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Es war zwanzig nach eins. Mittagspause.

Ich mischte mich unter die verschwitzten, prallen Bürohemden, die in Dreier- und Vierergruppen aus den Hauseingängen strömten. Sie entschieden sich für ein Restaurant oder packten Brote und Kakaotüten aus, je nach Etage.

Ich kickte eine leere Bierdose an das vor mir her stolzierende Flanellbein.

»Na, hören Sie mal«, polterte der Fettkopf, während er seinen Körper herumschob, »passen Sie gefälligst auf!«

Ich lächelte ihn an.

»Ach so! Nix verstehen, he?«

Er schaute sich zu drei anderen um. Ihre Schweinsbakken verzerrten sich zu einem Grinsen.

»Hier Deutschland! Nix Türkei! Hier kommen Bierdosen in Mülleimer, und… ähm, türkisch Mann zu Müllabfuhr!«

Sie wieherten los. Die Pfannibäuche wabbelten.

Da mir nichts Passendes einfiel, verließ ich den Kreis und ging zu dem nahegelegenen Gartenrestaurant. Ich bestellte Kaffee und Scotch, dachte an Ahmed Hamul und meinen Auftrag. Ich dachte an glückliche Nutten, bonbonlutschende Zuhälter und gutmütige Polizeibeamte.

Vor zwei Jahren hatte ich schon einmal im Bahnhofsviertel zu tun gehabt. Ein Metzger aus Südhessen wollte seine achtzehnjährige Tochter finden. Eine Stunde blieb er in meinem Büro, brüllte und winselte abwechselnd, bis ich das Mädchen verstehen konnte.

Warum er sich ausgerechnet einen türkischen Detektiv ausgesucht hatte, habe ich nie verstanden. Ich suchte die Metzger-Tochter in allen zweifelhaften Absteigen, stöberte rund um den Bahnhof, ließ mir zweioder dreimal das Gesicht zermatschen und wurde zuletzt, unter dem Verdacht, mit Rauschgift zu handeln, von der Polizei festgenommen. Nach vierundzwanzig Stunden ließen sie mich gehen. Ich rief den Metzger an, gab den Auftrag zurück und legte mich für eine Woche in mein Bett.

Ich bestellte noch einen Scotch, ohne Kaffee.

Ein betrunkener Affe könnte ihm aus reiner Lust das Eisen in den Rücken gerammt haben. Vielleicht hatte er einer Nutte die Hose geklaut oder mit zu markigen Sprüchen um sich geworfen. Im schlimmsten Fall war Ahmed Hamul einer der Heroin-Türken, die täglich von der Presse durch den Fleischwolf gedreht werden.

Was wußte ich schon? Ich wußte, daß sich ein Haufen Nullen unter meinem Schreibtisch tummelte.

An den Nebentischen stapelten sich Sauerkrautschüsseln, Bratwürste und Schnitzel. Münder zerrten an paniertem Fleisch, schmatzten und würgten, quetschten dazwischen Wörter in die heiße Luft, und Zungen leckten sich Fettreste von den Backen.

Ich mußte aufstoßen, und ein säuerliches Stückchen Sachertorte landete auf meiner Zunge. Als mir richtig schlecht war, zahlte ich und ging.

Die Adresse von Ilter Hamul lag hinter dem Bahnhof. Auch nicht die beste Gegend. Ich ließ meinen Heißluft- Kadett stehen und machte mich zu Fuß auf den Weg.

Das weiße Sonnenlicht brannte auf die Stadt, und der kahle Beton sah noch kahler aus. Die unbewegte Luft stank nach Abgasen, Müll und Hundescheiße. Unter den wenigen Bäumen dämmerten Rentner dem Abend entgegen. Kinder lutschten Eis und tollten über den Bürgersteig. Ich trottete durch die Innenstadt, blieb an mehreren Reisebüros stehen und genoß den Anblick von türkisem Meer, endlosen weißen Stranden, Palmen und glatten braunen Bacardi-Girls. Nur zweitausendvierhundertneunundneunzig Mark die Woche. Ich überlegte, wieviel Ahmed Hamuls noch ins Gras beißen müßten, damit ich sieben Tage Sandburgen bauen, Rum trinken und mir von Nesquick-Damen die Füße waschen lassen könnte.

Die Straßencafés waren überfüllt. Kellner mit roten, nassen Köpfen balancierten ganze Ladungen kalter Getränke durch die Tischreihen.

Ich näherte mich dem Bahnhof. Die Sprüche der Sex- Shops, ›Feuchte Schenkel‹, ›Schweiß blutjunger Nymphomaninnen‹, konnten kaum beeindrucken. Feuchte Schenkel hatte bei dem Wetter jeder.

