Als ich die Treppe zum Büro hochstieg, klingelte das Telefon. Ich sprang die letzten Stufen, schloß hastig die Tür auf und riß den Hörer von der Gabel. »Kayankaya am Apparat.«
Er oder sie legte auf. Eine Weile lauschte ich auf das Knacken in der Leitung.
Das Büro war von dem heißen Tag mit faulig riechender Wärme aufgeladen. Ich zog den Rolladen hoch, öffnete das Fenster und setzte mich mit einer Flasche Bier an den Schreibtisch. Ich nahm einen langen, kühlen Schluck und dachte an Susanne Böhnisch. Im Moment mußte sie wieder zahlenden Herren am Hosenlatz zupfen.
Die Flasche war schnell alle, und ich öffnete eine neue. Ich war schon dabei, mir zu sagen, der heutige Tag wäre erfolgreich genug gewesen, und ich könnte mir einen Abend vor dem Fernseher gönnen, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal blieb der Anrufer dran. Es war Ilter Hamul.
Sie wollte wissen, ob ihr Bruder bei mir sei.
»Ist er nicht. Warum?«
»Er ist, wie gewöhnlich, um sechs von der Arbeit nachhause gekommen, aber als er erfahren hat, daß Sie heute morgen mit meiner Mutter gesprochen haben, ist er ohne ein Wort wieder gegangen.«
»Regen Sie sich nicht auf, Frau Hamul. Vielleicht trinkt er nur irgendwo ein Bier. Hier ist er jedenfalls nicht. Warum sollte er auch.«
Ich überlegte, ob ich Ilter Hamul auf Ahmeds Drogenhandel und ihre fixende Schwester ansprechen sollte. Könnte sie mir etwas Neues erzählen? Ich glaubte nicht und ließ es. Außerdem hatte ich Angst, ihr als erster die Tatsache vor Augen zu zerren.
»Ist sonst alles soweit in Ordnung bei Ihnen?«
»Ja, ja. Nur… eine Rechnung ist angekommen, für Ahmed. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll.«
»Was für eine Rechnung?«
»Eine unbezahlte Rate, oder so… für ein Haus. Aber das kann nicht sein, wir wollten uns kein Haus kaufen… da ist was falsch. Ganz bestimmt.«
»Der Absender, wer hat die Rechnung geschickt?«
»Die Stadt heißt Lüneburg. Aber es ist keine richtige Rechnung, eher ein Brief. Der Mann schreibt, er will Ahmed an die zweite Rate für das Haus erinnern. Ich verstehe das nicht.«
»Frau Hamul, ich komme morgen vorbei, und dann schauen wir uns das zusammen an, in Ordnung? Solange lassen Sie den Brief liegen und machen sich keine Sorgen.«
»Ich werde es versuchen.«
Wir verabschiedeten uns. Ich trank und rauchte, schoß Ringe in die Luft und ließ meine Gedanken wegschwimmen. Das Bier legte einen Schleier über meine Augen. Ich schob die Beine auf den Tisch und rutschte in eine bequeme Lage. Das Bier lief und lief wie in einen trockenen Schwamm. Dann fiel die Flasche auf den Boden, und ich schloß die Augen. Ich war angetrunken und müde. Es war wohlig warm.
Gerade als der Schatten langsam auch über mein Gehirn zog, schrillte die Türklingel.
»Scheiße.«
Ich rappelte mich hoch, schlurfte zur Tür und drückte die Klinke herunter. Erst sah ich tranig in die Mündung. Dann war ich mit einem Schlag hellwach. Zwei Monster standen vor mir. Beide im Overall und mit dicken Fallschirmspringerstiefeln. Auf den Köpfen Gasmasken und darüber Gummistrümpfe. Der eine zielte mit einer mittelgroßen Gaskanone auf meine Stirn. Der andere hatte die Finger am Abzug einer kleineren Pistole. Sie standen vor mir und sagten nichts.
Langsam hob ich die Arme und machte einen Schritt rückwärts ins Zimmer. Der Schweiß brach mir aus allen Poren. Die Knie zitterten leicht gegeneinander. Ich machte den Mund auf, kriegte aber keinen Ton heraus.
Die zwei standen immer noch reglos vor mir.
Ich merkte, wie meine Muskeln die Starre nicht mehr ertrugen, sich verkrampften und zu zucken anfingen. Etwa eine Minute standen wir uns so gegenüber, dann begann sich der mit der Gaskanone zu bewegen.
Er machte drei kurze Schritte auf mich zu und bedeutete mir mit dem schwarzen Rohr, weiter zurück zu gehen. Ich ging vorsichtig in die hinterste Ecke, ohne eine verdächtige Bewegung zu riskieren. Der eine hielt die ganze Zeit das Rohr auf mich, während der andere Tür und Fenster schloß. Er ließ auch die Rolläden herunter. Nun befanden wir uns im Dämmerlicht.
