meiner Schulter funkelte die Nadelspitze, ich war geschützt. Aber Petruša Carica hatte nichts, nur mich und das singende Wasser. Unablässig hauchte ich, hauchte ihr ins Gesicht. Kieselsteine und Eisennägel trafen unsere Körper.

Hörst du, wie das Wasser singt, Petruša?

Hören Sie, Herr Luft, daß es von uns beiden singt?

Endlich dämmerte es, wir bluteten.

Die Musiker lagen bewußtlos am Ufer. Als wären sie tot. Endlich konnten wir aus dem Wasser steigen. Petruša Carica blutete, doch sie konnte schwimmen, und sie konnte schweben. Fortwährend hauchte ich ihr ins Gesicht, damit sie nicht ohnmächtig wurde. Milenka Carica war hier, sie wird sich in den Büschen verborgen haben, vielleicht beobachtete sie uns von dort.

Ich kann schwimmen, Mutter, rief auf der Erde sitzend das Mädchen.

Mein Name ist Luft, sagte ich.

Es war still wie auf dem Grund des Sees.

Milenka Carica, flüsterte ich. Ich habe Ihrer Tochter beigebracht, dem Gesang anderer zu lauschen. Ich habe ihr beigebracht, wie man redet und schweigt.

Und dann hörte ich Lärm. Auch Petruša Carica riß den Kopf hoch und sah, wie vom steilen Ufer des Sees, vom schlammigen Abhang voller Geröll und Dreck eine riesige Melone auf uns zurollte. Es schien, als könnte Petruša Carica sich nicht rühren. Vielleicht wollte sie es auch nicht. Die Melone rollte ihr direkt zwischen die Schenkel, und als sie gegen ihre Scham stieß, zerbarst sie, wie bei einem Kunststück. Der Morgen dämmerte am Himmel. Der süße Melonensaft floß über Petruša Caricas Schoß, die nicht mehr sang, weil sie nicht singen konnte. Ich kniete mich neben sie. Streichelte ihr Gesicht. Sie lächelte, nickte. Ja, auch sie höre es. Sie höre, wie auf ihrem Körper das Blut, der Schlamm und der süße Melonensaft zusammenfinden und ein seltsames kleines Liedchen anstimmen.