Ljubiša Babušov

Bald sind es zehn Jahre, daß ich als Eingeweihter eines großen Geheimnisses, als Erwählter lebe. Mein Tag war gekommen, ohne daß ich es gewollt hätte, und als ich die Augen aufschlug, wußte ich es schon, und seitdem warte ich nur, daß mein Diamant aus dem Mantel der Zeit hervorschimmern möge. Oft betrachtete ich meine Mutter, in deren Haar der Wind alt geworden war, in ihrem Gesicht hatte der Schatten der Wolken Furchen gegraben, zwischen ihren Fingern nasse Asche dunkle Spuren hinterlassen. Manchmal träumte ich von ihr. Daß sie mich zur Welt bringt, mich aus ihrem unermeßlichen Schoß unter den Himmel entläßt, vor Schmerzen stöhnt, in Blut schwimmt und die Namen der Berühmtheiten unserer Familie aufzählt, Voijslav, Stefan Nemaja, der große Dragutin, Stefan Lazarević, Karadjordjević, der Patriarch von Černojević. Bei uns ist man überzeugt, wenn du von deiner Geburt träumst, wirst du tatsächlich neu geboren. Ich glaube nicht an Träume, das meine ich nicht. Ich glaube an mich selbst. Ljubiša Babušov, die Tochter eines Bauern aus Jakulevo, eines gewissen Vasja Babušov, habe ich vor ungefähr zehn Jahren zum ersten Mal gesehen, da war sie noch ein Säugling. Sie waren aus Jakulevo gekommen und zu uns geflüchtet, Geschwister, Verwandte, Babušov und seine Tochter. Da trug jemand seit zehn Jahren im Halbdunkel der Kneipe kriegerische Gedichte über den heldenhaften Prinzen Marko vor. Selbst in den Schnapsgläsern schien sich das Licht des Himmels zu spiegeln. Das Kind begann zu weinen, und auch mir traten die Tränen in die Augen. Es war, als würde dieses Würmchen, diese rosafarbene Unschuld mit seinem Weinen das Gedicht fortsetzen.

Ein schönes Kind hast du, Babušov, sagte ich zu dem Bauern.

Mach dir selber eins, brummte er verdrossen.

Wozu denn, wo wir doch zusammengehören, fragte ich.

Wir sicher nicht, knurrte Babušov, und sie, deutete er mit der Stirn auf die Kleine, gehört schon gar nicht zu dir.

Zu wem gehört sie denn, Babušov?

Zuallererst zu Gott, und dann zu mir, sagte er und spuckte aus.

Und du zu mir, Babušov, nickte ich.

Ich wurde nicht wütend, keineswegs. Ich wußte, daß ich erwählt bin. An einem Nachmittag vor ungefähr zehn Jahren habe ich Ljubiša Babušov zum ersten Mal gesehen. Käfer auf meinem Gesicht, Schneematsch unter meinen Wimpern – das kam danach, des weiteren verkündete ich, daß das Leben bože miluj ist. Genau so. Ich glaube, Gott hat einen Fuß auf mein Herz gesetzt und wird ihn erst wieder fortnehmen, wenn ich meine Aufgabe erfüllt habe.

