1

Madame Obelix schaute mich verschlafen aus aufgequollenen Augen über die Theke hin an.

»Isch habb kei Kaffe, des tut mer leid. Die Leut wolle ja aach nie Kaffe, die wolle immer nur Bier, aach so frie morjens, egelhaft. Abber wardde Se, isch hab hinne eh Känsche fer misch, da kenne Se e Tass von hawwe.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, schlurfte sie davon.

Es war neun Uhr morgens. Mein Schädel brummte vor sich hin. Ich war um acht Uhr aufgestanden und hatte unter der Dusche beschlossen, den Tag mit einem Besuch bei Mutter Ergün einzuleiten. Nun lehnte ich an der Bude und wollte noch einen Kaffee trinken, bevor ich zu ihr rüber ging.

Ich hatte die Türkische Botschaft angerufen, doch obwohl ich mich als Beauftragter des Innenministeriums ausgegeben hatte, sogar mit bayrischem Akzent, konnte oder wollte mir der Herr am anderen Ende der Leitung nichts über Ahmed Hamul erzählen.

Madame Obelix kam mit pfeifendem Husten und einem Pappbecher Kaffee zurück.

»Ein belegtes Brötchen oder so haben Sie nicht zufällig?«

»Ich kann Ihne eh Rindsworscht warm mache, wenn Se des möchte.«

Mein Magen meldete, keine Rindswurst zum Frühstück. So kaufte ich Schokolade und ein Päckchen Zigaretten.

»Is des dann alles?«

»Ja.«

»Mei Kaffe werd nemlisch kald.«

Ich beobachtete, wie sich der mächtige Arsch durch die Tür zwängte und nach und nach verschwand. Ihr Kaffee hatte eine Konsistenz, von der behauptet wird, sie könne Tote aufwecken. Ich aß eine halbe Tafel Schokolade, zündete mir anschließend eine Zigarette an und dachte an den quietschenden Fiat. Ich bezweifelte, daß er mich wirklich über den Haufen hatte fahren wollen. Das konnte man einfacher haben. Eher war es eine Aktion, die dem Drohbrief ein bißchen mehr Nachdruck verleihen sollte. Was auch gelungen war.

Wem, verdammt nochmal, kam ich so in die Quere? Die Aktenhengste der Türkischen Botschaft würden kaum in vollendeter Gangstermanier einen halben Abend im Auto rumgammeln, nur um mir dann einen saftigen Schrecken einzujagen.

Oder vielleicht doch?

Um mir darüber klarzuwerden, mußte ich endlich wissen, ob Ahmed Hamul irgendwie politisch aktiv gewesen war. Ich trank den Kaffee aus und lief hinüber zu den rausgerissenen Klingelknöpfen.

Mutter Ergün öffnete mir die Tür im grün-braun gestreiften Frotteebademantel, unter dem zwei schwammige, gelbe Füße hervorschauten. Die Zehennägel hatten eine eitrige Farbe. Sie war so überrascht wie erwartet, entschuldigte sich für ihre häusliche Aufmachung und bat mich offensichtlich nur ungern in die Wohnung.

Es roch nach aufgebackenen Brötchen, und irgendwo blubberte eine Dusche. Sie führte mich in die Küche. Zwei saubere Teller warteten aufs Frühstück.

»Yilmaz ist schon arbeiten gegangen, und Ilter ist auf dem Amt, wegen der Beerdigung. Ich wollte gerade mit Ayse frühstücken. Möchten Sie einen Kaffee?«

Und wie ich mochte! Noch mehr hoffte ich, sie würde mir auch eins der dampfenden Brötchen anbieten. Um diesen Wunsch dezent zu äußern, hätte ich am liebsten mit dem Magen geknurrt. Statt dessen fragte ich: »Könnte ich bei der Gelegenheit einen Moment mit Ihrer Tochter Ayse sprechen?«

Yilmaz Ergün hatte mir zwar deutlich zu verstehen gegeben, ich könne das bis auf weiteres nicht, aber er war weg, und seine resoluten Sprüche wurden, soweit ich das einschätzen konnte, ohnehin vom Rest der Familie nicht getragen.

Trotzdem war ihr die Antwort sichtlich unangenehm. Ihre Worte schleppten sich nur mühsam von den Lippen.