Ein paar Penner suhlten sich in leeren Cola-Büchsen und abgefressenen Hamburger-Kartons. In ihren Schädeln schwappte der warme Rotwein hin und her.

Hinter dem Bahnhof wurden die Straßen leer und still. Ich suchte, bis ich vor einem bröckelnden Altbau stand. Zwei türkische Kinder donnerten ihren Ball gegen die Hauswand. Ich überlegte, ob sie es schaffen würden, den gesamten Putz bis zum Abend runterzuholen.

Die Klingelknöpfe waren herausgerissen und hatten ein Loch mit Drahtwirrwarr hinterlassen. Ich schob die Tür auf. Im Flur war es düster. Eine Mischung von Kinderpipi und Bratkartoffeln zog mir in die Nase. Aus einer Wohnung blubberte es leise: ich lieb dich nicht - du liebst mich nicht. Die Briefkästen waren fast alle aufgebrochen oder aufgebogen. Wahrscheinlich hatte man die Schlüssel verloren. Ich ging langsam die Treppe hinauf in den dritten Stock. Zumindest ein Mitglied der Familie Ergün erwartete mich. Oben angelangt, öffnete sich sogleich die Tür. Ilter Hamul bat mich in die Wohnung. Sie hatte die Ohrringe gewechselt, trug jetzt kleine Perlen, die sehr viel strenger wirkten, der Situation entsprechend.

Gegen die Wohnung war der Hausflur ein Sonnenbad, und nur vage konnte ich den einen oder anderen Gegenstand ausmachen.

»Mein Bruder ist doch gekommen. Er hat sich für den Nachmittag frei genommen«, flüsterte sie mir zu, während ich gegen einen blödsinnig plazierten Sessel stieß. Wir schlichen durch. den langen Flur als wollten wir Marmelade klauen. Das Wohnzimmer befand sich am anderen Ende.

Ilter Hamul packte mich am Ärmel, und gemeinsam betraten wir einen großen Raum. Zwischen einem Haufen bunter Decken, Kissen, Sessel und Sofas hockten die Mitglieder der Familie Ergün.

»Hier ist Herr Kayankaya.«

Es klang wie eine Entschuldigung.

Das Zimmer glich einer Lichtung. Drei große Fenster ließen die Sonne herein. An den Wänden hingen Bilder aus der Heimat. Unter anderen Umständen mußte es gemütlich sein.

»Guten Tag«, versuchte ich freundlich. Einer nickte.

Ilter Hamul schob mich in einen Sessel, in dem man ohne weiteres zu zweit hätte schlafen können. Eine Kanne Tee, Tasse und Zucker standen auf einem kleinen Messingtisch davor. Ich setzte mich, nahm ein Stück Zucker und überlegte mir, wie am besten beginnen. Alles glotzte mich stumm an. Die drei kleinen Kinder saßen eng aneinandergeschmiegt in rotem Samt. Sie schienen wie aus Wachs.

»Tja«, sagte ich, und rührte im Tee. »Sie wissen, Frau Hamul hat mich engagiert, den Mörder ihres Mannes zu finden.« Pause. Bedächtiges Räuspern der alten Mutter.

»Oder es jedenfalls zu versuchen«, fügte ich hinzu.

»Ich muß Ihnen deshalb ein paar Fragen stellen. Es wird nicht lange dauern. Frau Hamul hat mir das Wichtigste schon erzählt.«

Der Bruder saß rechts von mir auf einem dunkelblauen Sofa. Jetzt warf er meiner Klientin einen kurzen, bösen Blick zu. Sie betrachtete stur ihre Schuhe.

Ich fischte Notizblock und Stift aus der Tasche, suchte eine leere Seite und fragte an Ilter Hamul gewandt: »Übrigens, wo ist Ihre Schwester? Arbeitet sie?«

Die Augen verließen die Schuhe, ihr Mund öffnete sich zu einem »Äh…«

»Sie ist krank und liegt im Bett! Sie kann nicht aufstehen, sie muß schlafen!« kam es schnell und kalt aus der Ecke des Bruders.

Die Situation war etwa so entspannt wie im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Also gut. Ich hatte hier nichts verloren. Dann wollte ich alles so schnell wie möglich hinter mich bringen.

»Das tut mir natürlich leid. Tja, dann sagen Sie mir mal alle Ihren Namen, Geburtsdatum, Beruf und so weiter…«

Da sich nichts tat, zauberte ich mir ein Lächeln ins Gesicht und wandte mich an den Bruder: »Fangen Sie an, ja? Und sagen Sie mir auch, was Sie vermuten, warum Ihr Schwager umgekommen ist.«

Inzwischen wußte ich nicht mehr so recht, was ich eigentlich fragen sollte. Viel konnte man mir hier bestimmt nicht erzählen.

