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Das Ehepaar Löff wohnt in Nieder-Eschbach. Ein Großstadt-Reihenhaus-Randgebiet.

Die Nummern auf den hängenden Glasoder Plastiklaternen vor den Häusern sind das einzige, was die beigen, aneinandergereihten Schuhkartons mit Ziegeldach unterscheidet. Überall gepflegter, grüner, vier mal vier Meter großer Rasenteppich, eingerahmt von säuberlich angeordneten Blumensträuchern. Drumherum ein niedriger, dunkelbraun gebeizter Jägerzaun mit scharfen Spitzen, zu nichts anderem gut, als fallenden kleinen Kindern die Augen auszustechen. An langen Sommerabenden stinkt der Holzkohlengrill, und aufgeregte Familienväter hüpfen in dunkelblauen Trainingsanzügen, Wurst und Kotelett schwingend, durch den Garten. Langsam steuerte ich den Opel durch die ruhige Straße und hielt Ausschau nach Nummer vierunddreißig. Gußeisern gekringelt fand ich sie neben einer blau geriffelten Glastür. Ich parkte den Wagen und stieg aus. In der Ferne brummte ein Mofa. Aus den geöffneten Fenstern kam Geruch von halbgarem Essen auf die Straße. Hinter einem vergitterten Parterrefenster trällerte eine Frauenstimme. »Die Gedanken sind frei…«

Ich stieß die Pforte auf, stolperte über einen blöde grinsenden Gartenzwerg und drückte auf die Klingel. Es machte hell Bimbam. Wenig später öffnete Frau Löff in buntgeblümter Küchenschürze die Tür.

»Herr Kayankaya! Herein in die gute Stube, das Essen ist gleich fertig. Mein Mann sitzt im Wohnzimmer.«

Für ihre sechzig Jahre war sie gut in Schuß. Ihr Mann dagegen führte, außer der Salatzucht, ein recht unausgefülltes Rentnerdasein. Am liebsten verbringt Theobald Löff seine Zeit damit, willigen Zuhörern Heldentaten aus vergangenen Polizeijahren zu schildern.

Ich ging durch den niedrigen, hellbraun tapezierten Flur hindurch ins Wohnzimmer. Als das Ehepaar Löff vor Jahren hier eingezogen war, hatte es zuallererst den riesigen Fernseher in die Ecke gestellt und, von ihm ausgehend, den Rest des Raumes eingerichtet. Eine mit kaffeebraunem Cord bezogene Sitzgarnitur rankte sich um das Monstrum. Vereinzelte Sessel standen in Richtung Flimmerkasten. Selbst die Lampen waren so gedreht, daß sie, angeschaltet, ein angenehm gedämpftes Licht geben mußten. An den Wänden hingen Stiche von irgendwelchen Burgen und Teppiche mit ländlichen Motiven. Frau Löff häkelte sie an langen Winterabenden. So sahen sie jedenfalls aus. Auf zwei Teetischen lagen Gartenprospekte und Fernsehprogramme verstreut.

Löff saß mit gefalteten Händen in seinem Sessel. Er sah hinaus auf ein Fleckchen Garten.

Als ich eintrat, stand er auf und schlurfte in seinen Frotteepantoffeln auf mich zu.

»Tag, Herr Kayankaya, freut mich, Sie mal wieder zu sehen.«

Ich schüttelte sein dünnes Händchen. Löff hat dichtes, graues Haar, man meint im ersten Moment, das sonst zierlich-klapperige Männchen habe eine Fellmütze auf dem Kopf. Das Gesicht ist schmal und überzogen von kleinen Fältchen, wie ein eingetrockneter Apfel. Seine enorme Säbelnase ragt einem aufdringlich entgegen.

»Tag, Herr Löff, wie gehts? Was macht die Salatzucht?« Er verzog den Mund, was den Apfeleindruck verstärkte.

»Salaaat! Was für Kinder und Greise. Hab den ganzen grünen Plunder herausgerissen und auf den Kompost geschmissen, konnte das Zeug nicht mehr sehen. Ist doch nichts, erst ein halbes Jahr pflanzen und pflegen und dann ein halbes Jahr essen. Meine Frau wollte ihn einfrieren! Geht nicht, hab ich ihr gesagt; geht doch, hat sie gesagt. Allein der Gedanke, jeden Tag aufgetauten Salat kauen! Rausgerissen hab ich das ganze Feld!«

Er schaute eine Weile trotzig auf seine Frotteepantoffeln.

»Lassen wir das. Setzen Sie sich. Erzählen Sie, warum Sie hergekommen sind. Wohl kaum, um von meiner Frau warme Würstchen serviert zu bekommen!«

Wir plumpsten in die braune Sitzgarnitur. Er verschränkte die Arme und schaute mich erwartungsvoll an.

»Stimmt, nicht nur wegen der Würstchen. Ich wollte fragen, ob es nicht eine Abwechslung im Rentenalltag wäre, mal wieder ein bißchen Polizist zu spielen und mir zu helfen?«

Ungeduldig sah er hoch zur Decke.

»Sie wissen genau, was ich davon halte, machen Sie’s nicht so spannend.«

Ich erzählte ihm die Geschichte von Anfang an. Von Ilter Hamuls Besuch, dem Drohbrief, Ahmed Hamuls Dealer-Job, dem kleinen, schnellen Fiat, Hanna Hecht, Mutter Ergüns Erzählungen, Vater Ergün und seinen Unfällen, bis zu meinem Besuch heute morgen im Rauschgiftdezernat.