»Ja, wenn sie kommt… können Sie mit ihr reden.« Langsam gewann ich die Überzeugung, die arme Ayse mußte Syphilis haben. Die Mutter goß mir Kaffee ein und setzte sich gegenüber an den Tisch.

»Mir sind seit gestern noch eine Menge Fragen eingefallen, deshalb platze ich schon so früh herein. Ehrlich gesagt, ich habe noch nicht viel über ihren Schwiegersohn herausbringen können. Bisher sind alles nur Vermutungen, doch vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«

Mein sehnsüchtiger Blick hing schon eine Weile am duftenden, goldgelben Brötchenkorb. Sie mußte es gemerkt haben, denn als ich verstummte, sagte sie schnell: »Wenn Sie essen wollen, bitte.«

Ich legte ein bißchen Höflichkeit vor und meinte: »Nein, nein, ich werde Ihnen doch nicht das Frühstück wegessen.«

»Bitte, nehmen Sie. Es ist genug da.«

»Na ja, dann schmier ich mir mal was.«

Ich schnitt die knusprige Semmel in zwei Teile, ließ Butter und Marmelade darüber fließen und versuchte, ohne Gier zu kauen. Langsam breitete sich die Semmel wohligwarm in meinem Magen aus.

»In erster Linie interessieren mich Sachen aus Ahmeds Vergangenheit. Ob er politisch in irgendeiner Richtung aktiv gewesen ist, ob er als Mitglied bei einer Partei oder Gruppierung gearbeitet hat. Wenn, müßte ich wissen, was er in diesem Zusammenhang alles gemacht hat.«

Sie war einigermaßen überrascht.

»Aber Ahmed hat nie etwas mit Politik gemacht.«

Jetzt erst merkte ich, wieviel Hoffnung ich in diese Vermutung gesetzt hatte, ohne den kleinsten Anhaltspunkt zu besitzen. Wie wenn man den ganzen Abend lang in der Kneipe sitzt und an einem genau konstruierten Bierdeckelhaus baut; gerade wenn man den letzten Pappdeckel drauflegen will, kommt irgendein Fettwanst, torkelt gegen den Tisch und grummelt eine Entschuldigung. Man sitzt vor dem zusammengestürzten Haufen und möchte dem Trottel den Kiefer brechen.

»Ah, ja, das dachte ich mir schon.«

Es ist keine gute Reklame für einen Privatdetektiv, wenn er zugibt, seine analytischen Fähigkeiten seien mehr oder weniger unterentwickelt. Jetzt blieb nur noch der Dealer übrig.

»Sie haben gestern erzählt, Ahmeds ungeregeltes Leben begann etwa vor zwei Jahren. Können Sie sich an einen besonderen Vorfall seit dieser Zeit erinnern? Zum Beispiel ein überraschender Besuch oder ungewöhnlich viel Post für Ahmed aus der Türkei?«

Sie schlürfte ihren Kaffee und sagte nichts.

»Wissen Sie, daß Ihr Schwiegersohn mit Heroin gehandelt hat?«

Sie nickte stumm. Still war es in der Küche. Die ersten Sonnenstrahlen glitten durch die Scheibe und warfen dunkle Schatten auf das Gesicht der Mutter. Nach einem kräftigen Schluck Kaffee räusperte sie sich und begann zu erzählen.

»Natürlich wußte ich es. Alle wußten es. Nur Ilter hat den Lügen von Ahmed geglaubt.«

Es folgten ein paar Weisheiten über die Blindheit der liebenden Frau. Dann kam sie wieder auf Ahmed zurück, besser gesagt, auf Vasif, ihren verstorbenen Mann. Dieser hatte, genauso wie Ahmed, eines Tages mehr Geld mit nach Hause gebracht, als sein mickriger Lohn erlaubt hätte. Etwa ein Jahr vor seinem tödlichen Unfall begann er damit, die Abende in Kneipen und Clubs zu verbringen. Mutter Ergün wußte das. Sie war ihm mehrmals bei seinen Ausflügen gefolgt. Zugegeben hatte er es nie, aber alles lief darauf hinaus, er mußte Heroin verkauft haben. Woher er das Zeug bekam, hatte sie nicht herausfinden können. Besuch oder ungewöhnliche Post habe ihr Mann nie erhalten. Irgendwann in dieser Zeit mußte auch Ahmed in das Geschäft eingestiegen sein. Sehr wahrscheinlich durch Vermittlung seines Schwiegervaters. Mutter Ergüns Erzählung nach war es nichts Außergewöhnliches, wenn Ahmed und Vasif zusammen ausgingen und die Zeit miteinander verbrachten. Die beiden hatten sich auch vorher bestens verstanden. Ahmed Hamul mußte sowas wie ein Abenteurer in der sonst eher vorsichtig bedachten Familie gewesen sein. Dem Alten gefiel er, außerdem waren sie nur zehn Jahre auseinander.