»Ich heiße Yilmaz Ergün. Ich bin vierunddreißig Jahre alt. Mein Beruf ist Tischler, aber ich arbeite schon länger in einer Großküche. Inzwischen bin ich Hilfskoch.«

Er bemerkte das nicht ohne Stolz.

»Was für eine Großküche? Wo?«

»Im Hessischen Rundfunk.«

Schlechtes Radio und schlechtes Schnitzel waren das einzige, was mir dazu einfiel.

»Und was denken Sie über den Mord an Ihrem Schwager?«

Ich sah kurz rüber zu Ilter Hamul, um mich zu vergewissern, daß sie sich tapfer hielt. Sie hielt sich.

»Ich weiß nichts. Das ist Sache der Polizei!«

Daß er dieser Meinung war, wußte ich längst. Vielleicht hätte ihn eine Flasche Raki redseliger gestimmt.

»Na gut. Lassen wirs dabei. Zu Ihnen, Frau Ergün. Die gleichen Fragen.«

Die Oma war zwar offener, trotzdem mußte es etwas geben, was sie verschwieg. So dachte ich jedenfalls. Sie schmückte ihre Daten aus, erzählte eine ganze Lebensgeschichte und lächelte mir sogar manchmal zu.

Sie hieß Melike Ergün, war fünfundfünfzig Jahre alt, hatte mit achtzehn ihren vor drei Jahren verstorbenen Mann, Vasif Ergün, geheiratet, mit ihm drei Kinder gezeugt (Ilter, Yilmaz und die kranke Schwester Ayse) und war nach dem Umzug nach Deutschland putzen gegangen. In letzter Zeit kümmerte sie sich um die kranke Tochter.

»Darf ich fragen, was Ihre Tochter hat?«

Als wäre es seine Tochter, antwortete der Bruder: »Sie hat bis vor einem halben Jahr auch als Putzfrau gearbeitet. Dann hat sie die Stelle verloren und wurde schwermütig.«

Sein gutes Deutsch, der scheinbar sichere Posten, alles wies darauf hin, daß Yilmaz Ergün ein fleißiger und gewissenhafter Mensch sein mußte.

»Wie alt ist sie?«

»Vierundzwanzig Jahre.«

»Mhmhm. Frau Ergün, was vermuten Sie über den Tod Ihres Schwiegersohns?«

Ich hätte eine ganze Menge erwartet.

»Ahmed hat Selbstmord gemacht.« Blöde schaute ich sie an.

»Ja… aber das Messer steckte im Rücken, nicht?«

fragte ich Ilter Hamul.

»Egal. Sie werden sehen, er hat Selbstmord gemacht.« Ich merkte, wie meine Klientin anfing zu zittern, und wechselte das Thema. »Na ja, das wird mir auch die Polizei sagen können. Frau Ergün, erzählen Sie mir, was Ihr verstorbener Mann gearbeitet hat und wo.«

Vasif Ergün hatte, genau wie mein Vater, bis zu seinem Tod anderer Leute Müll geschleppt.

»Frau Hamul, Sie haben mir heute morgen erzählt, Sie hätten in den letzten Jahren nicht mehr genau gewußt, was Ihr Mann gemacht hat. Was heißt das? Ist er manchmal länger weg gewesen, auch über Nacht? Oder verreist?«

Zum Glück glaubte der Bruder nicht auch noch, die Frau seines Schwagers zu sein.

»Nein, das nicht, er kam fast jeden Tag nach Hause«, sagte sie zögernd.

»Was hat er denn gearbeitet? Oder hat er nicht gearbeitet?«

»Doch, das schon.«

Nach längerem Hin und Her und bösen Blicken zwischen Ilter und Yilmaz kam heraus, daß keiner so recht wußte, was Ahmed Hamul in den letzten zweieinhalb Jahren getrieben hatte. Davor war er regelmäßig in eine Fabrik gegangen. Doch irgendwann hatte er gekündigt. Nach seinen Erzählungen war er dann als Packer bei der Post oder in einem Kebab-Laden beschäftigt gewesen. Er habe nicht viel geredet, aber immer genug Geld mit nach Hause gebracht. Von Freunden Ahmeds wußte man nichts. Viel gesprochen wurde offensichtlich in der ganzen Familie nicht.

Mit der Feststellung, daß Bruder und Mutter meiner Klientin nicht besonders von Ahmed Hamul eingenommen waren, beschloß ich das Gespräch.

»Gut. Das reicht dann auch. Sagen Sie, ob ich Ihre Schwester wohl demnächst einen Augenblick sprechen könnte?«

Alle machten den Mund auf, aber nur beim Bruder kam auch was raus.