Als mein Vater von einem Kroaten aus Sarajevo getötet wurde und die Leitung des Guts mir zufiel, schickte ich nach einem in Niš ansässigen Zigeuner namens Zeus. Daß er die Zukunft kannte, war nicht sicher, auf alle Fälle redete er schön darüber, daß in der Apokalypse eine Blume aus dem verwundeten Schoß Serbiens sprießt und niemals mehr verwelken wird. Zeus kam an einem glibberigen Herbsttag, als trieben ihn die Himmlischen vor sich her. Bis zum Gürtel war er voller Schlamm, in der Hand Katzenschwanz, Schneeglöckchen. Der Zigeuner stand am Tor, und der Blick meiner Mutter, die draußen im Hof saß, wurde warm. Nachdem ein Kroate aus Sarajevo meinen Vater umgebracht hatte, übernahm meine Mutter für einige Wochen die Leitung des Guts, doch bald mußte sie die Erfahrung machen, daß sie zu unglücklich war, um zu befehlen, deshalb setzte sie sich lieber in den Hof und sah mir mit leerem Blick zu, wie ich mit Dünger, Mehl und Käse, mit Schnaps und Benzin hantierte, mit den angestellten Sängern und Kämpfern umging und mit dem launischen Licht, das das Land vergoldete und in manchen Gegenden rasch verdarb. Ich bin kein Bauer wie Babušov. Im Grunde bin ich auch kein Händler. Ich bin Mihail Dobro. Mir ist nichts selbstverständlich, anders als denjenigen, denen der Sonnenaufgang nur dazu dient, mit der Arbeit zu beginnen, und der Sonnenuntergang, sich auf das ärmliche Lager zu kauern. Ich bin anders, ich bin auserwählt. Ich schickte Ljubiša Babušov Kleidung und Rasseln. Guslespieler standen vor ihrem Haus und hörten wochenlang nicht auf zu singen. Mich interessierte nicht mehr, was meine Mutter sagte. Ein Kroate aus Sarajevo hat meinen Vater getötet, und weil meine Mutter zu unglücklich war, um das Gut zu leiten, wurde ich Gutsherr. Meine Mutter war größer und stärker als ich. Manchmal ließ sie sich von ihrem Sekretär, einem Kerl namens Josif Badala besteigen und orderte bluttriefende Nachrichten vom Krieg und von Milenka Carica, die neuerdings kränkelte, man sprach davon, daß sie ein neues Bein bekommen habe und trotzdem schlechter laufe als zuvor. Josif Badala hatte in Paris und Amerika studiert. Er war der Geliebte meiner Mutter, seit mein Vater von einem Kroaten aus Sarajevo erschossen worden war.

Es ist Krieg, sagte ich zu Zeus, der prüfend zum Himmel blickte, als könne er so weit sehen. Ich weiß, daß die Menschen nicht bis zum Himmel sehen. Sie sehen ein Stück weit, und das, was dort ist, nennen sie Gott. Glaube ist nicht, Gott zu sehen. Glaube ist, zu wissen, daß Gott uns sieht, auch wenn wir ihn nicht sehen. Wer Gott sieht, ist verloren, sage ich, Mihail Dobro. Ich glaube, Zeus, der Wahrsager, dachte genauso. Er bekam von mir den Befehl, fortzugehen und das Mädchen zu prüfen, das Ljubiša Babušov hieß und neuerdings in Kneipen Gedichte zum besten gab, dann solle er mir seine Meinung sagen, ohne Umschweife, nur das Wahre und Schöne. Zeus kam zurück wie einer, der so lange geprügelt worden ist, daß er die letzte Erinnerung an das Gute in seinem Leben verloren hat. Aber er legte gleich los. Ljubiša Babušov kann deswegen so schön singen und Gedichte aufsagen, weil sie von Zeit zu Zeit ihren weitaufgerissenen Mund in die Sonne hält, sie taucht ihre Zunge, die Zähne und die Kehle ins Licht. Aber das ist noch nicht das Wesentliche. Wozu Scheiße mit Honig garnieren, Mihail Dobro: Vasja Babušov hat seine Tochter erzogen, ohne ihr auch nur ein Wort vom Krieg zu sagen. Das Mädchen wußte nicht, daß überall in der Gegend getötet wurde, sie wußte nichts von Jakulevo, sie wußte nicht, daß Bomben auf den Schoß Serbiens fielen, und wenn sie nach dem Himmelsdröhnen fragte, sagte ihr Vasja Babušov, das sei nur der launische Zorn des Himmels und der sei viel besser, als der des Menschen, denn der Zorn des Himmels vergehe, der Haß der Menschen aber sei ewig, ewig.