Bald zog er ihn seinen eigenen Kindern, speziell dem Sohn Yilmaz, vor. Ihr Verhältnis war eher das zweier lachender Wandergesellen, die gemeinsam Streiche aushecken, als das, was man sich normalerweise unter der Beziehung Schwiegervater - Schwiegersohn vorstellt.

Das führte zu einer angespannten Situation in der Familie. Gerade Yilmaz schaffte seiner Eifersucht oft Luft, indem er Vater und Schwager böse Vorhaltungen machte.

Langsam verstand ich seine Ablehnung mir gegenüber.

Nach dem Tod von Vasif hatte Ahmed das Heroingeschäft allein weitergeführt und sich kaum noch Zuhause blicken lassen. Abgesehen von seiner Frau Ilter waren wohl alle darüber recht froh gewesen. Mutter Ergün machte eine Pause, und ich beobachtete, wie ich dabei war, mir ein weiteres Brötchen zu schmieren.

Sie legte ihre dunkle, lederne Stirn in Falten und brütete vor sich hin. Das Quietschen meines Messers auf dem Porzellan durchschnitt die nachdenkliche Ruhe wie eine kreischende Motorsäge.

Allmählich konnte ich mir ein Bild von der Familie Ergün machen. Vasif, das Familienoberhaupt, der mit Mülltüten den Familienunterhalt verdiente und sonst keinen großen Spaß an dem fremden Land mit seinen unfröhlichen, ordentlichen Bewohnern hatte. Mit seinen Kindern konnte er nicht viel anfangen. Sie waren sehr jung gewesen, als sie nach Deutschland kamen, wurden geprägt von der neuen Umwelt, paßten sich ihr notgedrungen an und entfernten sich dadurch von ihm. Yilmaz, arbeitsam und strebsam, erhielt nur wenig Bestätigung von seinem Vater. Der hätte lieber einen temperamentvolleren Sohn gehabt. Er verschanzte sich hinter seinen beruflichen Erfolgen, wurde verbittert und hatte wahrscheinlich nur die Mutter als menschlichen Bezugspunkt.

Melike Ergün, die umsichtige Mutter, die auch nicht die Kraft hatte, ihren Mann vom Heroingeschäft abzuhalten, kümmerte sich um die Kinder, war Rückhalt in der Familie.

Dann Ilter, mehr schüchtern und zurückhaltend, die große Tochter, die der Mutter half, bald selbst Mutter wurde und auch nur noch für Kinder und Haushalt lebte. Nur über Ayse Ergün wußte ich keinen halben Satz zu sagen. Sie mußte aus irgendeinem Grund das schwärzeste Schaf in der Familie sein.

Dann platzte Ahmed Hamul, relativ frisch aus der Heimat, in die trübe Familie, nahm sich Ilter zur Frau, den Vater zum Freund und spaltete so die Familie in zwei Teile. Auf der einen Seite Yilmaz, Ayse und die Mutter, auf der anderen Seite er und Vasif. Ilter hing mit den Kindern irgendwo dazwischen. Ich betrachtete eine Luftaufnahme von Istanbul, die groß an der gelben Tapete hing, und fragte: »War da nicht irgend etwas Ungewöhnliches in der Zeit, als Ihr Mann anfing, mit Heroin zu handeln? Versuchen Sie, sich zu erinnern! Auf den ersten Blick hat es vielleicht gar nichts miteinander zu tun.«

»Nein, da war nichts, bestimmt.«

»Und wann es genau anfing, wissen Sie auch nicht?« Sie rieb nachdenklich die Finger aneinander.

»Es war, glaube ich, kurz nach dem Unfall… ja, da fing es an.«

»Was für ein Unfall?«

»Nicht schlimm. Vasif ist in ein anderes Auto gefahren.«

»Hat Ihr Mann öfter Unfälle gebaut?«

Die Frage rutschte mir mehr aus Versehen heraus.