»Das wird in nächster Zeit nicht gehen.«

›Das hätte ich mir auch denken können‹, dachte ich mir und stand auf.

»Ich werde mich ein bißchen umsehen und voraussichtlich morgen noch einmal vorbeischauen. Ist jemand in der Wohnung?«

»Ja, ich bleibe zu Hause wegen Ayse.«

Ich wandte mich an Ilter Hamul: »Eh ich es vergesse, ein Foto von Ihrem verstorbenen Mann brauche ich noch.«

»Natürlich.«

Sie ging zum Schreibtisch, zog eine der Schubladen auf und kam mit einer größeren Portraitaufnahme in Farbe zurück.

Ahmed Hamul hatte dichtes schwarzes Haar gehabt, einen ebenso kräftigen Schnurrbart und abstehende Ohren, wie hundert andere auch.

»Vielen Dank.«

»Die Polizei wird uns Schwierigkeiten machen, wenn sie erfährt, ein Detektiv arbeitet für meine Schwester!«

Langsam ging mir der Bruder auf die Nerven.

»Nein, kann sie nicht. Glauben Sie mir das.« Pause.

»Tja, ich werde mich dann mal verabschieden.« Jeder sagte mir mehr oder weniger freundlich ›auf Wiedersehen‹. Die Kinder, in den letzten zehn Minuten immer unruhiger geworden, erwachten nun ganz und begannen sich zu kitzeln. Der Tod ihres Vaters schien sie nicht zu berühren. Wahrscheinlich hatten sie es noch gar nicht kapiert. Ilter Hamul lotste mich zurück durch den Tunnel. Ich lief die Treppe runter und landete endlich vor der Haustür.

Eine Weile stand ich da, zündete mir eine Zigarette an und beobachtete das Treiben an der gegenüberliegenden Trinkhalle.

Besonders aufregend war das alles nicht. Aber was hätte ich schon noch fragen können? Nichts, dachte ich mir und ging hinüber, um ein Bier zu bestellen. Drei haarige Gestalten hingen schief um die Bude und klammerten sich an die Henninger-Flaschen. Säuerlich schlug es mir entgegen. Trübe Augen, eingebettet in aufgedunsene, rosa Fleischwülste, schielten zu mir herüber. Einer fing an, herzhaft zu rülpsen, wobei er Bröckchen in die Gegend schleuderte.

»Ei, isch brauch en Jescherkleister!«, brachte er zwischendurch heraus.

»Ein Pils, bitteschön«, rief ich ins leere Häuschen und wartete.

»Ich brauch en Jescherkleister, gell Hans, merr brauche alle en Jescherkleister!«

Pause. »Gell?« Er drehte sich langsam und vorsichtig um, umklammerte dabei haltsuchend die Theke.

»Gell, Hans, merr brauche en Jescherkleister! Hans!«

Der Haufen in der Ecke mit Namen Hans blubberte Unverständliches.

»Uff Hans! Dringe merr noch aan!«

Hans pißte ohne Umstände und patschte mit der Hand in das gelbe Rinnsal, wie um sicherzugehen, daß auch alles klappte, und grunzte.

Endlich öffnete sich die hintere Tür, und Madame Obelix schlappte herein.

»Ich hätte gern ein Pils«, wiederholte ich und legte zwei Mark in den Geldteller.

»Wolle Se net gleisch saache, wiefei Se hawwe wolle, dann mus isch net dauernt hi und her renne.«

Sie war Profi.

»Also gut, dann gleich zwei.«

»Sehn Se!«

Sie wuchtete sich zu einem Kühlschrank, der neben ihr wie eine Zigarettenschachtel aussah, und zog mit Mühe zwei Flaschen heraus.

»Öffnen Sie mir bitte eine«, bat ich und legte das fehlende Geld in den Teller.

Das offene Bier landete auf der Theke, daß der Schaum spritzte. Madame Obelix schlappte wieder nach hinten.

Ich trank mein Bier und überlegte, warum die Alte von Selbstmord gefaselt hatte, bis ich bemerkte, daß mich der Dritte im Jägermeisterverein anglotzte. Er gab seinem Herzen einen Stoß: »Babbelst en gudes Deutsch. Bisde net vom Baigan?«

Seine Hand deutete hinter sich, wo der Balkan liegen sollte.

»Ei naa, Bubsche, isch war zwaa Woche uff Maijorga.«

»Ah, soo.« Pause. »Isses schee dort unne?«

»Schee isses scho, blos aach gefällisch, wesche de Indianer.«

»Ah, soo.« Er überlegte. »Habbe Se sich da verschdändische könne?«

»Klar, isch habb gedrommelt«, antwortete ich ihm, trank das Bier aus und ging, ohne ein weiteres ›Ah soo‹ abzuwarten, die Straße runter.