Verschwendung, sagte ich, daß du so viele sein kannst.

Ljubiša Babušov war zehn Jahre alt, sie konnte deklamieren, singen und wußte von nichts. Meine Zeit, daran zweifelte ich nicht, war gekommen. Meine Mutter war bleich wie eine getünchte Wand. Meine Mutter weinte, wie ein Blatt im Regen, meine Mutter spürte die Gefahr, meine Mutter schmeichelte, summte mein Lieblingslied, meine Mutter ahmte das Abendlied des Windes nach, das ich so liebte, meine Mutter bot mir ihre Brustwarzen, meine Mutter bot mir ihren heißen Schoß, alles vergeblich, alles vergeblich.

Ich ging zu dem Bauern, wie ein Prinz.

Ich kaufe deine Tochter, Babušov.

Sie ist nicht zu kaufen, Mihail Dobro.

Nur für mich nicht oder für niemanden?

Für den, der sie kaufen will, so Babušov.

He, bogati, lief mir die Galle über. Ich spürte, wie ich einen roten Kopf bekam und mich nicht mehr beherrschen konnte. Feilschen mit diesem Bauernarsch, der sich geehrt fühlen sollte, daß ich überhaupt mit ihm rede, ihm gestatte, vor mir stehen zu bleiben.

Aber dann gelang es mir doch irgendwie, mich zusammenzureißen. Schließlich hatte ich einige Argumente. Ich begann aufzuzählen.

Unsere Mutter, Vasja Babušov, um sie geht es. Unsere Mutter, das ist die Erde, sie wird alt, im Frühling beginnt ihr Gesicht wieder zu strahlen. Flüsse und Himmel strahlen. Wie viele Geschichten erzählen davon, wie junge Männer aus Schlamm und Dreck, von verfluchten Berghängen, von verräterischen Flußufern nach Niš, nach Novi Sad heimkehren, sich sogleich, ohne auch nur die Stiefel auszuziehen, den vom Blut braunen Soldatengürtel und die Hundemarke abzulegen, vor ihre Mutter hinknien und sie anflehen, schlag mich, Mutter, schlag zu und umarme mich, und erst dann tisch uns Krautroulade und Gibanica auf. Wenn die jungen Männer heimkehrten, kehrten sie zu ihrer Mutter heim, Babušov.

Ich mag solche Geschichten nicht, Mihail Dobro, sagte Babušov und hob die Hand, er zeigte, daß Erde darin war, er hatte Erde in der Hand.

Und ich habe es erzählt, weil ich diese Geschichten mag, Babušov, und ich wollte auch, daß du verstehst, was dich erwartet.

Ich verstehe nur, was ich verstehen will, brummte Babusov.

Mir reichte es. Was bildet sich der Kerl ein, wo er nur ein einfacher Bauer ist, ich aber ein Erwählter bin?! Ich ließ ihn bis zum Hals eingraben und ging davon. Mit Erde in der Hand kommt er zu mir?! Soll er wissen, wie es ist, in der Hand der Erde zu sein. Ich engagierte einen wandernden Künstler, der den Bauern zeichnen sollte. Mit leidendem Gesichtsausdruck, für ein Extrahonorar. Babušov war auch am Morgen noch in der Erde, seine Augen waren blutunterlaufen, Schaum stand ihm vor dem Mund.

Sunce ti jebem, flüsterte er, ich gebe die Ljubiša nicht her.

Sie gehört mir schon, Babušov, sagte ich. Siehst du, während du in deiner Erde sitzt und an die Saat denkst und dir das Licht vorstellst, das über der Wiese aufschäumt, habe ich deine Tochter errungen, die erst zehn Jahre alt ist.

Über dem Haus hingen dichte, schmutzige Dunstschwaden. Badala, der Sekretär, stand im Hof und trank gemütlich seinen Kaffee. Ich ging zu ihm.

Josif Badala, küßt du mir die Hand?