»Nein, es war sein einziger Unfall, außer seinem letzten.«

Es war ein verdammt mickriger Strohhalm. Aber es war einer.

»Waren Sie dabei?«

»Ja, wir wollten zu Freunden fahren.«

»Das Datum wissen Sie noch?«

»Nein, nicht genau, es war im Februar, aber den Tag weiß ich nicht.«

»Wer hatte schuld an dem Unfall? Ihr Mann oder der andere Fahrer?«

»Ich kenne mich da nicht aus. Ich glaube, Vasif hatte Schuld. Das andere Auto kam von rechts. Aber dann hatte er doch keine Schuld.«

»Was heißt das, dann hatte er doch keine Schuld?«

»Na ja, die Polizei kam, wir mußten alle mitfahren, und Vasif hat dann mit der Polizei lange geredet. Ich war nicht dabei, ich habe im Flur gewartet. Dann kam Vasif zurück und hat gesagt, es würde ihm nichts passieren.«

»Mußte er nichts zahlen?«

»Nein, zum Glück, wir hatten sehr wenig Geld damals, und Vasif war verzweifelt, als wir zur Polizei fuhren. Aber dann war er wieder froh und mußte nichts zahlen.«

»Der andere Fahrer, können Sie sich noch an seinen Namen erinnern?«

»Nein.«

»Was war das für ein Mensch?«

»Er war noch jung, mit blonden Haaren.«

Davon gab es Millionen. Allerdings mußte eine Akte über den Unfall bei der Polizei liegen.

»Wissen Sie noch die Polizeiwache, auf die man Sie gebracht hatte?«

»Ja, sie ist hier in der Nähe, drei Straßen weiter. Der Unfall ist auch gleich hier um die Ecke passiert. Ich kann es Ihnen vom Fenster aus zeigen.«

Wir standen auf und zwängten uns nebeneinander ans Küchenfenster. Sie beschrieb mir noch einmal, wie der Unfall genau geschehen war. Ohne Zweifel hatte Vasif Schuld gehabt. Das sah man sogar von hier oben. Wir betrachteten schweigend den lärmenden Verkehr, bis ich sie fragte: »Wo wollte Ihr Mann am Tag seines tödlichen Unfalls hinfahren?«

»Es war Samstag und wir frühstückten, da kam ein Anruf, und Vasif telefonierte kurz. Dann sagte er uns, er müsse wegfahren. Er wollte gleich wiederkommen.«

Sie stockte und preßte die Zähne zusammen.

»Welcher Tag genau war das?«

»Am fünfundzwanzigsten April neunzehnhundertachtzig.«

»Wer angerufen hat, wissen Sie nicht?«

»Nein, einer von Vasifs Freunden.«

»Wo ist der Unfall denn genau passiert?«

»Auf der Straße nach Kronberg.«

Auch das mußte in einer Polizeiakte genauer beschrieben sein. Ich beschloß, Mutter Ergün in Ruhe zu lassen und zur Polizei zu gehen. Als erstes wollte ich bei der Abteilung Rauschgift nachfragen, ob es irgendwelche Schriftstücke über Vasif und Ahmed gab.

»Gut, Frau Ergün, Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Ich werde morgen wieder vorbeikommen. Und dann hoffentlich mehr wissen. Könnten Sie Ihrer Tochter Ilter ausrichten, sie möchte mich im Lauf des Tages im Büro oder bei mir zuhause anrufen? Die Nummer hat sie.«

Wir verabschiedeten uns, und ich bedankte mich für das Frühstück. Gerade als ich mich umdrehen wollte, zuckte die alte Frau, wie von einem unsichtbaren Schuh getreten, zusammen. Ihre Augen flackerten widerwillig an mir vorbei.

Die Küchentür knarrte leise. Billiges Parfüm wehte durch den Raum. Langsam wandte ich den Kopf und blickte in Richtung Parfüm. Ayse Ergün stand auf wackeligen Beinen im Türrahmen. Mutter und Tochter starrten sich stumm an, und ich verstand endlich.

Wie im Dunst, suchten ihre Augen nach Halt; doch der Blick schwamm immer wieder weg, glitt ohne Ziel durch die Küche. Der kleine, magere Körper zitterte leicht, und die Finger krampften sich ineinander, als wollten sie sich verstecken. Ayse Ergün hatte nicht die Syphilis. Sie hing an der Fixe.