Ich hatte das Bedürfnis zu schreien, aber im Haus war sowieso niemand mehr. Ich überlegte, was ich die beiden fragen könnte. Mir fiel nichts ein. Wer sie waren, würden sie mir sowieso nicht erzählen, und was sie wollten, konnte ich noch früh genug erfahren. Also blieb ich stumm.
Mein Bewacher ließ mich keinen Augenblick aus den Augen, sonst hätte ich alles auf eine Karte gesetzt. Nachdem Tür und Fenster verschlossen waren, kam der andere auf mich zu und durchsuchte meine Hose und Jacke nach Schußwaffen. Die Parabellum lag im Auto. Hier hätte sie mir ohnehin nichts genützt.
»Wir haben dich gewarnt!«
Durch die Gasmaske klang die Stimme blechern.
»Wir haben dir gesagt, du sollst dich raushalten!«
»Wer ist ›wir‹?«
Ich hatte meine Stimme wieder gefunden.
»Denk mal nach!«
Er ließ die Gaskanone um meinen Kopf kreisen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber wahrscheinlich grinste er dabei. Plötzlich riß er das Rohr in die Luft und drückte ab.
Es krachte, und ein Haufen Funken sprühten durchs Zimmer. Die Gasgranate platzte, und dichte Rauchschwaden machten sich breit. Der ätzende Dampf drang bis in die letzte Ecke. Ich hielt mir das Hemd vor die Nase, kniff die Augen zusammen, es nützte nichts. Das Tränengas war für mein kleines Büro zu stark dosiert, nur eine Gasmaske hätte schützen können.
Die Suppe floß aus Augen, Mund, Nase, und es wurde immer schlimmer. Ich schmiß mich auf den Boden, hämmerte die Fäuste aufs Linoleum, zerriß mein Hemd und drückte es mir aufs Gesicht. Es nützte nichts. Ich versuchte mich aufzurichten, stürzte sofort wieder hin, versuchte es noch einmal und krachte mit dem Ellbogen auf die Stuhllehne. Es tat weh, war aber lange nicht so schlimm, wie das verfluchte Gas in meinem Kopf. Ich schlug meinen Schädel gegen die Schreibtischwand, der brennende Dampf ging nicht weg. Ich schrie, brüllte, schlug um mich. Ich sah nichts mehr, spürte nur noch die verätzten Augen. Dann begannen sie, mich mit ihren Fallschirmspringerstiefeln zu treten. In den Bauch, ins Gesicht, überall hin. Verschwommen sah ich sie wie riesige Schatten über mir. Ich mußte kotzen.
»Laß deine Finger von Ahmed Hamul, ein für allemal! Verstehst du?! Wir machen dich sonst alle, Kanake!«
Sie hörten nicht auf, mir ihre Stiefel in den Körper zu hacken. Das Gas legte sich auf die aufgeplatzten Wunden. Ich versuchte den brennenden Schleim mit den Fingernägeln abzukratzen. Nichts half. Jetzt traten sie mir in den Rücken, in die Nieren. Ich spürte es kaum noch.
»Wenn du das überlebst, haust du ab! Klar?«
Ich zwang mich, die Hände um die Beine zu krampfen, aus Angst, ich könnte mir die Augen auskratzen. Irgendwann mußten sie aufgehört haben. Sie sind weg, dachte ich und kroch um den Schreibtisch herum, rutschte immer wieder weg und blieb liegen. Doch dann hatte ich es geschafft.
Sie waren noch da. Sie schrien mir etwas zu. Ich verstand es nicht. Sie standen an der Tür. Der eine schwang die Kanone. Direkt neben mir krachte es entsetzlich. Mit letzter Kraft schmiß ich mich in Richtung Tür, um die Granate nicht genau vor dem Kopf zu haben. Die zweite Gasladung haut dich total um, dachte ich, wußte aber gleichzeitig, sie waren gegangen. Ich griff um mich, riß und stieß, sah nichts, doch dann hatte ich die Tür gefunden. Ich hängte mein ganzes Gewicht an die Klinke. Sie hatten sie abgeschlossen.
Ich merkte, wie mir die Luft weg blieb. In diesem Raum gab es nichts mehr zu atmen. Meine Lungen zogen sich zusammen. Noch einmal bäumte ich mich auf, schleppte mich zum Fenster und stieß den Kopf durch die Scheibe. Trotz Rolladen, es gab Sauerstoff.
Es dauerte eine Weile, dann konnte ich den Rolladen hochziehen. Immer noch halb blind, tastete ich nach dem Ersatzschlüssel und schloß die Tür auf.
Ich rief einen Arzt an, gab ihm die Adresse vom Büro und wurde ohnmächtig.
»Langsam, Herr Kayankaya, ganz langsam, Sie dürfen sich nicht anstrengen.«
Vorsichtig richtete ich mich in einem weißen Bett auf.