Er sagte nichts, drückte nur seine speichelfeuchten Lippen darauf. Für einen Augenblick spürte ich seine Zunge. Ich drehte die Hand um, damit er den Beweis unseres Abkommens, das glänzende Markstück, mit den Zähnen aufnehmen konnte. Er richtete sich wieder auf.

Weißt du, unsere Mutter, was wird mit unserer Mutter?

Ich weiß, sagte er, mit der Münze im Mund.

Ein paar Tage später verliehen wir Vasja Babušov eine Auszeichnung. Nicht ich war wichtig, sondern er, der Bauer. Zu der Feier mußte er auch seine Tochter mitbringen. Ljubiša stand im Hof, ihre Brust war noch unentwickelt, auf ihrer Stirn ein zögernder Schatten, aber ihre Beine waren bereits behaart, wie bei denen, die schon durch Brennesseln gegangen sind. Badala ließ meine Mutter in den Hof tragen. Unter lautem Stöhnen und Singen wurde sie herausgeschleppt. Jemand sagte, wir werden alle krepieren, ihr werdet sehen, am Ende krepieren wir ohnehin alle. Wie auf einer Bühne, wo manche die tragischen Rollen zu spielen haben. Also nein. Ruhe, ihr Hurensöhne, Maul halten.

Wir krepieren nicht. Wir werden leben, wir werden mächtig sein, wir werden ewig sein. Wir vergessen nichts, sagte ich den Versammelten. Wir lernen nur so viel, schrie ich, wie man uns mit Gewalt und Heimtücke aufzwingt. Wir werden besser sein, als wir waren, sagte ich.

Meine Mutter erhob sich und kam auf mich zu. Sie war größer und stärker als ich, wie oft hatte sie diese Überlegenheit ausgenutzt. Als sie vor mir stehenblieb, spürte ich, daß in ihrem Atem noch Josif Badalas nächtliches Keuchen war, auch diese Nacht hatte sie sich von ihm vögeln lassen. Badala gehörte mir. Babušov blinzelte benommen, in seiner Hand blitzte das Schnapsglas. Ringsum die Landschaft, das Land, mein teures Land, die Wolken, die Birken am Straßenrand, und der Himmel, der Himmel. Ich weiß nicht, wo ich hinstach. Und auch nicht, wie oft. Aber irgendwie war es so schön.

Ljubiša begann in ihrer Angst zu deklamieren.

Posetala Carica Milica, Ispod grada bjeloga Kruševaca, S njome seću dve mile kceri, Vukosava i lijepa Mara, S njima jezde Vladeta vojvoda, Na doratu, na konju dobrome.

Und zugleich glänzten ihre Augen vor Angst.

Ja, natürlich. Der dumme Babušov hatte geglaubt, daß ich seine Tochter zur Geliebten oder Ehefrau machen wollte. Aber das war es nicht. Ich hatte anderes mit ihr vor, was ein beschränkter Erdkünstler schwerlich verstehen konnte. Sie, die einfachen Leute, verrichten ihre Arbeit, bauen die Mauern wieder auf, scheuern die Stadtränder blank, holen die Wracks aus dem Fluß, denn dafür sind sie geschaffen. Menschen wie ich hingegen, die Erwählten, stellen die Uhren der Krankenhäuser und Friedhöfe, der Kirchen und der Ämter neu. Badala und Zeus ergriffen meine Mutter an Händen und Füßen und hoben sie hoch. Vorsichtig, um ihr nicht weh zu tun, wiegten sie die Seele aus ihr hinaus. So ging ich zu dem Mädchen und umarmte es, wie es sich gehört. Ich führte sie zum Stuhl meiner Mutter und setzte sie hinein. Ihre Mundwinkel zitterten, doch ich hob meine Hand und strich ihr den Angstschaum von den Lippen. Schließlich kniete ich mich demütig vor sie hin.

Mutter, sagte ich und legte meine Stirn in ihren Schoß.