Löff hörte aufmerksam zu. Ich merkte, er begann sich wohlzufühlen.

»Tja, das war alles bisher«, schloß ich und wartete auf Fragen.

Ganz Polizeikommissar, kratzte er sich am Kopf, stand langsam auf, holte sich Pfeife und Tabak, begann zu stopfen und zog die kleinen Apfelfältchen zu dicken, nachdenklichen Stirnrunzeln zusammen. Ich hätte ihm wahrscheinlich keinen größeren Gefallen tun können.

Sherlock Löff zündete sich die Pfeife an und ließ den Rauch bedächtig aus den Nasenlöchern rieseln.

»Wer bearbeitet den Fall?«

»Ach ja, hab ich vergessen, Schlachtermeister Futt und irgendein winselndes Dingsbums, zittert ständig um seinen Rockzipfel herum.«

»Harry Eiler heißt das Dingsbums. Futts Schatten, schon in der Zeit, als er noch beim Rauschgiftdezernat gearbeitet hat. Eigentlich ist er normale Streife, zu mehr hats nicht gelangt. Trotzdem holt Futt ihn immer wieder als Mitarbeiter oder Gehilfen, warum, weiß ich nicht. Er wird seine Gründe haben. Futt ist zwar ein unsympathischer Mensch, aber ein guter Polizist.«

»Ich dachte, das eine sei Voraussetzung fürs andere?«

Löff konnte darauf nichts mehr erwidern. Seine Frau kam herein und zwitscherte, die Würstchen seien fertig.

Das Eßzimmer der Löffs ist wie aus PVC gegossen. Als wäre es für suhlende Kinder eingerichtet worden. An den hellgelben Wänden hängen in Plastik eingeschweißte Rezeptplakate. Eßtisch und Stühle sind grellorange, und der Boden ist mit dunkelgrünem Linoleum überzogen. Unter den Tellern lagen abwaschbare Plastikdeckchen. Ein Gulli fehlte. Nach der Mahlzeit hätte man mit einem Gartenschlauch sauberspritzen können.

Frau Löff schaufelte Würste, Kartoffelbrei und Sauerkraut auf meinen Teller. Ich rupfte zwei Bierflaschen den Deckel ab.

Der selbstgemachte Brei bestand zu großen Teilen aus halbgaren Kartoffelbrocken. Dafür war er selbstgemacht.

»Man merkt sofort den Unterschied zum Kartoffelbrei aus der Tüte.«

Frau Löff bedankte sich.

Nachdem wir alles mögliche über Wetter, Preise und Sonderangebote weggeplaudert und ein paarmal über unseren neuen Kanzler gelacht hatten, fragte Löff: »Also gut, das vorhin war die Geschichte, und wie soll ich Ihnen nun helfen?«

»Ach, Theo, laß das doch, bis wir mit dem Essen fertig sind. Herr Kayankaya muß doch auch mal Pause machen, nicht wahr?«

Sie tätschelte mir die Schulter.

»Ist schon in Ordnung, Frau Löff, ich muß möglichst schnell wieder los«, dann zu Löff, »ich brauche ein paar Schriftstücke, an die ich nicht rankomme, das ist alles. Sie können das, jeder kennt Sie noch. Es sind die Akten über die beiden Unfälle von Vasif Ergün und falls vorhanden, über Ahmed und Vasif im Drogendezernat. Am besten wäre es, Sie könnten von allem eine Fotokopie besorgen. Wenn Sie überhaupt wollen?«

»Natürlich will ich! Auf welchen Wachen wurden die Unfälle aufgenommen?«

»Der erste muß im Februar neunzehnhundertneunundsiebzig passiert sein, direkt hinterm Bahnhof. In der Nähe ist auch die Wache.«

»Ja, ich weiß«, zischte er. Er wurde fast böse.

»Der zweite, der tödliche Unfall, war am fünfundzwanzigsten April neunzehnhundertachtzig auf dem Weg nach Kronberg. Wo genau, das weiß ich nicht, aber…«

»Das werde ich schon herausfinden!«

Mich begann der Eifer des Polizei-Opas zu nerven.

»Na gut, bis wann könnten Sie die Kopien haben?«

»Kommen Sie so um fünf Uhr heute abend vorbei.«

»In Ordnung.«

Während des Nachtischs erzählte Theobald Löff, wie er neunzehnhundertsiebenunddreißig, als junger Polizist, einen jüdischen Eierdieb auf frischer Tat ertappt hatte: »Ich mußte ihn festnehmen, das war meine Arbeit. Aber wissen Sie, Herr Kayankaya, da ich gehört hatte, wie man mit den Juden im Lager umspringt, hab ich ihm die Eier gelassen. Sie denken jetzt vielleicht, ›na und‹, aber was meinen Sie, was ich für ein Risiko eingegangen bin? Aber davon haben Sie ja keine Vorstellung. Heute sind andere Zeiten. Sehen Sie, sogar mit einem Türken, ha, ha, ha«, er klatschte seine verschrumpelte Rentnerhand auf meine Schenkel, »… sitze ich an einem Tisch.«

Seine Frau erläuterte noch die Vorzüge eines eigenen Gartens. Danach bedankte und verabschiedete ich mich. Wieder im Opel, konnte ich endlich rülpsen.