»Wo bin ich hier?«
»In meiner Praxis, und da bleiben Sie vorerst auch.« Zwei alte, warme Augen schauten mich aus einer Brille mit Goldgestell an.
»Kann ich nicht.«
Ich hievte meine Beine über die Bettkante und stellte die Füße auf den Boden.
»Versuchen Sie nur aufzustehen, wenn Sie unbedingt wollen. Sie werden schon sehen, was passiert.«
Ich versuchte es und knallte auf den Kachelboden.
»Jetzt soll ich Ihnen helfen. Nicht wahr?«
»Nee.«
Langsam zog ich mich am Bettgeländer hoch. Ich hatte das Gefühl, als habe man mir das Rückgrat genommen. Trotzdem schaffte ich es zum Waschbecken.
»O Gott!«
»Tja, ich weiß nicht, wie Sie vorher aussahen, aber…« Im Spiegel sah ich aufgedunsenen rosa-braunen Matsch.
Der linke Schneidezahn war abgebrochen und ein Auge völlig zugeschwollen.
»Sie haben Glück gehabt, daß Sie mich noch anrufen konnten. Roch übrigens fürchterlich. Die paar Minuten in Ihrem Büro haben mir gereicht. Aber wer hat Sie nur so schlimm zugerichtet?«
Ich ließ kaltes Wasser übers Gesicht laufen. Das tat gut.
»Als Notarzt kommt man mit so was öfter in Berührung, aber Sie sind schon verdammt übel zugerichtet. Kompliment.«
»Danke.«
»Sie sind Privatdetektiv, habe ich gelesen. Ist scheinbar ein anstrengender Job.«
»Mhm, heut war er anstrengend.«
Er setzte sich an den Schreibtisch und begann zu tippen. Ich hatte das Gefühl, die Schreibmaschine stehe auf meinem Schädel.
»Sagen Sie bitte… solange ich hier bin, würde es Ihnen etwas ausmachen, nicht auf der Maschine herumzuhämmern?«
Er lächelte.
»Geben Sie zu, Sie sind anständig demoliert.«
»Ach Gott, tippen Sie Ihren Kram zu Ende.« Ich hangelte mich zurück ins Bett.
»Haben Sie eine Zigarette für mich?«
»Als Arzt…«
»Haben Sie eine oder nicht?« Er lächelte wieder.
»Warten Sie, in Ihren Kleidern waren welche.«
Er ging in die Ecke, wo meine Hose und mein Jackett hingen. Er zog die Packung raus und warf sie mir zu.
»Danke. Feuer?«
Er holte Streichhölzer. Ich zündete mir eine Zigarette an. Im ersten Moment glaubte ich, erneut in Ohnmacht zu fallen; aber dann wurde es angenehm. Ich bekam Hunger und Durst.
»’n Schluck Bier oder ’n belegtes Brötchen gibts hier nicht?«
»Gibts alles. Sie werden sich aber sofort wieder übergeben.«
»Werden wir sehn.«
Er ging hinaus. Ich erreichte meine Kleider und begann mich anzuziehen. Es war anstrengend, ging aber besser als ich dachte. Die Tür öffnete sich, und der Arzt kam zurück.
»Schinken, Leberwurst und Käse - alles, was das Herz begehrt…«
Er stockte einen Moment und sah sich um.
»Na, was soll ich denn dazu sagen?«
»Was Sie wollen.«
»Ist mir alles egal, Sie müssen mir nur unterschreiben, daß Sie auf eigene Verantwortung gehandelt haben.«
»Unterschreib ich Ihnen.«
»Wenn ich Ihnen einen Tip geben darf, legen Sie sich für zwei, drei Tage ins Bett, das wird das beste sein.«
»Mach ich. Ab übermorgen.«
Ich schleppte mich zum Schreibtisch und nahm mir ein Käsebrötchen. Mir wurde nicht übel.
»Bier gibts nicht?«
»Doch, eins, und das ist für mich.«
»Mhmm.«
Ich kaute auf dem Brötchen herum und tastete meinen Bauch ab.
»Schlimmere Verletzungen habe ich nicht?«
»Eine Rippe könnte angebrochen sein, aber das merken Sie dann. Auf jeden Fall werden Sie sich in den nächsten Tagen nochmal bei mir melden müssen.«
»Wo muß ich was unterschreiben?«
Er schob mir ein vorgedrucktes Papier hin. Ich unterschrieb und nahm mir ein Schinkenbrötchen.
»Na dann, bis demnächst.« Er tippte sich an die Stirn.
»Kommen Sie übermorgen vorbei!«
»Mach ich.«
»Und schonen Sie sich. Noch so ein Abenteuer, und Sie kommen das nächste Mal nicht so davon.«
»Werd ich mir merken. Schönen Abend noch.«
»Sie auch. Bushaltestelle ist übrigens um die Ecke. Wir sind im Westend. Ich weiß nicht, wo Sie hinwollen.«
»Aber ich. Danke.«